Fallout - Fred Pearce - E-Book

Fallout E-Book

Fred Pearce

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gekündigte Atomabkommen, drohendes Wettrüsten, marode Kernkraftwerke … der Geist der Radioaktivität schwebt weiter über uns. Aber was genau wissen wir über die Folgen von Verstrahlung und die Gefahren, die von stillgelegten Meilern ausgehen? Wie leben die Menschen in und um die Sperrzonen? Und wohin mit dem ganzen Atommüll? Eine fesselnde Reportagereise durch das nukleare Zeitalter. Hiroshima, Bikini Atoll, Sellafield, Tschernobyl, Fukushima, Gorleben – Namen, die nicht mehr nur Orte bezeichnen, sondern Katastrophen und immense materielle wie immaterielle Kosten. Sie erinnern an das Zusammentreffen von menschlicher Genialität, Machtmissbrauch und schlimmstem Versagen. Dabei hat ein jeder dieser Orte seine eigene ernüchternde Geschichte zu erzählen. Zusammen ergeben sie die Chronik des nuklearen Zeitalters. In seiner fesselnden und hervorragend recherchierten Reportage untersucht Fred Pearce die größten atomaren Desaster der letzten 70 Jahre und bereist die ikonisch gewordenen Orte. Er besichtigt mit Wissenschaftlern und Ingenieuren stillgelegte Reaktoren und verlassene Testareale, entdeckt auf verseuchtem Brachland radioaktive Wölfe und mutierte Pflanzen, aber auch eine überraschende Widerstandskraft der Natur. Überlebende, Ärzte und Aktivisten erzählen ihm, was staatliche Verschleierungen, Täuschungen durch Konzerne und die Vertuschung medizinischer Erkenntnisse physisch und psychisch angerichtet haben. Mit seinem Buch ruft Pearce uns ins Gedächtnis, was wir nicht vergessen sollten: das ganze Ausmaß und die Folgen der zerstörerischsten Technologie, die die Menschheit je erfunden hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 463

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Gekündigte Atomabkommen, drohendes Wettrüsten, marode Kernkraftwerke - der Geist der Radioaktivität schwebt weiter über uns. Aber was genau wissen wir über die Folgen von Verstrahlung und die Gefahren, die von stillgelegten Meilern ausgehen? Wie leben die Menschen in und um die Sperrzonen? Und wohin mit dem ganzen Atommüll? Eine fesselnde Reportagereise durch das nukleare Zeitalter.

Hiroshima, Bikini Atoll, Sellafield, Tschernobyl, Fukushima, Gorleben – Namen, die nicht mehr nur Orte bezeichnen, sondern Katastrophen und immense materielle wie immaterielle Kosten. Sie erinnern an das Zusammentreffen von menschlicher Genialität, Machtmissbrauch und schlimmstem Versagen. Dabei hat ein jeder dieser Orte seine eigene ernüchternde Geschichte zu erzählen. Zusammen ergeben sie die Chronik des nuklearen Zeitalters.

In seiner fesselnden und hervorragend recherchierten Reportage untersucht Fred Pearce die größten atomaren Desaster der letzten 70 Jahre und bereist die ikonisch gewordenen Orte. Er besichtigt mit Wissenschaftlern und Ingenieuren stillgelegte Reaktoren und verlassene Testareale, entdeckt auf verseuchtem Brachland radioaktive Wölfe und mutierte Pflanzen, aber auch eine überraschende Widerstandskraft der Natur. Überlebende, Ärzte und Aktivisten erzählen ihm, was staatliche Verschleierungen, Täuschungen durch Konzerne und die Vertuschung medizinischer Erkenntnisse physisch und psychisch angerichtet haben.

Mit seinem Buch ruft Pearce uns ins Gedächtnis, was wir nicht vergessen sollten: das ganze Ausmaß und die Folgen der zerstörerischsten Technologie, die die Menschheit je erfunden hat.

Über den Autor

Fred Pearce, geboren 1951, ist der Umweltberater des »New Scientist« Magazins und schreibt u.a. für den »Guardian« und »Yale e360«. Er ist Autor von fünfzehn Büchern und hat für seine internationalen Reportagen zu Umwelt- und Entwicklungsfragen in den vergangenen dreißig Jahren zahlreiche Preise erhalten; 2001 wurde er zum britischen Umweltjournalisten des Jahres gekürt und 2011 von der Association of British Science Writers für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Fred Pearce lebt in London.

Fred Pearce

FALLOUT

Das Atomzeitalter – Katastrophen, Lügen und was bleibt

Aus dem Englischen von Tobias Rothenbücher

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

Zu den verwendeten Maßeinheiten

Einleitung: Unterwegs ins Anthropozän

Erster Teil: Zerstörer der Welten

Kapitel 1 Hiroshima: Eine unsichtbare Narbe

Kapitel 2 Kritische Masse: MAUD im Garten der Atome

Kapitel 3 Las Vegas: Silberstreifen am strahlenden Horizont

Kapitel 4 Kernwaffentests im Pazifik: Godzilla und Glücklicher Drache

Kapitel 5 Semipalatinsk: Die Geheimnisse der Steppe

Kapitel 6 Der Plutoniumberg: Greifen Sie nur zu!

Zweiter Teil: Kalter Krieg – heiße Teilchen

Kapitel 7 Majak: »Unter Zeitdruck« im Schatten des Urals

Kapitel 8 Metlino: Wo sogar die Samoware strahlten

Kapitel 9 Rocky Flats: Plutonium in der Schlangengrube

Kapitel 10 Die Silos von Colorado: Uncle Sams nukleares Kernland

Kapitel 11 »Broken Arrows«: Dr. Seltsam und die radioaktiven Kaninchen

Kapitel 12 Das Feuer von Windscale: »Vertuschung, wie sie im Buche steht«

Dritter Teil: Atomkraft für den Frieden

Kapitel 13 Three Mile Island: Wie man ein Kraftwerk besser nicht betreibt

Kapitel 14 Tschernobyl: Eine »wunderschöne« Katastrophe

Kapitel 15 Tschernobyl: Wodka und Fallout

Kapitel 16 Tschernobyl: Im Rudel jagen

Kapitel 17 Fukushima: Die Entdeckung des Skorpions

Kapitel 18 Fukushima: Herr Baba kommt nach Hause

Kapitel 19 Radiophobie: Der Geist von Fukushima

Kapitel 20 Millisievert: Eine Dosis Vernunft

Vierter Teil: Aufräumarbeiten

Kapitel 21 Sizewell: In der Wäschekammer

Kapitel 22 Sellafield: Steinkreise und nukleares Erbe

Kapitel 23 Hanford: Die Stilllegung einer Industrie

Kapitel 24 Gorleben: Eintrittskarte für eine atomfreie Zukunft?

Kapitel 25 Atommüll: Sicher verstaut

Zum Schluss: Friedensarbeit in Nagasaki

Glossar

Danksagung

Quellen

Index

Zu den verwendeten Maßeinheiten

Die Maßeinheiten der Atomwissenschaft sind ein wahrer Albtraum; als hätte man sich untereinander verschworen, mit Becquerel (und auch Kilo-, Mega-, Giga-, Tera- und sogar Petabecquerel), Rem, Rad, Sievert, Curie, Röntgen, Gray und Coulomb alles möglichst kompliziert zu machen. Was bezeichnen all diese Einheiten überhaupt?

Letztlich werden meistens nur zwei Dinge gemessen: erstens die Menge an Radioaktivität, die bei einem Unfall frei geworden ist oder auch von einer bestimmten Boden-, Wasser- oder Luftmenge ausgeht. Und zweitens die Strahlendosis, die von einem lebenden Organismus wie Ihnen aufgenommen wird. Im zweiten Fall wird es häufig kompliziert, weil uns die verschiedenen Strahlungsarten radioaktiver Stoffe (Alpha-, Beta- oder Gammastrahlung) auf unterschiedliche Weise erreichen. Wir können eine Dosis durch äußere Strahlenexposition erhalten, wenn wir uns in einer radioaktiv belasteten Umgebung bewegen, oder durch innere Strahlenexposition, wenn wir radioaktives Material eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen haben.

Wenn ich im Folgenden etwa den Unterschied zwischen dem Maß für »absorbierte Strahlendosen« und »Strahlenexposition« ignoriere, werden einige Puristen vermutlich nervös. Aber ich habe beschlossen, alles so einfach wie möglich zu halten. Ich habe mich auf eine Maßeinheit für Radioaktivität und auf eine andere für eine bestimmte erhaltene Strahlendosis festgelegt und lasse den ganzen statistischen Hokuspokus einfach bleiben.

Im Fall der frei gewordenen Radioaktivität habe ich mich für Curie entschieden. Das ist eine alte, aber noch immer verbreitete Maßeinheit. Manche Wissenschaftler ziehen Becquerel vor. Ein Becquerel ist jedoch so winzig, dass wir dabei schnell ins Reich der Giga-, Tera- und Peta-Größen geraten. Das finde ich furchtbar. Es ist, als würde man die Strecke einer Autofahrt in Zentimetern angeben. Ein Curie entspricht sagenhaften 73 Milliarden Becquerel. In den meisten Fällen ist die Einheit Curie pragmatischer; daher also Curie. In ganz seltenen Fällen, wenn es um winzige Konzentrationen geht, habe ich auf Picocurie zurückgegriffen – also den billionsten Teil eines Curie.

Bei Strahlendosen habe ich mich für die moderne Maßeinheit der – wie Radiologen sagen – »effektiven Dosis« entschieden, die entsprechend gewichtet ist, um den unterschiedlichen Schäden, die unterschiedliche Strahlungsarten verursachen, Rechnung zu tragen. Diese Einheit heißt »Sievert«. Ein Sievert ist schon eine größere Sache. Bereits eine Strahlendosis von vier Sievert wird Sie wahrscheinlich das Leben kosten. Die Einheit »Millisievert«, also ein Tausendstel Sievert, eignet sich für unsere Zwecke gut. Daher verwende ich sie im ganzen Buch. Geigerzähler messen die Strahlendosis meistens in Mikrosievert pro Stunde. In der Regel habe ich die Werte, wenn es für die Aussage keine Rolle spielt, in Millisievert pro Jahr umgerechnet.

Als Daumenregel gilt also, dass eine Strahlendosis von 4.000 Millisievert in der Regel tödlich ist. Von 1.000 Millisievert bekommt man wahrscheinlich Verbrennungen und eine Reihe anderer potenziell tödlich wirkender Symptome, die zusammengefasst als akute Strahlenkrankheit bezeichnet werden. 100 Millisievert hingegen ist die geringste Dosis, bei der es ernst zu nehmende Anhaltspunkte für Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit gibt, etwa eine erhöhte Krebsrate innerhalb der Bevölkerung. Zum Vergleich: Auf rund zwei bis drei Millisievert beläuft sich die typische Jahresdosis durch natürliche Strahlenquellen; ähnlich hoch ist auch die Dosis bei einer Mammografie. Ein Millisievert pro Jahr gilt als maximale vertretbare Strahlendosis durch Kraftwerke und andere nicht-medizinische Strahlenquellen für die allgemeine Bevölkerung.

Außerdem habe ich alle Währungs-Angaben in US-Dollar umgerechnet. Zum Zeitpunkt der Umrechnung war ein Euro 1,15 Dollar und ein Pfund 1,30 Dollar wert. Die ursprünglichen Summen gehen häufig aus den im Anhang aufgeführten Quellen hervor.

Einleitung

UNTERWEGS INS ANTHROPOZÄN

An einem sonnigen Morgen im September 1957 fuhr im Vorgebirge des Urals, der Gebirgskette, die das europäische Russland von Sibirien trennt, ein Konvoi Militärlastwagen eine schmale Straße am Ufer eines Sees hinunter. In dem kleinen Dorf Satlykowo hielt er an. Soldaten der Roten Armee klopften an die Türen und befahlen den wenigen Hundert Einwohnern, sich zu entkleiden, die Ersatzkleidung aus den Wagen überzuziehen und einzusteigen. Die Dorfbewohner wurden evakuiert. Ihr Eigentum durften sie nicht mitnehmen, nicht einmal Geldscheine. In aller Eile ließen sie ihren weltlichen Besitz zurück, und um ihre Rückkehr zu verhindern, rissen die Soldaten ihre Häuser nieder und erschossen Haustiere und Vieh.

Gründe für die Evakuierung nannten die Soldaten nicht. Selbst wenn sie informiert gewesen wären, hätten sie nicht preisgeben dürfen, dass es eine Woche zuvor in den Abfalltanks der größten russischen Plutoniumfabrik in der nahe gelegenen geschlossenen Stadt, die heute Osjorsk heißt, eine Explosion gegeben hatte. Sie durften auch nicht erklären, dass die seltsame dunkle Wolke, die sich nur Stunden danach auf Satlykowo herabgesenkt hatte, lebensbedrohlichen Fallout aus dem Unfall enthielt.1 Höchstwahrscheinlich war er verantwortlich für den Tod der zehn Monate alten Tochter von Iran Chaersamanow, die nach dem Erscheinen der Wolke mit ihrer Großmutter im Garten gewesen war, anschließend schweren Durchfall bekam und wenige Stunden später starb. Sie war die Letzte, die auf dem Friedhof des Dorfs begraben wurde.2

Die Soldaten konnten deshalb nichts dazu sagen, weil die bloße Existenz der Kernwaffenanlage ein Militärgeheimnis war, das nur die innerhalb der Sperrzone beschäftigten Arbeiter kannten. Kein Außenstehender durfte jemals davon erfahren.

An einem ebenso sonnigen Morgen sechzig Jahre später besuchte ich Satlykowo als erster westlicher Journalist seit dem Unfall. Ich fuhr durch ein Tor, das noch immer von bewaffneten Soldaten bewacht wurde, und folgte einer langen ausgefahrenen Straße. Den Ort fand ich, doch die Überreste der fünfundsiebzig hastig eingerissenen Häuser waren von Pflanzen überwuchert. Überall wuchsen Brennnesseln. Unmengen riesiger Libellen schwirrten durch die stickig heiße Luft. Der See jenseits der zugewachsenen Felder war voller Fische, aber niemand durfte sie fangen. In dem Wald, der sich links und rechts des Weges ausbreitete, lebten Hirsche, Wildschweine und Füchse. Er mochte radioaktiv belastet sein, war aber alles andere als eine öde Mondlandschaft.

Das war der Beginn meiner Entdeckungsreise auf der Suche nach dem radioaktiven Erbe des nuklearen Zeitalters; eines Zeitalters, das wahrscheinlich und hoffentlich bald zu Ende geht. In diesem Buch erkunde ich die unheimlichen, durch Atomunfälle verseuchten Landstriche – manche so bekannt wie Tschernobyl oder Fukushima, andere weitgehend unbekannt wie das Gebiet um Satlykowo. Ich besuche Orte, an denen im Namen der Wissenschaft oder im Krieg Atombomben abgeworfen wurden und wo heute radioaktiv belastete Wölfe umherstreifen, während kein Mensch sie zu betreten wagt. Dabei versuche ich, unsere vielfältigen individuellen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die entfesselte Macht der Atome zu verstehen, auf die düsteren Ahnungen und auf die tatsächliche Gefahr, dass sie uns alle auslöschen könnte. Gerade dieses junge psychologische Terrain erweist sich in vielerlei Hinsicht als besonders befremdlich.

Meine Reise hat auch eine ganz persönliche Seite. Von der Kerntechnik hörte ich zum ersten Mal 1962, während der Kubakrise. Ich war zehn Jahre alt und machte mich gerade für die Schule fertig, als mein Vater mir aus heiterem Himmel mitteilte, wenn ich während der Pause eine Pilzwolke sähe, solle ich zurück ins Klassenzimmer gehen und mich unter meinem Tisch verstecken. Ich weiß noch, dass ich ganz durcheinander war, vor allem, weil ich nicht wusste, wie so eine Pilzwolke aussehen sollte. Doch während der Pause betrachtete ich eine Zeit lang den Himmel – nur für alle Fälle. Ich kann den blauen Himmel hinter dem großen Baum auf der anderen Straßenseite immer noch vor mir sehen und erinnere mich, dass ich ein bisschen enttäuscht war, als keine Pilzwolke erschien.

Die Tatsachen des Atomzeitalters waren damals für alle neu: unheimlich und irgendwie geheim – sogar für die Erwachsenen. Ich glaubte noch, Erwachsene wüssten alles, doch vor dieser Atomsache hatten sie ebenso viel Respekt wie wir Kinder und wussten genauso wenig darüber. Da ich im Südosten Englands groß geworden bin, habe ich mich wohl selbst einmal unter einer unsichtbaren radioaktiven Wolke befunden. Nach dem Feuer in der Plutoniumfabrik von Windscale 1957 zog sie über die Insel. Doch niemand wusste davon, denn welche Richtung sie genommen hatte, war ein Staatsgeheimnis. Der Bevölkerung wurde gesagt, die Wolke sei aufs Meer hinausgezogen und ohnehin nicht stark radioaktiv gewesen. Das war gelogen; erwachsene Menschen wurden angelogen, als wären sie Kinder.

Wie alle anderen musste auch meine Familie damals für das Privileg bezahlen, im Atomzeitalter zu leben. Während meiner ersten Lebensjahre besaß in Großbritannien jeder eine Lebensmittelkarte. Sie begrenzte die Menge, die wir kaufen durften. Nur durch Rationierung und Entbehrungen konnte das bankrotte Großbritannien es sich leisten, mit den USA Schritt zu halten und eigene Atombomben zu bauen. So gut sich das anfühlte, so sehr machte uns die eigene Bombe zum bevorzugten Ziel, hätte sich die Sowjetunion – die die Pläne für ihre Bombe von dem in Deutschland geborenen britischen Wissenschaftler und Spion Klaus Fuchs bekommen hatte – zum Erstschlag entschlossen. Oder auch zu einem Zweitschlag.

Glücklicherweise hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemand mehr in kriegerischer Absicht eine Atombombe auf ein Land abgeworfen. Einzig die Japaner in Hiroshima und Nagasaki erlitten dieses Schicksal. Gleichwohl habe ich, wie jeder Mensch in den 1950er- und den frühen 1960er-Jahren, Luft geatmet, die mit radioaktiven Stoffen aus Atomwaffentests an so entlegenen Orten wie Semipalatinsk im heutigen Kasachstan und dem Bikini-Atoll im Pazifik belastet war. Und auch ich nannte die herrlich minimalistischen zweiteiligen Badeanzüge, wie Brigitte Bardot und andere unerreichbare Frauen sie trugen, »Bikinis«. Denn um ehrlich zu sein, fand man es in meiner Jugend nicht nur Furcht einflößend, im Atomzeitalter zu leben, sondern mindestens ebenso aufregend. Atomkraft war »in«. Und falls wir nicht irgendwann in die Luft flogen, versprach die Nukleartechnik unser Leben zu verändern und, wie es hieß, so billige Elektrizität zu erzeugen, dass sich »Stromzähler nicht mehr lohnen«.

Das war damals, doch schon von Beginn an trug diese schöne neue Atomwelt das Potenzial in sich, sich selbst zu zerstören. Ich glaube, es sind gar nicht so sehr die Strahlung oder die riesige Sprengkraft, die seit jeher ihr negatives Image ausmachen, sondern die Geheimniskrämerei und all der Betrug. Die Sache mit dem billigen Strom war natürlich immer schon gelogen. Das Gleiche gilt für die Legende, die »friedliche Nutzung der Atomenergie« habe nichts mit ihrer kriegerischen Nutzung zu tun.

Vor mir liegt der schmale Band Die britischen Atomfabriken: Geschichte der Atomenergieerzeugung in Großbritannien aus dem Jahr 1954, herausgegeben vom Ministry of Supply. Schon der Name »Beschaffungsministerium« war ein George-Orwell-würdiger Euphemismus, denn in Wirklichkeit war es ein Kriegsministerium. Der Umschlag zeigt zwei der »Meiler« von Windscale, die damals in aller Eile Plutonium für britische Bomben herstellten. Doch das einhundert Seiten starke Buch gibt auf neunundneunzig Seiten vor, die Meiler seien konstruiert worden, um »grenzenlose Energie« zu erzeugen. Tatsächlich produziert haben sie keine. Erst auf der letzten Seite wird eingestanden, ihr eigentlicher Zweck sei es, Plutonium herzustellen, welches »als Sprengstoff in Atombomben […] verwendet werden kann«.3

Ein doppeltes Spiel wie dieses war bei Regierungen in aller Welt verbreitet. Niemandem von den Zehntausenden, die in den 1950er-Jahren das Wasser des schmalen sibirischen Flusses Tetscha tranken, wurde gesagt, dass er lebensbedrohliche Mengen radioaktiven Abfalls aus einer Bombenfabrik wenige Kilometer flussaufwärts mit sich führte und dass die Ärzte vor Ort heimlich die Gesundheitsfolgen für ihre Patienten dokumentierten. Menschen aus dem Umland von Denver, Colorado, glaubten die offizielle Darstellung, dass die hell erleuchtete Fabrik auf dem Hügel Haushaltsreiniger herstellte und nicht Plutoniumkerne für Bomben. Und erst recht erzählte ihnen niemand, dass das radioaktive Metall nach einem Brand schon einmal auf sie herabgeregnet war.

Ob nach dem Feuer im britischen Windscale oder der Katastrophe von Tschernobyl, ob in Rocky Flats oder Three Mile Island in den USA, ob im sowjetischen Majak oder in Fukushima – überall herrschen seit jeher dieselbe zwanghafte Geheimhaltung, Hinterhältigkeit und Verantwortungslosigkeit, und sie überdauern selbst den Wandel von einer militärischen zu einer zivil genutzten Technologie. Arglistige Verschleierungen rund um die Atomkraft haben das Vertrauen der Gesellschaft untergraben und der öffentlichen Debatte und Entscheidungsfindung sehr geschadet.

Das erklärt auch die Entstehung einiger besonders kämpferischer Umweltschutzbewegungen. Greenpeace etwa hat seinen Ursprung im Don’t Make a Wave Committee (»Mach keine Welle«), einer Gruppe aus der kanadischen Provinz British Columbia, die 1969 gegen unterseeische Atomtests der Amerikaner vor den Aleuten im Pazifik protestierte. Den Grünen, Vorreiter vieler ähnlicher Parteien weltweit, war schon bei ihrer Gründung der Kampf gegen Atomkraft auf deutschem Boden genauso wichtig wie die Säuberung des Rheins.

Der Abschottungshaltung der Kerntechniker steht die Hysterie mancher Kernkraftgegner gegenüber. So stützte sich das Don’t Make a Wave Committee bei seiner Kampagne auf das Argument, die Atomtests vor den Aleuten würden ein Erdbeben und einen Tsunami auslösen – was selbst die Organisatoren, wie sie heute zugeben, nie für möglich hielten.4 Wer sich für die Wurzeln der postfaktischen Argumentation in der heutigen Politik interessiert, ist sicher nicht schlecht beraten, deren Vorläufer in der Atompolitik zu untersuchen. Es ist kein Wunder, dass die meisten nichts von dem glauben, was man uns im Zusammenhang mit Kerntechnik erzählt, und immer vom Schlimmsten ausgehen.

Unabhängig davon, wie man zur Kerntechnik steht, herrscht Einigkeit darüber, dass die Welt nach der Detonation der ersten Atombombe nicht mehr dieselbe war. Seit diesem Augenblick liegt das Schicksal der Erde und unserer Spezies in unseren Händen – oder genauer gesagt: in den Händen derjenigen, die Zugriff auf den Atomknopf haben. Dieser Augenblick hat unsere Überlegungen zu vielen Themen verändert. Die Globalisierung wurde zu einer Tatsache, die über Leben oder Tod entscheiden kann. Auf einmal war kein Ort mehr sicher vor »der Bombe« und ihrem Fallout. Diese Erkenntnis ist beispielhaft für unser neues Verhältnis zur Erde.

Nach Ansicht vieler Wissenschaftler leben wir heute in einer neuen geologischen Epoche, dem Anthropozän, in der die Menschen den Planeten Erde und seine wichtigsten Prozesse beherrschen, indem sie sein Klima, seine Biodiversität und seine chemische Zusammensetzung beeinflussen. Vermutlich wird die für derartige Fragen zuständige Organisation – die Internationale Kommission für Stratigrafie – bald erklären, dass das Holozän, dessen Beginn mit dem Ende der letzten Eiszeit zusammenfällt, vorüber ist und das Anthropozän begonnen hat. Das »Primärsignal« dieses neuen Zeitalters der Menschheit, so sagt sie bereits heute, ist der »Plutonium-Fallout« der ersten Atombomben.5

Plutonium ist ein ursprünglich in der Natur äußerst seltenes Element, das wegen seines Potenzials zum Bombenbau von Atomwissenschaftlern künstlich erzeugt wird.6 Da es durch den Fallout der Kernwaffentests über die ganze Erde verteilt wurde, kommt es inzwischen sowohl an Böden gebunden als auch in Pflanzen vor und sammelt sich am Grund der Ozeane an. Es ist unsere einzigartige Signatur auf der Erde und wird im Verlauf seines Zerfalls noch über Millionen Jahre hinweg radioaktive Strahlung aussenden. Der Beginn des Anthropozäns ist damit auf den 16. Juli 1945 bei Sonnenaufgang datiert, auf den Tag, an dem die erste Plutoniumbombe über der Wüste von New Mexico zur Explosion gebracht wurde. Der Anbruch eines neuen Zeitalters. Kein Wunder, dass die Kernkraft solche Emotionen in uns weckt.

Das Atomzeitalter wühlt unsere Gefühle auf und schafft Durcheinander im Kopf. Jeder hat eine Meinung dazu: Man ist entweder dafür oder dagegen, optimistisch oder pessimistisch, Panikmacher oder Technikgläubiger. Der Grund ist nicht allein die überwältigende Macht, die die Atomenergie uns verleiht. Das ist, je nach persönlicher Einstellung, verführerisch oder eben Furcht einflößend. Es liegt auch an der Strahlung. Sie ist unsichtbar, geruchlos und unberührbar. Wie ein Gespenst. Sie ist offen für alle Interpretationen, und das nutzen wir aus.

Wenn wir über Atomkraft sprechen, reden wir häufig großen Unsinn. Die Macht der Wissenschaft, Atome steuern zu können, hat offenbar unsere Unvernunft entfesselt. Und das betrifft beide Seiten. Atomkraftgegner wollen nichts Gutes darüber hören, Befürworter nichts Schlechtes. Manche Gegner attackieren die etablierte Wissenschaft zum Strahlenschutz mit derselben Vehemenz und derselben Missachtung anerkannter Fakten wie Skeptiker, die den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel widersprechen. Befürworter hingegen reagieren mit einer technikgläubigen Hybris, wie sie sich heute in anderen Bereichen kaum mehr beobachten lässt.

Nach den Recherchen zu diesem Buch habe ich mich gefragt, ob wir es jemals richtig machen können, oder ob unser Verhältnis zur Nukleartechnik unwiederbringlich zerrüttet ist. Nach mehr als sieben Jahrzehnten mit der Atomkraft sollten wir allmählich gelernt haben, sie zu verstehen. Alle Anzeichen sprechen jedoch dagegen. Nichts deutet darauf hin, dass der Fallout in unseren Köpfen wieder verschwindet.

Erster Teil

ZERSTÖRER DER WELTEN

Plötzlich war das nukleare Zeitalter da. Selbst die physikalischen Grundlagen, auf die sich die Kerntechnik stützt, waren Anfang der 1930er-Jahre noch unbekannt. Doch bereits Ende des Jahres 1945 hatten Atombomben zwei japanische Städte ausradiert und um ein Vielfaches stärkere waren in Entwicklung. Die Tests dieser »Superbomben« machten im Laufe der 1950er-Jahre Teile Zentralasiens, der Pazifikregion, der Arktis, Australiens und des nordamerikanischen Westens unbewohnbar – und kosteten viele Menschen das Leben oder ihre Gesundheit. Trotzdem faszinierte uns diese Neuheit. Der Atompilz wurde nicht nur zum Symbol der Zerstörung, sondern auch der Hoffnung. Nichts war mehr en vogue, als bei Sonnenaufgang aufzustehen und sich das jüngste Spektakel in der Wüste von Nevada anzusehen. Meine Reise zu diesen frühen Schauplätzen des Atomzeitalters beginnt – unweigerlich – in Hiroshima.

Kapitel 1

HIROSHIMA:EINE UNSICHTBARE NARBE

Am Ground Zero in der Stadtmitte von Hiroshima, dort, wo die erste Atombombe der Welt explodiert war, die alle Gebäude hinweggefegt und einen Feuersturm ausgelöst hatte und Tausende Menschen verglühen ließ, hatte ich wohl eine größere Gedenkstätte erwartet. Doch der Ort der umfassendsten Zerstörung war nur durch eine kleine Gedenktafel auf einem parkuhrhohen Marmorsockel gekennzeichnet, den man auf den Gehweg einer Seitenstraße vor die nackte Mauer neben einer Waschanlage gequetscht hatte. Es war der Gedenktag, einundsiebzig Jahre nach der Detonation. Jemand hatte ein paar Blumen abgelegt. Von der anderen Straßenseite aus sah ich zu, wie eine amerikanische Familie einige Minuten stehen blieb und die Tafel las. Die Leute machten ein Selfie für die Daheimgebliebenen, doch alle anderen gingen vorbei, ohne überhaupt Notiz zu nehmen.

Offenbar möchte sich Hiroshima von seiner Vergangenheit bewusst ungerührt zeigen. Heute hat die Stadt mehr als eine Million Einwohner, viermal so viele wie an dem Tag, als die Bombe fiel. Das riesige Mazda-Werk am Stadtrand ist zum Symbol der wirtschaftlichen Erneuerung geworden, der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen rast auf seinem erhöhten Schienenstrang vorbei, die Einkaufszentren sind voll von amerikanischen Markenprodukten. Die Straßenbahnen fahren noch immer auf denselben Strecken wie 1945 – ein gespenstisches Andenken an die Vergangenheit. Doch nur fünf Gebäude im gesamten Stadtzentrum von Hiroshima haben die Detonation überstanden. Sie sind bis heute erhalten. Eines davon, die alte Halle zur Förderung der Industrie mit ihrer Stahlskelettkuppel, steht am Flussufer. Sie ist heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und gleichzeitig das bekannteste Symbol der Ereignisse. Hier versammeln sich die Touristen. Eine junge Frau bat mich, ein Foto von ihr zu machen, und reckte den Daumen in die Höhe, im Arm ein Kuscheltier.

Einem der anderen Gebäude, der ehemaligen örtlichen Zentrale der Bank von Japan, stattete ich einen spontanen Besuch ab. Der massige Steinbau mit seiner klassischen Fassade steht nur vierhundert Meter vom Ground Zero entfernt. Heute werden dort Kunstausstellungen gezeigt. Eine kleine Tafel erinnert daran, dass das Gebäude nicht zerstört wurde. Wie sie sachlich bemerkt, wurde »der Bankbetrieb zwei Tage nach der Bombenexplosion in vermindertem Umfang wieder aufgenommen, und andere Finanzinstitute der Stadt verlegten ihre Büros vorübergehend in das Gebäude«. Das verschlug mir die Sprache. Als es noch überall brannte, Tausende Menschen auf der Straße an der Strahlenkrankheit starben und Leichen herumlagen, war das Geschäft rund ums Geld offenbar bereits wieder im Gange. Ich liebe Japan, aber seine Menschen sind mir sehr fremd.

Etwas Vergleichbares hatte die Welt noch nicht erlebt. Am 6. August 1945 um 8 Uhr 15 morgens flog ein amerikanischer B-29-Bomber die Südküste der japanischen Insel Honshu entlang. Er warf eine einzige Bombe ab, welche die Handvoll Menschen, die zu dem Flugzeug aufsahen und anschließend davon berichten konnten, als winzigen dunklen Fleck im strahlend blauen Himmel wahrnahmen. Die Bombe trug den Codenamen »Little Boy« und war gut drei Meter lang. Sie sollte die Welt verändern.1 Zuerst stürzte sie fünfundvierzig Sekunden auf Hiroshima zu. Dann, in etwa 600 Metern – der Höhe, in der sich gemäß den Berechnungen des britischen Mathematikers William Penney die größte Zerstörungskraft entfalten würde –, schoss ein Sprengstoff-Auslöser einen Zylinder mit 38 Kilogramm Uran-235 in einen zweiten Zylinder mit 25 Kilogramm des gleichen Materials hinein. Diese Kollision löste eine rasante nukleare Kettenreaktion aus, bei der die rasch gespaltenen Uranatome enorme Energiemengen freisetzten – das Äquivalent einer Explosion von 13.000 Tonnen TNT.

Dem Bomber folgten zwei weitere Flugzeuge, bestückt mit Kameras und anderer Ausrüstung, um den Fortgang der Verwüstung zu beobachten. Es muss ein erschütterndes Bild gewesen sein. Alles begann mit einem weißen Blitz, der so hell war, dass Menschen am Boden erblindeten. In Sekundenbruchteilen schoss durch die Hitze der Explosion ein fast vierhundert Meter großer Feuerball in Richtung Boden. Bei Temperaturen von rund 7.000 Grad Celsius schmolzen Dachziegel, und menschliches Fleisch verdampfte. Nach wenigen Sekunden blieb von vielen morgendlichen Pendlern nichts als ein Schatten an einer Mauer, wo ihr Körper die Hitzestrahlung abgefangen hatte. Auf den Feuerball folgten die Druckwellen der Explosion, die Gebäude zerstörten und Straßenbahnen umstürzten, und ein Stoß radioaktiver Strahlung, die innerhalb weniger Stunden zahllose Menschen tötete.

Brände breiteten sich aus. Innerhalb von zwanzig Minuten war ein Feuersturm von drei Kilometern Durchmesser entstanden, genährt von Gas aus geborstenen Leitungen. Staub und Rauch verhüllten die Stadt. Durch das Inferno ausgelöste Wirbelwinde entwurzelten Bäume im Stadtpark, wohin sich viele, die vor dem Feuer Schutz suchten, geflüchtet hatten. Es fiel schwarzer Regen: riesige, murmelgroße Tropfen aus radioaktivem Ruß, vermischt mit Wasser.2 Drei Tage lang brannte es. Der erste Strahlungsstoß der Bombe war rasch vorbei, doch Staub und Trümmer am Boden nahe dem Detonationsort strahlten noch wochenlang. Sie verursachten Verbrennungen bei den Menschen, die sie berührten – unter ihnen Rettungskräfte –, töteten die Fische im Fluss Ota und kontaminierten die Brunnen, aus denen die Menschen ihr Trinkwasser bezogen.

Damals lebten in Hiroshima rund eine Viertelmillion Menschen. Die meisten wohnten und arbeiteten im eng bebauten Zentrum, dem gezielt ausgewählten Ort der Zündung. Etwa 60.000 von ihnen starben am ersten Tag, darunter 90 Prozent derjenigen, die sich innerhalb eines 450 Meter weiten Radius um den Ground Zero aufgehalten hatten. Im Laufe der folgenden Wochen starben weitere 40.000. Die meisten Menschen wurden durch die Detonation getötet und durch die Feuer, die durch die Stadt fegten. Fast möchte man sagen, dass sie noch Glück hatten. Andere waren horrenden Strahlungsmengen ausgesetzt – mehr als 10.000 Millisievert, wie akribische amerikanische Forscher später schätzten – und starben innerhalb weniger Tage an inneren Blutungen, Verletzungen der Organe oder Schädigungen des Immunsystems, wofür die Medizin später die Bezeichnung »akute Strahlenkrankheit« prägen sollte.

Menschen, die durch geringere Strahlendosen belastet waren, starben über einen Zeitraum mehrerer Wochen oder Monate, häufig weil ihr verstrahlter Körper kein frisches Blut mehr herstellen konnte. Wer jedoch weniger als 4.000 Millisievert erhalten hatte, überlebte in der Regel, und diese Menschen erwartete ein überraschend mildes Schicksal. Die amerikanisch-japanische Forschungskommission Radiation Effects Research Foundation geht heute davon aus, dass jemand, der an diesem Tag einer Strahlung von 150 Millisievert oder mehr ausgesetzt war, ein erhöhtes Risiko hatte, an Leukämie oder anderen Krebsarten zu erkranken.3 Das betrifft die Mehrheit der Einwohner der Stadt. Allerdings wurden bis zum Jahr 2000 nur 573 Todesfälle mehr verzeichnet, als ohnehin statistisch wahrscheinlich waren, was nur einen zusätzlichen Prozentpunkt ausmacht.4 Ebenfalls im Gegensatz zu früheren Erwartungen der Wissenschaft – und im Widerspruch zu den andauernden Befürchtungen der breiten Öffentlichkeit – haben Forscher bei den folgenden Generationen bis heute keine Anzeichen genetischer Mutationen festgestellt. Wenn es für Hiroshima eine gute Nachricht gibt, dann ist es diese.

Die Bombe, die auf Hiroshima fiel, kam nicht nur für die Stadt aus heiterem Himmel, sondern im übertragenen Sinn auch für die ganze Welt. Eine Warnung gab es nicht. Einzelne Zeitungsartikel waren erschienen, in denen berühmte Physiker wie Albert Einstein zur Entwicklung von Nuklearwaffen aufriefen. Doch vor Hiroshima wussten nur wenige, dass solche Waffen bereits entwickelt, geschweige denn zum Abwurf auf eine Stadt vorbereitet wurden.

Dass selbst zu Kriegszeiten eine derart hohe Geheimhaltung fortbestehen konnte, kann man sich heute nur noch schwer vorstellen. Fünf Jahre lang hatte die US-Regierung diese Waffen im Rahmen eines gigantischen Geheimunternehmens entwickelt. Drei Wochen zuvor hatte es einen einzigen, unangekündigten Bombentest in New Mexico gegeben. Doch an dem Tag, als Hiroshima getroffen wurde, wussten selbst gut informierte Reporter nur wenig. Die Zeitungsberichte des folgenden Tages mussten einen großen Informationsrückstand ausgleichen. Der Artikel im englischen Manchester Guardian begann mit den Worten: »Japan wurde von einer atomaren Bombe getroffen, die eine 2000-mal stärkere Sprengkraft hatte als die Zehntonner, die die Royal Air Force über Deutschland abwarf […]. Britische und amerikanische Forscher haben seit mehreren Jahren daran gearbeitet.«5

Die Gesamtzahl der rund 170.000 Toten von Hiroshima und Nagasaki, dem Ort des zweiten Atombombenabwurfs, sticht in den Annalen des Krieges nicht besonders heraus. Auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs hatten bei dem belgischen Dorf Passchendaele durch ein fünf Monate andauerndes Bombardement mehr als eine halbe Million Soldaten ihr Leben verloren. In Hiroshima starben wahrscheinlich weniger Japaner als in Tokio Opfer von Feuerstürmen wurden, nachdem amerikanische Flugzeuge in zwei früheren Nächten des gleichen Jahres die Stadt unerbittlich bombardiert hatten. Erschütternder war vielmehr die Tatsache, dass ein einziges Flugzeug mit einer einzigen Bombe ausreichte, um eine ganze Stadt zu zerstören.

Noch größere Aufmerksamkeit bekam die neue Wirklichkeit des Krieges in den darauffolgenden Jahren durch die nach und nach veröffentlichten Geschichten der Überlebenden, der Hibakusha. Den meisten Außenstehenden wurden sie erst durch den 1946 veröffentlichten Buchklassiker des amerikanischen Journalisten John Hersey mit dem schlichten Titel Hiroshima zugänglich.6 Darin verfolgte Hersey das Schicksal von sechs Hibakusha. Seither haben viele andere öffentlich ihre Geschichte erzählt – damit, wie sie sagen, die Welt nicht vergisst. Während meines Besuchs anlässlich der Gedenkfeiern 2016 nahmen mehrere von ihnen an einem Treffen teil. Keine Statistik kann den Geschichten, die ich dort gehört habe, gerecht werden.

Etwa der von Keiko Ogura, einer kleinen, quirligen Frau von neunundsiebzig Jahren. Sie war erst acht und auf dem Weg zur Schule gewesen, als sie durch die Detonation das Bewusstsein verlor. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, lief sie benommen durch die Straßen. Sie erinnerte sich, dass sie an Hunderten Toten und Sterbenden vorbeikam, deren verbrannte Haut sich vom Körper schälte. »Was mich am meisten verängstigte, waren die Leute, die mich am Fuß packten und sagten: ›Gib mir Wasser‹«, erzählte sie. »Von einem Brunnen bei einem Shinto-Schrein holte ich welches und gab es ihnen. Doch als sie es tranken, mussten sie sich übergeben und starben. Später hat mein Vater mir erzählt, Menschen mit Verbrennungen dürfe man kein Wasser geben. Noch Jahre danach hatte ich Albträume und machte mir Vorwürfe dafür, dass ich den Leuten Wasser gegeben hatte. Ich glaubte, ich hätte sie umgebracht. Bis mein Vater starb, habe ich niemandem davon erzählt. Es war eine unsichtbare Narbe.«

Kazuhiko Futagawa erzählte, dass er als ungeborenes Kind der Strahlung ausgesetzt war, weil seine Mutter über Tage die bombardierte Stadt durchstreifte. Sie suchte nach ihrem Mann, der im Hauptpostamt, nur zweihundert Meter vom Ground Zero entfernt, beschäftigt gewesen war, und nach ihrer dreizehnjährigen Tochter, die in fünfhundert Metern Entfernung Brandschneisen geschlagen hatte. Wie er berichtete, verloren Tausende Eltern aus den Vororten ihre Kinder, weil der Stadtrat von Hiroshima an diesem Tag die Jugendlichen ins Zentrum hatte bringen lassen, um dort Gebäude abzureißen und so das Risiko eines Feuersturms bei Bombenangriffen zu reduzieren.

Nach dem Treffen besuchte ich das Friedensmuseum von Hiroshima, das an einem Platz im Friedenspark steht, und fand Futagawas Geschichte bestätigt. Hiroshima ist eine Hafenstadt an der Trichtermündung des Ota und war eine von nur zwei Städten, die 1945 von den Amerikanern noch nicht bombardiert worden waren. (Die andere war die alte Hauptstadt Kyoto, deren sagenumwobene Tempel ein amerikanischer General früher einmal besichtigt hatte und deshalb vor der Zerstörung retten wollte.) Es gab Gerüchte – die sich bewahrheiten sollten –, wonach die Amerikaner womöglich etwas »Besonderes« mit Hiroshima vorhatten. Rund 8.400 Jugendliche arbeiteten am fraglichen Tag an den Brandschneisen; 6.300 von ihnen starben.

Im Museum waren mehrere Uniformen ausgestellt, die Schülerinnen und Schüler an diesem Tag zu Hause gelassen hatten, als sie die Brandschneisen anlegen gingen. Dort hing das Kleid von Noriko Sado, damals in ihrem ersten Jahr an der höheren Schule, gestiftet von ihrer Mutter Mieko, sowie Hose, Stiefel und Hut von Koso Akita, einem fünfzehnjährigen Jungen, dessen Eltern ihn gerade noch in den Trümmern fanden, ehe er starb. Außerdem sah ich eine Schuluniformbluse, gestiftet von Herrn Futagawa, dessen Vortrag ich zuvor gehört hatte. Sie war das Eigentum seiner älteren Schwester gewesen, die bei der Arbeit verglühte. Er hatte geweint, als er erzählte, wie er die Bluse nach dem Tod seiner siebenundachtzigjährigen Mutter sorgfältig gefaltet hinten in einer Schublade gefunden hatte. Ihr ganzes Leben lang habe seine Mutter sich geweigert, über die Katastrophe zu sprechen, die ihrer Familie widerfahren war. Die Bluse, sagte er, »war das Einzige, was ihr von ihrer Tochter blieb, doch erzählt hatte sie uns davon nie. Ich kann mir das Leid nicht vorstellen, das hinter diesem Geheimnis verborgen lag.«

Mit ergreifender Sorgfalt geben die Kuratoren des Museums die Identität jedes Opfers an, dessen persönliche Dinge dort ausgestellt sind. Daher wissen wir, dass das verbogene Dreirad in einem der Räume dem dreijährigen Shinichi Tetsutani gehörte und dass sein Vater es mit ihm bestattet hatte, sich dann aber anders entschied und es für das Museum exhumierte. Wir erfahren, dass Tsuneyo Okahara nach der Explosion der Bombe das Büro aufsuchte, in dem ihr achtundvierzig Jahre alter Mann Masataro damals arbeitete. Auf der verzweifelten Suche nach seinen Überresten durchsuchte sie das zerstörte Gebäude. Schließlich fand sie auf einem Schreibtisch seine Lunchbox und seine Pfeife aus Elfenbein – und Knochen auf dem Schreibtischstuhl. Der Anblick der Knochen bleibt uns erspart, aber die geschmolzene Lunchbox und die Pfeife sind ausgestellt.

Begonnen hatte mein Tag in Hiroshima mit der jährlichen Gedächtniszeremonie im Friedenspark, der dort angelegt ist, wo früher das dicht bevölkerte Innenstadtviertel Sarugaku-cho stand. Sie war kurz, aber ernst und fand zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs statt. Die Familien der Hinterbliebenen schlugen die Friedensglocke an. Der Bürgermeister, der Premierminister und andere hielten kurze Reden, dann stiegen Friedenstauben auf, und es wurden Tausende von den Teilnehmern gefaltete Papierkraniche aufgehängt, die für die verstorbenen Kinder stehen.

Abseits der Zeltdächer für die geladenen Gäste stand eine stille Menschenmenge und folgte dem Ereignis auf Bildschirmen; die Musik und die Reden wurden von den Zikaden auf den Bäumen fast übertönt. Viele Besucher hatten Anstecker mit der Aufschrift »No Nukes« (Stoppt Atomwaffen) und Fächer mit der gleichen Botschaft mitgebracht. Einige alte Menschen standen in stummer Erinnerung mit ausdruckslosen Gesichtern da. Die meisten jedoch waren viel jünger. Für sie war das Ereignis ein erschütternder Teil der Geschichte. Es folgten einige – in meinen Augen – ausgesprochen sonderbare Formen des Gedenkens. Eine Frau im weißen Abendkleid sang mit zitternder Stimme, während eine andere – ebenfalls in Abendgarderobe – sie auf einem ramponierten Klavier begleitete, das die Detonation überstanden hatte. »Das bombardierte Klavier der verstorbenen Akiko« stand in englischer Sprache auf einem Schild.

Mich beeindruckte, wie die Menschen den Tatsachen ins Auge schauten. Niemand versuchte, seinen Kindern die Schrecken der Bombe zu ersparen. Während der Gedächtniszeremonie wurde von einem Jungen erzählt, der sah, wie »verkohlte Leichen die Straße blockierten. Ein unheimlicher Gestank drang mir in die Nase. So weit ich sehen konnte, erstreckte sich ein Feuermeer. Hiroshima war die Hölle auf Erden.« Zwei Sechstklässler trugen eine Friedenserklärung vor, die mit den Worten begann: »Ich roch die brennenden Körper. Die Haut der Menschen war geschmolzen. Sie sahen nicht mehr menschlich aus.« Im Museum zeigten Eltern ihren kleinen Kindern großformatige Bilder von verbrannten und entstellten Menschen und lasen ihnen die Texttafeln vor, auf denen die Symptome der Strahlenkrankheit ausführlich aufgelistet waren. »Zahnfleisch- und Nasenbluten durch Zerstörung der Schleimhäute, Haarausfall, Knochenmarksversagen, Verminderung der roten Blutkörperchen, Darmblutungen« und so weiter. Manche Opfer, so erfuhren die Kinder, hatten buchstäblich ihre Eingeweide ausgehustet.

Während meiner Forschungsreise um die Welt zu den Schauplätzen nuklearer Katastrophen habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen sich ihre Vorstellungen von den unsichtbaren Schädigungen durch die Kerntechnik zurechtlegen. Hier, wo die Menschen mit den schlimmsten Folgen eigene Erfahrungen gemacht hatten, ging man verstörend schonungslos und direkt damit um.

Ebenso eindrucksvoll war, wie wenig Groll gegen die Amerikaner es hier gab – was angesichts der Fernsehberichte über rüpelhafte ausländerfeindliche Äußerungen im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016, die ich am Abend zuvor gesehen hatte, kein Wunder gewesen wäre. Doch nichts dergleichen. Manche zeigten sich vielmehr dankbar darüber, dass in diesem Jahr Präsident Barack Obama das Museum besucht hatte. Auch in Privatgesprächen äußerte sich niemand kritisch über die amerikanischen Touristen, die die Zeremonie still verfolgten. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sich die Amerikaner auf ähnliche Weise jede harsche Kritik verkneifen würden, hätten die Japaner eine vergleichbare Bombe über dem amerikanischen Festland abgeworfen.

Doch da war noch etwas anderes. Wenngleich das Museum in Hiroshima sich sehr direkt mit der Bombe und ihren schrecklichen Folgen beschäftigte, erwähnte weder dieses Haus noch sein Pendant in Nagasaki die Kapitulation Japans wenige Tage nach den Bombenabwürfen, die das Ende des Zweiten Weltkriegs eingeläutet hatten. Mein Eindruck ist, dass Japan auf das Bombardement mit stoischer Ruhe und mit Würde zurückblicken kann. Die Niederlage hingegen war zu viel.

Als ich das Museum verließ, gab die lächelnde Mitarbeiterin am Ausgang jedem eine abschließende Botschaft mit auf den Weg. »Bitte denken Sie immer daran«, sagte sie, »dass schon innerhalb eines Monats nach der Bombe das Gras in Hiroshima wieder zu wachsen begann.« Archivaufnahmen hinter ihr zeigten, wie sich entlang des Flussufers Pflanzen schnell wieder ausgebreitet und durch die Risse im Straßenbelag gedrängt, wie sie die Asche überdeckt und sich zwischen die Trümmer der Gebäude geschoben hatten. Das sei eine »Hoffnungsbotschaft«, sagte sie. Eine solche Botschaft hatte ich nötig, als ich an dem Hügeldenkmal vorbeiging, das die Überreste von 70.000 Menschen enthält, deren Leichen überall in der Stadt gefunden worden waren, aber nie identifiziert werden konnten. Die Widerstandskraft der Natur gegenüber atomarer Strahlung wurde zu einem weiteren Leitgedanken auf meiner Reise zu den nuklear belasteten Landschaften der Erde.

Kapitel 2

KRITISCHE MASSE:MAUD IM GARTEN DER ATOME

Von allen moralischen Fragen einmal abgesehen, war die Entwicklung der beiden auf Japan abgeworfenen Atombomben eine wissenschaftliche Glanzleistung des 20. Jahrhunderts. Nach Hiroshima und Nagasaki wirkte die dampfgetriebene industrielle Revolution plötzlich reizend altmodisch. Doch das Atomzeitalter hatte ganz unvermittelt begonnen. Es war das Ergebnis einer wahren Flut neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Aufbau der Atome und darüber, wie unbeständig diese vermeintlich soliden Bausteine der Materie in Wirklichkeit waren.

Begonnen hatte alles Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung, dass die anscheinend so klar voneinander zu unterscheidenden Atome jedes Elements – Sauerstoff oder Uran, Kupfer oder Kohlenstoff – verschiedene Formen annehmen konnten: Isotope mit unterschiedlicher Anzahl Neutronen, die ihrerseits zu den Bausteinen der Atome zählen. Das Beunruhigende daran war die Instabilität vieler Isotope. Ein Isotop eines bestimmten Elements konnte sich in ein Isotop eines anderen verwandeln und dabei Energie freisetzen.

Als man verstand, dass sich manche Atome gezielt spalten ließen, indem man sie mit den Neutronen eines anderen radioaktiven Elements beschoss, wurde aus einer spannenden wissenschaftlichen Erkenntnis eine Entdeckung, mit der sich die Kriegsführung revolutionieren ließ. Als Erstem gelang eine solche Atomspaltung oder »Kernfission« 1917 dem neuseeländischen Physiker Ernest Rutherford. Doch erst 1933 äußerte der Ungar Leó Szilárd die Vermutung, man könne damit eine explosive Kettenreaktion auslösen, bei der jedes gespaltene Atom viele weitere Neutronen freisetze, die wiederum mit anderen Atomen kollidieren würden. Jede Stufe dieser nuklearen Kettenreaktion würde enorme Energiemengen erzeugen.

Am besten, so Szilárd, eigne sich für eine solche Kettenreaktion Uran, ein Metall, das aufgrund der Größe seines Atomkerns mit jedem Schritt die meisten Neutronen freisetze. Dazu müsse das Uran stark komprimiert vorliegen, damit bei der Spaltung möglichst viele frei gewordene Neutronen weitere Uranatome träfen. Und könne man eine »kritische Masse« Uran im Inneren einer Bombe zusammenführen, so würde sie mit einer Sprengkraft von Tausenden Tonnen TNT explodieren.

Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren die wenigen Atomwissenschaftler vom europäischen Festland nach Großbritannien und in die USA geflohen, wo sie an ihren Ideen weiterarbeiteten. Ende 1939 traf sich der inzwischen in Amerika lebende Szilárd mit Albert Einstein, dem damals berühmtesten Physiker weltweit. Gemeinsam schrieben sie Präsident Franklin Roosevelt und schlugen vor, dass Amerika, wenngleich neutral, eine solche Bombe entwickeln sollte – nicht zuletzt für den Fall, dass Deutschland dasselbe täte.1

Roosevelt schien anfangs wenig interessiert. In Großbritannien aber, das sich von einer deutschen Invasion bedroht sah, erhielten zwei weitere emigrierte Physiker eine ganz andere Resonanz. Wenige Wochen nachdem Szilárd von Roosevelt einen Dämpfer bekommen hatte, wandten sich der österreichische Physiker Otto Frisch und sein deutscher Kollege Rudolf Peierls in einem Brief mit derselben Idee an Winston Churchill. Er enthielt eine wichtige Ergänzung. Nach ihren Berechnungen war zur Herstellung einer Kernspaltungsbombe nur eine kritische Masse von 22 Pfund Uran nötig, viel weniger als die meisten Physiker erwartet hatten. Doch es gab eine Voraussetzung: Für die Bombe musste ein bestimmtes Uran-Isotop verwendet werden, Uran-235, das nur einen sehr geringen Anteil des natürlich vorkommenden Urans ausmacht.2 Unter dieser Voraussetzung jedoch versprachen sie Churchill eine Explosion, die »in einem großen Gebiet alles Leben zerstören würde […], wahrscheinlich das ganze Zentrum einer Großstadt«.

Das war im Sommer 1940. Die Luftschlacht um England war in vollem Gang. Täglich bombardierten die Deutschen London, und eine Invasion stand womöglich kurz bevor. Innerhalb weniger Tage ernannte Churchill eine geheime Kommission mit dem Namen MAUD Committee, die die Umsetzbarkeit des Vorschlags prüfen sollte – und wie schnell eine solche Bombe bereitgestellt werden konnte.3 Es war der Beginn eines politischen Prozesses, der auf der anderen Seite des Atlantiks das Manhattan-Projekt ins Leben rufen und nur fünf Jahre später zum verhängnisvollen Abwurf zweier Atombomben auf das bereits geschwächte Japan führen sollte.

Schon bald nahmen zwei weitere emigrierte Wissenschaftler mit der MAUD-Kommission Kontakt auf: der Österreicher Hans von Halban und der Russe Lew Kowarski. In ihrem gemeinsamen Labor in Cambridge hatten sie nach Möglichkeiten gesucht, aus der freigesetzten Energie nuklearer Kettenreaktionen nutzbare Elektrizität zu gewinnen. Anstelle einer unkontrollierten Explosion war es nach ihrer Überlegung auch möglich, die Kettenreaktion in einem von ihnen so bezeichneten Kernreaktor kontrolliert ablaufen zu lassen.4 Die dabei gewonnene Energie könne zu nicht-zerstörerischen Zwecken genutzt werden. Bei ihren Forschungen erkannten sie allerdings auch, dass bei der Spaltung von Uranatomen unter anderem das Element Plutonium entstand. Plutonium kam allem Anschein nach in der Natur nicht vor, doch ihre Berechnungen ergaben, dass eines seiner Isotope, Plutonium-239, sogar noch leichter spaltbar war als Uran-235. Für eine Bombe reichten daher womöglich noch kleinere Mengen aus. In Kriegszeiten interessierte sich natürlich niemand für die Möglichkeiten der Stromerzeugung durch Kernspaltung, aber die Idee einer Plutoniumbombe ließ die MAUD-Kommission aufhorchen.

Um die Bestandteile einer Atombombe herstellen zu können, hätte man entweder eine Quelle für Uranerz finden müssen, um daraus Uran-235 zu isolieren, oder Reaktoren bauen müssen, um Plutonium zu gewinnen. Beides waren gewaltige technische Vorhaben, die Großbritannien sich nicht leisten konnte. Nur die Amerikaner waren in der Lage, sie zu stemmen.

Kurz geriet das Projekt ins Stocken, doch dann traten die USA nach dem Angriff auf Pearl Harbour Ende 1941 in den Krieg ein. Churchill wies seine Wissenschaftler an, die führenden Köpfe der Atomforschung in den USA in die Ergebnisse der MAUD-Kommission einzuweihen. Wenige Wochen später gab Präsident Roosevelt grünes Licht für das Vorhaben, das heute als Manhattan-Projekt bekannt ist.5 Bald schon investierte Amerika Hunderte Millionen Dollar und ließ die Erkenntnisse europäischer Forschung in Bomben umsetzen, mit denen der Krieg gewonnen werden sollte.

Für den Fall, dass eine der Konstruktionen nicht funktionierte, entschied die US-Regierung vorsorglich, aufs Ganze zu gehen und sowohl eine Uran- als auch eine Plutoniumbombe bauen zu lassen. Unter strenger Geheimhaltung wurde Ende 1942 Uranerz aus der praktisch einzigen Quelle erworben, der Shinkolobwe-Mine tief im Süden von Belgisch-Kongo, und die Gewinnung von Uran-235 lief an.6 In der Zwischenzeit war in einem Reaktor in Chicago eine nukleare Kettenreaktion geglückt und Plutonium-239 gewonnen worden.

Mit ihrem Plutonium verband die Wissenschaftler des Manhattan-Projekts eine eigenartige Hassliebe. Zwar konnte es Welten zerstören, doch es hatte auch verführerische Eigenschaften. Dank seiner Strahlung fühlte es sich »warm an, wie ein lebendiges Kaninchen«, sagte Leona Marshall Libby, eine der wenigen beteiligten Wissenschaftlerinnen.7 Andere berichteten von einem metallischen Geschmack.

Mitte 1943 war ein großes Halbwüstengebiet am Columbia River im US-Staat Washington requiriert worden, um dort das Isotop Plutonium-239 herzustellen, das so leicht spaltbar ist, dass man sich von wenigen Kilogramm eine Explosion mit der Sprengkraft von 20.000 Tonnen TNT versprach.

In einem gigantischen Unternehmen mit Tausenden Arbeitern wurden für die Anlage von Hanford neun riesige Atomreaktoren errichtet, in denen durch Neutronenbeschuss aus Uran kleine Mengen Plutonium gewonnen wurden. In einem chemischen Prozess, der sogenannten Wiederaufbereitung, wurde anschließend das entnommene »verbrauchte« Uran in Salpetersäure gelöst, um so das Plutonium für die Bomben zu extrahieren.

Das intellektuelle Zentrum des Manhattan-Projekts jedoch war das viel weiter südlich gelegene Los Alamos in der Wüste von New Mexico. Hunderte Wissenschaftler arbeiteten hier in einem ehemaligen Internat an den Plänen für die Bomben und versuchten, ihre Wirkung zu maximieren. Ihr Durchschnittsalter betrug fünfundzwanzig Jahre. Nahezu alle britischen Forscher, die an dem Bericht der MAUD-Kommission beteiligt gewesen waren, stießen hier zu der Gruppe junger US-amerikanischer Koryphäen um Robert Oppenheimer, so auch Peierls und Frisch sowie einer ihrer engen Mitarbeiter, der in Deutschland geborene Mathematiker Klaus Fuchs. Neben seiner täglichen Arbeit behielt Fuchs stets auch das Gesamtprojekt im Auge. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis und leitete, wie später ans Licht kommen sollte, alle Geheimnisse, von denen er Kenntnis bekam, an Igor Kurtschatow weiter, den leitenden Atomwissenschaftler Josef Stalins.8 Während er ein Jahrzehnt lang in britischen und amerikanischen Atomforschungseinrichtungen ein und aus ging, trug der zurückhaltende, aber umgängliche und aufgeschlossene Auswanderer eine Unmenge Informationen zusammen.

Bald wusste Kurtschatow, dass in Los Alamos sowohl eine Uranals auch eine Plutoniumbombe gebaut wurde. Quelle der Neutronen, die in beiden Bauprinzipien die Kettenreaktion in Gang setzen sollten, war ein eingebauter »Initiator« aus Polonium- und Beryllium-Isotopen. Davon abgesehen aber war der Aufbau völlig unterschiedlich. In der Uranbombe wurden zwei relativ kleine Uran-235-Pakete durch konventionellen Sprengstoff ineinandergeschossen, sodass die für eine Kettenreaktion nötige kritische Masse entstand. Im Fall der Plutoniumbombe entschieden sich Oppenheimer und seine Kollegen für die kompliziertere »Implosionsmethode«. Das Plutonium hatte die Form einer Kugel, etwa so groß wie ein Tennisball. Eine sie umgebende Sprengstoffhülle sollte zur Explosion gebracht werden, wodurch die Kugel komprimiert und so die kritische Masse erreicht würde. Es fiel in Fuchs’ Spezialgebiet, die physikalischen Voraussetzungen für diese Implosion zu berechnen und die ideale Konfiguration der Sprengstoffhülle festzulegen.

Die Uranbombe wurde vor dem Abwurf auf Hiroshima nie getestet. Da aber bei der Plutoniumbombe mehr schiefgehen konnte, fand im Juli 1945 in der Wüste bei Los Alamos eine Testzündung statt. Mit einem Vierfachen der erwarteten Sprengkraft erwies sich der Test als großer Erfolg. Nur drei Wochen später wurde auf Nagasaki eine identische Bombe abgeworfen. Wenige Tage darauf erklärte der japanische Kaiser Hirohito die Kapitulation. Die Aufgabe war erledigt. Ein gespenstisches Detail: Nach offiziellen Angaben arbeiteten im Rahmen des Manhattan-Projekts 175.000 Menschen – das entspricht fast genau der Zahl der Toten durch die beiden Bomben.

Viele Wissenschaftler des Manhattan-Projekts erschraken vor dem, was sie geschaffen hatten. Ihr Leiter, Robert Oppenheimer, sagte in den Worten der Hindugottheit Krishna: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.« Daneben herrschte große Verärgerung, vor allem über die Entscheidung des Militärs, die beiden japanischen Städte zu bombardieren. Szilárd, der Entwickler der Grundidee, hatte sich für eine Demonstration der mächtigen neuen Waffe an einem entlegenen Ort ausgesprochen. Er wurde jedoch von Politikern und Generälen überstimmt, die wissen wollten, was beim Abwurf auf eine echte Stadt passieren würde.9

Da das Vorhaben gelungen war, wussten die Wissenschaftler, dass andere es ihnen gleichtun konnten. Manche riefen öffentlich dazu auf, Atomwaffen internationaler Kontrolle zu unterwerfen, um ein atomares Wettrüsten zu verhindern. Auch von dieser Idee hielten die Generäle nicht viel. Der Gedanke, »Welten zerstören« zu können, gefiel ihnen besser. Eine Zeit lang hoffte Amerika, die Technologie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für sich behalten zu können. Daher wurden sogar die britischen Forschungspartner aus Kriegszeiten nach Hause geschickt – nicht ohne die absurde Anweisung, ihr erworbenes Wissen nicht anzuwenden, sollte sich Großbritannien selbst zum Bau einer Bombe entschließen.

An Fuchs jedoch dachte niemand. Über Jahre hatte er sich bewusst über die Arbeit jedes Einzelnen auf dem Laufenden gehalten. Sein Wissen teilte er mit seinen britischen Kollegen in Harwell, Oxfordshire, das sich schon bald zu einem britischen Los Alamos entwickelte, und leitete kontinuierlich wissenschaftliche Artikel und Konstruktionspläne an Kurtschatow weiter. Angespornt von dem Wissen, dass die Technologie ganz offensichtlich funktionierte, war die Sowjetunion schließlich in der Lage, ein eigenes Waffenprogramm ins Leben zu rufen. Bereits Ende 1948 lief in einem Nachbau der Anlage von Hanford – in der eilig hochgezogenen geschlossenen Atomstadt im Schatten des Urals, die heute Osjorsk heißt – die Plutoniumproduktion auf Hochtouren. Im August 1949 wurde die erste sowjetische Plutoniumbombe in der kasachischen Steppe getestet.

Ein Wettrüsten hatte begonnen. Während jedoch Russland, Großbritannien und später auch Frankreich und andere in aller Eile ihre eigenen Kernspaltungsbomben entwickelten, hatten die Beteiligten des Manhattan-Projekts weit explosivere Pläne – für einen Apparat, der anfangs »Super-Gadget« genannt wurde. Dahinter stand mit Edward Teller ein weiterer ungarischer Physiker sowie der polnische Mathematiker Stanisław Ulam. Physikalisch gesehen war das »Super-Gadget« fast das Gegenteil einer Kernspaltungs- oder Fissionsbombe. In Fissionsbomben werden schwere Elemente wie Uran oder Plutonium gespalten. Die neue Waffe aber war eine »Fusionsbombe«, in der Atomkerne der beiden leichten Wasserstoff-Isotope Deuterium und Tritium zur Fusion gezwungen werden sollten, daher der populäre Name »Wasserstoffbombe«. Wenn Tellers und Ulams Überlegungen stimmten, sollte sie ein Vielfaches der Energie einer Fissionsbombe freisetzen.

Um eine Fusionskettenreaktion in Gang zu setzen, bedurfte es jedoch einer Menge Energie – einer so großen Menge, wie sie nach Tellers und Ulams Berechnungen nur eine Fissionsbombe liefern konnte. Im Inneren einer Wasserstoffbombe befand sich also immer auch eine Kernspaltungsbombe. So schrecklich die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Kernwaffen auch gewesen waren, im Vergleich zu den neuen Wasserstoffbomben waren sie nichts. Entsprechend war die Wüste New Mexicos für ihre Sprengkraft und ihren Fallout nicht groß genug. Daher wurde die erste echte Wasserstoffbombe im März 1954 auf dem Bikini-Atoll gezündet, in einer entlegenen Region des Pazifischen Ozeans. Sie hatte die tausendfache Stärke der Bombe von Nagasaki. Für die Größe einer Wasserstoffbombe gab es offenbar keine Grenzen.

Bereits vor dem Abwurf der ersten Kernspaltungsbombe war in Los Alamos an der Konstruktion einer Wasserstoffbombe geforscht worden. Zu den Entwicklern in dieser frühen Phase zählte auch Fuchs. Im Mai 1946 reichte er ein Patent für den exakten Zündmechanismus einer Kernfusionsbombe ein, das bis heute der Geheimhaltung unterliegt. Wem diese Geheimhaltung nutzt, ist unklar, da wir heute wissen, dass alle Einzelheiten, kaum dass das Patent erteilt war, ohnehin durch Fuchs’ sowjetische Kontaktleute an Kurtschatow und den »Vater« der sowjetischen Wasserstoffbombe, Andrei Sacharow, weitergeleitet worden waren. Als in den 1990er-Jahren die Archive des sowjetischen Atomenergieministeriums geöffnet wurden, fand der britische Militärhistoriker Mike Rossiter Kopien von Mitschriften zur Wasserstoffbombe, die 1945 bei Vorträgen in Los Alamos entstanden waren, sowie Berichte über die Entwicklung aus den Jahren bis 1948.10

Bei seinem Marsch durch die britischen und amerikanischen Atomforschungseinrichtungen hatte das Genie Fuchs eine Unmenge Informationen zusammengetragen. Er spionierte für die Briten ebenso wie für die Sowjets. Das könnte erklären, warum seine britischen Vorgesetzten – trotz eines frühen Verdachts auf der anderen Seite des Atlantiks – ihm bis zum Eingeständnis seiner Verbindungen zur Sowjetunion 1950 freien Zugang zu allen Einrichtungen gewährten. Anschließend wurde er von den Briten wegen Spionage verurteilt, aber bereits nach neun Jahren wieder freigelassen.

Als Fuchs schließlich in ein Flugzeug mit Ziel DDR gesetzt wurde, waren die Atompilze der sowjetischen Wasserstoffbomben aus der Steppe Kasachstans bereits nicht mehr wegzudenken. Und als Sinnbild des jungen Atomzeitalters hatte sich der Atompilz längst im globalen Bewusstsein verankert.

Kapitel 3

LAS VEGAS: SILBERSTREIFENAM STRAHLENDEN HORIZONT

Die Nevada National Security Site ist Nordamerikas Atomlandschaft schlechthin: ein umzäuntes und weitgehend verlassenes Gebiet aus nichts als Sand, Kakteen und Joshua Trees, größer als der Bundesstaat Rhode Island. Damals, als auf dem Gelände noch die US-amerikanischen Kernwaffentests stattfanden, ließ man hier die Korken knallen. Alles, was in Amerika neu und aufregend war, trug die Bezeichnung »atomic«, und in Nevada konnte man das neue Zeitalter an vorderster Front miterleben.

Zu sehen war das Leuchten noch im 560 Kilometer entfernten San Francisco. In dem jungen, aufstrebenden Wüstenressort Las Vegas jedoch, weniger als 120 Kilometer vom Testgelände entfernt, waren die Bombenexplosionen eine regelrechte Attraktion für Wochenendtouristen. Die Handelskammer vermarktete Las Vegas als »Atomic City, USA« und gab Gratiskalender mit den Zeiten der geplanten Atomtests heraus. Es war der letzte Schrei, mit Atom-Cocktails die Nächte durchzufeiern und dann den Highway 95 hinunterzufahren, um in der Morgendämmerung die Detonation aus der Nähe zu beobachten. Oder man erlebte den Atompilz und das Beben der Erde vom Hotelzimmer aus. Für Suiten, die Fenster in Richtung des Testgeländes besaßen, wurde ein Aufpreis verlangt.1

Auch die Stars erlagen der nuklearen Versuchung. Als der junge Elvis Presley in Las Vegas auftrat, wurde er als »Amerikas einziger Sänger mit der Power des Atoms« angepriesen. Um den Glamour noch zu steigern, kürte man eine Zeit lang alljährlich eine »Miss Atomic Bomb«. Atombomben, Elvis und Showgirls – mehr Las Vegas ging nicht! Was hätte ein mächtigeres Sinnbild für das moderne Amerika sein können?

Zur Blütezeit der Atomtests in der Wüste von Nevada wurde vier Mal, von 1952 bis 1957, eine junge Frau zur Miss Atombombe gekrönt. Die erste war Candyce King, eine Tänzerin im Last Frontier Hotel von Las Vegas – die »vor Liebreiz anstelle tödlicher Atomteilchen strahlt«, wie es ein Journalist formulierte. Ihr offizieller Titel war »Miss Atomic Blast«, und einen Schönheitswettbewerb hatte es gar nicht gegeben, lediglich ein Werbefoto, auf dem sie eine atompilzförmige Kappe trägt.

Die nächste war Paula Harris, die bei einem Festumzug auf einem der Wagen neben einer Atompilzwolke saß, eine Anspielung auf den Oscar-nominierten Film Die Stadt der tausend Gefahren (The Atomic City). In dem Film von 1952 wird der Sohn eines Wissenschaftlers der geheimen Atombombenstadt Los Alamos Opfer einer Entführung. Auf Harris folgte Anfang 1955 Linda Lawson, die als Sängerin im Sands Hotel arbeitete. Sie soll »Miss Cue« genannt worden sein, eine ironische Anspielung auf die mehrfach verschobene Testreihe »Operation Cue«, bei der die Auswirkungen einer atomaren Explosion auf Häuser, Brücken und die städtische Infrastruktur getestet werden sollten.

Die berühmteste Miss schließlich war ein weiteres Showgirl aus dem Sands Hotel; sie trat 1957 unter dem Namen Lee Merlin auf. Auf einem Foto trägt sie einen Badeanzug, der weitgehend aus einem großen Baumwoll-Atompilz besteht. Mit diesem Bild war alles klar. Blonde Locken im Wind, die Arme hochgereckt, rote Lippen – und ein weißer Atompilz. Seltsamerweise weiß niemand, was aus ihr geworden ist und ob sie tatsächlich so hieß. Fast genauso schnell wie die Pilzwolken war sie wieder verschwunden.

Die Bombe war so sexy, dass nicht nur Frauen nach Bomben benannt wurden, sondern auch umgekehrt. Ein Atomtest im Juni 1957 – bei dem siebenhundert Schweine hoch radioaktiver Strahlung und umherfliegenden Glaspartikeln ausgesetzt wurden, um herauszufinden, wie es ihnen danach ging – trug den Namen »Priscilla«. Gerüchten zufolge war das der Name einer beliebten Prostituierten aus Pahrump, einer Kleinstadt nahe dem Testgelände, in der zahlreiche dort beschäftigte Arbeiter untergebracht waren.2

Auch Kinder ließ man die Bombe feiern. In St. George, Utah, einer Mormonenstadt, die in Hauptwindrichtung vom Testgelände lag und in der später vermehrt Krebserkrankungen auftraten, wurde 1954 ein kleines Mädchen mit Atompilz auf dem Kleid zu »Unserer kleinen A-Bombe« gekürt. Die erste Miss Atombombe aber wurde skurrilerweise gar nicht in Nevada ernannt, wie der damalige Strahlenschutztechniker Robert Friedrichs zu erzählen weiß, der später für das Zeitzeugenprojekt der Testanlage recherchierte. Ja, nicht einmal in Amerika. Gekürt wurde sie bei einem 1946 von den amerikanischen Besatzungstruppen organisierten Schönheitswettbewerb in Nagasaki, nur wenige Monate nachdem die amerikanische Bombe diese Stadt zerstört hatte.3 Auf Fotos, die damals in einem Frauenmagazin erschienen, sieht man die vier Finalistinnen in Kimonos statt Badeanzügen und hinter ihnen einen Haufen grinsender GIs.4

Nevada war ein Nachzügler in Sachen Nuklearwaffentests. Die allererste, zunächst geheim gehaltene Atombombendetonation fand in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1945 statt. (Atomtests wurden in der Regel in der Morgendämmerung angesetzt, weil meist Windstille herrschte, was die Ausbreitung des Fallouts minimierte und die Wolke besonders pilzförmig erscheinen ließ.) Schauplatz des Trinity-Tests war die Wüste Jornada del Muerto, wörtlich »Marsch des Toten«, südlich von Albuquerque in New Mexico. Durch die Detonation der tennisballgroßen Plutoniumkugel verdampfte der gut dreißig Meter hohe Stahlturm, an dem die Bombe aufgehängt war, und zurück blieb ein dreihundert Meter breiter Krater im Sand. Die Pilzwolke über der Wüste erhob sich bis in eine Höhe von mehr als zwölf Kilometern. Nach vierzig Sekunden erreichte eine dröhnende Druckwelle die knapp zehn Kilometer entfernten nächsten Beobachter und riss viele von ihnen um. Der Sand rings um den Krater schmolz zu grünem Glas, dem Geologen später den Namen Trinitit gaben.5

1952 füllten Pioniere der US-Armee den Krater auf und errichteten