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Nachschub für alle, die den Trend Sports-Romance lieben
Kayce James ist ein erfolgreicher NFL Spieler. Als Tight End bei den L.A. Vipers hat er alles - Erfolg, Geld und Ruhm. Aber hinter seiner strahlenden Fassade hat er mit Erfolgsdruck und Versagensängsten zu kämpfen, die so groß werden, dass sie seine Karriere gefährden. Doch Kayce kann sich niemanden anvertrauen, bis er auf eine junge talentierte Sportmedizinerin trifft, die nicht nur seine körperlichen Schmerzen behandelt, sondern auch die Schatten in seinem Innersten erkennt. Shaila Sterling könnte Kayces letzte Hoffnung sein, zu seiner alten Form zurückzufinden, wäre da nicht ihre gemeinsame Vergangenheit und ein Geheimnis, das er selbst vor Shaila verborgen halten will ...
Band 2 der L.A.-Vipers-Trilogie
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Seitenzahl: 546
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Was wir fühlen
Danksagung
Die Autorin
Die Bücher von Alicia Sommer bei LYX
Impressum
ALICIA SOMMER
Falling for No. 89
Roman
NFL-Star Kayce James, Tight End bei den L. A. Vipers, hat alles, was er sich wünschen kann – Erfolg, Geld und Ruhm. Aber hinter der Fassade des charismatischen Sportlers sieht es ganz anders aus. Er hat mit Erfolgsdruck und Versagensängsten zu kämpfen, die so groß werden, dass er eine Verletzung vortäuscht, um seine schwankende Leistung zu vertuschen. Aus Angst, seine Karriere vollends zu gefährden, will Kayce sich niemandem anvertrauen, bis er auf die junge talentierte Sportmedizinerin Shaila Sterling trifft. Sie ist neu im Medical Program der L. A. Vipers und erkennt die Schatten in Kayces Innerstem sofort. Shaila könnte seine letzte Hoffnung sein, zur alten Form zurückzufinden, wäre da nicht ihre gemeinsame Vergangenheit. Denn die Vertrautheit und Geborgenheit, die Kayce in Shailas Nähe spürt, wecken Erinnerungen an den kleinen Ort, aus dem sie beide stammen. Einen Ort, den Kayce vor fünf Jahren verließ, ohne je zurückzublicken. Und egal wie groß sein Wunsch ist, Shaila nahe zu sein, weiß Kayce doch ganz genau, dass seit seinem plötzlichen Verschwinden etwas Unüberwindbares zwischen ihnen steht …
Für Steffi
Danke, dass du mich immer wieder liebevoll aus dem Treibsand meiner Selbstzweifel ziehst!
The Alchemy – Taylor Swift
Midnight Rain – Taylor Swift
Hotel California – Eagles
Hunger of the Pine – alt-J
Summertime Sadness – Lana del Rey
gold rush – Taylor Swift
BLUE – Billie Eilish
CHIHIRO – Billie Eilish
Lose Control – Teddy Swims
Thumbs – Sabrina Carpenter
Wolves – Selena Gomez
Forests of Rain – Jonathan Slatter
House of Memories – Panic! at the Disco
Umbrella – Rihanna, JAY-Z
Wonderwall – Oasis
Who’s Afraid of Little Old Me? – Taylor Swift
Hold My Hand – Jess Glynne
Question …? – Taylor Swift
Somewhere Only We Know – Keane
Die For You – The Weeknd
More than friends – Isabel LaRosa
@ my worst – Blackbear
Alex Warren – Ordinary
Unforgettable – French Montana, Swae Lee
Fallout – UNSECRET, Neoni
This Is the Beginning – Ely Eira
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Alicia und euer LYX-Verlag
Kayce
Wenn du irgendwelche Leute auf der Straße fragst, was sie über die Kleinstadt Ojai in Kalifornien denken, dann werden sie dir sagen, dass sie magisch sei. Einzigartig. Das Paradies, das Gott nur wenige Kilometer von Los Angeles entfernt pflanzte. Der Nebel, der morgens die Bergketten hinaufklettert, verwandelt die Stadt in eine unwirkliche Kulisse und soll heilende Geister anlocken. Ojai ist bekannt für seine Spiritualität, die lebendige Kunstszene, die übernatürlich schöne Landschaft und den starken Zusammenhalt der Gemeinschaft.
Für mich aber bekam dieses idyllische Bild eines Tages Risse. Dahinter kamen die kahlen Wände eines Theatersaals zum Vorschein, in dem nichts jemals echt gewesen ist; nicht einmal die Luft, in der plötzlich der Sauerstoff knapp wurde. Ich musste gehen, um zu überleben. Ich kann nicht zurückkehren, wenn ich am Leben bleiben will. Weil der Zauber dieser Stadt am Ende vielleicht ein Fluch ist – auch wenn das außer mir niemand versteht.
Shaila
Wenn du irgendwelche Leute auf der Straße fragst, was sie über den Footballstar Kayce James denken, werden sie dir erzählen, dass er einer der besten Tight Ends der NFL sei; ein bodenständiger, lustiger, immer gut gelaunter Typ. Fragst du aber die Leute in seiner Heimatstadt nach ihm, werden sie sagen: Erist der Junge, der ging. Er ist der Junge, dem nichts genug war. Er ist der Junge, der die Menschen, denen er am meisten bedeutet, hängenließ und sich nie wieder nach ihnen umschaute. Auf der Karte des beliebtesten Diners der Stadt mag ein Burger nach Kayce James benannt worden sein, doch würde der berühmte Sportler eines Tages wieder durch dessen Saloon-Türen schlendern, würde er sich an den feindseligen Blicken der Gäste verbrennen.
Gern wäre mir all das egal. Kayces breites Grinsen, das aus dem Nichts während eines Werbespots für eine Versicherung über den Fernseher flackert, die Schlagzeilen, denen man nicht ausweichen kann, das Gewisper, das sich auch nach mehr als fünf Jahren mit dem Rascheln der Baumkronen vermischt. Hast du gehört, dass er jetzt in Los Angeles … Trotzdem hat er nicht … Dieser Drop, der die Mannschaft alles gekostet hat … Vielleicht war es Karma.
Das Problem ist nur, dass er mir nie egal war. Er ist der Junge, der ging, ja. Aber er ist auch der Junge, der blieb. In meinem Herzen, das damals ganz leise, für niemanden hörbar, nicht einmal für ihn, brach und nie wieder vollkommen heilte.
3. Juli, vor fünf Jahren
Liebes Tagebuch,
ich muss dir unbedingt etwas erzählen: Kayce und ich haben uns geküsst!!
Ich kann immer noch nicht glauben, dass es wirklich passiert ist. Gestern Abend war ja dieser Filmabend bei Kendra, zusammen mit Kayce und seinen Jungs, und auf einmal sind alle gegangen, und wir saßen plötzlich allein da, in der Hollywoodschaukel. Kayce hat seinen Arm um mich gelegt, wir haben ein bisschen geredet, und dann …
Mein Herz rast immer noch. Ich würde kreischen, aber es ist so früh, und ich will Mom nicht wecken.
Wie weich sich seine Lippen auf meinen angefühlt haben … Ich hätte in seinen Armen sterben können. Alles war einfach nur so perfekt. Seine Wärme, der Abendhimmel, das Lied im Hintergrund, seine Nase, die über meine gestrichen ist, und dann dieser Kuss.
Ich könnte weinen vor Glück. Ich liebe diesen Jungen so, so sehr, es gibt keine Worte dafür.
Aber das Beste habe ich dir noch gar nicht erzählt: Er hat mir ein Versprechen gegeben. Du weißt schon. Wegen dem, worum es in den letzten Einträgen immer ging.
Er hat es mir versprochen. Nach unserem Kuss. Mein Herz fühlt sich so unendlich leicht an. In den vergangenen Wochen habe ich mir so viele Sorgen gemacht, dass er … Nein. Daran will ich nicht mehr denken. Denn es wird nicht passieren. Er hat das ernst gemeint, das habe ich einfach gespürt.
Und seit gestern, da … da habe ich das erste Mal so richtig Hoffnung, dass er meine Gefühle wirklich erwidern könnte.
Stell dir das mal vor … Der Junge, in den ich schon mein gesamtes Leben verknallt bin, Kayce James, der Nachbarsjunge, der Star des Football-Teams, der coolste, beliebteste, heißeste Junge der Stadt liebt mich vielleicht auch? Himmel, wie soll ich diesen Wirbelsturm in meinem Herzen aushalten? Ich bin viel zu glücklich gerade. Vielleicht kreische ich doch.
Kayce
Heute Morgen bin ich nur schwer aus dem Bett gekommen. Viele verfluchen das Trainingscamp, weil es mit einer Schmerzflatrate einhergeht, und ich sollte mich wie alle anderen darüber freuen, dass es hinter uns liegt und das erste Spiel der Saison vor der Tür steht. Doch seit es vorbei ist, werde ich einfach nicht mehr müde. Gestern habe ich mit meinem Mitbewohner Chester und unseren Nachbarn bis tief in die Nacht hinein Madden auf der Playstation gezockt, um mich von diesem nervösen Flimmern in meinem Körper abzulenken. Eigentlich kann es sich Chester auch nicht leisten, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Sein Vertrag bei unserem Stadtrivalen ist ausgelaufen, und er befindet sich noch in Verhandlungen mit den Bucs. Dennoch tat uns beiden die Ablenkung gut, auch wenn ich mich jetzt entsprechend müde in das Vereinsgebäude der L. A. Vipers schleppe.
Ich habe keine Ahnung, wie ich die morgendliche Mannschaftsansprache durchhalten soll, ohne dabei einzupennen, geschweige denn die Trainingssession im Anschluss. Als ich den Empfangstresen passiere, schließt sich von hinten ein Arm um meinen Hals, was mich nach Luft schnappen und eine Wolke Aftershave einatmen lässt.
»Kayce James.« Ich erkenne die Stimme sofort und winde mich aus seinem Griff. Vor mir steht Daniel Wilson, ein Cornerback, mit dem ich im College in einer Mannschaft gespielt habe und der eigentlich bei den Atlanta Falcons unter Vertrag steht.
Ich stoße meine Schulter gegen seine. »Danny. Was machst du hier? Ist es dir zu langweilig geworden in Atlanta?«
»Nein, ich habe dich nur so vermisst.« Er deutet an seinem Sweater herunter, und nun fällt mir auf, dass er eins von diesen Shirts der neuen Kollektion trägt, bei der sie mit der Farbpalette gespielt haben. Die Schlange unseres Logos ist nicht wie sonst sattgrün, sondern neongrün, das Schwarz wurde durch ein intensives Rot ersetzt. Muss man mögen. »Ich habe gestern den Vertrag unterschrieben.«
»Nice.« Meine Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen. Ich klatsche mit ihm ab. »Willkommen im Snakes Kingdom, Bro.«
»Danke, Mann.« Er schlägt mir gegen die Brust und feixt. »Sind das eigentlich alles Muskeln, oder hast du es dir in den Hamptons zu gut gehen lassen?« Er spielt auf meine freie Zeit vor dem Trainingscamp an, die, wie so vieles in meinem Leben, von ordentlich Presserummel begleitet wurde.
»Beides, Bro, beides.« Ich erhalte mein Grinsen aufrecht, doch diese merkwürdige Schwere von heute Morgen kehrt in meinen Brustkorb zurück.
»Ich habe die Bilder auf Insta gesehen. High Life und so. Wie viele Frauen hattest du im Schnitt pro Tag?«
»Drei, vier … wenn man den Gerüchten Glauben schenkt.«
Saint, unser bester Wide Receiver, tritt neben uns, in Begleitung von Jackson McLane. Die letzten Wochen über war nicht klar, ob Jax überhaupt zur neuen Saison am Start sein würde oder ob ihn die Vipers an einen anderen Verein verkaufen würden.
»Die wirklich entscheidende Frage ist nicht, wie viele, sondern wen.« Jax tauscht einen vielsagenden Blick mit Saint aus.
»Dieses Supermodel, hm?« Danny zieht anerkennend die Brauen hoch. Er hat es also auch mitgekriegt. Natürlich, jeder hat das.
»Bullsh–«
»Du versuchst noch immer, es zu leugnen? Obwohl wir alle die Bilder im L. A. Daily gesehen haben?« Saint schnaubt und wendet sich an Danny: »Diese billige Ausrede hat er schon im Trainingscamp probiert. Da hat ihm auch niemand geglaubt.«
Die anderen beiden brechen in Gelächter aus. Ich stimme nicht mit ein und weiß nicht mal, warum. Diese gesamte Geschichte ist so absurd, dass man sich nur darüber lustig machen kann. Es gibt tatsächlich ein Foto von einem Supermodel und mir, aber nur, weil wir zufällig gleichzeitig auf die Strandterrasse traten. Eine Drohne fing den Moment ein, als sich unsere Arme streiften, und noch Wochen später liest man in den Klatschzeitungen darüber. Alles wegen eines lächerlichen Schnappschusses.
Ich murmle ein »Was auch immer, wir sollten los« und gehe voraus in den langen dunklen Gang, der zum Auditorium führt. Die eine Seite ist mit Fotos von Legenden bedruckt, die den Vipers ihren ersten Superbowl-Sieg bescherten, die andere mit dem Graffiti: WHAT NEXT?
Ja, was nun?
Die Antwort ist klar. Sie war schon klar, seit ich als Kind mein erstes NFL-Endspiel live im Fernsehen gesehen habe: Ich wollte die Vince-Lombardi-Trophy gewinnen. Letzte Saison wurden wir nach einem desaströsen Start mit heftigem Verletzungspech völlig überraschend als Mitfavoriten gehandelt, standen kurz vor dem Finaleinzug, aber dann …
Ich öffne die Tür zum Auditorium und tauche in das Gewimmel, in dem sich die lauten Scherze und geschmacklosen Sprüche meiner Mitspieler über meine Gedanken legen. Suchend lasse ich den Blick durch den Raum schweifen und mache Sam, unseren Starting Quarterback, am Rand der zweiten Reihe aus. Sam war die Sensation der vergangenen Saison. Das Thema der NFL. Von Mr Irrelevant, dem zuletzt ausgewählten Spieler beim Draft, zur Nummer eins, Mr Relevant, der uns Spiele gewann, die längst verloren schienen. Für mich ist er in erster Linie ein Freund geworden. Wir verbrachten sogar Weihnachten und einen Urlaub während der Off-Season zusammen. Ich will zu ihm gehen, doch Saint zieht mich in eine der mittleren Reihen, Jax und Danny setzen sich neben mich, und damit bin ich eingekesselt. Der Geräuschpegel nimmt ab, sobald sich unser Coach, Rob Felton, vor die Leinwand stellt.
»Hey, Kids.« Rob lächelt in die Runde. »Gut, euch zu sehen. Nur noch zwei Tage bis zum ersten Saisonspiel. Seid ihr alle heiß?«
Zustimmendes Grölen ertönt, ich bleibe still.
»Heute gilt es noch mal, Vollgas in der Vorbereitung zu geben. Denkt dran: Wir sind Giftschlangen, gegen die selbst der gefährlichste Jaguar keine Chance hat!«
Auf einen Klick von Robs Pointer schiebt sich eine animierte Viper ins Bild, die dem Logo der Jacksonville Jaguars ihre Giftzähne in den Hals rammt. Rob ist ein Fan von solchen Animationen, sie kommen gut bei den Jungs an, und auch diese sorgt dafür, dass die Stimmung im Auditorium hochkocht.
»Wir müssen ihre Schwachstellen ausnutzen. Denn davon besitzen sie einige. Das haben sie vergangene Saison eindrucksvoll bewiesen.«
Rob klickt erneut, und nun wird ein Video mit den Pannen unseres nächsten Gegners abgespielt. Die Jungs um mich herum kommentieren es mit höhnischen Geräuschen und Gelächter. Mir hingegen schnürt sich langsam, aber sicher die Kehle zu, als ich beobachte, wie einem Jaguars-Receiver ein Ball aus den Fingern flutscht, der eigentlich leicht zu fangen gewesen wäre. Hitze bildet sich in meinem Magen und läuft mir hinauf in den Kopf. Die Pixel der Leinwand fliegen durcheinander, nur um sich danach zu einem anderen Film zusammenzusetzen. Aus der 92 des Gegners wird meine Nummer, die 89, aus einem beliebigen Saisonspiel, das Championship Game gegen die Chiefs, und der perfekt geworfene Ball kommt nicht vom Jaguars-Quarterback, sondern von Sam. Er hat die optimale Flugkurve, ich muss ihn nur aus der Luft greifen, dann trennt mich nichts mehr von der Endzone, vom Touchdown, vom Einzug in den Super Bowl. Doch ich fange den Ball nicht. Ich jongliere damit wie mit einer glühend heißen Ofenkartoffel, als würde ich einen Macarena-Tanz aufführen. Ich lasse ihn fallen, den wichtigsten Ball meiner Karriere – ich lasse mein Team im Stich.
Niederlage. Aus der Traum vom großen Finale. Vom Super-Bowl-Ring. Vom ewigen Ruhm. Wegen mir. Allein wegen mir.
Ein kühler Schweißfilm legt sich auf meine Stirn, inzwischen atme ich so flach wie nach einem 100-Yards-Sprint. Das Auditorium entfernt sich von mir, Stück für Stück, und ich werde in mein Inneres gezogen, wo es keinen fucking Sauerstoff gibt. Zur Hölle! Mit einer Hand taste ich mir an den Hals. Ich befehle meinem Körper zu atmen, zu schlucken, zu funktionieren, doch er reagiert nicht.
»Alles okay bei dir, Dude?«, fragt Jax, und schlagartig lasse ich meine Hand sinken. Verhalte dich nicht so auffällig, James.
»Bestens«, presse ich hervor. »Ich muss nur mal aufs Klo.«
»Sag das doch gleich.« Jax schiebt seine Beine zur Seite und macht mir Platz. Sämtliche Augenpaare richten sich auf mich, als ich mitten in der Motivationsrede des Coaches aufstehe. Scheiß drauf. Wenn ich jetzt nicht gehe, passiert vielleicht etwas viel Schlimmeres, schießt es mir durch den Kopf. Ich brauche ein paar Minuten, um mich zu sammeln. Deutlich lässiger, als ich mich fühle, verlasse ich die Sitzreihe und steige die Treppe hinauf.
»Ah, Kayce langweilt sich schon«, höre ich Robs ironische Stimme in meinem Rücken. Ich mache eine hilflose Geste in Richtung Körpermitte, was sich nur jemand mit meinem Status im Verein erlauben kann. Neben dem Gelächter meiner Mitspieler bringt es mir sogar das des Coaches ein. Dann erreiche ich endlich die Tür und flüchte auf den Flur.
Ich will tief Luft holen, doch es klappt noch immer nicht. Als wäre meine Luftröhre so schmal wie ein Nadelöhr, durch das ich dickflüssige Luft pressen muss. Meine Kehle ist unendlich trocken, ich kann nicht mehr schlucken, da geht gar nichts, ich ersticke an meiner eigenen Schluckbewegung. Erneut fasse ich mir an den Hals. Shit, shit, shit.
Der Gang beginnt zu wanken, und jetzt macht sich Panik in mir breit. Kann man einfach so ersticken, weil der kerngesunde Körper urplötzlich alle Funktionen verweigert? Zum Teufel, geht das?!
Ich habe keine Lust, es herauszufinden.
Ich muss mich hinsetzen, kommt mir ein lichter Gedanke inmitten des aufziehenden Dunkels in meinem Kopf. Mich vielleicht sogar hinlegen.
Den Hals weiter umklammert, renne ich durch den Gang, der zu geisterhaften Schemen verschwimmt. Die Klimaanlagenluft trifft eisig auf den Schweiß, der mir wie ein Fremdkörper auf der Stirn klebt. Ich schnaufe. Meine Kehle ist eine verdammte Wüste. Wo kann ich hin? Ich mache auf dem Absatz kehrt, laufe zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin, und suche fieberhaft die Schilder neben den Türen ab. Die Schrift verwischt, die Buchstaben springen durcheinander.OefinfeesvLienmooR. Irgendwie schaffe ich es, die Klinke zu erwischen, die Tür aufzudrücken und hineinzutaumeln. Alles bewegt sich. Die Stühle, das Flipchart, die Fenster, die Tür, zu der ich mich umdrehe, um sie hinter mir zu schließen. Danach sacke ich an der Wand hinab auf den Teppichboden. Meine Hände zittern so stark, dass ich sie zu Fäusten balle, um sie unter Kontrolle zu bringen. Jeder Atemzug ist ein Kraftakt, doch wenigstens habe ich hier unten das Gefühl, die nächsten Minuten überleben zu können.
Holy fuck. Was stimmt nicht mit mir? Warum passiert das? Warum ausgerechnet hier, in meinem Safe Space Vereinsgebäude? Vielleicht bin ich dabei, den Verstand zu verlieren. Wenn es nicht schon längst zu spät ist. Man wird mich einweisen und dann werde ich nochweiter durchdrehen, weil ich nicht allein sein kann, aber anscheinend kann ich auch nicht mehr unter Leuten sein. Ich bin geliefert, ich bin am Ende, ich –
Ich fahre so heftig zusammen, dass mein Hinterkopf gegen die Wand schlägt. Jemand hat die Tür geöffnet, und die untere Ecke rammt mein Schienbein.
»Fuck, was zur …«
Als ich aufsehe, glitzern mir goldene Buchstaben auf einem weißen T-Shirt entgegen. VIP-Gast im Golden Oaks Diner, Ojai. Und spätestens in dem Moment, in dem mein Blick auf die weit aufgerissenen Augen von Shaila Sterling trifft, weiß ich, dass ich wirklich den Verstand verloren habe.
25. Juli, vor fünf Jahren
Liebes Tagebuch,
Kayce ist weg.
Die letzten Tage habe ich nichts geschrieben, weil es einfach nicht ging. Ich war wie benommen. Kendra hat es mir vorgestern erzählt. Erst dachte ich, sie macht einen ihrer Scherze. Dass sie vielleicht für eine Rolle im Schultheater übt. Aber als sie dann angefangen hat zu weinen, war mir klar, dass es kein Scherz ist.
Er ist nach Alabama gegangen, meinte sie. Einfach so. Ohne ein Wort zu irgendwem zu sagen. Nicht mal Charlotte und Steven wussten Bescheid. Niemand wusste es. Ich kann es immer noch nicht fassen. Mir ist so verdammt schlecht. Es kann nicht stimmen, oder? Ich meine, er hat mir dieses Versprechen gegeben. Das ist erst drei Wochen her, und überhaupt, warum sollte er das tun? Warum sollte er wortlos nach Alabama abhauen? Es ergibt keinen Sinn. Es ergibt einfach keinen Sinn. Ich verstehe überhaupt nichts. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Alles tut weh. Jedes einzelne Organ, vor allem mein Herz. Es ist gar kein Herz mehr, glaube ich. Es ist nur noch ein zerquetschter, schmerzender Klumpen.
Kayce kann nicht einfach so weg sein. Das würde er niemals tun. Es kann nicht sein, es kann nicht sein, es kann nicht sein.
Shaila
Ich habe mich verlaufen. Es ist mein erster Tag als Studentin im Medical Program der L. A. Vipers, ich bin vielleicht seit zwanzig Minuten hier, und schon habe ich die Orientierung verloren – erbärmlich, aber wahr. In einem Moment befand ich mich in einem Besprechungsraum neben meiner Supervisorin vor dem Medizinstab des Footballvereins und versuchte vergeblich, ein paar Worte über mich selbst hervorzubringen. Im nächsten stehe ich plötzlich auf diesem dunklen Gang mit seinem gruseligen WHAT NEXT?-Graffiti und weiß nicht, wo ich hinsoll.
Aus irgendeinem Grund hielt ich es für eine brillante Idee, mich mitten in der Vorstellung meiner Person, die dann notgedrungen Dr. Sunderland übernahm, zu entschuldigen und auf die Toilette zu flüchten.
Shaila stößt als neues Talent zum Medical Program. Ich glaube, wir können von ihrer Begabung große Dinge erwarten, hallt Dr. Sunderlands Stimme erneut durch meine Gedanken, und es ist mir noch immer so unangenehm, dass ich die Augen zusammenpresse und mich buchstäblich schütteln muss. Das klingt so, als könnte ich Wasser zu Wein verwandeln. Dabei studiere ich an einer der bedeutungslosesten Universitäten des Landes, verfüge über null praktische Erfahrungen und bin allein durch Zufall in dieses Programm gestolpert.
Trotzdem sollte ich langsam wieder zurück, daran führt kein Weg vorbei. Warum nur muss hier jede Tür gleich aussehen? Verflucht! Hilflos drehe ich mich auf der Stelle und nage an meiner Unterlippe. Ganz ruhig, es kann mir nichts passieren. Ich bin sicher und werde geliebt. Ich konzentriere mich auf das Mantra, das ich von der Star-Therapeutin aufgeschnappt habe, deren YouTube-Videos ich seit Jahren inhaliere wie andere Netflix-Serien. Zwar komme ich mir dabei ein wenig seltsam vor, doch zum Glück kann niemand meine Gedanken hören. Und es beruhigt mich. Ein bisschen zumindest. Vor mir steht kein Säbelzahntiger, spreche ich mir gut zu. Mir kann nichts Lebensgefährliches passieren.
Bewusst langsam lasse ich meinen Atem entweichen und schaue mich um. Ein dumpfes, rumpelndes Geräusch aus dem Zimmer neben mir erschrickt mich. Ich deute es als Zeichen des Universums. Entweder ist das der Raum, in den ich ohnehin muss, oder da ist jemand, den ich nach dem Weg fragen kann.
Vorsichtig drücke ich die Tür auf und scanne das Innere. Es handelt sich um einen Besprechungsraum, jedoch nicht um den, den ich suche. Die Stühle vor den drei Tischreihen in diesem hier sind leer, und auf dem Flipchart sind Symbole aufgemalt, die wie Hieroglyphen aussehen und mir vorhin bestimmt aufgefallen wären. Um sicherzugehen, drücke ich die Tür dennoch weiter auf, bis sie gegen einen Widerstand stößt.
»Fuck, was zur …«
Ich fahre zusammen und blicke nach unten, zur Quelle des dunklen Grollens.
Kayce. Kayce James.
Mein Herz donnert gegen meine Rippen.
Er hat seine Schultern an die Wand gelehnt und fährt sich mit der Hand über das Schienbein. Allmählich dämmert mir, dass ich die Tür ausgerechnet gegen das Bein genau desjenigen Jungen gerammt habe, in den ich seit Ewigkeiten verknallt bin und den ich seit fünf Jahren vermisse.
Das darf nicht wahr sein.
Mein Pulsgeht so heftig, dass es mir sämtliche Luft aus den Lungen presst. Wie versteinert starre ich ihn an.
Sein dunkelblondes, welliges Haar sieht zerzaust aus, seine seeblauen Augen wirken glasig und seine Gesichtsfarbe … Trotz der Bräunung ist sie bleich. Nur die Wangen sind rot gefleckt, und auf der Stirn glänzt ein dünner Schweißfilm. Auch seine Lippen haben jegliche Farbe verloren, sein Brustkorb hebt und senkt sich viel zu schnell. Mein Blick gleitet an Kayces Arm entlang zu seiner Hand, die er neben sich auf dem Boden zu einer Faust geballt hat.
Sie zittert. Nur leicht, doch ich könnte es niemals übersehen.
Meine Lippen teilen sich.
Was ist los mit ihm? Geht es ihm nicht gut? Hat er Schmerzen? Warum sitzt er allein in einem verlassenen Besprechungsraum auf dem Boden?
Ich will etwas sagen, auch wenn ich nicht weiß, was, irgendetwas, da richtet er sich plötzlich auf – blitzschnell, wie ein Raubtier, ist er auf den Füßen. Überrascht weiche ich zurück und stoße dabei mit dem Rücken gegen die Tür. Ich spüre das kühle Material in meinem Nacken und höre das Klicken, als sie wieder ins Schloss fällt. Ehe ich auch nur ansatzweise verstehe, was hier passiert, hat Kayce die Hände zu beiden Seiten von mir gegen die Wand gestützt und mich eingekesselt. Mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße, seiner muskulösen Brust und seinem intensiven Blick nimmt er alles ein. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er noch ein Junge. In den vergangenen fünf Jahren sind seine Züge markanter geworden – sie haben ihn zu einem Mann gemacht. Er führt die Lippen an mein Ohr, seine Bartstoppeln kratzen sachte über meine Haut, und sein heißer Atem schmiegt sich an meinen Hals, sodass ich erschaudere.
»Shaila Sterling.«
Mein Name aus seinem Mund ist ein dunkles Versprechen. Ich spüre es tief in mir, an einer Stelle, die ich selten so stark gespürt habe wie in diesem Moment. Ich brauche Sauerstoff, doch da ist nur sein berauschender Duft, der sich wie Nebel über meine Gedanken legt. Er riecht noch wie früher: Pinie und Meer und Rauch und frischer Wind. Alle vier Elemente, die sich auf seiner Haut zu einer Droge vermischen, die ich in vollen Zügen inhaliere. Mein Körper verliert weiter an Spannung, ich bin kurz davor zu zerfließen. Was auch immer das hier ist, ich habe zu denken aufgehört, ich fühle nur noch. Durch halb geschlossene Augen nehme ich wahr, wie er seine rechte Hand von der Wand löst und sie an mein Gesicht führt. Seine Finger schweben über meiner Wange, ohne mich zu berühren, doch es reicht, um das Blut in meinen Venen zum Rauschen zu bringen. Sein Atem an meiner Haut, die Hitze seines massiven Körpers wie Stauwärme an einem heißen Sommertag, seine hauchzarte Beinahe-Berührung … Mein Herz flattert so wild, als wollte es davonfliegen … zu ihm. Als wäre es dort nicht schon längst.
»Was mache ich nur mit dir, Shaila Sterling, hm?«
Alles, was du willst.
Kayce
Shailas braune Rehaugen sind geweitet, ihr Blick wandert schamlos über mich. Als hätte sie ein Recht dazu, mich zu entschlüsseln. Als hätte sie ein verfluchtes Recht, überhaupt hier zu sein. Das hier ist mein Verein, meine Welt. Sie gehört hier genauso wenig hin wie ein beschissener Teddybär in eine Kaserne.
Was zur Hölle tut sie hier? Warum starrt sie mich so an?
Vorhin scannten ihre Augen jeden Zentimeter meines Körpers ab, von meinem Gesicht über meine Brust bis zu meinen Armen, und da flackerte etwas in ihrer Iris, das mich beunruhigte. Was sieht sie jetzt?
Schön sind ihre Augen, waren sie schon immer. Dunkelbraun wie feuchte Blumenerde. Sie geben einem das Gefühl, dass alles darin wachsen könnte. Auch ihr Geruch ist mir noch seltsam vertraut, trotz all der Jahre, die zwischen unserer letzten und der heutigen Begegnung liegen. Sie riecht nach Vanille und Jasmin und etwas Exotischem, das ich nicht recht greifen kann. Etwas, das mich die Nase an ihren Hals führen lässt, um dem Herzschlag näher zu sein, der unter diesem Duft pulsiert. Es macht mich fast high.
Sie ist klein. Winzig, um genau zu sein. Vielleicht 1,60, wenn es hochkommt, und so schmal und zerbrechlich. Eine Porzellanpuppe, die man nur mit Samthandschuhen anfassen kann. Nur so viel lebendiger. So fucking viel lebendiger. Ich habe es nie verstanden, doch jetzt, da sie nach all der Zeit so unverhofft vor mir steht, trifft es mich mit einer Wucht, die meine Atmung versagen lässt.
»Shaila Sterling.« Ihr Name stiehlt sich mir über die Lippen, meine Stimme kommt mir selbst überraschend rau vor.
Sie sagt nichts. Zumindest nicht mit Worten. Ihr Körper aber erzählt eine eigene Geschichte. Fast habe ich das Gefühl, dass sie unter dem simplen Klang ihres Namens schmilzt. Ihre Schultern sacken tiefer, als hätte ich allein mit meiner Stimme die Macht, sie zu kontrollieren. Ihr Körper reagiert auf mich. Vielleicht war es früher schon so. In jener Nacht. Es ist so lange her, die Erinnerung verblasst, aber das hier geschieht in voller Intensität.
Ich hebe leicht den Kopf, ihre Lider flattern. Shaila Sterling ist die Unschuld in Person, doch wie sie mich nun durch halb geöffnete, verschleierte Augen anschaut, ist womöglich das Erotischste, was ich je gesehen habe. Die Erkenntnis schockiert mich. Weil es stimmt. Und ihre Lippen. Blutrot. Sie stehen in krassem Kontrast zu ihrer hellen Haut, die von dunkelbraunem, fast schwarzem glänzenden Haar umrahmt wird. Schneewittchen.
Ich weiß schon längst nicht mehr, wer hier eigentlich wen kontrolliert. Mein Körper reagiert auf ihre Reaktionen. Ich will sie anfassen. Ich will das Leben anfassen. Will mich selbst wieder lebendig fühlen, ohne diese beschissenen Schatten auf meiner Seele. Ihr zarter Puls und ihre rosigen Wangen flüstern mir zu, dass es möglich sei. Greifbar, so, so nah.
Meine rechte Hand bewegt sich auf ihr Gesicht zu, und da ist ein Schweregefühl in meinem Brustkorb, das nichts mit Panik zu tun hat. Vermutlich sollte es mir noch mehr Angst machen. Weil es beängstigende Ähnlichkeit mit Sehnsucht hat. Doch ich bin zu hypnotisiert, um Angst zu empfinden. Ihr Duft ist ein verdammtes Aphrodisiakum. Blut rauscht durch meinen Körper, sammelt sich an Stellen, an die es nicht hingehört.
»Was mache ich nur mit dir, Shaila Sterling, hm?«
Was machst du nur mit mir, Shaila Sterling?
Ich steuere diese Worte nicht. Seit dem Moment, in dem ich sie erkannt habe, steuere ich gar nichts mehr. Meine Hand verharrt knapp vor ihrer Wange. Es wäre so leicht, sie an ihre weiche Haut zu legen und diese Theorie zu testen, die ich damals aufgestellt habe und dann vergessen musste. In der Luft fahre ich mit dem Daumen ihre Augenpartie nach.
»Schau mich mal an.«
Kurz zögert sie, dann öffnet sie die Lider und sieht mich mit ihren erdbraunen Augen an. Der Gedanke ist fucking kitschig, aber ich könnte in diesen Augen versinken. Ich versinke bereits. Tiefer und tiefer. Je weiter ich vordringe, je tiefer ich sinke, desto intensiver wird dieses Gefühl in meiner Brust, dieses Ziehen, das mich dehnt, bis ich wieder Risse spüre. Etwas in mir reißt – reißt auf oder zerreißt, ich kann es nicht festmachen, bloß verstehe ich plötzlich, dass der Schmerz in mir eine schmale Grenze ist. Sobald ich sie übertrete, wartet der Abgrund auf mich.
Ich presse die Lippen fest aufeinander und blinzle.
Endlich erlange ich die Kontrolle über meinen Körper zurück. Das vor mir ist Shaila Sterling, in drei Teufels Namen. Sie ist Ojai. Fünf Jahre lang habe ich in der trügerischen Sicherheit gelebt, dass ich mich für immer von diesem Ort und den dazugehörigen Menschen abschotten könnte. Der Portier in meinem Studentenwohnheim in Alabama, der Anwalt und mein Manager, die Security, sie alle bildeten eine Mauer um mich herum, hinter der ich mich die ganze Zeit über verschanzen konnte. Doch nun steht sie hier. Ein Eindringling in meiner perfekten … in meiner fast perfekten Welt. Wie hat sie es als Unbefugte ins Vereinsgebäude geschafft? Warum ausgerechnet sie, warum ausgerechnet jetzt, heute, an diesem Tag, der ohnehin schon beschissen begonnen hat?
Ich beiße in die Innenseite meiner Wange.
Shaila Sterling mag Ojai sein, aber sie ist auch ein winziges Kitten. Ich dagegen bin ein ausgewachsener Löwe. Einer der besten Tight Ends der Liga, ein Footballkrieger, der für seinen Traum schon Millionen Mal durchs Feuer gegangen ist. Sie kann mir nichts anhaben, das rufe ich mir nun ins Gedächtnis.
»Ehrlich, was zur Hölle hast du hier zu suchen, Shaila?«
Ihre Porzellanoberfläche bekommt einen Sprung. Ich sehe es überdeutlich: Meine schroffe Frage lässt sie sichtbar zusammenzucken. Das habe ich beabsichtigt. Nicht jedoch, dass ihre Reaktion auch mich für einen Augenblick aus der Fassung bringt. Die glitzernden Buchstaben auf ihrem weißen Shirt ziehen mich erneut an, verspotten mich. VIP-Gast im Golden Oaks Diner, Ojai. Und die Erinnerung daran, wo sie herkommen, wo ich herkomme, reicht, um meine Fassung zurückzugewinnen.
»Haben Kendra und Charlotte dich eingeschleust? Als … Spionin, als Streitschlichterin oder so?«
»Moment, was?« Sie reißt die Augen auf.
»Du hast mich schon gehört.«
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie hier sonst wollen könnte. Shaila Sterling ist – wie ihre Mutter – ein Ojai-Urgewächs. Jeder kennt und mag die Sterlings; sie können dir den hintersten Winkel dieser verschlafenen Kleinstadt zeigen. Shaila wollte nie Karriere machen. In ihrer Heimat zu bleiben war ihr stets wichtiger als alles andere.
Und sie ist eine gute Freundin meiner kleinen Schwester.
Röte verteilt sich in ihren Wangen. Ertappt. Ich stoße ein Schnauben aus, fahre mir durch das Haar und schüttele den Kopf. »Nicht deren Ernst«, sage ich, mehr zu mir selbst. Und dann, an sie gewandt: »Nicht dein fucking Ernst, Shaila.«
»Nein«, sagt sie verräterisch hastig, ihr Gesicht ist inzwischen knallrot. »Das ist es nicht.«
»Oh, Shaila …« Es sollte mir nicht so sehr gefallen, ihren Namen auszusprechen, das »l« dabei mit meiner Zunge zu streicheln, als wäre es etwas Kostbares. »Wenn du lügen könntest …«
Was dann? Warum bloß habe ich das Gefühl, dass das hier auch in eine ganz andere Richtung gehen könnte, sobald wir beide eine Sekunde nicht aufpassen? Und wieso turnt mich dieser absurde Gedanke an?
Ich will eine Hand an meinen Schritt führen, um ihn zurechtzurücken, doch halte mich im letzten Moment davon ab. Nutzlos schweben meine Finger zwischen uns, und dann überrumpelt mich Shaila, indem sie aus dem Nichts danach greift. Es ist der leichteste Kontakt, es sind nur unsere Hände, trotzdem erwischt es mich so viel heftiger, als es das sollte. Ihre Haut ist warm und weich und … löst etwas Vergessenes in meinem Herzen aus. Unsere Berührung zieht mich zurück zu diesem Moment, in dem mein Leben ein ganz anderes hätte werden können – und ich das wollte. Fuck, wie ich es wollte. Doch alles kam anders. Der Moment hielt sein Versprechen nicht, und so konnte ich meins nicht halten. Und dass es sich nun, fünf Jahre später, wieder zwischen unsere Finger schleicht wie ein Geist, der das Verlorene nicht loslassen kann, das …
Vom Flur dringen laute Stimmen in den Besprechungsraum – die Mannschaftsansprache ist vorbei. Ich habe sie komplett verpasst, und es ist der Realitätscheck, den ich brauche, um mich endlich aus Shailas Bann zu befreien. Ich mache mich von ihr los und greife nach der Türklinke. Kommentarlos weicht sie zur Seite. Ohne sie noch einmal anzusehen, sage ich: »Du solltest verschwinden, Shaila.«
23. August, vor einem Jahr
Liebes Tagebuch,
heute war eine absolute Koryphäe der Sportmedizin von der UCLA beim Praxistag. Dr. Bethany Sunderland. Weil sie aus Ventura kommt, hat sie eine besondere Beziehung zu diesem College. Ihre Ausstrahlung ist echt beeindruckend. Sie strotzt nur so vor Energie und Selbstbewusstsein – und sie arbeitet für die L. A. Vipers. Kayces Verein. Ich glaube, ich werde niemals von ihm loskommen …
Zumal jetzt dieser Satz durch meinen Kopf geistert, den sie zu meinem Dozenten gesagt hat: »Ich brauche Shaila Sterling für das Medical Program. Sie hat ein unglaubliches Gespür.«
Ich habe mich nicht verhört, ich bin mir ganz sicher. Ich weiß nur nicht, wie sie zu diesem Schluss kam. Ich habe nur ein paar Knöchel und Beine abgetastet. Sie kann das nicht ernst gemeint haben. Und selbst wenn. Ich würde niemals in einem Sportverein arbeiten, schon gar nicht in Los Angeles. Ojai braucht Ärztinnen wie mich. Es war immer mein Plan, hier in einer Praxis zu arbeiten.
Es ist mein Plan, hier in einer Praxis zu arbeiten. Daran hat sich nichts geändert.
Trotzdem muss ich die ganze Zeit an Dr. Sunderlands Worte denken. Da ist dieses seltsame Herzflattern, als hätte ich aus Versehen statt grünem Tee einen doppelten Espresso getrunken.
Es muss an Kayce liegen.
Weil es eine Chance gewesen wäre, ihn wiederzusehen. Vielleicht die einzige.
Ich sollte die Sache vergessen.
Shaila
Fünf Jahre hatte ich Zeit, mir vorzustellen, wie ein Aufeinandertreffen zwischen Kayce und mir aussehen würde, und ich habe mir alle möglichen Szenarien ausgemalt. Kein einziges davon hatte etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Er hat mich angeblafft und mit mir gespielt – doch all das war mir egal. Ich wollte so sehr, dass er mich berührt, dass mein Gehirn nur noch diesen einen Befehl kannte und ich nach seiner Hand greifen musste.
Und er?
Er schließt die Tür hinter sich und geht. Seine harschen Worte bleiben als Echo im Besprechungsraum zurück. Du solltest verschwinden, Shaila.
Ich zupfe am Saum meines T-Shirts, woraufhin die Buchstaben im Sonnenlicht glitzern, das durch die Fenster fällt. Heute Morgen, als ich es ausgewählt habe, fühlte es sich richtig an, ein Stück Heimat an meinem Körper zu tragen; ein Geschenk von Ben, dem Besitzer des Golden Oaks. Aber jetzt gerade? Da komme ich mir darin einfach nur lächerlich vor.
Du solltest verschwinden.
Innerlich winde ich mich.
Weil es keinen Sinn ergibt. Als sich unsere Hände berührten, da rührte sich auch etwas in seinem Blick. Er wurde weich und sanft und … traurig, irgendwie. Wie weggefegt waren der aufgewühlte Kayce, der auf dem Boden saß, der Player, der mich gegen die Tür drückte, der Fremde, der mich verachtete. Da war etwas Echtes und Verletzliches, und es verwirrt mich. Alles, was in diesen wenigen Momenten zwischen uns passiert ist, verwirrt mich.
Ich habe ihm nicht mal gesagt, dass ich Studentin im Medical Program bin. Kein Wunder, dass er mich für eine Ojai-Spionin hält, ohne Vipers-Ausweis um den Hals oder Outfit in den Vereinsfarben. Dabei hat mich niemand aus Ojai hierhergeschickt – nicht so richtig, zumindest. Du musst das unbedingt machen, Shy, es ist unsere einzige Chance, an ihn heranzukommen und Antworten zu kriegen!
Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen die Wand hämmern.
Die Tür öffnet sich, und ich schrecke auf. Für einen kurzen Moment glaube ich, dass Kayce zurückgekommen ist, doch es ist bloß ein Vereinsmitarbeiter, der fragend die Brauen hebt.
»Ich … äh«, bringe ich hervor. Ichsehe dann mal zu, dass ich mich davonmache, vervollständige ich den Satz in Gedanken und trete auf den Flur, durch den eine Masse aus Spielern und Funktionären strömt.
Ich weiche zur Seite, drehe mich um und bemerke nun die kleinen Schilder neben den Türen. Medical Team, steht auf einer. Hier hätte ich sein sollen anstatt mit Kayce James in einem verlassenen Besprechungsraum. O Mann. Obwohl mir gerade viel mehr nach frischer Luft zumute ist und ich gern aus dem Gebäude fliehen würde, überwinde ich mich, die Tür zu öffnen und in den richtigen Raum zu schlüpfen. Unter dem argwöhnischen Blick des Chefs des Medical Teams, Dr. Michael Whalen, husche ich auf den Platz in der letzten Reihe, auf dem ich sehr zufrieden war, bevor mich meine Supervisorin nach vorn ins Rampenlicht gezerrt hat. Ich bin erschöpft, wie damals bei meinem Praktikum, als ich Nachtschichten in der Notaufnahme des St. Mary Hospitals geschoben habe. Um mich abzulenken, fixiere ich die PowerPoint-Präsentation, doch das macht es nur schlimmer, denn mir schaut ausgerechnet Kayce entgegen. Diesmal als Foto in einer Übersicht verletzter und angeschlagener Spieler.
»Zach«, fährt Dr. Whalen fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Unser Sorgenkind. Wegen der Komplikationen hat alles deutlich länger gedauert als geplant, aber er ist praktisch wieder fit. Wir müssen dafür sorgen, dass er das bleibt. Er muss von Beginn an einsatzfähig sein. Rob kann nicht nur auf Sam Ashton bauen, er braucht einen guten Ersatz für ihn.«
Der Teamarzt erwähnt so viele Namen, die mir nur vage etwas sagen, dass er genauso gut in einer anderen Sprache sprechen könnte. Ich sollte die Spieler besser kennen, sollte wesentlich mehr Ahnung von American Football haben, als ich es tue, doch mich hat an diesem Sport immer nur Kayce interessiert. Mit dem Pointer fährt Dr. Whalen nun über dessen Gesicht auf der Leinwand, und mein Herz reagiert darauf mit einem leichten Stolpern.
»Diese Nervengeschichte um Kayces rechten Knöchel hat uns letzte Saison schon auf Trab gehalten. Er sagt, er sei beschwerdefrei. Hoffen wir, dass es stimmt. Rob zählt auf ihn. Er muss funktionieren. Neben Zach hat er absolute Priorität.«
Die Anwesenden murmeln zustimmend. Dr. Whalens Blick wandert durch die Reihen und verharrt einen Augenblick länger bei meiner Supervisorin Dr. Sunderland. Etwas passiert zwischen den beiden, eine Art stiller Austausch oder ein Blickduell, es lässt sich schwer einordnen. Dann setzt er die Präsentation fort. Meine Gedanken hingegen bleiben bei seinen vorherigen Worten.
Natürlich habe ich mitbekommen, dass Kayce in der Vergangenheit Schwierigkeiten mit seinem Knöchel hatte. Von Nervenproblemen ist in der Berichterstattung jedoch nie die Rede gewesen. Mir wird ein bisschen flau im Magen, weil das ernster klingt, als ich bislang angenommen habe. Aber auch, weil mir dieser eine Satz von Dr. Whalen eisig durch die Knochen zieht: Er muss funktionieren. Als wäre Kayce nichts weiter als ein Roboter, dem man die richtigen Ersatzteile einbauen muss.
So ist es ja auch, wispert es in einer hinteren Ecke meines Kopfes. Die Gesundheit der Spieler steht in dieser Liga an letzter Stelle. Es sind ihre Leistungen, die zählen.
Mein Magen krampft sich weiter zusammen und entspannt sich erst wieder, als Dr. Whalen das Meeting wenig später für beendet erklärt.
»Shaila.« Dr. Sunderland erwartet mich mit besorgtem Gesichtsausdruck in der Nähe des Beamers. Die meisten anderen Teammitglieder haben den Besprechungsraum bereits verlassen. »Ist alles gut bei dir?«
»Ja, klar«, sage ich, betont gut gelaunt. Ich hoffe inständig, dass sie mich nicht in die Verlegenheit bringt, mir eine Ausrede überlegen zu müssen, warum ich beinahe den gesamten ersten Tagesordnungspunkt versäumt habe.
»Bist du sicher?«
Sie forscht in meinem Gesicht, und ich komme nicht umhin zu denken, dass sie alles ist, was ich nicht bin: selbstbewusst, energiegeladen, hochbegabt. Eine Koryphäe in ihrem Fach, mit Anbindung an die renommierte University of California in L. A., die sich vor ein paar Monaten nur deshalb an mein kleines College verirrte, weil sie selbst aus der Gegend um Ojai und Ventura stammt. Da sah sie irgendetwas in mir und sprach schließlich diesen folgenschweren Satz aus: Ich brauche Shaila Sterling für das Medical Program.
»Ja«, wiederhole ich stumpf.
Dr. Whalen tritt neben meine Supervisorin.
»Shaila, ich würde dich gern persönlich mit Dr. Michael Whalen bekannt machen«, sagt sie mit einem professionellen Lächeln. »Mike, das ist Shaila Sterling, unsere neue Studentin im Medical Program.«
»Ah.« Dr. Whalen runzelt die Stirn und mustert mich von oben bis unten. Sein Blick bleibt an der Glitzerschrift auf meinem Shirt hängen, und Scham flimmert mir durch die Adern. Diese Klamottenwahl hätte ich vielleicht überdenken sollen. Der Teamchef selbst ist vollkommen in Weiß gekleidet: weißes Poloshirt, weiße Hose, weiße Sneaker. Den einzigen Farbtupfer bildet eine kleine grüne Viper auf seiner Brust. Er strahlt pure Autorität aus.
»Wie ich vorhin schon erzählt habe, ist sie Jahrgangsbeste in ihrem Studiengang«, ergänzt meine Supervisorin. »Ihre Dozenten schwärmen von ihr, und ich konnte mich bei meinem Besuch an ihrem College selbst von ihrer Kompetenz überzeugen. Shaila hat ein besonderes Gespür für Diagnosen und individuell zusammengestellte Behandlungsansätze. Ihr fällt es leicht, eine Verbindung zu den Patienten aufzubauen.«
Dr. Whalens Braue bewegt sich ein Stück weiter nach oben, als er mir ins Gesicht sieht. Meine Wangen beginnen zu brennen, und garantiert flammen rote Flecken an meinem Hals auf. An einer Provinzuni wie meiner ist es ja auch nicht gerade schwer, positiv aufzufallen, möchte ich relativieren. Dr. Sunderland zeichnet ein völlig verzerrtes Bild von mir!
»Ich erinnere mich«, sagt Dr. Whalen, bevor er trocken hinzufügt: »Das Wunderkind.« Anschließend hebt er die Hand zu einem unverbindlichen Gruß. »Freut mich.«
Wunderkind.
Ich will im Boden versinken.
»Wir können wirklich froh sein, sie für das Programm gewonnen zu haben. Shaila hat enormes Talent«, bekräftigt Dr. Sunderland. Sie schaut ihrem Vorgesetzten fest in die Augen, und auch wenn sie es gut meint, wünschte ich, sie würde aufhören, turmhohe Erwartungen zu schüren, die ich niemals erfüllen kann. Sie kennt mich kaum. Spitzennoten werden den Leuten an meiner Uni hinterhergeworfen, und dass der Praxistag, an dem sie da war, gut lief, könnte reiner Zufall gewesen sein. Da draußen sind Tausende und Abertausende, die so viel fähiger sind als ich. Dr. Whalen sehe ich an, dass er genau das denkt. Eine Meeting-Störerin im Glitzer-Shirt, die kaum den Mund aufkriegt, scheint nicht seine erste Wahl zu sein. Es ist offensichtlich, dass er Dr. Sunderland nicht abkauft, dass ich etwas tauge, womit wir schon zwei wären.
»Na dann bin ich mal gespannt.« Der Teamchef checkt seine Smartwatch.
»Sie kann ihr Talent gleich unter Beweis stellen.«
Die Art, wie er das Wort Talent ausspricht, versetzt mir einen Stich. Ich zwinge mich trotzdem zu einem Lächeln, und kurz darauf stehe ich vor einer gigantischen Fensterfront, hinter der sich zwei ebenso gigantische Footballfelder erstrecken: das Trainingsgelände der L. A. Vipers. Das vordere Feld ist mit bunten Hütchen, Kegeln und Trainingsdummys gespickt. Die Mittagssonne brennt darauf. Fans, die bei der Trainingssession dabei sein wollen, tummeln sich auf den Rängen an der Seite, und in der Ferne zeichnen sich die Silhouetten karger Bergketten ab. Als ich Dr. Sunderland durch die Glastüren nach draußen folge, dringt der Geruch von Rasen, Wasser und Kunststoff in meine Nase. Sekündlich füllt sich der Platz mit Funktionären und Spielern in schwarz-grüner Trainingsausrüstung. Scherze, Anweisungen und Szenenapplaus schallen durch die Luft. Ich bin so überfordert von all den Eindrücken, dass ich abrupt stehen bleibe. Dr. Sunderland dreht sich nach mir um und legt eine Hand an meinen Arm.
»Mach dir keine Sorgen, Shaila«, sagt sie. »Die Jungs sind zwar Muskelberge, aber sie beißen nicht. Und heute schaust du sowieso nur zu. Du kannst dich in Ruhe mit den Bewegungsabläufen und der Agilität der Spieler vertraut machen.«
Als wären es ihre Muskeln, die mich einschüchtern. Muskeln sind kontraktile Organe, die Bewegungen ermöglichen, nicht mehr und nicht weniger. Was mich beunruhigt, ist, dass »die Jungs« ultraselbstbewusste, voll ausgewachsene Männer sind, ein Rudel, zu dem ich nicht gehöre. Dass Kayce einer von ihnen ist, trägt auch nicht dazu bei, meinen Puls runterzufahren. Ist er schon hier? Ich suche das Feld ab und entdecke ihn in einiger Entfernung. Er ist gerade dabei, sich mit kurzen Sprints aufzuwärmen. Mein Blick wandert über seinen Trainingshelm, über seine massiven Beine, die in engen Footballpants stecken und –
»Hm, Shaila?«
Hat sie mir eine Frage gestellt?
»Ja, Dr. Sunderland«, sage ich, weil Ja selten eine falsche Antwort ist, und ermahne mich selbst, mich auf das Gespräch mit meiner Supervisorin zu konzentrieren.
»Okay. Aber wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass du mich Bee nennen sollst?«
Für immer, antworte ich in Gedanken. Denn ich kann sie nicht Bee nennen. Sie ist nicht meine Freundin, sie ist ein Genie, eine der jüngsten Teamärztinnen, die es je gab. Sie ist das Wunderkind, nicht ich.
Dr. Sunderland geht zum Platz, und ich tappe ihr hinterher. In den nächsten Minuten erzählt mir meine Supervisorin von den Verletzungshistorien einiger Spieler. Mich auf ihre Worte zu fokussieren lenkt mich von dem Geschehen um mich herum ab, von den Blocks und Tackles und Würfen. Davon, wie sich die Footballer gegenseitig rammen und zu Fall bringen. Dieser Sport ist so brutal, so schlecht für die Gesundheit, dass es ein Skandal ist, dass er nicht verboten ist. Erst als Dr. Sunderland erwähnt, dass vor einem Match weitestgehend kontaktlos trainiert wird, traue ich mich, etwas genauer hinzuschauen. Ich beobachte den ersten Quarterback des Teams, Sam Ashton, der Zach Williams letzte Saison abgelöst hat und die Vipers beinahe in den Super Bowl geführt hätte. Schnell lerne ich, dass dort, wo sich Sam Ashton aufhält, in der Regel auch Kayce nicht weit ist, weil sie gemeinsam Spielzüge für das nächste Match einstudieren.
Und egal, wie wenig Ahnung ich von American Football habe, egal, wie viel Respekt mir dieser Sport einflößt – wenn ich Kayce auf dem Platz beobachte, vergesse ich das alles. Es war schon immer so. Die Leichtigkeit, mit der er einem von Sam Ashton geworfenen Ball hinterherjagt und ihn aus der Luft schnappt, als würde er von seinen Fingern magnetisch angezogen, löst ein Kribbeln in meiner Herzgegend aus. Die geschmeidigen Bewegungen seiner muskulösen Beine hypnotisieren mich.
Er fängt einen weiteren Ball, reißt ihn an seine Brust und führt einen kleinen Tanz auf, wie bei einem Touchdown-Jubel. Seine Mitspieler lachen, er lacht. Plötzlich ist es schwer, sich vorzustellen, dass derselbe Mensch, der da so unbekümmert über den Platz läuft, wenige Augenblicke zuvor noch in einem leeren Besprechungsraum auf dem Teppich saß, die Stirn glänzend von Schweiß.
Was war mit ihm los? Was ist mit ihm?
Sam Ashton wirft den nächsten Ball, Kayce rennt und rennt, jeder einzelne Muskelstrang arbeitet, seine Beine sind kraftvoll und dynamisch zugleich, doch diesmal rutscht ihm der Ball aus der Hand und fällt zu Boden. Kayce schaut ihm hinterher, ein Mitspieler mit rötlichen Haaren ruft ihm etwas zu, es geht weiter im Trainingsplan. Der Rothaarige setzt an, einen Haken um einen anderen Spieler zu schlagen, den Kayce ihm vom Leib hält und –
Mit einem Mal geht alles unglaublich schnell. Ich stehe zu weit weg, um sagen zu können, was passiert, aber das Nächste, was ich mitkriege, ist, dass Kayce auf dem Rasen landet und nicht mehr aufsteht.
»Shit!« Dr. Sunderlands Fluch durchzuckt mich wie ein Stromschlag, und mein Herz schlägt sich einen Weg hinauf in meine Kehle. Hat er sich verletzt? Ist er mit seinem Problemknöchel umgeknickt?
Dr. Sunderland macht sich auf den Weg zu ihm, Dr. Whalen auf ihren Fersen. Ich will ihnen folgen, mit eigenen Augen sehen, was mit Kayce los ist, doch ich bleibe, wo ich bin. Schnappe nur noch auf, wie Dr. Whalen meiner Supervisorin zuzischt: »Verflucht, hoffentlich ist es nicht wieder sein Knöchel. Ich dachte, der wäre nun stabil. Wir brauchen ihn übermor –«
Die Zeit am Rande des Platzes fühlt sich ewig lang an. Kayce ist umgeben von einem Gewimmel aus Spielern, Trainern und Sportärzten, will und will sich aber einfach nicht aufrichten. Schließlich, als ich schon völlig hibbelig bin, reißt er sich den Helm vom Kopf und tut es doch. Er löst sich aus der Menge und humpelt, gestützt von Dr. Sunderland und einem weiteren Teammitglied, vom Feld.
Ihr Weg ins Vereinsgebäude führt genau an mir vorbei. Ich atme seinen Geruch ein, der mit frischem Schweiß vermengt ist. Er scheint mich nicht wahrzunehmen, doch ich nehme ihn wahr. Zu viele Jahre konnte ich ihn nur im Fernsehen oder in Zeitschriften betrachten, aber da ist er nun, in Fleisch und Blut. Je näher er mir kommt, desto besser erkenne ich, wie blass er ist. Seine Lippen zittern, die Schultern sind angespannt und er blinzelt viel zu schnell. Seine linke Hand ist so fest um den Helm geschlossen, dass die Knöchel seiner Finger weiß hervortreten.
Vielleicht hat er Schmerzen. In erster Linie sehe – und spüre– ich jedoch rohe, ungeschminkte Angst.
25. Juli, vor vier Jahren
Liebes Tagebuch,
heute ist es genau ein Jahr her, dass Kayce gegangen ist. Während sich in Ojai alles veränderte, haben sich meine Gefühle nur wie die Jahreszeiten gewandelt. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sehnsucht, Sommerzeittraurigkeit, Melancholie und Verzweiflung.
Langsam gebe ich die Hoffnung auf, dass ich jemals herausfinden werde, warum Kayce so plötzlich verschwunden ist. Kendra, Charlotte und Steven sind neulich zum x-ten Mal nach Alabama zu einem Spiel von ihm gereist, um irgendwie an ihn heranzukommen. Sie wurden wieder so harsch abgewiesen, dass sie einfach nicht mehr weiterwissen. Er ist jetzt der Star seines College-Teams, aber er will seine eigene Familie unter keinen Umständen sehen. Und mich?
Seit gefühlt einem Jahr halte ich die Luft an. Niemand weiß, was ich für ihn empfinde, ich kann mit niemandem außer dir, liebes Tagebuch, darüber reden. Ich wünschte, ich könnte ihn loslassen. Ich wünschte, ich könnte diesen Abend und sein Versprechen vergessen, doch es sucht mich heim, jeden Tag aufs Neue.
Wenn ich wenigstens wütend auf ihn sein könnte.
Nicht mal das kann ich.
Ich vermisse ihn einfach nur.
Ich vermisse Kayce so, so sehr.
Kayce
Das beschissene Training geistert mir noch durch den Kopf, als ich längst in meinem Maserati sitze und nach Playa Vista, nahe Santa Monica, fahre, wo sich meine WG befindet. Tyrils Bemerkung war so harmlos. Denhättestduaberschonfangenkönnen,oder?Na,besserimTrainingalswährendeineswichtigenSpiels.Mies, aber so harmlos. Eigentlich.Nur fühlte sich danach meine Luftröhre wie ein durchlöcherter Strohhalm an. Mein Puls begann zu rasen, meine Arme zitterten, und dann trug der Wind diese Stimme an mein Ohr, die ich so viele Jahre nicht mehr gehört habe. Schrill und anklagend wie ein Seelentinnitus. Ich kann nicht mehr. Ich fühle nichts mehr. Wie konnte ich nur?
Danach fiel ich ins nasse Gras wie ein lebloser Trainingsdummy. Einfach so. Die Ausreden mussten her, die ich seit jenem Drop für alles verwende. Mein Knöchel macht wieder Probleme. Es war das Naheliegendste, denn in der letzten Saison bereitete er mir ständig Ärger. Weil nach dem Championship Game auf den Röntgenbildern aber natürlich nichts zu sehen war – was auch, wenn mit meinem Knöchel längst wieder alles stimmte? –, schickte mich Bee zu sämtlichen Spezialisten. Zuletzt zu einem Neurologen, der die Vermutung anstellte, dass es sich um ein Problem mit meinen Nervenbahnen handle. Bee, die bekannt für ihre unkonventionellen Behandlungsmethoden ist, riet mir zu einer Schmerztherapie bei einem Psychologen, wovon wiederum weder ich noch Mike etwas hören wollten. Er hat unseren General Manager Patrick im Nacken sitzen, uns möglichst schnell fit zu kriegen. Diesen Druck spürt jeder Einzelne von uns. Deswegen sind meist Schmerzmittel die erste Wahl, um alles, was irgendwie stören könnte, zu betäuben. Letzte Saison warf ich Tabletten ein wie Skittles.
Doch gegen das, was ich jetzt habe, hilft selbst Toradol nicht. Bei diesem Gedanken verkrampft sich mein Magen, und meine Hände werden feucht, sodass sie fast vom Lenkrad abrutschen. Die Abendlichter der Stadt sind so unwirklich, die Frontscheibe könnte ein Bildschirm sein, die Menschen auf den Gehwegen Schauspieler. Auf einmal kriecht mir ein eisiges Gefühl durch die Kehle und den Brustkorb, schwarze Punkte tanzen auf dem Armaturenbrett. Da sind wieder diese Stimmen, diese verfluchten, teuflischen Stimmen. Du musst mehr Gas geben. Zeig ihnen, dass du der Sohn von Mr Universe bist. Ich fühle nichts. Der größte Fehler meines Lebens.
Es muss an Shaila liegen. Seit Jahren, Jahren, habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich habe damals den Kontakt zu Ojai und meiner Familie komplett abgebrochen und nie wieder zurückgeschaut. Und ausgerechnet an dem Tag, an dem sie mit ihrem Glitzer-Ojai-T-Shirt und den Bambiaugen wieder in mein Leben stolpert, kommt das alles aus der tiefsten Schlucht an die Oberfläche? Shaila … Ihre Haut vibriert noch immer vor Lebensenergie. Wie ist das möglich? Wie kann mich eine Berührung, so hauchzart wie eine Brise, dermaßen aus der Bahn werfen?
Die Kälte kriecht tiefer, in meine Beine, bis in meine Zehenspitzen, mein Herz schlägt schwerfällig unter der Eisschicht.
Was, wenn ich mir das alles eingebildet habe? Nicht nur, wie sich ihre Haut angefühlt hat, sondern sie, ihr T-Shirt, die gesamte Begegnung? Was, wenn ich wirklich den Bezug zur Realität verliere?
Fuck!
Die Autos auf der Straße verschwimmen. Mir ist so schlecht und schwindelig, dass ich meinen beschissenen Wagen abstellen muss, um nicht mitten auf dem Hollywood Boulevard einen Unfall zu bauen, der noch heute Nacht weite Kreise in den sozialen Medien ziehen würde. Ich fahre rechts ran; bin mir meiner Atmung wieder viel zu bewusst, der Schluckbewegungen. Es läuft nicht automatisch, ich muss es steuern wie mit einem Playstation-Controller. Und wenn ich die Knöpfe nicht mehr drücke? Was dann? Was verdammt noch mal dann? Verrecke ich dann in meinem Maserati am Straßenrand in Santa Monica?
Ich kann nicht atmen, nicht atmen, nicht atmen –
Mein Telefon klingelt. Es ist Drew, mein Manager. Eigentlich habe ich keinen Bock, mit ihm zu telefonieren. Was kann er zwei Tage vor dem ersten Saisonspiel von mir wollen? Allerdings ist es besser, mit ihm zu quatschen, als mich mit meinem nahenden Tod auseinanderzusetzen.
»Ja?« Ich nehme den Anruf über die Freisprechanlage an und mache mir nicht die Mühe, so zu tun, als würde mich sein Anruf freuen. Das Gute an Drew ist, dass ich es auch nicht muss. Wir arbeiten schon seit meinem letzten Collegejahr zusammen; er merkt, wenn ich keine Lust auf etwas habe.
»Freut mich auch, deine liebliche Stimme zu hören, Junge«, sagt er gelassen. Im Hintergrund ertönen seine Schritte. Drew muss beim Telefonieren immer auf und ab gehen. An guten Tagen ziehe ich ihn damit auf, dass er wie ein Elefant durch die Wohnung trampelt, aber heute ist kein guter Tag. Ich lehne mich in meinem Sitz zurück, den Blick auf die Leitungen der Stromtrasse über der Straße gerichtet, und tappe mit dem Fuß gegen das Bremspedal. »Was willst du, Drew?«
»Wissen, ob du auch genug trinkst, ob du dich an deinen Ernährungsplan hältst, ob du genug Liebe bekommst, oder ob ich vorbeischauen muss, um dich zu umarmen.«
Ich rolle mit den Augen.
»Im Ernst, wie war dein Tag?«, hakt er nach.
Ich will nicht über meinen Tag reden. Ich will gar nicht reden. Aber ich kann wieder atmen, was eindeutig eine Verbesserung ist.
»War okay.«
Das ist nicht mal eine Lüge, je nachdem, mit welchem Tag man ihn vergleicht. Verglichen mit dem Tag des Drops war er sogar exquisit.
»Wie geht es deinem Knöchel?«
Ich unterdrücke den Drang, das Handy aus dem Fach zu fischen, um es gegen die Scheibe zu knallen. Ich kann diese Frage nicht mehr hören. Mein gesamtes Leben scheint sich nur noch um diesen Phantomschmerz zu drehen, den ich selbst erfunden habe. Verflucht.
Ich kralle die Hand in das Leder der Mittelkonsole, zwischen die Buchstaben K und J. Vermutlich sollte ich Drew sagen, dass es wieder Probleme gab; dass Bee mich heute untersucht hat und auch morgen wieder sehen will. Doch ich schaffe es nicht. Ich habe das Thema satt, so verdammt satt.
»Nerv mich nicht. Wir wissen beide, dass du nicht deswegen anrufst, sondern weil du etwas von mir willst. Also, was ist es diesmal?« Das war ein Bluff, aber ich weiß, dass er aufgeht, als Drew zwischen zwei Schritten aufseufzt.
»Johnny Morgan will dich in ein paar Wochen in sein Studio einladen.«
Johnny Morganvon der The Johnny Morgan Show. Er ist ein neuer Stern am Talkshow-Himmel. Alle Stars wollen zu ihm, weil er nach wenigen Monaten im Geschäft bereits beliebter als Jimmy Fallon ist. Seine Show ist witzig, provokant und trotzdem gemütlich. Normalerweise hätte ich Bock darauf, bei ihm aufzutreten. Normalerweise.
Ich runzele die Stirn. »Mitten in der Saison?« Das ist ungewöhnlich. Medienauftritte werden meist in die spielfreie Zeit gelegt, weil der Terminplan für uns Spieler während der Saison ohnehin schon straff ist.
Drew seufzt erneut. »Ja, vor dem Chiefs-Spiel. Schlechtes Timing, aber es ist fucking wichtig.«
Ausgerechnet vor dem Chiefs-Spiel. Meine Nackenmuskulatur spannt sich an. Fucking wichtig ist Drews Code für Es gibt keinen Weg daran vorbei.
»Darauf wird sich der Verein nicht einlassen«, überlege ich laut, um etwas Zeit zu gewinnen.
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich habe schon mit Patrick gesprochen. Dieses eine Event kann er verkraften. Er findet es sogar gut, wenn du dich mal wieder in der Öffentlichkeit blicken lässt und den Leuten da draußen – den Fans, und vor allem der Konkurrenz – signalisierst, dass du wieder voll dabei bist und nach dem Championship Game noch stärker zurückkommst.«
Mein Magen zieht sich zusammen. Jetzt bin ich doch ganz froh, dass ich Drew nichts von der beschissenen Trainingssession erzählt habe.
»Wir wissen beide, dass du dich in den Hamptons und im Trainingscamp ziemlich zurückgezogen hast. Die Schonfrist ist vorbei, Junge.« Auf seine Worte nimmt die Spannung in meinem Nacken weiter zu. »Außerdem bist du weder Taylor Swift noch ihr Freund. Du kannst froh sein, dass dich Johnny überhaupt in seiner Show haben will.« Er lacht. Es ist ein echtes, entspanntes Lachen, weil der normale Kayce diese Bemerkung lustig gefunden hätte. Drew hat keine verfluchte Ahnung, dass es diesen Kayce nicht mehr gibt. Deswegen kapiert er auch nicht, dass mir sein scheinbar harmloser Scherz die Schweißperlen auf die Stirn treibt.
Ich will etwas erwidern. Nein, ich möchte nicht den Entertainer für ein Millionenpublikum geben! Ich habe die medienfreie Zeit gebraucht, und ich weiß nicht, ob ich das mit den öffentlichen Auftritten jemals wieder hinbekomme, ob ich nicht vor aller Augen in mich zusammenfalle und damit nicht nur mein Image, sondern auch meine Karriere zerstöre. Bitte sag das ab. Bitte, Drew!
»Die Aufzeichnung kostet dich mit allem Drum und Dran vielleicht vier Stunden.« Fast ist es so, als könnte Drew meine Gedanken lesen. Aber er kann es nicht. Niemand kann das. Drew nimmt an, dass ich genervt bin, weil der Showbesuch von meiner Trainingszeit abgeht. Ich starre mich selbst im Rückspiegel an und komme mir unendlich fremd vor. Mit dem Handrücken wische ich mir über die Stirn.
»Ich habe keine Wahl, oder?« Die Frage lastet tonnenschwer auf meinen Schultern. Kaum jemals habe ich den Druck dieses Sports gespürt. Ich stand über den Dingen, liebte jede Sekunde davon. Diese Leichtigkeit ist mir buchstäblich durch die Finger geflutscht. Und auf einmal ist er da, der Druck, zu performen, abzuliefern, zu funktionieren. Weil das mein Leben ist. Da gibt es nicht viel anderes.
Vielleicht sogar gar nichts.
»Tut mir leid, Sweetheart.« Wieder dieser ironische Ton, der mich so oft zum Schmunzeln bringt, nun aber wirkungslos an mir abprallt. Ich fasse mir ans Kinn und nicke langsam. Ich kriege das schon hin, wenn es drauf ankommt. Irgendwie kriege ich es hin.