Vor dem Fest (Erweiterte Ausgabe) - Saša Stanišić - E-Book

Vor dem Fest (Erweiterte Ausgabe) E-Book

Saša Stanišić

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Beschreibung

Erweiterte Ausgabe enthält, vom Autor ausgewählt:

- 6 Videolinks

- 27 zusätzliche Texte

- und viele Fotos

Fürstenfelde, Brandenburg. Einwohnerzahl: sinkend. Bei uns am Ortseingang steht ein Schild. Herzlich willkommen in der Uckermark: Jetzt wird’s schön. Anzahl der auf der aktuellen Wanderkarte als „sehenswerter Einzelbaum“ gekennzeichneten Bäume: zwei. Was auch immer du über uns gehört hast, das nicht von uns selbst kommt: es stimmt nicht.

Es ist die Nacht vor dem Fest im uckermärkischen Fürstenfelde. Das Dorf schläft. Bis auf den Fährmann – der ist tot. Und Frau Kranz, die nachtblinde Malerin, die ihr Dorf zum ersten Mal bei Nacht malen will. Ein Glöckner und sein Lehrling wollen die Glocken läuten, das Problem ist bloß: die Glocken sind weg. Eine Füchsin sucht nach Eiern für ihre Jungen, und Herr Schramm, ein ehemaliger Oberst der NVA, findet mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen. Keiner von ihnen will den Einbruch ins Haus der Heimat beobachtet haben. Das Dorfarchiv steht aber offen. Doch nicht das, was gestohlen wurde, sondern das, was entkommen ist, treibt die Schlaflosen um. Erinnerungen und alte Geschichten ziehen mit den Menschen um die Häuser. Sie fügen sich zum Roman einer langen Nacht, zu einem Mosaik des Dorflebens, in dem Alteingesessene und Zugezogene, Verstorbene und Lebende, Handwerker, Rentner und arbeitslose Mythenwesen in Fußballtrikots aufeinandertreffen. Sie alle möchten etwas zu Ende bringen, in der ewigen Nacht vor dem Fest.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 422

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SAŠA STANIŠIĆ

VOR

DEM

FEST

Roman

LESEPROBE

Luchterhand

Für Katja.

For billions of years since the outset of time

Every single one of your ancestors has survived

Every single person on your mum and dad’s side

Successfully looked after and passed on to you life.

What are the chances of that like?

The Streets: On the Edge of a Cliff

»Vor dem Fest« ist erstmals im Frühjahr 2014 erschienen. Im September 2013 existierte eine 699 Seiten starke Manuskriptfassung des Romans. Davon bleiben noch der Überarbeitung 320. Jene Texte, die es in das endgültige Manuskript nicht geschafft haben, die ich aber wichtig finde, haben wir nun in diesem E-Book gesammelt, außerdem zusätzliche Inhalte wie Video-Lesungen und Fotos aus der Uckermark, die mit den Schauplätzen des Romans zu tun haben. All dies ist jeweils an passender Stelle im Roman auf einer Unterebene zu finden. Dorthin gelangt man, wenn man der Fähe folgt.

Der Autor im September 2015

I

DIE FÄHE SCHNÜRT ENTLANG DES GEWÄSSERS. Sie schmeckt ein altes Menschenweibchen im Wasser, dem sie manchmal auch im alten Wald begegnet. Dies ist ein Menschtier, welches lange ruhig an einem Ort ausharren kann. Menschen verhalten sich selten so. Mit dem Aroma des Weibchens sind meistens feine andere vermengt, die Fähe schmeckt sie gern: Färberwaid und Umbra und Zinnober und Harz. Jetzt kommen hinzu: scharfe Süße vergorener Früchte, Kalium und Mangan von Tränen. Gut. Gefahr riecht nicht nach Tränen.

Die Fähe zieht weiter und stößt bald auf ein zweites Menschenweibchen, ein großes Exemplar. In der Nähe des Ortes, wo die Menschen ihre Toten einerden, trabt es um drei Gegenstände am Ufer und brummt leise, wütende Menschenlaute. Die Fähe ist neugierig, was gibt es dort? Das Weibchen schmeckt nach Karotten, die Gegenstände – drei Kuppeln – schmecken nach Zinn und Kupfer und nach einem dritten, das die Fähe lockt.

Das Menschenweibchen klingt, als wollte es balgen mit den Kuppeln, die Kuppeln tun nichts. Die Fähe wartet. Das Weibchen trollt sich irgendwann. Die Fähe umkreist die Kuppeln, dem Weibchen ähnlich, wittert. Unter dem Metall schmeckt sie die Wege, die sie bereits erforscht hat. Beute, die sie erlegt hat. Futter, stibitzt aus leicht zu durchbeißenden Behältern. Sie schmeckt den schnellen Rüden, den sie in der Kaltzeit gelockt und überlistet hat, und der sie in den Nacken biss und ihr anfangs half, ihre Jungen zu ernähren. Sie ließ ihn glauben, dass es seine List war und nicht ihr eigen Spiel und Wille.

Alles ist da. Alle Aromen, die sie je geschmeckt hat. Auch die letzte Flucht der Schwester und die Hunde, die sie aufgescheucht. Der Fähe kamen die Menschenbücklinge so nah, dass sie ihre Schnauzen schmecken konnte; sie schmeckten nach den streichelnden Fingern ihrer Herrchen. Die Fähe floh hierher, zur Menschenkolonie, statt tiefer ins Gehölz. Die gefährlichen Menschen und Hunde waren im Wald, sie würden nicht zugleich ihre Bauten hüten können. Sie lebt noch, ihre Schwester nicht mehr.

Jedes Aroma unter den Kuppeln gehört einem Früher. In allen zusammen schmeckt die Fähe ihr eigenes Überleben. Es ruft sie, und sie will es befreien, sie will es an sich haben, sie beginnt zu graben, will unter die Kuppeln. Die Fähe kläfft, hechtet erschrocken und ermuntert umher, weil unter den Kuppeln im Überleben ein Aroma steckt, das sie denken lässt: Ich.

Sie will sich lösen, sie muss zu ihren Welpen, die Hühner sind nah, da vernimmt sie aus der größten Kuppel ein Locken von einem ihresgleichen: ein Fuchs, ein Rüde. Sie schmeckt sein Überleben, wie es in der Heide beginnt, in einem lang vergangenen Früher, wie sein Muttertier verschwindet, wie zwei Menschenmännchen ihn füttern, einer groß, einer klein, wie er den beiden folgt ohne Furcht, und sie ihm. Sie jagen gemeinsam, und er lockt eine Fähe, dann noch eine, lebt in Höhlen und mit den Menschen in Menschenbauten, und er vergeht in etwas aus Holz und Eisen, das ihm tiefe Schmerzen bereitet. Die Fähe lernt mit ihm, erobert mit ihm, bangt um ihn – flieht schließlich vor seiner leblosen Existenz.

Wir sind verwirrt. Am Ufer vom Tiefen See stehen drei Glocken. In der Mitte die Alte, dunkel und feist. Die Zwillinge flankieren sie: hell und schlank, zwei Monde eines dunklen Planeten. Ein leises Geläut ist die einzige Illusion, die Glocken sind echt. 5,32 EUR für ein Kilo Kupfer. Schlecht wäre die Beute nicht gewesen.

WIR SIND ARGWÖHNISCH. Seit etwa drei Wochen lungert ein junger Mann spät nachts bei uns herum bis zum Morgengrauen. Sobald Frau oder Herr Zieschke aufmachen, huscht er in die Bäckerei und bestellt O-Saft und Puddingbrezel. Am Stehtisch in der Ecke faltet er die Hände wie zum Gebet.

Frau Zieschke hinter der Kasse drückt den Rücken durch.

Herr Zieschke blättert in der Zeitung von gestern.

Erst wenn er weg ist, gehen sie nach hinten, Stullen schmieren oder das machen, was Bäcker hinten machen.

Er trägt Trainingsanzüge von Adidas. Einen weißen mit schwarzen Streifen und einen blauen mit gelben. Dunkel klebt der Schmutz zwischen den Streifen. Am blauen war eines Tages der Stoff an der Schulter aufgerissen, die Haut blutig aufgeschürft. Blass, ein blasser Mann. Die Augen, wässrig-gerötet, blinzeln fast nie.

Adidas-Mann, sagen die Leute.

Wir kennen das Prekäre gut. Wir kennen den Ruin. Verwahrlosung ist uns nicht fremd, noch die Scham, die mit alldem einhergeht. Aber immer wissen wir, was davor war, und sprechen über das Warum. Dann taucht einer auf, noch kaputter, und er bleibt bis zum Morgengrauen, und niemand weiß, wer er ist, er gibt uns nichts, worüber wir sprechen könnten.

O-Saft, Puddingbrezel.

Manchmal drückt er nach dem Frühstück die Faust in die Handfläche, sein ganzer Oberkörper zittert. Manchmal. Krempelt. Er. Die. Ärmel. Über die Ellenbogen: So langsam.

Einmal reicht es dem Zieschke, er stellt ihm eine Frage. Er will einen Teil der Vorgeschichte wissen, einen Namen vielleicht, einen Ort. Der Adidas-Mann liest von der Tafel ab, stockend wie ein Kind:

»Wir backen. Mit. Natur. Sauer. Teig.«

Die Puddingbrezel reißt er mit der Gabel in kleine Stücke. Beim Kauen schließt er die Augen.

Wir wissen nicht, woher er kommt.

Wir wissen nicht, wohin er geht.

Wir wissen, was ihm schmeckt.

Die Wunde an der Schulter ist irgendwann verheilt.

Ê

ANNO 1722 VOR DEM ANNENFESTE hat sich ergeben ein schrecklicher casus tragicus. Da beym Flachstrocknen Diebstähle befürchtet wurden, bestand auch bey uns die Unsitte, Gesinde oder Kinder in die noch warmen mit Flachs belegten Öfen einzusperren und sie darinnen schlafen zu lassen über Nacht. So geschehen mit den Geherschen Geschwistern, Anna und Andreas. Von den beiden ist das Mädchen am Morgen todt, der Junge schwer beschedigt gefunden. Umbsoviel hat der casus schwerer gewogen, da dasselbe Mädchen am Abend uns noch vor Landstreichern gewarnet, welche unser Brot zu stehlen gedacht.

Zum Annenfeste ist, dieß wollte die Mutter, dennoch gerufen worden. Solches war jedoch das traurigste, welches wir gesehen, voll Tadel und Gram, statt Tanz und Gesang.

Das Mädchen ist würdig geehret worden.

O ein mächtiger und schrecklicher Gott!

O dummer, dummer Mensch.

UND HERR SCHRAMM, ehemaliger – dann – jetzt – und, weil es nicht reicht –, steht zum zweiten Mal heute Nacht vor dem Zigarettenautomaten. Im Schnitt sind Ex-Raucher schlanker als Raucher. Gemeinhin wird das Gegenteil angenommen. Gemeinhin wird angenommen, du wirst dicker, wenn du aufhörst. Der Neffe von Sigmund Freud hat das in die Welt gesetzt, und man weiß, die Freudschen können so was, Menschen beeinflussen. Es ist aber so, dass die Leute eher später im Leben mit dem Rauchen aufhören, wenn ihr Körper von sich aus auch mit dem Schlanksein aufhört. Das unterwandert die Statistik. Mit Nicht-Rauchen hat das Dick-Werden also nichts zu tun, sondern mit erschöpftem Stoffwechsel. Herr Schramm war niemals schlank und niemals vollschlank. Herr Schramm war immer eine Kante.

Die Münzen in einer Hand, Annas Personalausweis in der anderen, denkt Herr Schramm über »gemeinhin angenommen« nach.

»Was glaubst du«, er wirft die erste Münze ein, »nimmt man zu, wenn man mit dem Rauchen aufhört?«

»Rauchen ist gut für die Verdauung, oder?« Anna hält den Schirm über Schramm.

»Das wird gemeinhin angenommen«, sagt Herr Schramm und drückt auf Pall Mall Rot. »In Wirklichkeit macht es keinen Unterschied. In Wirklichkeit bist du dick, weil du viel isst, und nicht, weil du wenig rauchst. Oder es ist genetisch.« Er zögert mit dem Ausweis. Kratzt sich damit im Nacken.

Anna steckt den Finger in das Einschussloch im Automaten. Herr Schramm zieht den Ausweis durch den dafür vorgesehenen Schlitz. Nichts tut sich.

Herr Schramm denkt über Dinge nach, die für andere Dinge vorgesehen sind. Er denkt nach über die diensthabende Gefechtsbesatzung seiner Raketenabteilung. Der Schießende war dafür vorgesehen, das Kommando zum Schießen zu geben. Die Startrampenbedienung für die Startrampenbedienung. Das C-Objekt war Bestandteil des A-Objekts. Der Personalbestand trat auf einem dafür vorgesehenen Platz in der Feuerstellung zur Vergatterung an. Der Vergatterungsspruch war für den Schluss der Vergatterung vorgesehen. »Klassen- und Waffenbündnis mit der Sowjetarmee … Schutz des Luftraums der DDR … Mit hoher Disziplin und Initiative … Vergatterung!« Jeder war sich jederzeit über seine vorgesehene Aufgabe im Klaren. Nicht hoch genug kann man dabei die Ehefrauen des Personalbestands loben. Mitte der Achtziger wurde das Regiment stark verkleinert. Oberstleutnant Schramm hat protestiert, aber was willst du machen? Die Raketentechnik wurde konserviert. Hauptaufgabe war jetzt Wachdienst. Meine Güte, Wachdienst. Wollte Schramm selbst machen, musste er gar nicht. 1990 der letzte Appell auf dem Exerzierplatz.

Herr Schramm drückt den Lucky Strike-Knopf. Nichts.

Herr Schramm fragt sich, wie er das Mädchen loswird, falls es mit den Kippen wieder nicht klappt. Er drückt den West-Knopf. Nichts.

»Warum wollten Sie sich umbringen?«

Herr Schramm drückt den Camel-Knopf.Er beißt die Zähne zusammen, die Kaumuskeln treten hervor. Nichts tut sich.

»Sag mal«, sagt Herr Schramm.

Herr Schramm drückt, einen nach dem anderen, alle Knöpfe. Der Gegner, gegen den jeder am liebsten gewinnt, daran glaubt Herr Schramm fest, ist man selbst. Er ballt die Faust. Anna: neugierige Angst in hochgezogenen Augenbrauen. Er schlägt zu. Hält Millimeter vor dem Blech an.

Herr Schramm ist während der Dienstzeit oft schwimmen gegangen. Am frühen Morgen rüber zum Güldenstein und zurück. Hin: schnell, wütend. Den Güldenstein berührt, durchgeatmet. Zurück: langsam, besonnen.

»Haben Sie etwas Schlimmes getan?«

»Es kommt mir vor, als hätte ich nie was anderes getan, als Zigaretten zu besorgen.«

Der Automat zeigt die eingeworfene Summe an. Vielleicht hat die Kugel die Elektronik beschädigt. Immer ist es die Elektronik. Herr Schramm drückt auf den Knopf zur Geldrückgabe. Nichts.

»Sie waren Soldat, oder?«

»Ich hab niemanden in die Schlacht geführt. Scharf geschossen wurde mal in Kasachstan. Zur Übung. Hier wurde vor allem der Himmel gesichert.«

»Der Himmel?«

»Und es gab immer Technik zu warten und etwas zu putzen. Denk mal nach. Über das Putzen von Flugabwehrraketen.«

Anna starrt ihn an. Prüfend. Das kann man schon mal sagen. Anna starrt Herrn Schramm prüfend an. Sie hat ihn in seinem Wagen prüfend angestarrt, und als sie auf dem Hof den Ausweis holten, und als er fragte, ob sie wisse, dass die Russen auf dem Feld unter ihrem Fenster Dutzende Leute erschossen hätten.

»Weißrussen«, hatte Anna erwidert und ihn prüfend angestarrt, und tut das jetzt wieder, da er den Kopf gegen den Automaten lehnt. Hat jemand vor, sich umzubringen, dann starrst du den an.

»Lass doch«, sagt Herr Schramm, ohne aufzusehen.

Anna starrt weiter. Sie hat zu Hause ihr Asthma-Spray geholt, für den Notfall, aber auch ihr Telefon, für alle Fälle. Noch möchte sie es nicht nutzen. Der Regen lässt nach.

Herr Schramm läuft los. Am Friedhof biegt er zum See ab. Der Weg ist matschig, steil, Anna versucht, Schritt zu halten. Herr Schramm schert sich nicht um Boden und Witterung. Der Name von seinem Vater ist einer der Namen am Soldatendenkmal auf dem Friedhof.

Unterhalb des Friedhofs passt das nicht: die Glocken an der Promenade. »Sag mal«, sagt Herr Schramm, »was soll das denn jetzt?« Er betrachtet die Glocken. Die Regentropfen lassen sie sachte klingen. Anna hat immer noch Augen nur für ihn.

»Geht es Ihnen heute Nacht auch so, dass Sie ständig Erinnerungen haben?«, sagt sie.

»Ich«, sagt Herr Schramm, »habe ständig ständig Erinnerungen.«

Seit Anna Herrn Schramm in seinem Wagen gefunden hat, sind sie keinem Menschen begegnet. Nun kann sie in einiger Entfernung die Leuchte der Malerin im sonst schwarzen See erahnen. Bloß möchte Anna den Schramm jetzt mit niemandem mehr teilen.

»Warum fragst du?«

»Ich bin Montag weg hier.«

»Abschied. Mhm.«

»Ich erinnere mich an meine Zeit hier und überlege, was ich vermissen werde. Ich glaube, am meisten werde ich vermissen, meine Jugend nicht woanders verbracht zu haben.«

Schramm klopft auf die Glocken. Legt seine große Hand der Alten auf den Mantel. »Wir hatten«, sagt er und streicht über die Glocke, »mal einen usbekischen General zu Besuch.«

»Bei den Raketen?«

»Bei den Raketen. Er blieb fünf Tage bei uns, und danach war die Abteilung nicht mehr dieselbe. Es ging ja sowieso alles schon den Bach runter, die Wirtschaft, alles, aber das war es nicht. Dieser Mann, Trunov hieß der, der hat in den fünf Tagen bei uns gelebt, wie wir alle ein Leben lang am liebsten gelebt hätten. Als er weg war, ist jeder wieder in seinen Trott verfallen, und die Moral, die war mit dem General nach Usbekistan oder sonst wohin.«

»Ich würde das jetzt gern verstehen.«

»Ja, aber wie sich das gleich anhören wird…« Schramm riecht an seiner Hand. »Gut, hör zu. Man kann nicht einen Ort oder einen General für –« Schramm schüttelt den Kopf. »Der Trunov hatte uns befohlen, einen Gemüsegarten anzulegen. Hätten nicht gehorchen müssen, haben es aber. Haben ihm sogar einen Namen gegeben.«

»Trunov-Garten?«

»Der Gemüsegarten vom Genossen General Paša Trunov. Der hat Jahr um Jahr die prächtigsten Paprika gegeben. Meine Güte.«

Herr Schramm hustet, aber es könnte auch ein Lachen gewesen sein. Er geht in die Hocke. »Leuchte, komm mal her. Siehst du das?« Er zeigt auf den Boden bei den Glocken. Einer ist hier stecken geblieben. Da sind Reifenspuren.«

»Und?«

»Zähl mal eins und eins zusammen.«

Anna ist nicht nach Rätseln. Sie scheint die Glocken überhaupt jetzt erst wahrzunehmen. Spannend findet sie die nicht. Auch Herr Schramm wendet sich ab. Er möchte Anna etwas zeigen, sie soll auf die Mauer klettern.

»Und jetzt?«, fragt Anna von oben.

»Märchenstunde«, sagt Herr Schramm.

DANK AN

Christine Marth, Martin Mittelmeier, Maria Motter, Thomas Pletzinger und Katja Sämann für deren Scharfblick, Witz, investigatives Talent, Zuspruch und die große Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch.

DANK AN

die Bewohner von Fürstenberg, Fürstenfelde, Fürstenwalde, Fürstenwerder und Prenzlau für den Austausch und die Gastfreundschaft sowie an die jeweiligen Heimatmuseen, Heimatstuben und Heimatvereine für die historischen Einblicke. Ihre Kirchenbücher und Chroniken und dazu Lieselott Enders’ landesgeschichtliche Darstellungen der Uckermark waren wichtige Quellen für den vorliegenden Text.

Der Autor dankt dem Deutschen Literaturfonds e.V., Darmstadt, der Spreewälder Kulturstiftung und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch.Die Handlung des vorliegenden Buchs ist rein fiktional. Ähnlichkeiten zu Menschen und Tieren, zu Tieren mit Menschengesicht, zu Lebenden und Toten, sind nicht beabsichtigtDas Märchen Der Ring des Kesselflickers findet sich im Band »Die rote Feuerkugel – Sagen aus der Uckermarck«, 2009 im Schibri-Verlag erschienen. In Teilen freie Bearbeitung der Quelle durch Saša Staniši.

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8. Auflage, korrigierte Version 7/15Copyright © 2014Luchterhand Literaturverlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHHerstellung: Inka HagenFotos: Saša StanišiSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18649-4

ANHANG

Manche Charaktere haben eine Entsprechung in der Vergangenheit oder in den Überlieferungen des Dorfes. Für den Adidas-Mann sollte das ein »Posenschnitzer« sein – jemand, der Schreibkiele herstellt.

Die Parallele zwischen dem verwahrlosten jungen Mann in der Gegenwart und dem Sagencharakter sollte in einer manischen Suche nach etwas Fantastischem bestehen. Es gelang mir dann letztlich nicht, ein passendes, spannendes Objekt der Sehnsucht für den Adidas-Mann zu erfinden. Und irgendwann fand ich es auch gut, einen nicht »erklärten« Protagonisten der Nacht im Dorf auftauchen zu lassen, welcher ohne biografischer Spuren einfach existiert und damit die Dorfbewohner beunruhigt.

UND PETER REBLEIN WAR POSENSCHNITZER AUS PRENZLAU.Nicht jede Federpose hat zum Schreibkiel getaugt. Sonntags ging Reblein auf die Dörfer, um die geeigneten auszuwählen. Die besten ließen sich finden, wenn die Gänse im Mai und im Juni sich mauserten.

Als er einmal nach Fürstenfelde kam, erwähnte der Fährmann eine Wildgans mit goldenem Federkleid, die sich zuweilen über den Werdern zeige. Ob das Gefieder bloß eine ungewöhnliche Färbung besitze oder wirklich aus Gold sei, das könne niemand sagen, da niemand den Vogel je aus der Nähe gesehen. Reblein machte sich auf die Suche. Er bezog ein Zimmer in Fürstenfelde, kaufte dem Fährmann einen Kahn ab, beobachtete die Werder. Er hatte blasse Haut und litt im Sommer stark unter der Sonne. Im Winter rutschte er einmal auf dem Eis aus und verstauchte sich die Schulter. Man sah ihn auf den Werdern irren, seine Kleider bald zerrissen, die Haut von Dornen blutig. Er begann zu trinken und zu träumen.

Manche sagen, er habe seinen Tod auf den Werdern gefunden. Manche sagen, er suchte auch noch, nachdem keiner mehr wusste, wonach.

Manche sagen, er sucht noch heute.

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