Falten und Fallen - Durs Grünbein - E-Book

Falten und Fallen E-Book

Durs Grünbein

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Beschreibung

»Fröstelnd unter den Masken des Wissens, / Von Unerhörtem verstört, / Traumlos am Tag unter zynischen Uhren, …« – die neuen Gedichte des einunddreißigjährigen Lyrikers Durs Grünbein zeugen in radikalisierter Weise von schmerzhaft desillusioniertem Bewußtsein und einem schonungslosen Blick auf die Anatomie unserer Zeit und ihrer Menschen. Bereits in seinem ersten Gedichtband Grauzone morgens bilanzierte der aus Dresden stammende Durs Grünbein das Lebensgefühl seiner Generation im sozialistischen Ghetto.
Durs Grünbeins zweites Buch Schädelbasislektion blickte unsentimental zurück auf den Zerfall der DDR und sezierte in wuchtig-wahrnehmungsscharfen Gedichtzyklen den Raum zwischen Gehirn und Schädeldecke, um Ich und Sprache sarkastisch zu diagnostizieren: »Was Du bist steht am Rand / anatomischer Tafeln.«
Zwischen 1991 und 1994 entstanden, zeigt Durs Grünbeins dritte Sammlung von Gedichten – Falten und Fallendie Fortschreibung eines poetischen Konzepts.
Im Ausgang von präzisen Beobachtungen des Alltags, am Ort, wo das Banale und das Symbolische sich überschneiden, und auf den Spuren von Verletzung und Begehren sucht diese analytische Lyrik den Zusammenhang von Sprache und Physis zu erkunden: »Denk von den Wundrändern her, vom Veto / Der Eingeweide, vom Schweigen / Der Schädelnähte. Das Aufgehen der Monde / Über den Nagelbetten führt / Andere Himmel herauf, strenger gestirnt.«
Das Gedicht, schrieb Durs Grünbein, führt »idealerweise das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vor. Jeder Entladung folgt sofort wieder ein Spannungsaufbau und umgekehrt. Die Energie hierfür liefert ein Komplex, der eigentlich nur unzureichend mit ›Körper‹ bezeichnet ist, weil er sehr viel tiefer unter die Haut geht.«

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Seitenzahl: 67

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Durs Grünbein

Falten und Fallen

Gedichte

Suhrkamp Verlag

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

© 1994, Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-77832-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Variation auf kein Thema

Variation auf kein Thema

In utero

Hedo

Geo

Xeno

Nach den Fragmenten

Trigeminus

Dezemberreim

Im Zweieck

Mensch ohne Großhirn

Biologischer Walzer

Mensch ohne Großhirn

Homo sapiens correctus

Im Museum der Mißbildungen

Meditation nach Descartes

Aus den Romantischen Kriegen

Aus einem alten Fahrtenbuch

Falten und Fallen

Alba

Mißklang

Falten und Fallen

Das Ohr in der Uhr

Wer bist du, daß . . .

Caoutchouc

Entfernte Inschrift

Damnatio memoriae

Ja, damals . . .

Schlaflosigkeit

Späte Erklärung

Requiem für einen Höhlenmenschen

Einem Schimpansen im Londoner Zoo

Einem Okapi im Münchner Zoo

Einem Pinguin im New Yorker Aquarium

Pech für den zweiten Wurf

Hälfte des Ohres

Hälfte des Ohres

Krater des Duris

Für M.

»Seltsamer Zufall, daß alle die Menschen,

deren Schädel man geöffnet hat,

ein Gehirn hatten.«

Ludwig Wittgenstein / Über Gewißheit

Variation auf kein Thema

Variation auf kein Thema

Fortfahren ... wohin? Seit auch dies

Nur der fällige Ausdruck

Für Flucht war, für Weitermachen

Gedankenvoll oder -los.

Was aufs selbe hinausläuft, wie?

Zug um Zug einer neuen

Erregung entgegen, einem Gesicht

Zwischen den Zifferblättern

Im Schaufenster, Brillen für Liebe,

Für schärferes Fernsehn, Särge

Und Möbel zum schnelleren Wohnen,

Wo Engel an Kassen saßen, taub

Gegen ihr süßes, nekrophiles Hallo.

Wieder vorm Telephon, in der Vitrine

Wie unterm Glassturz, kaum

War die Tür zu, erstarrt, ein Objekt

Für Passanten am Straßenrand,

Starrst du auf dieses Tastenfeld, Ziffern

Wie der stellare Zauberwald

Am Nachthimmel ... dezimales Mandala

Das mit Erreichbarkeit lockt,

Mit plötzlicher Nähe, Geflüster, Verrat,

Sogar Liebe – alles codiert

Wie seit langem im voraus, ein Leben

Auf Abruf, und kaum gewählt

Explodiert eine Stimme in deinem Kopf.

Unterwegs zwischen Mutter und Äther

Auf Sendersuche, den Pulsschlag

Des blutigen Hasen im Ohr, anästhesiert

Wie unterm Handschuh die Haut

Von tausenden Innenstimmen, – wer weiß

Wer da jedesmal sang, klanglos

Wie im genetischen Chor der Refrain.

Großmutters Ach oder das Hhm

All der steinernen Gäste im Keller ...

Bis den Mauern der Schweiß

Ausbricht und du dich flüstern hörst:

Was für ein Aufwand an Panik

Für ein wenig abgeleckt werden, nachts.

Und morgens schießt aus der Dusche ...

Wasser, was sonst? Rot und Blau

Steht auf den Hähnen für Heiß und Kalt.

Daß die Haut sich in Streifen

Abschält, bleibt ein alberner Alptraum.

Kein Dorn im Handtuch, kein Blut

An den Fliesen – das Röcheln im Ausguß

Heißt Hygiene, nicht Tod.

Und ob Seife noch immer aus Knochen

Gemacht wird, der Schaum

Auf den Handlinien trocknend, sagt nichts.

Ängstlich belebt, an den Haaren

Herbeigezerrt, stirbt ein kurzer Verdacht.

»Jedes hängt seinen Gedanken nach«

War kein Motiv für soviel

Unterwegssein, blind für den Fakt, daß

Auch dies sich vergißt. Bald

Wirst du völlig erledigt sein, rufen

Die Jahre dem Staunenden zu.

Denn ganz ohne Prämien nimmt Leben

Geschickt seinen Lauf. Aufzustehn

Morgens auf falschem Fuß, hochrot

Mit den Hormonen im Fluß,

Ein anatomischer Torso vorm Spiegel,

Die Arme im Anschlag, Augen

Weitaufgerissen ... um was zu sehn?

Keiner, der nicht hofft ... Und los geht’s

Hinein in den Abend, der bald

Vor dem Andrang zurückweicht, Straßen

Auf Durchgang gestellt. Paradox

Das Gefühl, daß nichts fehlt, ohne dich.

Wie jemand, weit abgeschlagen,

Zu spät bemerkt, daß alles ihm fremd ist,

Schließt du dich schließlich

Dem murmelnden Draußen, dem Fließband,

Der geräuschvollen Mehrheit an.

Während oben, im Regen, ein Rotlicht,

Irgendein wippendes Frauenbein

Nach einer langen Nacht jäh verlischt.

Unwirklich das Zimmer, allein bewohnt.

Im Spiegel Insektendreck, Staub

In den Ecken, gesammelt um Frauenhaar,

Das schon Wochen dort liegt.

Keine Früchteschale, keine Vase in Sicht,

Die einzigen Füllhörner, dicht

Gerückt, Bücher. Was von Stilleben blieb,

Von den kleinen Tropismen sind

Ganz banale Rätsel wir eine blaue ... 13 ... –

Aufs Handgelenk tätowiert,

Wunden, aufgesprungen, ein Muttermal.

Lächelnd und kaum entsetzt

Suchst du in alphabetischen Gebeten Halt.

Nachgiebig weich wie in den Kniekehlen

Fleisch – der begehrliche Traum

Wie er dem einzelnen zustößt, im Bett

Oder offenen Auges beim Gehn:

Etwas blitzt auf, macht sich rar, intrigiert,

Austernhaft kühl und feucht,

Um eine Falte, ein Büschel Flimmerhaar.

War es ein Gaumen, der Spalt

Eines Augenlids, wie in der Infrarotsicht

Wärme der Haut als Indiz für

Versteckte Leichen. Ein Hüftschwung reicht

Und von neuem beginnt was

So hinfällig endet, so wehrlos und weich.

Und dann die Umgebung, die Verstecke

Diskreter Leben, so einzeln,

Von Mängeln getrieben, gewinnverliebt

Daß man vergißt wie man herkam

In diese Häuser mit Tarnanstrich, Zeuge

Uralten und jüngsten Handels

Entlang der Ausfallstraßen aufs Land.

Besser den Körpern zu folgen

In ihrer Brownschen Bewegung, höflich

Phönizischen Regeln gehorchend

Statt den verbotnen Gerüchen, obszönen

Flüchen und diesem Singsang

Auf ein paar Wellenlängen seit Orpheus.

Skeptisch, belesen, gereizt ... ganz im Stil

Der Annoncen, unendlich fern

Jeder Landschaft, mit wenigen Strichen

Gezeichnet, der Zeitungsmensch

Mit dem Innern im Zwielicht, warst du.

O diese Zartheit der Lungen ...

Das Xylophon aus verborgenen Knochen

Vom Schädel zum Kleinen Zeh.

Und daß die Körper schwer finden, was

Ihr Begehren sucht, daß Gewalt

Sie in Schlingen zwingt, bis sie hastig,

Aufgezehrt vom Geschwätz,

Zum Ausgang drängeln, – wohin damit?

Unsichtbar sein, sich geräuschlos im Raum

Bewegend, ein Körper aus Luft,

Klinken drückend, wie animiert, Treppen

Herauf- und heruntergleitend,

Wie an Spinnweb-Flaschenzügen sich leicht

Durch Fenster hangelnd, ein Ariel

Ohne Auftrag und unter niemands Vaterblick,

Im Dunkel der Kinos zu Hause,

In Bankkeller, Schiffskabine und Luxussuite,

Ein blinder Passagier, wunschlos

Hinter gebauschtem Vorhang, vom Licht

Unbehelligt, vom Wer-ist-Wer:

In einer Welt voller Totschlag – schnell weg.

Achtlos, wie alles anfängt, noch schläfrig

Im Gähnen blutend, siehst du

Dein Kinn im Spiegel zerschnitten, die Haut

Unterm Schwedenstahl frösteln,

Die Augen im Morgenlicht glasig, ein Tier

Das den aufrechten Gang übt,

Den Gebrauch von Werkzeug. Wie Läuse,

Im Waschbecken wimmelnd,

Die Stoppeln Barthaar, – mit jeder Rasur

Kehrt das Feilschen wieder, sucht

Deine Angst den Balanceakt: ein erstes

Plädoyer für das Unschuldsherz,

Lang vor dem Adernöffnen die Amnestie.

Kurz vor Karfreitag packt dich der Schlaf

Wie bei jedem Fest. Nichts

Stört den Ablauf der Tage. Blasphemisch

Hörst du die Preßluft entweichen –

Irgendein Graben entsteht, ein Kaufhaus

Lädt pünktlich zur Auferstehung

Mit neuen Preisen ein. Fast erleichtert

Beschreibt ein Gerichtsbericht

Den Weinkrampf des Mörders, seinen Fleiß

All die Jahre davor. Ostern

Bringt den Familien Arrest ein. Die Kinder

Denken an Weihnachten. Bald

Gibt es Neujahrswünsche und Sekt um Zwölf.

Was für ein blutiger Knirps du mal warst,

Ein runzliger Kobold, verknotet

Die Arme, die Beine. Mit bläulicher Haut

Wie um dein Leben strampelnd,

Früh um dein künftiges Sterben bemüht.

Und alles fing so untröstlich an

Mit einem gellenden Schrei, als die Welt

In die Lungen zog, rasselnd.

Mit einem Schock (»Soviel Licht!«), einem Schnitt

Flinker Scheren und Messer

In das einzige Fleisch, das nicht du warst.

Der Nabel erinnert den Faden,

Die Zerreißlust der Parzen von Anfang an.

Peinlich, – schon auf den frühesten Photos

Dasselbe Lächeln voll Zutraun

Zum Objektiv, das die Strahlen bündelt

In ein Nostalgia, geöffnet

Für Millisekunden, der Körper verführt

Vom Versprechen der Wiederkehr

Der vertrauten Dinge. Und später ist Zeit

Mit den Händen zu greifen,

Ein Schwinden, bestürzend, auf Zelluloid.

Wie dein Lächeln sich auflöst

Beim Betrachten nach Jahren. Befangen

Vom Unbekannten, fixiert auf

Längst Fernes, weist dein Blick dich zurück.

Mannsdicke Rohre, in die du als Kind dich

Im Versteckspiel verkrochst

Waren im nächsten Traum riesige Tunnel,

Bunker und Tropfsteinhöhlen,

In denen du Urmensch warst oder Soldat ...

Doch vor allem erwachsen, voraus

Diesen schmächtigen Fesseln, der Ohnmacht