Familie mit Herz 82 - Sabine Stephan - E-Book

Familie mit Herz 82 E-Book

Sabine Stephan

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Beschreibung

Wer im Gertruden-Viertel gelandet ist, den hat die Gesellschaft abgeschrieben, der hat nichts Schönes mehr zu erwarten. Hier wohnen sie: die Verzweifelten, die Gescheiterten, die vom Schicksal Gebrochenen.
Auch Lilli ist kürzlich mit ihrem Töchterchen hierher gezogen. Doch im Gegensatz zu den anderen will sie sich nicht unterkriegen lassen. In ihr schlummert die unumstößliche Hoffnung, dass die Sonne für alle scheint, auch wenn mancher sie nicht sehen kann. Ja, wenn es ihr gelingt, die Mutlosen zu motivieren, gegen ihr Schicksal anzukämpfen, dann kann auch in diesem Viertel eines Tages wieder Lachen zu hören sein ...


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Inhalt

Cover

Impressum

Der schönste Sieg ihres Lebens

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Dasha Petrenko / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7325-9920-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Der schönste Sieg ihres Lebens

Lillis Kampf gilt all jenen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen

Von Sabine Stephan

Wer im Gertruden-Viertel gelandet ist, den hat die Gesellschaft abgeschrieben, der hat nichts Schönes mehr zu erwarten. Hier wohnen sie: die Verzweifelten, die Gescheiterten, die vom Schicksal Gebrochenen.

Auch Lilli ist kürzlich mit ihrem Töchterchen hierher gezogen. Doch im Gegensatz zu den anderen will sie sich nicht unterkriegen lassen. In ihr schlummert die unumstößliche Hoffnung, dass die Sonne für alle scheint, auch wenn mancher sie nicht sehen kann. Ja, wenn es ihr gelingt, die Mutlosen zu motivieren, gegen ihr Schicksal anzukämpfen, dann kann auch in diesem Viertel eines Tages wieder Lachen zu hören sein …

Die drei winzigen Hinterzimmer des Kuriositäten-Geschäftes am Gertrudenkirchhof glichen einer kellerartigen, verwinkelten Theaterbühne:

Wallender, roter Samt bedeckte die Risse in den morschen, sicher gleich aus den Angeln fallenden Fensterläden, goldene Sonnen mit orangefarbenen Strahlen schienen auf den verkrusteten, unebenen Wänden, und im kleinen Bad, eigentlich ja nur gruftähnliche zweieinhalb Quadratmeter groß, wuchsen Fächerpalmen aus selbstumwickelten Bastkörben direkt von der beängstigend feuchten Zimmerdecke.

Lillis wirkliches Zuhause aber war nicht das Bambusbett unter dem Baldachin einer indischen Pferdedecke, nicht die „Couch“, eine Art Nomaden-Feldbett, nein: Dort, wo sie wirklich lebte, wo ihr all die verrückten, verspielten, versponnenen Ideen kamen – das war ihr Lädchen mit all den altmodischen Kleidern aus der Jahrhundertwende, mit Modeschmuck aus den vierziger Jahren, mit Sonnenschirmen und Tüchern, wie sie die feinen Damen einmal, vor hundert Jahren oder so, getragen hatten.

Wenn das Glöckchen bimmelnd einen Kunden ankündigte, kroch die zierliche junge Frau mit dem schokoladenbraunen, glatten Haar fast hinter ihrem winzigen Kinderschreibtisch, anno neunzehnhundert, hervor, strahlte den Besucher mit überraschend hellen, wachen, graugrünen Augen an und  …

„Hi“, sagten die. Oder: „Tag“. Manchmal auch: „Na?“

Ihre Kundschaft bestand fast ausnahmslos aus „Szene“-Leuten dieser vergessenen Altbaugegend in der großen, viel zu großen Stadt, und zur „Szene“ gehörte nur der, der Schüler, Student oder einer der vielen Jobsucher war, die sich mit stundenweiser Tätigkeit und einem Leben in der Wohngemeinschaft so eben durchschlugen.

Nein, Lilli zählte nicht zur Szene. Sie war neunundzwanzig, seit anderthalb Jahren Witwe und Mutter von Zezi, wie Cäcilie, ihre kleine Tochter, sich selbst genannt hatte.

Im Gegensatz zu all den jungen Leuten um sie herum, die mit dem Wort Zukunft nichts anfangen konnten und daher nicht für etwas Ungewisses zu arbeiten bereit waren, schuftete Lilli an sieben Tagen in der Woche. Wenn trotzdem kein Euro am Monatsende übrig blieb, war das ganz gewiss nicht ihrer Gleichgültigkeit oder ihrem mangelnden Einsatz zuzuschreiben.

Jetzt, an diesem Samstag im August, als die Stadt unter brütender Hitze wie eine übergroße, lahmgelegte Maschine stillhielt, dekorierte sie kleine Hanfschachteln aus Taiwan im Schaufenster und befestigte Preisschilder mit roten Zahlen daran. „Nur zehn Euro!“, stand da. Und: „Gelegenheit!“

Es war schon nach vier, im Hinterhof spielte Zezi mit Carlos Verstecken. Kein Wunder war in Sicht, obwohl es doch ein verkaufsoffener Samstag war und den Leuten oft das Geld locker saß, wenn sie Dinge entdeckten, die sie gar nicht brauchten.

Nein, nichts war los – jedenfalls, bis das brummende Geräusch näher kam, die lähmende Großstadtstille unterbrach und sich Lilli wie … ja, wie elektrisiert fühlte.

Der Lastwagen, der jetzt in den Gertrudenkirchhof einbog, passte kaum in die schmale Rechtskurve, und als er hielt, wirkte er noch deplatzierter. Zu den schmalen Altbauten mit den schmutzigen Fassaden, dem Graffiti-Geschmiere und den oft deprimierenden Sprüchen darüber mochten alte Fahrräder passen, angeschmuddelte Mofas oder alte Autos – nicht aber so ein bombastisches Gefährt, in dem nur jemand ebenso bombastische Möbel spazieren fahren konnte.

Der Mann, der aus der Fahrerkabine sprang, gehörte auch nicht hierher. Er war groß, fast ein Riese, und die Art, wie er ging, machte deutlich: Er zählte am Monatsende keinen Cent und überlegte hin und her, ob er sich eine Dose Spaghetti im Billigladen oder doch lieber eine Schachtel Zigaretten leisten sollte.

Verdeckt von rosa-gold durchwebten Lampenschirmen aus Pakistan beobachtete Lilli, wie „das Neue“, wie sie es von diesem Augenblick an nannte, Einzug in den Gertrudenkirchhof hielt.

Ach, er war es also, er, von dem alle „Gertruders“ seit Monaten sprachen! Er, der nicht nur die Eckzeile der bescheidenen Straße, in der Lilli lebte und arbeitete, von seinem Onkel geerbt hatte, sondern alle Häuser, bis auf eines. „Jetzt gehen die Mieten garantiert hoch!“

„Ihr werdet sehen, der renoviert auf edel und schmeißt uns raus!“

„Im nächsten Jahr ist das hier eine Schicki-Micki-Gegend wie andere auch!“

Alle hatten das gesagt, bis auf Lilli, eigentlich Liliane Scholz, die das Fürchten nach Tobis Tod einfach verlernt hatte. Was konnte Schlimmeres geschehen als das langsame Sterben eines jungen Ehemannes und Vaters? Nichts. Waren einmal alle Hoffnungen auf ein Morgen vernichtet, lief das Leben in einer ruhigen Bahn: gleichmäßig, gleichförmig.

Es gab kein Auf und Ab mehr für Lilli.

Der Riese dort drüben öffnete die Ladefläche seines Wagens, überlegte es sich aber offenbar anders. Aus der Gesäßtasche seiner Jeans holte er ein Samrtphone heraus und begann kurz darauf, eindringlich auf jemanden einzusprechen. Dabei durchmaß er die kleine Straße, ließ keinen Huckel aus und schien gleichzeitig die Meter im Kopf zu behalten, die ihm nun gehörten.

Jetzt stutzte er, denn er hatte sie gesehen.

„Hallo! Sie sind …“ Er zog einen Zettel aus der Hemdtasche und überflog wohl die Namensreihe der Leute, die am Gertrudenkirchhof wohnten. „Sie sind … Frau Scholz?“

Blaue Augen musterten sie kühl und abschätzend. Blicke wanderten am rosenbedruckten, fessellangen Kleid hinab und verweilten bei den Füßen, die in Kinderschuhe gepasst hätten.

„Ja, das bin ich“, erklärte Lilli und versuchte dabei, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. „Und wer sind Sie?“

Seine Eintaxierung war noch nicht zu Ende. Lilli bildete sich ein, dass sein Blick an ihren komischen Silber-Ohrringen hängenblieb. Sie kamen aus Venezuela und zeigten zwei schmusende Löwenbabys.

„Stefan Dierks“, erwiderte er.

Sie bekam eine große, aber keineswegs vertrauenerweckende Hand gereicht, die nicht zu schütteln wohl unhöflich gewesen wäre.

„Der Mann, der …“, versuchte sie, ihm gleich zu zeigen, dass sie ihn richtig einstufte.

„Der Mann, der hier aufräumen wird, ja“, sagte er und lachte.

Sein Lachen war laut, aber als fröhlich mochte Lilli es nicht bezeichnen.

„Wir, meine Partner und ich, werden den Gertrudenkirchhof modernisieren, die Dächer ausbauen, die Höfe begrünen, die Geschäfte restaurieren und …“

Nein, besonders mutig war Lilli nicht. Aber da niemand der „Szene“ in der Nähe war – sie alle schliefen wohl dem Samstagabend entgegen, wenn im „Treff“ das Bier angezapft wurde – , musste sie sich wohl einschalten.

„Und dann steigen die Mieten, nicht wahr? Und die Gertruders, wie wir uns nennen, müssen ausziehen. Und dann ist diese beschauliche, stille Gegend wie eines der neuen Viertel, in denen Leute leben, die viel Geld verdienen.“

Er hatte sie schroff unterbrechen wollen, durch ein Blitzen seiner blauen Augen, durch eine heftige Geste mit der linken Hand. Dann aber hatte er sich anders entschieden.

„Sehen Sie das so?“, fragte er kühl. „Glauben Sie wirklich, eine Handvoll Menschen kann sich dem Fortschritt entgegenstellen? Ich kenne erst zwei, drei Wohnungen hier. Aber allein die Treppenhäuser lassen mich gruseln! Und diese Bäder! Gruften sollte man sie nennen!“

Ja, das stimmte natürlich. Aber …

„Ab Montag findet die Besichtigungswelle statt“, kündigte er abschließend an. „Die Geschäfte sind zuerst dran: der Zigarettenladen, der Kiosk dort und Ihr Kuriositätenkabinett.“

Die Bezeichnung stimmte. Trotzdem tat es ihr weh, dieses Wort zu hören … von einem, der nicht wissen konnte, wie viel Mühe es machte, Besonderes aus der ganzen Welt zum Spottpreis einzukaufen.

In diesem Augenblick wehten die wallenden roten Samtvorhänge, die in den Hinterhof hinausführten. Trotz der Hitze spürte Lilli etwas Zugluft. Sie drehte sich um und begann zu lächeln, wie immer, wenn Cäcilie, die ihr so gar nicht ähnlich sah, näher kam.

Drei Jahre alt war sie nun, und sie wurde ihrem Papa Tobias von Tag zu Tag ähnlicher. Dieselben goldblonden Locken, dieselbe Zartheit der Haut, dieselben natürlichen, fast eleganten Bewegungen.

Noch hatte ihre kleine Nase einen Stups himmelwärts, und die Sommersprossen auf Stirn und Wangen ließen sich zählen. Aber bald würden sie – eine Familien-Seltenheit aller Scholz’-‍, sich wohl über ihren ganzen Körper erstrecken. Tobi hatte auch …

Lilli schluckte. Tobi war tot, anderthalb Jahre nach der Geburt seiner kleinen Tochter war er an Leukämie gestorben. Sie durfte nicht immer, bei jeder Kleinigkeit, sein Gesicht, seine Hände, seine Worte heraufbeschwören.

Dafür waren doch die Stunden am Friedhof da, drüben, bei der Gertrudenkirche, wo nur die bestattet werden durften, die hier gelebt hatten.

„… bissu denn?“, fragte Zezi neugierig. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, was rein gar nichts nutzte, denn sie war dem Gesicht des großen Mannes damit ja nur ein, zwei Zentimeter näher gekommen.

„Das ist …“, wollte ihre Mutter erklären, aber er hatte sie unterbrochen.

„Ich heiße Stefan Dierks“, brummte er. „Und du?“

Carlos, das beige-braun-schwarz gefleckte Tier ohne Stammbaum und Lebenslauf, ihnen zugelaufen und sich hier heimisch fühlend, kam misstrauisch näher und schnüffelte.

Gleich wird er bellen, dachte Lilli. Vielleicht fletscht er sogar die Zähne. Er spürt ja immer, wenn uns Gefahr droht.

Der Hund umkreiste den fremden Mann, wobei er die Nase vibrierend in die Höhe hob und machte etwas, das er auf Befehl niemals getan hätte. Er setzte sich vor den neuen Besitzer und versperrte seiner kleinen Herrin damit die Sicht.

„Och, Carlos!“, maulte Zezi.

Sie packte ihn am rauen Fell, und ein kleiner Zweikampf begann, den der Vierbeiner auch mit einer Pfote hätte gewinnen können. Aber er wusste, was er dem kleinen Mädchen, das ihn am Müllberg, nur wenige Schritte von hier, gefunden hatte, schuldig war.

Carlos gab auf. Er wich einen halben Meter zurück und begann, laut und eindringlich zu heulen.

Lilli kannte das Spiel – der fremde Mann natürlich nicht. Er schrak zusammen, wurde sogar ein wenig blass, was eine junge Frau mit … heftigerem Charakter als Lilli vielleicht mit Schadenfreude erfüllt hätte.

„Von … von einem Kind steht aber nichts im Mietvertrag“, sagte er und tat, als wäre Cäcilie eine giftige Natter, lebensgefährlich für jeden, der in ihre Nähe kam. „Und von … von einem Köter erst recht nicht!“

Zezi hatte aufmerksam zugehört. Ihr Temperament war ungestümer als das ihrer Mutter, sie war impulsiv und neigte auch manchmal zu Zornesausbrüchen.

Lilli überlegte, wie sie einen Zusammenstoß der beiden ungleichen Gegner verhindern könnte.

„Als mein Mann und ich hier einzogen …“, begann sie.

Stefan Dierks runzelte die Stirn.

„Mein Papa is’ tot“, piepste Zezi.

Er wand sich. Warum, wusste Lilli nicht. Er war verlegen und … ärgerlich irgendwie.

„Soso“, murmelte er.

Charlos heulte wieder wie der Hund von Baskerville. Wäre es ein nebliger Tag am Gertrudenkirchhof gewesen, es hätte sicher viel schauerlicher geklungen.

„Aber ich war in sein’ Arm, als das passierte, gell, Mami?“

Lilli wurde rot. Sie nickte.

„Ja, dann“, meinte der Mann, der zu dem großen Lastwagen, zu dem Handy und zu was auch immer gehörte – hierher jedenfalls nicht. „Ja, dann … Sie erfahren schon am Montag, wann der Besichtigungstermin stattfinden wird. Lange wird es jedenfalls nicht mehr dauern, bis … Schönen Tag auch!“

Er ging langsam. Carlos trottete hinter ihm her, als müsste er sich vergewissern, dass der Fremde auch ja ging – und nicht wieder zurückkehrte.

Ein Satz lag auf Lillis Zunge, doch sie sprach ihn nicht aus.

„Du musst doch nicht jedem erzählen, wie es war, als dein Papa starb, Kleines!“

Nein, sie korrigierte Cäcilie nicht, nicht in diesem Fall. Vielleicht war es Zezis Art, sich an ihren Papa zu erinnern. Manche Menschen schluckten, wenn sie so einen Satz hörten. Andere taten, als hätten sie ihn nicht gehört. Manche weinten sogar.

Der, mit dem „das Neue“, wie Lilli es von diesem Augenblick an nannte, begann, war geflohen.

♥♥♥

Wie es dazu gekommen war, dass sich das alte Arbeitsviertel am Gertrudenkirchhof in ein Nest für die No-future-Generation verwandelt hatte, wusste niemand so recht. Sicher, die Mieten waren unglaublich niedrig, wenn man nur die Quadratmeter einer Wohnung zugrunde legte. Aber wenn man bedachte, dass es keinerlei Komfort gab, sich die meisten Türen und Fenster nicht verriegeln ließen, ja, sogar die Gaswerke abgelehnt hatten, in den bröckelnden Putz der Wände neue Thermen zu verlegen, erschienen die Preise doch angemessen.

Die Arbeiter waren alt geworden, viele starben. Die Witwen hatten kleine Hinterstübchen an Studenten untervermietet, die hatten ihre Kommilitonen nach und nach geholt …

Ja, damit hatte es begonnen. Später waren Schüler gekommen, sechzehn oder siebzehn, die zu Hause keiner mehr haben wollte. Manche nahmen Drogen; manche holen sich mit Gewalt vom Leben, was ihnen die Eltern einstmals verweigert hatten.

Ja, es gab Straffällige hier, und sicher besserten immer noch einige das, was ihnen der Staat zubilligte, mit kleinen Diebereien auf.