Familie ist, wenn man trotzdem lacht - Wiebke Busch - E-Book

Familie ist, wenn man trotzdem lacht E-Book

Wiebke Busch

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Beschreibung

Steffi hat genug und renoviert kurzerhand ihr Leben

»Drei Zimmer, drei Personen. Passt doch.«, sagt Arno Ruttmann, als er und seine Frau Steffi ihr erstes Kind bekommen. Steffi ist sich da nicht so sicher – könnte eng werden. Als Kind Nummer zwei kommt, ist es zu spät: Die Hamburger Mieten sind in astronomische Höhen gestiegen. Was tun? Seine Seele verkaufen? Oder den Erstgeborenen? Nach zahllosen Besichtigungen und Maklern aus der Hölle kommt die Lösung so unerwartet wie simpel daher: Eine Mehrgenerationen-WG! Flora Blum wohnt seit 49 Jahren in einer idyllischen Stadtvilla mit Garten. Der Deal: Familie Ruttmann kauft einen Teil des Hauses, hilft bei der Renovierung – und darf bei ihr einziehen. Dafür gibt’s jede Menge Platz, Kinderbetreuung und Flora als neues Familienmitglied. Die hütet wiederum das eine oder andere aufregende Geheimnis, das es zu lüften gilt.

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Seitenzahl: 349

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Das Buch

Steffi Ruttmann will raus. Mit 43 Jahren lebt sie mit Mann und zwei Kindern in einer Dreizimmerwohnung in Hamburg, die eigentlich schon beim ersten Kind zu klein war. Jetzt sind die Mietpreise in derart astronomische Höhen gestiegen, dass es realistischer wäre, auf eine baldige Mondbesiedelung zu hoffen als auf eine bezahlbare, geräumige Wohnung im Stadtgebiet. Wohin also mit der Familie Ruttmann? Da präsentiert sich die Lösung so plötzlich wie himmlisch in Form von Flora Blum.

Flora ist Mitte siebzig und lebt in einer wunderschönen Hamburger Stadtvilla mit Garten, die für sie alleine mittlerweile viel zu groß ist. Und zu teuer. Denn mitten im Winter geht die sonst so zuverlässige Zentralheizung kaputt, deren Reparatur Floras Budget bei Weitem übersteigt. Also schlägt sie Familie Ruttmann einen Deal vor: Warum ziehen sie nicht einfach bei ihr ein? Investieren in das Haus, helfen bei den Reparaturen und dürfen dafür den Großteil der Zimmer belegen. Flora als Mitbewohnerin und Kinderbetreuung gibt’s quasi gratis obendrauf. Ob das gut geht? Die quirlige Mehrgenerationen-WG wird’s rausfinden!

Die Autorin

Wiebke Busch lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Hamburg. Für ihre Familie war sie selbst jahrelang auf dem Wohnungsmarkt unterwegs und hat dort so ziemlich alles erlebt. Wenn sie keine Bücher schreibt, verfasst sie Werbetexte oder dichtet Einkaufszettel. In ihremBrigitte Mom-Blog hat sie einer beachtlichen Leserschaft regelmäßig über ihr Leben als Ehefrau und Mutter berichtet.

WIEBKE BUSCH

Familieist, wenn man trotzdemlacht

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Originalausgabe 08/2021

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: www.bürosüd.de

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26867-1V001

www.heyne.de

Kapitel I

»Das ist doch keine artgerechte Haltung, Frau Ruttmann!« Der Mann mit dem Habitus eines adligen Großgrundbesitzers schenkte Steffi ein mitleidiges Lächeln. Seine Wortwahl passte perfekt in die Umgebung. Sie standen zwischen Wiesen und Feldern, mitten im Nirgendwo irgendwo im Hamburger Speckgürtel. Weniger passend war, dass er nicht über Steffis Haustiere sprach, sondern über ihre Familie. Sie lachte trotzdem über den Vergleich mit ihrer aktuellen Wohnsituation, wenn auch leicht gequält. Zugegeben, achtzig Quadratmeter waren für vier Personen nicht gerade üppig. Ihr Mann Arno und sie liefen nicht Gefahr, sich oder ihre beiden kleinen Kinder Lina und Oskar in der Weite ihrer Wohnung zu verlieren. Aber genau deshalb war sie ja hier! Um das zu ändern!

Freundlich, aber mit leisem Trotz in der Stimme erinnerte sie den Makler daran: »Wollen wir dann mal ins Haus gehen?«

Mit Haus war ein eindrucksvoller Bungalow aus den Siebzigerjahren gemeint, der in einer kleinen, nur notdürftig geteerten Straße am Rande der Nordheide stand und auf neue Mieter wartete. Herr von Knorp, wie der Immobilienmakler passend zu seinem Einstecktuch und Siegelring hieß, eilte Steffi sogleich voraus, um die Haustür aufzuschließen, die das Ausmaß eines Garagentors hatte und nach dem Öffnen den Blick auf eine Eingangshalle freigab mit, wie Steffi sogleich erfuhr, brasilianischem Flussschiefer als Bodenbelag. Ihre Schritte hallten beim Betreten des Hauses. Steffi staunte. Allein der Flur durfte gut und gerne die Hälfte der Wohnung einnehmen, die sie aktuell bewohnten. Aus taktischen Gründen gab Steffi sich nach außen betont unbeeindruckt. Dieser Makler sollte es nicht zu einfach mit ihr haben. Obwohl man ihr die Verzweiflung ganz bestimmt anmerkte.

Die Suche nach einer geeigneten und vor allem bezahlbaren Wohnung hatte sie inzwischen bis weit über die Hamburger Stadtgrenze hinausgetrieben.

Denn zu ihrem Unglück hatten sich die Immobilienpreise innerhalb der Stadtgrenzen und besonders in ihrem Viertel während der vergangenen sechs Jahre synchron zu der Zahl ihrer Familienmitglieder verdoppelt. Für die neuen Familienmitglieder waren sie natürlich selbst verantwortlich. Naiverweise hatten sie nicht in ihre Familienplanung einkalkuliert, dass eine Wohnung nicht automatisch mit der Kinderzahl mitwuchs. Und so mussten sie mit ansehen, wie vor ihrer Haustür die Quadratmeterpreise explodierten.

Der ursprünglich eher verschlafene Stadtteil, in dem Steffi und Arno seit nun schon zwölf Jahren wohnten, wurde mehr und mehr von besser verdienenden SUV-Fahrern bevölkert. Altbauten wurden luxuriös saniert, Neubaukomplexe entstanden auf dem Grund niedergewalzter Fabrikgebäude, und auf beiden prangten immer öfter gesprayte Parolen wie Yuppies raus!!!,Wohnraum für alle! und Lieber frieren als gentrifizieren. Am Fortgang dieser Entwicklung änderten die jedoch nichts.

Streng gesehen gehörte Steffi zu denen, die von den Häuserwänden angeklagt wurden. Wenn sie gekonnte hätte, wäre sie selbst sehr gerne in eines dieser schicken, neu errichteten Penthouses gezogen. Leider waren die für alleinstehende Start-up-Gründer und kinderlose Paare mit Hund konzipiert. Weil sich ein unanständiger Haufen Quadratmeter auf nur ein oder zwei Zimmer verteilte und damit das Bewohnen mit Kindern unmöglich machte. Arno und Steffi hatten kein Start-up, keine zwei Einkommen und keinen Hund, dafür aber zwei Kinder. Und zumindest an Letzterem ließ sich nichts mehr ändern. Für Leute wie sie, eine vermeintliche Otto-Normal-Familie, gab es auf dem Wohnungsmarkt nicht viel zu holen. Die wenigen infrage kommenden Wohnungen sprengten entweder ihr eh schon schmerzhaft nach oben gedehntes Budget, oder sie gehörten nicht zu den Glücklichen, die in der Lotterie um eine der raren bezahlbaren Ausnahmen das große Los zogen.

Steffis Graffiti-Parole hätte lauten müssen: Haut ab, wir waren zuerst hier! Aber weder war sie geübt im Umgang mit Spraydosen, noch würde es irgendetwas an ihrer Situation ändern. Und nachdem sie jeden Winkel ihres jetzigen Stadtteils, jedes angrenzenden und daran angrenzenden Bezirks nach bezahlbarem Wohnraum abgesucht hatten, blieb ihr nur noch die Flucht nach vorn. Beziehungsweise raus aufs Land.

Die Zeit drängte. Bei ihnen stieg mit jedem Wochenende die Gefahr eines Lagerkollers. An diesen beiden Tagen, an denen sich Menschen eigentlich erholen sollten, herrschte bei den Ruttmanns Ausnahmezustand. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Und dafür mussten sie sich noch nicht einmal Besuch einladen! Mehr Platz für mehr Ruhe, das war Steffis dringender Wunsch.

Um sich den zu erfüllen, war sie über die Autobahn gerauscht und stand nun vierzig Kilometer von der Innenstadt entfernt vor diesem Haus, das fast viermal so groß war wie ihre Wohnung. Mit einem Garten, der das Ausmaß des Parks hatte, in den sie die Kinder täglich zum Lüften führte.

Beim Besichtigungsrundgang fielen verheißungsvolle Worte wie Kaminzimmer, Salon, Bibliothek und begehbarer Kleiderschrank. Statt eines schnöden Gästezimmers präsentierte Herr von Knorp gleich einen ganzen Gästetrakt, darüber hinaus ein Arbeitszimmer und einen Hauswirtschaftsraum von der Größe ihres derzeitigen Wohnzimmers. Bäder gab es gleich drei, und für »die sonntägliche Kaffeeeinladung, das Barbecue oder den Aperitif zum Dinner« konnte man zwischen drei Terrassen in unterschiedlichen Entfernungen zum Haus wählen.

Um genügend Gäste für derartige Veranstaltungen zusammenzukriegen, würden Steffi und Arno sich zwar erst einmal neue Freunde suchen müssen, aber wenn es nötig war, würde Steffi auch das tun.

Für den Moment beschränkte sie sich darauf, mit ernster Miene zu nicken und den Eindruck zu erwecken, sie wäre bereits Profi im Ausrichten derartiger Events.

Irgendwo zwischen Gästetrakt und Badezimmer mit Whirlpool hatte Steffi ihr Pokerface verloren. Sie staunte nun offen wie ein Waldorfschüler vor einer Playstation über all diese Herrlichkeit. Die war zu einer Kaltmiete zu haben, für die man in der Stadt vielleicht vier spärliche Zimmer in einem heruntergekommenen Nachkriegsbau an einer sechsspurigen Straße in einem Problemviertel bekam.

Eine halbe Stunde später saß Steffi im Auto und wählte aufgeregt die Nummer von Arno. »Ich habe gerade einen artgerechten Stall für uns gefunden!«, rief sie, begeistert den Vergleich des Maklers bemühend. »Also, mehr als artgerecht. Das Ding hier ist der Hammer! Das musst du sehen! Es ist alles noch zwanzigmal besser als auf den Fotos!«

»Was denn für ein Stall? Wo bist du überhaupt?«, wollte Arno wissen.

Offenbar hatte er den Besichtigungstermin vergessen. Was ein echtes Kunststück war, nachdem Steffi seit Tagen von kaum etwas anderem redete. Statt einen müßigen Nie-hörst-du-mir-zu-Streit zu starten, verzichtete Steffi großmütig aufs Meckern. Sie merkte, dass Arno im Stress war. »Erzähl ich dir in Ruhe heute Abend. Ich muss jetzt los, die Kinder abholen. Bis später!«

Der Blick auf die Uhr holte sie wieder vollends zurück in die Wirklichkeit, in der sie in einer knappen halben Stunde ihre Tochter aus der Schule holen musste. Mit einem Seufzer und Blick auf das weite Grün einer Kuhweide gab sie Gas. »Hui, hallo Landluft!« Schnell drehte Steffi das Autofenster hoch, damit nicht allzu viel davon als blinder Passagier mit ihr über die Autobahn in Richtung Stadt fuhr.

In Gedanken vollzog sie bereits den Umzug in das neue Haus, als ein glücklicherweise sehr wacher Reflex eine Vollbremsung auslöste. Die verhinderte gerade noch, dass sich ihr kleiner Panda auf eine stürmische Liaison mit dem Lieferwagen vor ihr einließ. Zu Steffis Entsetzen befand sie sich am Ende dessen, was man bei Ausflügen wie diesem am meisten fürchtete. Stau war so ungefähr das Letzte, was sie nun gebrauchen konnte. Und endlich, vielleicht ausgelöst durch die Schleuderbewegung, die ihren Kopf beim Bremsen nach vorne katapultiert hatte, fiel ihr wieder ein, was der Grund für die günstigen Immobilienpreise hier draußen und ihre bisherige und nun wieder aufkeimende Landphobie war.

Quälend langsam kroch sie zwischen tonnenschweren Lastern in Richtung Großstadt und versuchte, die Uhr an ihrem Armaturenbrett durch Hypnose zum Stillstand zu bringen. Oder zumindest dazu, langsamer zu ticken. Doch es schien ein umgekehrt proportionales Verhältnis zu bestehen zwischen der Boa constrictor aus Blech, die sie fest in ihrem Würgegriff hielt, und dem Verstreichen der Zeit. Im Gegensatz zu der Schlange, die sich inzwischen überhaupt nicht mehr bewegte, rasten Sekunden- und Minutenzeiger wie im Zeitraffer auf die magische Eins zu. Selbst wenn sich der Stau im nächsten Augenblick in Luft auflöste, würde sie es nicht mehr pünktlich zur Schule schaffen.

Steffi griff nach ihrem Handy. Sie musste eine der Mitschüler-Mütter bitten, Lina Bescheid zu sagen, dass sie sich verspätete. Oder sie im Idealfall mit zu sich nach Hause zu nehmen. Eine andere Möglichkeit war, im Sekretariat anzurufen. Steffi überlegte, bei wem das Outing als inkompetente Mutter, die es nicht fertigbrachte, ihr Kind rechtzeitig von der Schule abzuholen, weniger peinlich war. Als Hausfrau sein armes Kind warten lassen! Das kam einem Verbrechen gleich. Mütter mit Job hatten immer den Superjoker in der Tasche und konnten Meetings, abgestürzte Rechner, zähe Kunden und zur Not auch die kaputte Bürokaffeemaschine als Gründe für ihr permanentes Zu-spät- oder Gar-nicht-Erscheinen bemühen. Aber was hatte Steffi da im Angebot? Nichts. Niemand nickte verständnisvoll, wenn sie schweißgebadet und verspätet egal wo auftauchte mit der Begründung, im Stau gesteckt zu haben. Warum fährt die dusselige Kuh nicht früher los? Wo fährt sie überhaupt hin so mitten am Vormittag? Hat die nichts zu tun?

Ihr Sinnieren über die bodenlosen Ungerechtigkeiten der Welt wurde vom Handyklingeln unterbrochen. »Hallo, Helen!«, rief sie in den Hörer und versuchte, fröhlich zu klingen.

»Was ist denn mit dir los?«, kam es halb belustigt, halb besorgt zurück. Ihrer besten Freundin konnte Steffi nichts vormachen. Trotzdem versuchte sie es weiter.

»Nichts! Wieso? Was gibt’s?«

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Du klingst wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange.«

»Sie hat mich schon verschlungen«, gab Steffi verdrossen und mit Blick in den Rückspiegel, in dem sich Auto hinter Auto hinter Auto reihte, zu. »Ich steh im Stau vorm Maschener Kreuz und flipp gleich aus, weil ich es nicht pünktlich zur Schule schaffe.«

»Beruhig dich! Du kannst gerne in deinem Stau bleiben. Mein Interview wurde abgesagt, und ich bin schon auf dem Weg zur Schule, um Ella abzuholen. Wenn du willst, nehme ich Lina mit, und wir essen bei Tito eine Pizza.«

»Ja, ich will!«, erklärte Steffi erleichtert. »Und dich lieben und ehren, bis dass der Tod uns scheidet. Tausend Dank! Du rettest mich! Es geht es keinen Millimeter voran, bestimmt muss ich hier übernachten.«

Steffis Hang zur Übertreibung war an dieser Stelle nicht ganz unberechtigt. Um sie herum verließen Menschen ihre Fahrzeuge, um sich auf der Überholspur die Beine zu vertreten. Helen versprach, alle Kinder abzuholen, auch Oskar aus dem Kindergarten, wenn nötig. »Wie war denn die Besichtigung? Das ist doch der Grund, warum du da in der Pampa feststeckst, oder?« Im Gegensatz zu Arno hatte Helen den Termin nicht vergessen.

Steffi setzte zu einem langen Bericht an, machte aber nach ein paar Sätzen eine Pause, weil es auf der anderen Seite seltsam still geworden war. »Helen?«

Als Antwort kam das hektische Tuten einer unterbrochenen Verbindung. Die schlechte Netzabdeckung in den Landregionen waren also keine Fake News. Zum Glück war mit Helen alles besprochen. Weil ihr sowieso nichts anderes übrig blieb, entspannte sich Steffi und drehte das Radio lauter. Zum ersten Mal an dem Tag fiel ihr auf, was für ein herrliches Wetter herrschte. Ideal, um bei Tito, ihrem Lieblingsitaliener gleich neben der Schule, auf der Terrasse zu sitzen und mit einem Glas Rosé auf das ab und an doch ganz erträgliche Dasein anzustoßen. Die Kinder würden auf dem breiten Bürgersteig vor dem Restaurant Hüpfekästchen spielen und Helen und sie eines ihrer Gespräche über Freunde, Kinder, das Weltgeschehen und die Vor- und Nachteile von extra Kapern auf einer Pizza Tonno führen.

Für Steffi war Helen die Schwester, die sie nicht hatte – und umgekehrt. Die zwei waren Freundinnen, seit sie denken konnten. Bis zum Abitur hatten sie unzertrennlich der langweiligen Ödnis von Boostedt getrotzt, das Dorf, in dem sie beide aufgewachsen waren. Einzige Ausnahmen: die schmerzhaft langen Sommerurlaube, die die eine Familie traditionell an der Nord-, die andere an der Ostsee verbrachte. Nach dem Abi, davon hatte Helen Steffi über die Jahre hinweg überzeugt, mussten beide unbedingt nach Hamburg. Von Boostedt aus betrachtet, war das schon die große weite Welt. Viel weiter weg hätte sich Steffi auch nicht getraut. Helen dagegen schon. Die beiden waren mental so unterschiedlich wie Arnold Schwarzenegger und Danny de Vito in Twins es optisch sind. Was sie nur umso mehr zusammenschweißte. Was Steffi fehlte – zum Beispiel Draufgängertum und Mut –, hatte Helen im Überschuss. Umgekehrt profitierte Helen von Steffis Besonnenheit. Sie waren wie Yin und Yang, Dick und Doof, Ernie und Bert oder Hähnchen süß-sauer. Die eine war ohne die andere unvollständig und, wenn man ihren Eltern und Mitschülern glaubte, auch ungenießbar. Darum waren alle Beteiligten froh, als beide von der Universität Hamburg ihre Zusagen erhielten. Logo, dass sich beide für dasselbe Fach einschrieben: Journalistik. Bei Helen war es die Überzeugung, dass dieser Beruf der richtige für sie war. Bei Steffi, dass sie mit Helen an ihrer Seite alles werden konnte.

Das war lange her. Inzwischen waren beide Mutter geworden. Doch Steffi wäre nicht Steffi und Helen nicht Helen, wenn beide diese Rolle nicht in zwei völlig gegensätzlichen Lebensmodellen ausüben würden. Aus Steffis Sicht gehörte Helen als freiberufliche Journalistin zur gegnerischen Mannschaft der berufstätigen Mütter. Trotzdem sah Steffi sie nicht als Feindin. Sie und Helen waren ein Team. Gemeinsam teilten sie Kräfte, Nerven und Kompetenzen gerecht untereinander auf. Als Lina geboren wurde, waren sich Steffi und Arno einig gewesen, dass Steffi zumindest die ersten Jahre zu Hause bleiben und nicht arbeiten sollte. Helen dagegen hatte nach der Geburt ihrer Tochter Ella gerade so für die Dauer des gesetzlichen Mutterschutzes stillhalten können, bevor sie wieder auf Sensationsjagd ging. Von Ellas Vater hatte sie sich getrennt, noch bevor das Kind seinen ersten Geburtstag feierte. Auf ihre Helen-typische, unaufgeregte Art: »Jerry ist ein prima Kerl und als Vater ein Hauptgewinn«, wie sie immer wieder betonte. »Aber auf Dauer ist es mit ihm zu langweilig. Wir sind wie Bruder und Schwester, nicht wie ein Liebespaar.« Steffi fand es unverantwortlich und egoistisch von ihrer Freundin, ein Kind in die Welt zu setzen und kurz darauf ohne Not den Vater zu verlassen. Als sie Helen das mitteilte, entfachte sie damit einen der wenigen ernsthaften Streits in ihrer Freundschaft. »Denk an das Kind!«, hatte sie gemahnt.

Helen blieb unbeirrt. »Mach ich ja! Das Kind wird darunter leiden, wenn ich mich eingesperrt und gelangweilt fühle. Glaub mir, Ella ist besser dran mit zwei glücklichen Alleinerziehenden als Eltern.« Zugegebenermaßen bekamen die beiden ihr Child-Sharing-Modell ziemlich gut hin. Ella war eine perfekt fröhliche Erstklässlerin mit Eltern, die sie abgöttisch liebten. Nur eben getrennt voneinander.

Steffi musste außerdem zugeben, dass ihre Kinder ihren Vater Arno auch nicht viel öfter zu Gesicht bekamen als Ella Jerry. Obwohl er bei ihnen wohnte. Arnos Job als Geschäftsführer in einer Werbeagentur war wenig kompatibel mit den Bettgehzeiten von Kindergarten- und Grundschulkindern. Dafür arbeitete das Erzieherteam Steffi–Helen reibungslos zusammen. Und nicht nur die Mütter, auch die Kinder – besonders die fast gleichaltrigen Mädchen – profitierten davon. Mehrmals in der Woche war Ella bei ihnen zu Besuch, während Helen arbeitete. An den Wochenenden startete diese im Gegenzug die wildesten Mädelsabende mit Disney-Filmen, Popcorn und Kissenschlacht, was Steffi, dann mit nur einem Kind, eine kleine Verschnaufpause verschaffte. Dafür übernachtete Ella bei den Ruttmanns, wenn Helen auf mehrtägiger Recherchetour war oder ein Date hatte und Jerry aus irgendeinem Grund als Betreuung ausfiel. Der Fall »Date« trat relativ oft ein. Seit Jerry lebte Helen in einer Art Serienmonogamie. Wobei die jeweiligen Episoden eher Sitcom-Format hatten als die Länge der Harry-Potter-Saga. Keiner der Kandidaten hatte es bisher geschafft, sich lange genug in Helens Gunst sonnen zu dürfen, um mit Ellas Bekanntschaft geehrt zu werden. Denn ihre Mutter war vernünftig genug, ihre Hormone nur in Abwesenheit ihrer Tochter und ohne deren Wissen tanzen zu lassen.

Als der zähe Autostrom Steffi schließlich wieder freigab und ihren kleinen Panda an der Autobahnausfahrt ausspuckte, war sie nervlich wieder vollkommen hergestellt.

Sie parkte fast vor ihrer Haustür, was im gesamten Viertel einem Sechser im Lotto gleichkam, und sah auf die Uhr. Aus den vom Makler angepriesenen zwanzig Minuten bis in die Hamburger Innenstadt waren neunzig geworden.

Warum redeten alle, die auf dem Land wohnten, eigentlich immer von zwanzig Minuten, die sie in die Stadt fuhren? Egal, von woher. Meckelfeld, Sprötze, Wedel … Immer hieß es: zwanzig Minuten.

Bei Oskar in der Kita war gerade Kekspause. Ihn jetzt dort abzuholen galt bei den Erziehern als schwere Straftat. Also schnell noch die Wohnung saugen, die Wäsche aufhängen oder einkaufen gehen? Alles war dringend nötig, aber Steffi verspürte nicht die geringste Lust dazu. Vielleicht war ihre Chance auf einen mittäglichen Rosé noch nicht ganz vertan? Hunger hatte sie auch, fiel ihr plötzlich auf. Also rief sie Helen an, die tatsächlich noch bei Tito saß.

Eine Pizza und ein halbes Glas Wein später war Steffi satt und Helen auf den neuesten Stand gebracht. Steffis Begeisterung für das Haus, das sie vorhin noch am liebsten direkt bezogen hätte, war inzwischen mehr als abgekühlt. »Unsere Wohnung ist winzig im Vergleich zu diesem Palazzo Prozzi. Aber was nützt das, wenn einen dann zig autoverstopfte Asphaltkilometer von demhier trennen!?« Etwas zu übermütig schwenkte Steffi ihr Glas mit gestrecktem Arm einmal im Halbkreis um sich herum, um zu verdeutlichen, dass damit Tito und der ganze Stadtteil gemeint waren. »Was machen die da in Never-gonna-go-there-again-Land, wenn sie Lust auf eine Pizza bekommen? Jaha. Doof gucken nämlich!«, triumphierte sie.

»Dann gibt’s eine Tiefkühl-Pizza«, konstatierte Helen trocken. »Diese riesigen Häuser beherbergen monströse Tiefkühltruhen in ihren Kellern. Und in jeder zweiten befindet sich neben dem kompletten Bofrost-Sortiment und Coppenrath & Wiese-Sahnebomben ganz sicher auch die eine oder andere nervige Erbtante«, fantasierte Helen und winkte den Wirt heran. »Tito, wir möchten zahlen!«

Steffi schüttelte sich und spann Helens gruselige Gedanken weiter: »Oder der Gärtner, der dabei erwischt wurde, wie er der einsamen Hausfrau die langen Vormittage versüßt, in denen ihr Mann auf dem Weg zur Arbeit im Stau stand. Weißt du, was ich gelesen habe? Weltweit bewältigen die Menschen an jedem Werktag insgesamt achthundert Mal die Strecke zum Mond und zurück! Arno wäre dann einer davon.«

Steffi verzog nachdenklich das Gesicht und sah sich selbst in der Rolle des verlassenen Hausmütterchens, das sich vor lauter Langeweile einen Liebhaber zulegte und schon am frühen Morgen Eierlikör aus Bleikristallgläsern schlürfte.

»Du hast es verstanden«, lobte Helen. »Also bitte versprich mir: keine Ausflüge mehr zu den Tantenmördern in Suburbia. Auch wenn du dort Platz für zwei ganze Fußballmannschaften hättest, es wird niemand kommen, um dich zu besuchen. Also, ich jedenfalls nicht. Ihr gehört hier in die Stadt. Wo bleibt denn jetzt Tito?« Helen sah sich um nach der kleinen, runden Gestalt des Patrons ihres Stammlokals.

Der kam mit seinen kurzen Beinen und den wie immer amüsiert aus seinem gutmütigen Gesicht herauslachenden Augen auf sie zugeeilt. »Schone jetze gehe? Warum nicht noch ein bisschen bleibe? Noch eine Glase Rosé? Gehte aufe misch!«

»Ja!«, rief Steffi.

»Nein«, bestimmte Helen. Sie vertrug berufsbedingt deutlich mehr als Steffi und war daher noch klar genug im Kopf, um sich nicht zu Alkoholexzessen am helllichten Tag hinreißen zu lassen. Steffi, die sich nach dem einen Glas bereits im Egal-Modus befand, quengelte: »Warum denn nicht? Es ist doch gerade so lustig hier!«

»Weil du a) schon einen sitzen hast und b) dein Sohn irgendwann gerne aus dem Kindergarten abgeholt werden möchte. Ich glaube nicht, dass du das torkelnd und lallend tun möchtest.«

»Du übertreibst maßlos, meine Liebe. Und bist eine spießige Spielverderberin.«

In dem Moment piepte Helens Handy, und während Steffi mit beleidigt hervorgeschobener Unterlippe die über den Tisch verteilten Stifte, Schlüssel und Sonnenbrillen zusammensuchte, bekam Helens Miene einen konzentrierten Ausdruck. Sie beendete das Gespräch, seufzte und verkündete mit einem bedauernden Blick in Richtung Ella: »Ich muss noch mal in die Redaktion. Kann Ella …«

»Klar!«, beruhigte sie Steffi. »Sie kann auch bei uns schlafen, wenn es später wird.«

Am Abend stand Steffi in der Küche und sah leicht ungeduldig auf die Uhr. Aus dem Kinderzimmer schallte lautes Gekicher, das in unregelmäßigen Abständen von schrillem Gekreische unterbrochen wurde. Zusammen ergab das eine klare Botschaft: Hier schläft so bald niemand. Dabei sollten alle drei Kinder inzwischen längst im Traumland sein. Aber es war nicht ihre Schuld. Sie hatten das Programm aus Abendbrot, KiKa und Zähneputzen brav und ohne besondere Vorkommnisse absolviert.

Bei der extralangen Gutenachtgeschichte waren Oskar schon die Augen zugefallen, die Mädchen hatten sich ebenfalls kaum noch gerührt – und dann war Arno nach Hause gekommen. Genau in dem Moment, als Steffi das Buch zugeklappt und innerlich ihren Feierabend eingeläutet hatte. »Oh, was ist denn hier los? Pyjamaparty? Ohne mich?!«, hatte er entrüstet gerufen und sich mit allem, was er an sich trug, in die Kissen geworfen. Sehr zur Freude der Kinder, die sich – plötzlich wieder hellwach und voller Energie – mit Geschrei auf ihn gestürzt hatten. Mit der herrlichen Ruhe war es augenblicklich vorbei. Steffi ließ einen erschöpften Seufzer verlauten und informierte den wild gewordenen Vater knapp darüber, dass es nun seine Aufgabe war, die Kinder zurück in den Schlafmodus zu versetzen.

Eine Viertelstunde später endete das Gekreische und Gejauchze abrupt, und Arno erschien in der Küche. Er küsste nun auch Steffi zur Begrüßung, die ihn staunend ansah. »Wie machst du das nur immer?«

Arno gab sich ahnungslos: »Was meinst du? Ach so: die Kinder! Tja …« Selbstgefällig lehnte er sich an den Türrahmen, verschränkte die Arme und dozierte: »Mit Kindern muss man einfach nur vernünftig reden und ihnen erklären, wie wichtig Schlaf für sie ist. Auf Augenhöhe, wenn du verstehst, was ich meine.«

Im selben Moment öffnete sich die Kinderzimmertür, und Oskar kam mit rot glühenden Wangen und vom Toben verschwitztem Haar zu ihnen in die Küche gelaufen. »Kaputt!« Vorwurfsvoll streckte er Arno sein iPhone entgegen. Auf dem Display leuchtete die Warnung vor der demnächst leeren Batterie.

Steffi grinste schadenfroh: »Das mit dem wichtigen Schlaf haben sie noch nicht ganz verstanden, glaube ich. Erklär es ihnen noch mal. Und achte darauf, dass deine Argumente voll aufgeladen sind. Ich bin auf dem Balkon, wenn du mich suchst.«

Als Arno sich eine gute halbe Stunde später mit einem großzügig gefüllten Weinglas seufzend neben sie auf den Balkonstuhl fallen ließ, hatte Steffi bereits ein Glas Wein Vorsprung – das vom Mittagessen nicht mitgezählt.

»What a day! Aber erzähl du erst mal: Was war das für ein wirrer Anruf heute Vormittag? Wo warst du?«

Steffi verkniff sich den dezenten Hinweis, dass sie ihn darüber mehrmals im Vorfeld informiert hatte. Sie berichtete kurz von dem Palazzo Prozzi, dem Stau auf der Rückfahrt und ihrer damit verknüpften Entscheidung gegen eine Umsiedelung der Familie aufs Land. »Du verbringst dein halbes Leben auf der Autobahn, wenn du jeden Tag in die Stadt und wieder zurückfahren musst! Das war mir überhaupt nicht bewusst. Nicht in diesem Ausmaß!«

»Dann such ich mir einen Job auf dem Land«, war Arnos trockener Kommentar.

Steffi reagierte nicht darauf, die Vorstellung war einfach zu absurd. Stattdessen erzählte sie weiter von Helens Rettungsaktion und ihrem Essen bei Tito. »Später musste Helen doch noch mal weg, darum schläft Ella heute hier.«

»Siehst du: Platz ist in der kleinsten Hütte«, resümierte Arno, woraufhin Steffi zu ihrer berühmten Ja, aber-Rede ansetzte. Die beinhaltete, dass Kinder wachsen und sich irgendwann nicht mehr ein winziges Zimmer teilen konnten und dass der Tag nahte, an dem die Mädchen Oskar gnadenlos aus dem Zimmer werfen würden, und dass diese ganze Umzieherei spätestens vor Linas Wechsel aufs Gymnasium vollbracht sein musste. Doch an diesem Abend bremste sie sich nach wenigen Sätzen selbst. Nach den jüngsten Erfahrungen war sie des Themas zum ersten Mal richtig und nachdrücklich müde. Die Wohnungssuche beschäftigte sie, seit Lina ein Jahr alt war, und hatte an Dringlichkeit zugenommen mit dem Tag, an dem Oskars Ankunft sich durch zwei Striche auf dem Schwangerschaftstest ankündigte. Bis zur Geburt seines Sohnes zeigte Arno sich allerdings uneinsichtig. »Drei Zimmer, drei Personen. Passt doch«, war sein Argument, mit dem er alle Vorschläge abblockte, die Steffi ihm präsentiert hatte. Auch Steffi fiel die Vorstellung schwer, aus der Wohnung auszuziehen, in der sie ihre kleine Familie gegründet hatten. Aber sie war auch diejenige, die am Morgen zu Hause zurückblieb und das Chaos, das der mangelnde Platz zur Folge hatte, tagtäglich bezwingen musste. Dank Oskar hatte sie die Trumpfkarte in der Hand und konnte Arno mit seiner eigenen Logik schlagen: Bei vier Personen mussten vier Zimmer her. Theoretisch hatte sie ihn damit auf ihre Seite gezogen, die Praxis überließ er größtenteils ihr. Wenn es sich einrichten ließ, kam er mit zu den Besichtigungen, von denen Steffi sich besonders viel versprach. Leider waren sie bisher immer enttäuscht wieder nach Hause zurückgekehrt. Außer einmal. Und da hatte dann der Besitzer der Wohnung einem ihrer Mitbewerber sein Jawort gegeben. Steffi hatte Wochen gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Was haben die anderen bloß, was wir nicht haben?, hatte sie sich immer wieder gefragt, wie ein unglücklich verliebter Teenager.

»Lass uns einfach über was anderes reden. Wie war dein Tag?«, beendete Steffi schließlich das leidige Thema. Arno wirkte müde, was sicher an dem fortgeschrittenen Abend und sehr wahrscheinlich an der wilden Toberei im Kinderzimmer lag. Oder war da noch etwas anderes? Sie brauchte nicht lange zu raten.

»Die sind alle verrückt geworden«, brach es aus Arno heraus. Mit die waren üblicherweise die Kunden der Agentur gemeint. Heute aber meinte er wirklich alle, die Kollegen inklusive. Der Werbespot, den sie für einen Kunden seit Monaten entwickelten und der nächste Woche gedreht werden sollte, war in letzter Instanz vom Oberboss auf Kundenseite abgeschmettert worden. »Weil keiner dieser feigen Jasager sich traut, rechtzeitig eine Freigabe einzuholen! Wir stehen wieder vollkommen am Anfang. Und was macht der Rest? Schmeißt hin! Peter hat mir heute gesteckt, dass er zur Konkurrenz nach Düsseldorf geht. Nächste Woche macht er es offiziell.«

»Ist nicht wahr!«, rief Steffi, was nicht gerade ermutigend war, wie sie gleich danach feststellte. Sofort überlegte sie, was sie Aufbauendes beitragen könnte. Dabei verstand sie Arnos Verzweiflung gut.

Sie hatte nie wie ursprünglich geplant als Journalistin gearbeitet. Weil sie während eines Praktikums feststellen musste, dass es ihr nicht lag, Menschen mit zuweilen unangenehmen Fragen zu konfrontieren. Stattdessen wurde sie Texterin in einer Werbeagentur, wo Arno und sie sich später kennenlernten.

Aus eigener Erfahrung wusste Steffi daher, dass man verlässliche Kollegen brauchte, wenn der Kunde verrücktspielte. Keine Adios-Amigos, die sich zur Konkurrenz verabschiedeten. Mitfühlend berührte sie Arnos Arm.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und schauten auf den Hinterhof. Einige Fenster waren beleuchtet, aber hinter den meisten war es dunkel. Wahrscheinlich genossen die Bewohner in einem der tausend Restaurants des Stadtteils den ungewöhnlich milden Abend. Auf einem der gegenüberliegenden Balkons leuchteten schwach ein paar Windlichter. Und jetzt, wo sie selbst nicht sprachen, drangen leise Stimmen und verhaltenes Gelächter zu ihnen rüber. Steffi fragte sich, ob es an einem anderen Ort – in einer größeren Wohnung oder gar einem Haus – schöner wäre, so neben Arno zu sitzen und mit ihm zu schweigen. Sie beantwortete sich die Frage selbst und lehnte ihren Kopf mit einem wohligen Schnurren noch schwerer an seine Schulter. »Peter hat mich übrigens gefragt, ob wir Interesse an seiner Wohnung haben, wenn er nach Düsseldorf zieht«, unterbrach Arno die Stille. Und, zack, war die friedliche Ruhe in Steffis Kopf dahin und ihr Jagdtrieb wieder hellwach.

Obwohl Peter sie als Nachmieter vorgeschlagen hatte, mussten sie den offiziellen Weg über die Hausverwaltung gehen. Herr Staubitz nahm seine Sache sehr ernst und pries Steffi jeden Raum und jedes Detail mit geschäftstüchtiger Begeisterung an. Was gar nicht nötig war. Die Wohnung, die im gleichen Stadtteil wie ihre lag, entpuppte sich als eine dieser Altbauwohnungen, die man sonst nur in Architektur-Zeitschriften und auf einschlägigen Instagram-Profilen zu sehen bekam. Typische Stilelemente wie Stuck, ein gemauerter Kamin, die wunderschönen Dielen und der originale Hamburger Fliesenspiegel in der Küche waren aufwendig restauriert worden. Das durch eine herrschaftliche Schiebetür von der Wohnküche getrennte Wohnzimmer, drei Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, zwei Bäder und sogar ein kleiner Hauswirtschaftsraum ließen nichts zu wünschen übrig. Im Flur konnte man locker eine Tischtennisplatte unterbringen und hätte immer noch Platz für einen Garderobenschrank, der nun endlich alle Jacken, Mützen, Schals, Taschen, Schuhe, Helme, Stiefel und Gummistiefel der Ruttmänner verschwinden lassen würde. Das Ganze verteilte sich auf hundertachtzig Quadratmeter – mitten in der Stadt!

Arno war leider mal wieder im letzten Moment ein Termin dazwischengekommen. Also hörte Steffi allein zu, wie der Makler über die Lage, den Grundriss, die Nebenkosten und frisch verlegte Breitbandkabel referierte.

Steffi hätte den Mietvertrag auch sofort und ohne Besichtigung unterschrieben und ihre Seele gleich mit verkauft. Von ihrer Seite aus gab es nichts mehr zu besprechen. Sie knipste noch ein paar Alibi-Fotos für Arno, doch für sie war die Sache geritzt. »Wir nehmen die Wohnung. Schicken Sie uns den Mietvertrag einfach zu!«

»Das freut mich ganz außerordentlich, Frau Ruttmann. Mir war schon nach unserem Gespräch am Telefon klar, dass Sie eine Frau mit Stil sind und die Wohnung Ihren Ansprüchen gerecht wird. Darum habe ich den Mietvertrag gleich mitgebracht. Wollen wir uns kurz setzen und ihn gemeinsam durchgehen?«

Der Vertrag beinhaltete nichts Besonderes, sie waren schnell fertig. Ohne Umschweife hielt Herr Staubitz Steffi den Kugelschreiber hin und tippte auf die Linie für ihre Unterschrift.

»Vielen Dank. Ich nehme den Vertrag gerne mit und schicke ihn Ihnen so schnell es geht zu«, erklärte sie.

Ein kaum merkliches Zucken durchfuhr den Makler. Er strich sich die unnatürlich glänzenden Haare zurück. Sein Lächeln war unverändert, wirkte jedoch eine Spur angestrengt. »Machen wir doch gleich Nägel mit Köpfen, Frau Ruttmann. Eine Unterschrift, und die Wohnung gehört Ihnen!« Wie ein Messer auf die Brust hielt er Steffi den schwarzen Montblanc hin.

»Ich versichere Ihnen, dass wir die Wohnung nehmen. Aber unterschreiben kann ich jetzt nicht.« Steffi neigte entschuldigend den Kopf. »Mein Mann und ich haben die Abmachung, dass keiner so bedeutende Entscheidungen allein trifft. Darum möchte ich den Vertrag gerne mitnehmen. Ich kann ihn Ihnen gleich morgen ins Büro bringen.«

»So leid es mir tut, das ist nicht möglich.« Herr Staubitz verzog bedauernd das Gesicht. Er informierte Steffi darüber, dass, während sie hier sprachen, mit Sicherheit schon zwanzig weitere Interessenten im Büro anriefen, die den Vertrag sofort unterzeichnen würden, und sein Chef es gar nicht gerne sah, wenn er ohne Abschluss von der Besichtigung kommen würde. »Mir sind die Hände gebunden«, schloss er, zuckte hilflos mit den Schultern und drehte die Handflächen gen Himmel.

»Aber Sie bekommen doch Ihre Unterschrift! Gleich morgen!«, versuchte Steffi es noch einmal.

»Tut mir leid.« Herr Staubitz steckte mit großer Geste den Mietvertrag in sein edles Kalbsledermäppchen zurück.

Steffi überlegte, ob sie nicht einfach doch unterschreiben sollte. Abmachung hin oder her. Sie waren sich ja eigentlich einig, Arno und sie. Gerade wollte sie Stopp! rufen, da hielt Herr Staubitz ganz von selbst in seiner Bewegung inne, sah nachdenklich an die stuckverzierte Decke und meinte: »Eine Möglichkeit gäbe es noch …«

»Ja?!« Steffi sah ihn hoffnungsvoll an.

»Wir reservieren die Wohnung für Sie, dann können Sie sich mit dem Mietvertrag so lange Zeit lassen, wie Sie brauchen.«

Steffi nickte begeistert. »Abgemacht. Vielen Dank!« Steffi streckte ihm die Hand entgegen, aber Herr Staubitz zog ein weiteres Papier aus seiner Mappe.

»Bitte unterschreiben Sie hier.«

Schon wieder unterschreiben? Na gut, dachte Steffi. Das war ja nicht der Mietvertrag, warum also nicht? Ohne richtig hinzusehen, setzte sie ihren Namen auf die Linie, auf die Herr Staubitz mit einem abgekauten Fingernagel zeigte. Der mochte so gar nicht zu seiner Porschefahrer-Attitüde und den Lederslippers passen.

Kaum hatte Steffi den Stift abgesetzt, zog der Makler ihr das Blatt weg und gratulierte: »Eine gute Entscheidung, Frau Ruttmann. Wann wollen Sie das Geld übergeben?«

»Geld?« Steffi verstand nicht.

»Für die Reservierung«, erklärte der Mann mit einer Selbstverständlichkeit, als informiere er sie darüber, dass es im Winter kälter war als im Sommer. »Fünftausend Euro, die dann mit der Kaution für die Wohnung verrechnet werden.« Herr Staubitz hielt Steffi das Papier, das sie eben unterschrieben hatte, wieder vor die Nase und tippte auf eine Stelle im Text. Steffi sah die Ziffern: fünf, null, null, null. Ihr wurde schwindelig. Was hatte sie da angestellt?

Kapitel II

Eilig rannte Helen das Treppenhaus des Altbaus hinunter, in dem Ellas Vater wohnte. Sie hatte dort einen Teddy abgeliefert, ohne den ihre Tochter unmöglich zwei Tage überleben konnte. Dabei fehlte ihr für derartige Kurierdienste komplett die Zeit! Es war einer dieser Momente, in denen sie das Elternmodell, das sie mit ihrem Exmann Jerry lebte, doch ein wenig anzweifelte, obwohl sie es während der vergangenen Jahre nahezu bis zur Perfektion optimiert hatten. Alle Dinge des täglichen Lebens gab es in zweifacher Ausführung. Bei Zahnbürsten, Unterhosen und den meisten Spielsachen klappte das auch hervorragend. Doch hin und wieder gab es eben das eine Kuscheltier, das weicher war als sein ansonsten zu hundert Prozent identischer Zwilling oder von dem es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen keine zweite Ausgabe gab. Und immer wieder waren es Schulbücher oder -hefte, die sich natürlich nur ein Mal in Ellas Besitz befanden.

Helen hatte absolut keine Zeit, sich ausgerechnet heute mit einer dieser Ausnahmen herumzuschlagen. Ihr saß die Deadline für den Artikel, an dem sie seit ein paar Wochen arbeitete, bedrohlich im Nacken. Die Dead-Deadline, um genau zu sein. Und bis dahin war noch eine ganze Menge zu tippen.

Gerade hatte sie sich wieder aufs Rad geschwungen, da klingelte ihr Handy. Sie hielt an, um es aus der Jackentasche zu fummeln, und wurde fast von einem Fahrradkurier umgefahren, dessen Schimpftiraden noch zu hören waren, als er schon um die nächste Ecke verschwunden war. »Hey!«, keuchte sie in den Hörer, und sogar eine an Autismus leidende Grönlandkrabbe hätte das Gehetzte in ihrer Stimme wahrgenommen. Steffi aber schien dafür taub zu sein.

»Ich hab was Blödes gemacht!«, jammerte sie los, ohne sich lang mit Begrüßungsformeln aufzuhalten. »Können wir uns kurz treffen?«

»Okay, aber wirklich nur kurz. Ich muss dringend arbeiten. Stattdessen fahre ich Teddys spazieren.«

»Hä?«

»Egal. In zehn Minuten bei mir!«

»Danke!«

Steffi klang wirklich erleichtert. Was war denn bloß passiert, das sie ihr nicht am Telefon sagen konnte?

Helen trat wieder in die Pedale. Dieses Mal achtete sie darauf, niemandem in die Quere zu kommen.

Wenn Steffi darauf bestand, sie zu treffen, musste es ernst sein. Hoffentlich war das Problem nicht zu zeitaufwendig! Ihr Artikel war auch unter normalen Umständen eigentlich nicht bis zum Abend fertig zu bekommen. Helen konnte es sich nicht leisten, ihre Zeit weiterhin im mobilen Katastrophenschutz zu verplempern. Wenn sie es bis morgen früh nicht schaffte, sechstausend irgendwie sinnvoll zusammenhängende Zeichen zum Thema Risiko Silikon in den Computer zu tippen, konnte sie den Ausnahmezustand einläuten. Sie hatte monatelang über unseriöse Schönheits-OPs und deren Opfer und Profiteure recherchiert. Schon zweimal musste die Veröffentlichung verschoben werden, weil eine ihrer Quellen sich doch dagegen entschieden hatte, sich öffentlich über das Thema zu äußern. Helen musste alles noch einmal umbauen, neue Quellen auftun und aus einem anderen Blickwinkel berichten. Aber es hatte sich gelohnt, die Geschichte würde umso besser werden. Wenn nicht noch etwas dazwischenkam! Vielleicht eine Spontangeburt in ihrem Hausflur, bei der sie als Hebamme einspringen musste? Das Schicksal hielt ja manchmal die absurdesten Überraschungen bereit. Grundsätzlich hatte Helen ja nichts dagegen, die Welt zu retten. Der Verlag würde ihr bei Nichtliefern allerdings so schnell keinen neuen Auftrag erteilen. Was bedeutete, dass eine ihrer Haupteinnahmequellen wegbrechen würde. Von ihren eigenen Gedanken angetrieben, radelte sie noch schneller. Vielleicht brauchte Steffi länger, um zu ihr zu kommen, und sie konnte vorher noch etwas schaffen! Doch als sie atemlos und verschwitzt vor ihrem Haus hielt, war sie schon da. Zusammengesunken saß sie vor der Haustür und kaute nervös an ihren Nägeln.

»Und du hast keine Quittung?!« Ungläubig zog Helen die Augenbrauen in die Höhe, sodass sie unter ihrem braunen Pony verschwanden.

»Und wenn du mich noch hundertmal fragst: nein!«, gab Steffi trotzig zurück. »Das ist ja das Blöde.«

Darauf fiel Helen auch nichts Ermutigendes ein. Sie verzog gequält das Gesicht und überlegte. Was würde sie dazu bewegen, einem Unbekannten fünftausend Euro bar in die Hand zu drücken, ohne dafür einen Beleg zu verlangen? Die Antwort war leicht: nichts. »Jetzt sag nur bitte noch mal ganz genau, was ihr besprochen habt«, forderte Helen Steffi auf, die mit dem Telefon in der Hand rastlos in der Küche auf und ab lief. Steffis Stimme bebte vor Aufregung, als sie erneut erzählte, was passiert war.

»Danke und Tschüss hat er gesagt und war weg. Und mit ihm mein Geld«, schloss sie jammernd.

»Und was sagt Arno dazu?«

»Der weiß das natürlich nicht! Er muss ja nicht immer alles wissen.«

Helen sah Steffi skeptisch an, die trotzig zurückblickte. Helen wusste, dass es Steffis wunder Punkt war, kein eigenes Geld zu verdienen. Dafür hatte Helen vollstes Verständnis, wahrscheinlich würde es ihr ähnlich gehen. Andererseits wünschte sie sich manchmal, an Steffis Stelle zu sein und die Verantwortung für Ellas und ihren eigenen Lebensunterhalt abgeben zu können. Am Ende überwog dann aber doch der Wunsch nach Unabhängigkeit.

»Ruf ihn an!«, forderte Helen Steffi auf.

»Wen? Arno?« Steffi riss vor Schreck die Augen auf.

»Nein! Den Makler natürlich!«

»Wozu?«

»Um dich mit ihm zu einem Rendezvous im Kerzenschein zu verabreden«, spottete Helen und verdrehte die Augen. »Mensch, um ihm zu sagen, dass du den Beleg brauchst!«

»Jetzt?«

»Nee, nächste Woche« Helen war fassungslos über Steffis Begriffsstutzigkeit. »Natürlich jetzt!«

»Ich weiß nicht«, druckste Steffi rum.

Helen führte Steffis Hand mit dem Telefon in Richtung ihres Ohres. Widerstrebend löste die sich aus dem Griff und wählte die Nummer.

Beide lauschten dem Freizeichen, dann flötete eine Frauenstimme den Namen des Maklerbüros.

»Ich möchte gerne Herrn Staubitz sprechen«, brachte Steffi mit zitternder Stimme hervor.

»Der ist leider nicht im Haus. Worum geht es denn?«.

Diese Frage hasste Helen, sie hatte ihr bei Recherche-Telefonaten schon so oft den Weg in die Chefetagen und zu wichtigen Informationsquellen versperrt. Genervt verzog sie das Gesicht und äffte die Frau am anderen Ende stimmlos nach. Um sich nicht ablenken zu lassen, drehte Steffi ihr den Rücken zu, atmete einmal tief durch und antwortete dann ruhig in den Hörer: »Es geht um die Wohnung in der Brunnenstraße.«

»Tut mir leid, die ist leider schon vermittelt.«

»Genau! Die Wohnung wurde von Herrn Staubitz gestern für uns reserviert«, erklärte Steffi, woraufhin sie von der Telefonstimme korrigiert wurde.

»Das muss ein Missverständnis sein. Wir haben von den Mietern heute den unterschriebenen Mietvertrag zurückerhalten.«

Steffis Gesichtsfarbe war schon vorher nicht die gesündeste gewesen. Nun war sie kaum von der gekalkten Wand in Helens Küche zu unterscheiden.

Helen hatte sich größte Mühe gegeben, Steffi gut zuzureden, dass ihnen schon etwas einfiele, um diesem Herrn Staubitz das Handwerk zu legen. Dann hatte sie ihre am Boden zerstörte Freundin schweren Herzens und in Begleitung vielfacher Entschuldigungen aus der Wohnung geschoben. Sie musste dringend an den Schreibtisch.

Jetzt versuchte sie, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Was ihr nur mäßig gelang. Hoffentlich merkte man ihm an Ende nicht an, dass sie beim Schreiben ihre Gedanken ganz woanders als bei aufgespritzten Lippen und Brustimplantaten gehabt hatte. Nämlich bei der Frage, ob ein Mitarbeiter eines der renommiertesten Maklerbüros der Stadt es tatsächlich wagte, mit derartig verbrecherischen Methoden sein Gehalt aufzubessern. Beschweren war sicher zwecklos, niemand würde ihnen glauben. Ob Steffi als Einzige darauf reingefallen war? Mit ihrer Verzweiflung stellte sie ein leichtes Opfer dar. Aber von ihrer Sorte gab es in dieser Stadt doch sicher noch mehr. Das musste sie herausfinden! Als Helen diese Erkenntnis ereilte, war es schon weit nach Mitternacht, sie aber viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Zum Glück musste sie sich am nächsten Morgen nicht aus dem Bett quälen, um Ella zu einer menschenverachtenden Zeit zur Schule zu bringen. Dieses Vergnügen wurde Jerry zuteil, und Helen war an der Reihe, ihr Nachtmenschendasein zu leben. Was sie auch tat: Mit einem großen Glas Rotwein neben sich tippte sie die ganze Nacht durch.