Familiengeheimnisse - Alexandra Liebert - E-Book

Familiengeheimnisse E-Book

Alexandra Liebert

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Beschreibung

Als Svenja ihre Nichte Annika vom Kindergarten abholt, lernt sie Maren und deren Tochter Lena kennen. Annika und Lena sind beste Freundinnen, und so verbringen die beiden Frauen immer wieder und immer häufiger Zeit miteinander. Svenja verliebt sich in Maren und outet sich, aber Maren hält sich bedeckt. Langsam kommen sie sich näher, doch Marens Verhalten gibt Svenja immer wieder Rätsel auf. Mal scheint es, als würde Maren auch Gefühle für Svenja entwickeln, doch dann stößt Maren sie unvermittelt zurück - was Svenjas Geduld auf eine harte Probe stellt ...

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Alexandra Liebert

FAMILIENGEHEIMNISSE

Roman

© 2015édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-122-3

Coverfoto: © kbuntu – Fotolia.com

»Svenja, guck mal, was ich heute gemalt habe.« Aus dem Mund meiner fünfjährigen Nichte klang mein Name eher wie Tweniah. Aber wenn mich diese glücklichen Augen anlachten, war es mir egal, wie sie meinen Namen aussprach.

»Hey, ein tolles Bild, kleine Maus. Hattest du einen schönen Tag?«

Annika nickte energisch, doch eigentlich war das strahlende Gesicht sowieso schon Antwort genug.

»Wo ist Mami?«, wollte sie wissen.

»Deine Mami ist heute beim Onkel Doktor. Erinnerst du dich noch daran, dass ihr Zahn immer wehgetan hat? Der Zahnarzt macht gerade, dass es nicht mehr weh tut. Und darum hole ich dich heute vom Kindergarten ab.«

»Das ist toll«, schwärmte Annika und warf sich so stürmisch in meine Arme, dass ich nach hinten taumelte. Leider stand genau dort eine Mutter, die ihrer Tochter eben die Jacke zuknöpfte.

»Oh, Verzeihung«, murmelte ich verlegen.

»Kein Problem.« Die Frau legte mir die Hand versöhnlich auf den Arm. »Meine Kleine ist nach dem Kindergarten auch immer aufgedreht und kaum zu stoppen.«

Beim Anblick der jungen Frau musste ich sofort an Schweden denken. Lag es an ihrem blonden, halblangen Haar? An ihren stahlblauen Augen? Oder daran, dass sie über einen Kopf größer war als ich? Ihre Augen wirkten allerdings nicht nordisch kühl, sondern warm und im Moment etwas amüsiert. Mein Herz hatte heftig zu pochen angefangen. Kein Wunder, nach dem Schrecken über die sehr unvermittelte Kontaktaufnahme.

»Ich heiße Svenja«, stellte ich mich vor und fühlte mich aufgefordert, hinzuzufügen: »Und ich bin Annikas Tante.«

»Maren«, antwortete meine neue schwedische Freundin. »Und das hier ist Lena, meine Tochter.«

Annika und Lena hatten es sich inzwischen auf einer kleinen Bank bequem gemacht und kramten in Lenas buntem Rucksack. Es war ein wirklich rührendes Bild.

»Die beiden sind die besten Freundinnen«, informierte mich Maren. »Es ist jeden Mittag ein Kampf, sie zu trennen.«

Das war ziemlich offensichtlich. Selten hatte ich diesen kleinen Wirbelwind so zahm gesehen.

»Dann wollen wir unser Glück mal versuchen.« Ich schnappte mir Annikas Jacke und ging vor ihr in die Hocke. »Gehen wir, Süße? Ich werde dir was Leckeres kochen, und dann machen wir uns einen lustigen Nachmittag, in Ordnung? Heute Abend holt dein Papa dich dann wieder ab.«

»Kann Lena mitkommen?« Annikas Augen wurden ganz groß und bettelten mich stumm an. Es war ja eigentlich vorauszusehen gewesen, nach dem, was ich gerade von Maren erfahren hatte. Aber warum auch nicht? Ich warf Maren einen fragenden Blick zu, richtete mich wieder auf und ging einen Schritt auf sie zu.

»Ist es in Ordnung für Sie, wenn die zwei Damen den Nachmittag bei mir verbringen?«

Plötzlich zupfte eine kleine Hand an meinem Ärmel. Lena hatte einen ebenso herzerweichenden Blick wie Annika parat. »Darf meine Mami auch mitkommen?«

Ich lächelte sie an und stupste ihre Nase. Dabei ging ich wieder in die Knie, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein. »Das ist eine ganz tolle Idee. Aber erst müssen wir deine Mami mal fragen, ob sie überhaupt Zeit hat.«

»Mami, Mami, bitte sag jaaaaaaa.«

Man konnte es förmlich in Marens Kopf arbeiten hören. Ihre Augen flackerten wild durch die Gegend, als sie offensichtlich in Gedanken aufzählte, was heute eigentlich noch alles zu erledigen war. Doch Annika und Lena zogen dabei unaufhörlich an ihrem Hosenbein. »Na gut«, meinte sie schließlich. »Ich bin wohl eindeutig überstimmt.« Sie wirkte allerdings nicht gerade unglücklich darüber.

»Was heißt überstimmt?«, hakte die kleine Lena nach.

»Überstimmt heißt Ja«, klärte Maren ihre Tochter auf, worauf diese mit Annika zusammen in lautes Freudengeschrei ausbrach.

Die Kinder hatten sich längst in mein kleines Arbeitszimmer zurückgezogen, in dem ich auch einige Spielsachen für Annika aufbewahrte. So oft es nur ging, holte ich meine Nichte für ein Wochenende zu mir. Mein Bruder und seine Frau waren trotz aller Liebe für ihre Tochter hin und wieder sehr glücklich über ein wenig Privatsphäre. Und ich genoss jede Minute mit Annika. Sie brachte Leben in meine ruhige Bude, versüßte mir meine einsamen Wochenenden und hielt mich mit ihrem Geplapper von allzu vielem Grübeln ab.

Während ich den Kaffee aufsetzte, hatte ich das Gefühl, Marens Blicke immer wieder auf mir zu spüren. Sie schien mich zu taxieren und auch meine Wohnung, die zugegebenermaßen ziemlich groß ausfiel, ausgiebig zu mustern. Als sie mit Argusaugen an meiner CD-Sammlung hing, drehte ich den Spieß um. Bisher hatte ich vermieden, ihre Blicke allzu offensichtlich zu erwidern, aber jetzt war es mir egal – was sie konnte, konnte ich schon lange.

Zum ersten Mal nahm ich sie überhaupt richtig wahr. Auch wenn ich vorhin im Kindergarten natürlich realisiert hatte, dass mir eine attraktive Frau gegenüberstand, so hatte ich mir doch verboten, weiter darüber nachzudenken. Schließlich standen die Chancen, in einem Kindergarten auf eine Lesbe zu treffen, doch eher schlecht. Schade eigentlich, dachte ich mir, als sich das Kribbeln in meinem Bauch verstärkte, je länger ich Maren anstarrte. Ich bekam kaum mit, dass ich beim Eingießen fast den Kaffee verschüttet hätte.

»Hier, erst mal eine Tasse Kaffee zum Aufwärmen«, unterbrach ich meine eigenen Träumereien mit einiger Willenskraft. »Ich koche eben was für unsere zwei Mädchen.« Während ich Maren die Tasse reichte, ertappte ich mich bei einem dämlichen Grinsen. Hoffentlich hatte sie es nicht mitbekommen . . . Gutgelaunt machte ich mich ans Kochen.

Bei meinem Bruder und seiner Frau gehörte ich zur Familie, sie luden mich oft zum Essen ein und auch zu Familienausflügen oder anderen Gelegenheiten. Das war schön, aber eigentlich fühlte ich mich immer ein bisschen als Außenseiter dabei. Ein richtiger, fester Teil der Familie war ich eben doch nicht. Während ich jetzt in der Küche vor mich hin werkelte, hatte ich ein ganz anderes Gefühl: Heute war ich das Oberhaupt einer kleinen, glücklichen Familie. Ich hatte die Kinder vom Kindergarten abgeholt und für sie gekocht, und nun saßen wir zu viert am Tisch und amüsierten uns über ihr aufgeregtes Erzählen. In meiner Phantasie eine perfekte Familienszene.

Auch für Annika und Lena war es eine ganz neue Erfahrung. Wie sie mir gerade berichteten, hatten sie noch niemals mit ihren beiden Mamis zusammen zu Mittag gegessen.

»So, so, eure Mamis«, hakte Maren bei Lena nach, hatte dabei jedoch ihren Blick auf mich gerichtet. Ihre Tochter ignorierte sie ohnehin und war voller Hingabe damit beschäftigt, Annika mit einer Nudel zu füttern. In plötzlich ernstem Ton sagte Maren zu mir: »Sie wären bestimmt eine tolle Mutter.«

Als ich ihren Blick erwiderte, wandte sie sich schnell wieder ihrem Teller zu.

»Schade, dass du 'ne Frau bist«, beteiligte sich Lena nun wieder am Gespräch.

»Was ist denn daran so schade?«, wollte ich überrascht wissen. Diesen Vorwurf hatte ich mir bislang nun wahrlich noch nicht gefallen lassen müssen.

»Na, wenn du ein Mann wärst, könntest du meine Mami heiraten, und dann hätte ich auch einen Papa.«

Maren und ich starrten sie beide mit offenem Mund an. Ich wusste nicht, ob ich einfach loslachen oder nach einer pädagogisch wertvollen Antwort suchen sollte. Gleichzeitig fuhren noch ganz andere Gedanken in meinem Kopf Karussell. Es gab also keinen Mann in Marens Leben, das war doch schon einmal eine interessante Neuigkeit. Es ließ mir zumindest die theoretische Chance, dass Maren lesbisch sein könnte. Berauscht und geradezu hibbelig von dieser Schlussfolgerung, entschied ich mich gegen Erziehungsmaßnahmen und prustete laut los.

Maren warf mir einen kurzen, erleichterten Blick zu und stimmte in mein Lachen ein. Kurz darauf lachten wir alle vier Tränen, auch wenn die Kinder wohl nur aus Spaß am Lachen mitlachten.

Als die Stimmung sich wieder beruhigt hatte, die Mädchen im Zimmer nebenan spielten und der Tisch abgeräumt war, wagte ich einen Vorstoß.

»Sie sind alleinerziehend?« Ich versuchte, meine Stimme so unbeteiligt wie möglich klingen zu lassen.

»Ja«, war die knappe Antwort, mit der ich abgespeist wurde.

Ich wandte mich ab und wischte den Küchentisch sauber, damit Maren nicht sah, wie ich rot wurde. Das war ja mal wieder typisch. Fettnäpfchen – Volltreffer. »Entschuldigung, wenn ich zu persönlich geworden bin.«

»Nein, Svenja, das sind Sie nicht. Es ist einfach nur eine sehr lange und sehr komplizierte Geschichte.«

Gerade als ich eine weitere Entschuldigung stammeln wollte, klingelte es an der Tür. Erleichtert, der peinlichen Situation entrinnen zu können, lief ich hin und öffnete. Meine Schwägerin lächelte mich mit einer dicken Backe an. »Es ging schneller und besser als gedacht beim Zahnarzt. Da dachte ich mir, ich hol den kleinen Frechdachs gleich wieder ab, dann muss Uwe heute Abend nicht extra den Umweg fahren.«

Ich ließ Maria in die Wohnung und deutete durch die offen stehende Arbeitszimmertür auf die spielenden Kinder. »Viel Erfolg beim Trennen«, grinste ich.

In der Tat würdigte Annika ihre Mutter kaum eines Blickes. Ich zog Maria mit in die Küche. »Komm, setz dich einen Moment zu Maren und mir. Ihr kennt euch ja, oder?«

Während die zwei Frauen sich unterhielten, ging ich zu Annika und Lena und bereitete sie darauf vor, dass es bald Zeit war, nach Hause zu gehen. Ihren vorhersehbaren lautstarken Protest versuchte ich mit der Ankündigung zu dämpfen, dass sie sich am nächsten Tag wieder im Kindergarten sehen würden – und war sogar erfolgreich. Stolz darauf, doch noch einen pädagogischen Beitrag geleistet zu haben, ging ich in die Küche und setzte mich auf den Stuhl neben Maren.

»Wir haben ein kleines Problem«, sagte Maria und schaute mich mit großen Augen an. Jetzt war mir klar, wo Annika diesen herzerweichenden Dackelblick herhatte. »Lenas Geburtstag ist in zwei Wochen, und du kannst dir ja denken, dass sie sehr traurig wäre, wenn Annika nicht kommen könnte.«

»Ja.« Noch konnte ich kein Problem sehen.

»Aber in zwei Wochen ist doch mein Klassentreffen. Uwe und ich sind übers ganze Wochenende weg, um auch mal wieder Zeit für uns zu haben.«

»Ach ja, klar, ich erinnere mich. Dann ist die kleine Maus ja wieder übers Wochenende bei mir.«

Jetzt mischte sich auch Maren ein: »Und genau das ist das Problem.«

»Ich bin das Problem?« Was hatte ich denn nun angestellt?

»Nein«, lachte Maria. »Annika ist das Problem. So sehr sie Lena auch liebt, sie würde niemals allein dort bleiben.«

»Ja, sie fremdelt wirklich ganz schön.« Ich konnte allerdings das Problem immer noch nicht verstehen und fand es allmählich ein ganz kleines bisschen nervig, dass die beiden auf mich einredeten wie auf ein Kleinkind, ohne mit der offenbar wesentlichen Information herauszurücken. »Ich weiß bloß immer noch nicht, was . . .«

»Und eben deshalb stellt sich nun die Frage«, unterbrach mich Maren, »ob Sie sich einen Freitagnachmittag damit verderben lassen wollen, mit Ihrer Nichte auf einen Kindergeburtstag zu gehen.«

Ich musste nicht wirklich lange überlegen. »Na, wenn ich Annika und Lena damit eine Freude machen kann, werde ich das sehr gern tun.«

»Ich würde mich auch sehr freuen«, gab Maren leise zu, und ich spürte, dass mir die Röte ins Gesicht schoss. Ihr übrigens auch. Ich sah es aus dem Augenwinkel und konnte noch in letzter Sekunde verhindern, dass ein breites, strahlendes Grinsen von meinen Gesichtszügen Besitz ergriff.

Durch einen glücklichen Zufall traf ich Maren schon früher als erwartet wieder. Annikas Kindergarten veranstaltete am Samstag einen Gemeinschaftstag, bei dem Eltern und sonstige freiwillige Helfer mobilisiert wurden, um das Gebäude samt Garten wieder auf Vordermann zu bringen. Es wurde gestrichen, gehämmert, Unkraut gejätet, Hecken geschnitten und Bäume gestutzt. Uwe und ich waren seit den frühen Morgenstunden bei der Arbeit, Maria kam mit Annika nach, sobald diese ausgeschlafen und ordentlich gefrühstückt hatte. Zu dritt machten sie sich daran, eine Schaukel zu streichen, während ich ein wenig abseits eine Hecke schnitt und den anfallenden Abfall sorgfältig in Säcken verstaute.

»Einige Eltern, die ihren Samstag lieber faul auf der Couch verbringen, sollten sich ein Beispiel an Ihnen nehmen.«

Für einen Moment dachte ich, die Kindergärtnerin hätte mich angesprochen. Doch als ich den Kopf hob, blickte ich direkt in Marens Augen.

»Hey! Guten Morgen.« Ich versuchte ungezwungener zu klingen als mir zumute war. Mein Herzschlag hatte sich mit einem Mal erheblich beschleunigt. Automatisch schossen mir die Bilder durch den Kopf, die ich seit unserem ersten Treffen Nacht für Nacht mit in meine Träume nahm. Bilder von Maren, wie sie sich genüsslich neben mir im Bett räkelte. Wie sie sich langsam zu mir beugte, ihre Lippen verlangend auf meine presste . . .

»Ich mache das hier wirklich gern«, antwortete ich mit leicht kratziger Stimme. »Ein bisschen soziales Engagement kann mir wohl nicht schaden.« Dass ich mit der Hoffnung hergekommen war, sie hier zu treffen, musste ich ihr ja nicht auf die Nase binden. Zumal mir diese Erkenntnis selbst erst heute Morgen beim Zähneputzen gekommen war. Da war mir mit einem Schlag aufgegangen, warum ich so hibbelig war wie Annika am Abend vor ihrem Geburtstag: Ich freute mich darauf, Maren zu sehen. Auch wenn ich nicht sicher sein konnte, dass sie überhaupt auftauchen würde. Aber allein die Hoffnung darauf hatte mich veranlasst, fröhlich pfeifend zum Kindergarten zu fahren.

»Brauchen Sie hier Hilfe?«, erkundigte sich Maren. »Lena hilft drinnen mit ein paar anderen Kindern der Kindergärtnerin, aber ich würde ehrlich gesagt lieber draußen arbeiten. Man muss das schöne Wetter schließlich ausnutzen. Es gibt ja so wenige wirklich angenehme Tage. Entweder es ist zu heiß oder zu kalt, oder es regnet. Heute ist es aber wirklich wunderschön draußen. Diese frische Luft . . . Also, kann ich hier irgendwas tun?«

»Gern.« Ich strahlte, als hätte ich eben den Hauptpreis an der Losbude gewonnen.

Hochkonzentriert erklärte ich dann einer ebenfalls strahlenden Maren, was wir zu tun hatten. Sie packte kräftig mit an, und für die nächsten Stunden verwandelten wir das wuchernde Gestrüpp in etwas, das man tatsächlich als Hecke bezeichnen konnte. Im Eifer des Gefechts kam es hin und wieder vor, dass wir uns zufällig berührten. Dann zuckte ich jedes Mal wie vom Blitz getroffen zusammen. Was war denn nur mit mir los?

Tief drinnen wusste ich es natürlich. Ich war scharf auf sie. Aber ich verbot mir, diesen Gedanken allzu deutlich an die Oberfläche dringen zu lassen. Sie war schließlich hetero – was brachte es da, mir Hoffnungen zu machen.

Endlich fand sich kein Zweig mehr, den wir noch hätten stutzen können. Maren stöhnte auf und wischte sich über die Stirn. »So, nun noch die letzten Abfälle zusammentragen . . .«

»Erst eine Pause, bitte«, flehte ich. »Ich bin körperliche Arbeit einfach nicht mehr gewöhnt.« Obwohl es bedeckt und nicht zu heiß war, schwitzte ich wie im Hochsommer. Erschöpft ließ ich mich neben einem Baum ins Gras plumpsen. Maren holte uns zwei Flaschen Wasser und setzte sich neben mich.

»Auf die gute Zusammenarbeit«, prostete sie mir zu, nachdem sie mir eine der beiden Flaschen gereicht hatte.

Doch anstatt zu trinken, beobachtete ich sie, wie sie die Flasche zum Mund hob und genüsslich die Augen schloss. Ihr Haar wirkte wild und unordentlich, weil sie sich während der Arbeit ständig mit den schmutzigen Händen hindurchgefahren war. Ihre Stirn hatte ein paar dunkle Flecken abbekommen. Ich musste mich sehr beherrschen, ihr nicht eine verirrte Strähne hinters Ohr zu streichen und das Gesicht sauberzuwischen.

»Gar nicht durstig?«

Ich fuhr zusammen. Wie lange hatte Maren mich schon dabei beobachtet, wie ich sie anstarrte?

»Oh, ähm, ja, doch. Doch, klar.« Hastig setzte ich die Flasche an und wollte trinken, doch irgendwie verfehlte ich meinen Mund und schüttete mir das Wasser stattdessen über das Hemd.

»Mist! Was bin ich nur für ein Tollpatsch!« Ungläubig starrte ich mein durchnässtes Oberteil an.

Maren hatte scheinbar mehr Erfahrung mit solchen Missgeschicken, denn sie griff sofort in ihre Hosentasche und zauberte eine Packung Taschentücher hervor. Eilig nahm sie eines heraus und tupfte mein Hemd damit trocken. Dummerweise war der nasse Fleck genau über meinen Brüsten – und exakt an dieser Stelle rubbelte Maren nun an mir herum. Ich wollte sie stoppen, sie fragen, ob sie sich nicht im Klaren darüber war, was sie da machte, oder eine flapsige Bemerkung machen und so tun, als sei es das Normalste der Welt, dass sie mir über die Brüste rieb. Egal was, aber ich musste unbedingt irgendetwas sagen. Stattdessen saß ich einfach nur da, gelähmt, wie das Kaninchen vor der Schlange, bettelte geradezu darum, gefressen zu werden. Mein Körper war von der einen Sekunde zur nächsten zu Stein erstarrt. Und so saß ich an diesen Baum gelehnt und ließ es zu, dass Marens Berührungen elektrische Stöße durch mich hindurchjagten und meinen ganzen Körper knistern und prickeln ließen.

Endlich, nach einer halben Ewigkeit der kribbelig-süßen Folter, ließ sie von mir ab. Geschäftig suchte sie mein Hemd nach weiteren Spuren ab, die sie trocknen könnte. Dabei fiel ihr scheinbar endlich auf, wo sie gerade minutenlang an mir herumgewischt hatte.

»Als wäre nichts passiert«, sagte sie ein wenig zu laut und lächelte mich fröhlich an. Das Lächeln wirkte allerdings etwas aufgesetzt.

Meinte sie damit den Wasserfleck oder etwas anderes? Darüber grübelte ich einen Augenblick nach, bevor ich mich artig bedankte und schwungvoll aufstand. »Lassen Sie uns den Rest zusammentragen«, schlug ich vor. »Meine müden Knochen wollen in die Badewanne und anschließend ins Bett.«

Tatsächlich war es bereits später Nachmittag. Wir hatten stundenlang zusammen geschuftet und kaum bemerkt, wie die Zeit verflogen war. Zwar war Lena ab und zu vorbeigekommen, um nach ihrer Mutter zu sehen, doch sie fand immer wieder jemanden, mit dem sie etwas Spannenderes arbeiten konnte als bei uns.

Seufzend drückte ich Maren einen der leeren Säcke in die Hand und bat sie, ihn für mich aufzuhalten. Während sie das tat, stopfte ich die letzten kleinen Zweige hinein, die noch herumlagen. Doch ich war nicht wirklich bei der Sache. Meine Gedanken wanderten immer wieder zu der Szene unter dem Baum, als sie mein Hemd trockengerubbelt hatte. Meine Vorstellung spann die Szene ganz von selbst weiter: Ich zog sie einfach in meinen Arm und küsste sie. Dann schlichen wir uns hinter das Gebüsch, wo sie mir leidenschaftlich mein Hemd aufknöpfte . . .

»Aua!«

Marens erschrockener Schrei holte mich schlagartig in die Wirklichkeit zurück.

»Was ist . . .?« Noch während ich die Frage aussprach, sah ich das Unheil. Ich war so in meinem Tagtraum versunken gewesen, dass ich beim Versuch, die stachligen Zweige in den Sack zu stecken, mit einem davon an Marens Hand hängen geblieben war. Sie hatte den Sack auf den Boden fallen lassen und starrte auf ihre Hand. Blut war daran zu sehen.

»Verdammt«, schimpfte ich mit mir selbst. »Ich bin heute so was von schusselig!« Nun war ich diejenige, die in den Taschen nach einem Taschentuch kramte.

»Hier . . .« Ich hielt Maren das Tuch unter die Nase, doch als sie nicht danach griff, übernahm ich die Arbeit selbst. Vorsichtig tupfte ich erst das Blut von Marens Hand und presste das Taschentuch dann auf die Wunde. Erleichtert stellte ich fest, dass es sich nur um einen kleinen Kratzer handelte, der inzwischen auch kaum noch blutete.

»Ist zum Glück nur halb so schlimm«, erklärte ich Maren, während ich die Wunde begutachtete. Wenn sie wüsste, dass sie diesen Kratzer nur meinen irrwitzigen Phantasien zu verdanken hatte!

»Danke, meine Heldin.« Maren lächelte mich an. Ich fragte mich, wo sie wohl in den letzten Sekunden mit ihren Gedanken gewesen war. Dann beugten wir uns beide gleichzeitig wieder über ihre Hand. Unsere Köpfe berührten sich ganz leicht. Ich fuhr zurück.

»Es tut mir leid«, sagte ich leise und blickte dabei weiter starr auf Marens Hand, die ich sanft in meiner hielt.

»Es war meine Schuld«, antwortete Maren ebenso leise. »Ich hab vor mich hin geträumt und nicht aufgepasst.«

Ich wagte einen kurzen Blick nach oben. Genau in diesem Moment schaute auch Maren mich verstohlen an. Ihr Gesicht bekam einen kleinen Rotstich, und ich musste schnell wieder wegblicken. Mein Herzschlag setzte eine Sekunde aus und galoppierte dann in doppelter Geschwindigkeit weiter.

»Wir sollten das wohl sicherheitshalber drinnen kurz auswaschen«, schlug ich vor und bemühte mich, meine Stimme ganz normal und unbekümmert klingen zu lassen.

»Okay.«

Schweigend gingen wir nebeneinander ins Innere des Hauses. Während Maren ihre Hand reinigte, organisierte ich ein Pflaster und verarztete die Wunde anschließend. Ich spürte einen Stich des Bedauerns, als das Pflaster an Ort und Stelle saß und ich Marens Hand endgültig loslassen musste. Bildete ich es mir nur ein, oder zögerte sie ein wenig, als sie sie zurückzog?

Unterdessen löste sich die Gruppe der Helfer nach und nach auf. Annika erweckte den Eindruck, als würde sie jeden Augenblick im Stehen einschlafen. Uwe und Maria packten das erschöpfte Mädchen ins Auto, nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten. Dann brausten sie los, und ich blieb allein mit Maren und Lena am Straßenrand zurück. Ich hätte mich jetzt auch von ihr verabschieden und in mein Auto steigen sollen, aber ich merkte, dass ich nicht wollte. Viel lieber hätte ich den Abend in Marens Nähe verbracht. Sie kennengelernt, mit ihr geplaudert.

Schon klar! Wie war das vorhin? Hinter die Büsche hättest du sie am liebsten gezerrt, zog mich eine kleine Stimme in meinem Kopf auf. Um dann noch mit Nachdruck hinterherzuschieben: Eine Heterofrau!

Na und?, wehrte ich mich. Was spricht dagegen, einfach befreundet zu sein?

Noch bevor die kleine Stimme mich hämisch auslachen konnte – und ich war sicher, dass sie genau das tun würde –, rettete Lena mich.

»Mami, krieg ich jetzt mein Eis?« Bei ihr war von Müdigkeit nicht viel zu sehen.

»Ach, Schatz, jetzt ist es doch schon so spät. Beinahe schon Zeit fürs Abendbrot.«

»Aber du hast gesagt, ich krieg ein Eis, wenn ich brav bin.«

»Ja, aber . . .«

»Du hast es versprochen!«

Inzwischen war Maren in die Hocke gegangen und redete auf Lena ein. »Du hast ja recht«, gab sie zu. »Ich habe es versprochen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das hier so lange dauern wird. Und schau, wir müssten doch zuerst auf den Bus warten und dann in die Stadt fahren. Das wird viel zu spät.«

Sie sah ihre Tochter hoffnungsvoll an und wartete offenbar auf ein Zeichen der Einsicht, aber Lena blieb gänzlich unbeeindruckt. Was ich ehrlich gesagt auch nachvollziehen konnte. Wenn ein kleines Kind sich auf ein Eis freut, dann braucht man ihm nicht mit logischen Erklärungen zu kommen, warum es jetzt doch keines bekommen soll.

»Du hast es aber versprochen!«, beharrte sie.

Maren stand wieder auf und sah mich müde an. »Dann werde ich mein Versprechen wohl halten müssen«, sagte sie zu mir. »Es war nett, mit Ihnen zu arbeiten.«

Lächelnd deutete ich auf den Kratzer an ihrer Hand: »Kann ich das wiedergutmachen? Ich möchte mich nicht aufdrängen oder so. Aber ich hätte auch große Lust auf ein Eis, und wir stehen direkt vor meinem Auto. Also, wenn die beiden Damen möchten, fahre ich sie gern zur Eisdiele.«

»Das müssen Sie wirklich nicht machen«, erklärte Maren nüchtern und sehr bestimmt.

Ein Schlag in den Magen hätte sich ungefähr genauso angefühlt. »Ja . . . gut . . . wie gesagt . . . ich wollte mich nicht aufdrängen.« Vielleicht erwartete irgendein Typ die beiden. Auch wenn Lenas Aussage neulich am Mittagstisch ziemlich eindeutig darauf hatte schließen lassen, dass es keinen Mann in Marens Leben gab. Aber was hieß hier schon »neulich« – so eine attraktive Frau bekam bestimmt täglich Anfragen für ein Date.

Ich war schon halb um den Wagen herum zur Fahrertür geschlurft, als ich Maren sagen hörte: »Aber Sie drängen sich doch nicht auf. Ich wollte Sie nur nicht von Ihrem wohlverdienten heißen Bad abhalten.«

Wir blickten uns über mein Auto hinweg an. Ich hatte Mühe, meine Freude nicht allzu deutlich zu zeigen, aber Maren wirkte ängstlich. Als hätte sie mich unbeabsichtigt vor den Kopf gestoßen und sei sich nun nicht sicher, ob ich sah, dass es nur ein Missverständnis war. Ich gestattete mir, noch etwas breiter zu lächeln, und nickte ihr aufmunternd zu. »Dann auf zur Eisdiele.«

Lena stieß einen Freudenschrei aus und krabbelte auf den Rücksitz. Dank Annika hatte ich stets einen Kindersitz im Auto. Nachdem Maren ihr Kind sicher angegurtet hatte, rutschte sie auf den Beifahrersitz. Wir einigten uns auf ein Eiscafé, und ich steuerte den Wagen vorsichtig aus der Parklücke.

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, doch da die Eisdiele innerhalb der Fußgängerzone lag, mussten wir den Wagen ein Stück davor abstellen und den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Obwohl Lena wohl am liebsten losgerannt wäre, lief sie tapfer an der Hand ihrer Mutter. Maren wirkte merkwürdig nervös. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass ihr Blick hin und her ging, als versuche sie mit den Augen die Fußgängerzone zu scannen. Ich hatte nur keinen blassen Schimmer, wonach sie suchte.

Gerade als ich den Mund öffnete, um ihr mit einem lockeren Spruch etwas die Anspannung zu nehmen, schoss ein Skateboardfahrer ums Eck und hätte uns beinahe über den Haufen gefahren.

»Pass doch auf, du Idiot«, rief ich ihm wütend hinterher.

Ich drehte mich zu Maren um. Diese war in die Hocke gegangen und drückte Lena fest an sich. Ich konnte sehen, wie sie zitterte.

»Hat er Sie erwischt?«, fragte ich erschrocken. »Oder Lena?«

»Nein«, antwortete sie mit bebender Stimme. »Nein.« Dann räusperte sie sich. »Ich hab nur einen Schreck bekommen.«

Skeptisch blickte ich von ihr zu Lena. Diese Reaktion schien mir für nur einen Schreck bekommen doch ein bisschen extrem.

»Mami, du tust mir weh«, meldete sich nun auch die Kleine zu Wort. »Drück nicht so arg.«

Peinlich berührt ließ Maren ihre Tochter los und richtete sich langsam auf. Mein Magengrummeln, das mir sagen wollte, dass hier irgendwas nicht stimmte, wurde immer lauter.

»Jetzt wieder alles gut?«, fragte ich vorsichtig, als von ihr nichts weiter kam.

Maren schloss für ein paar Sekunden die Augen, dann atmete sie tief durch und lächelte mich schief an. »Entschuldigen Sie bitte. Mein Beschützerinstinkt ist manchmal wohl etwas übertrieben. Aber Lena ist alles, was mir geblieben ist.«

Ich legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Arm. Sie wirkte immer noch aufgewühlt. »Eis?«, fragte ich. Am liebsten hätte ich sie einfach in den Arm genommen, getröstet, sie gefragt, was in aller Welt sie so quälte. Und wer weiß, vielleicht hätte ich den Mut dazu sogar aufgebracht, wenn wir nicht mitten in der Fußgängerzone gestanden hätten.

Das Lächeln, das Maren mir diesmal schenkte, war wesentlich offener und ehrlicher als das von gerade eben. »Eis!«, bekräftigte sie, und ich nahm widerwillig meine Hand von ihrem Arm.

Nachdem wir unsere Eisbecher verdrückt hatten, brachte ich die beiden nach Hause. Inzwischen hatte die Müdigkeit auch Lena eingeholt. Sie war tatsächlich auf der kurzen Fahrt eingeschlafen.

»Soll ich sie hochbringen?«, bot ich mich an, nachdem ich vor ihrem Haus geparkt hatte und Lena immer noch keine Anstalten machte, wieder wach zu werden.

»Das wird schon gehen, danke. Aber könnten Sie mir vielleicht helfen, sie aus dem Auto zu heben?«

»Aber sicher.« Ich stieg aus dem Auto, öffnete Lenas Tür, schnallte sie ab und hob sie aus ihrem Sitz. Maren stand schon empfangsbereit mit offenen Armen da, als ich mich umdrehte. So behutsam wie möglich übergab ich ihr ihre schlafende Tochter. Maren griff nach der Kleinen, landete dabei aber mit ihrer Hand direkt auf meiner. Ich hatte keine Ahnung, ob es Absicht war oder Zufall, doch in diesem Augenblick spielte das keine Rolle für mich. Denn sie nahm ihre Hand nicht gleich wieder weg. An Lena vorbei suchte sie meinen Blick, und mit ernster Miene sahen wir uns in die Augen, versanken geradezu darin.

Nach einer gefühlten Ewigkeit flüsterte ich: »Dann werde ich mich mal auf den Heimweg machen.«

»Viel Spaß in der Badewanne«, flüsterte Maren ebenso leise. Doch ihr ernster Ausdruck war einem frechen Grinsen gewichen.

»Den werde ich haben.« Ich grinste nicht weniger frech zurück und stieg wieder in mein Auto, das Lächeln immer noch im Gesicht.

Mit beschwingten Schritten stieg ich gut eine Wochen später mit Annika an der Hand die Treppen zu Marens Wohnung hoch. Annika war kaum zu bremsen, obwohl sie sich erst vor kurzem im Kindergarten von Lena verabschiedet hatte. Sie zog und zerrte an mir, seit wir aus dem Auto gestiegen waren. Wahrscheinlich wäre es einfacher gewesen, ihre Hand loszulassen, doch ich hielt mich krampfhaft daran fest.

Mit jedem Schritt beschleunigte sich mein Herzschlag, und das lag nicht etwa an den vielen Stufen und meiner schlechten Kondition. Oder höchstens zu einem kleinen Teil. Die Hauptursache waren Vorfreude, Aufregung, Nervosität – alles zusammen. Und genau deshalb brauchte ich Annika: als Schutzschild. Hätte ich sie einfach laufen lassen, wäre sie längst an der Wohnungstür angekommen, hätte geklingelt und wäre mit Lena in deren Zimmer verschwunden, noch ehe ich den letzten Treppenabsatz erreicht hätte. Und dann müsste ich Maren allein gegenüberstehen und wüsste nicht, was ich sagen sollte. Mit einer aufgekratzten Annika an der Hand würde sich die Verlegenheit viel leichter abfangen und überspielen lassen, und um das Gesprächsthema müsste ich mir auch keine Sorgen machen.

So in Gedanken vertieft, hatte ich gar nicht bemerkt, dass wir inzwischen vor der Wohnungstür standen. Annika hatte offenbar bereits geklingelt, denn plötzlich öffnete sich die Tür vor meiner Nase, und Maren strahlte erst mich, dann Annika an. Etwas unbeholfen zog sie mich in ihre Arme, flüsterte mir ein »Bitte helfen Sie mir!« ins Ohr und sagte dann etwas lauter: »Schön, dass Sie da sind.«

Verlegen löste ich mich aus der Umarmung und wollte Annika dazu auffordern, Maren Hallo zu sagen. Doch die war bereits mit großem Getöse in Lenas Zimmer empfangen worden. Von wegen fremdeln und schüchtern, dachte ich mir und schüttelte den Kopf.

Dann wurde mir bewusst, dass Marens Parfüm mich noch immer in der Nase kitzelte und dass mein ganzes Konzept von der coolen Tante mit ihrer Nichte an der Hand vollkommen zunichtegemacht worden war. Etwas hilflos schaute ich in die Richtung, in die Annika verschwunden sein musste.

»Sie wissen doch, dass die beiden es kaum eine Minute ohne einander aushalten«, lachte Maren, als sie meinen Blick bemerkte.

»Sieht wohl so aus.«

»Oh, Sie können ja zum Glück doch noch sprechen. Da bin ich jetzt aber sehr beruhigt.« Schelmisch blitzten Marens Augen mich an.

Mir war bis zu dem Moment nicht aufgefallen, dass ich noch keinen Ton von mir gegeben hatte. Aber es war auch alles ein bisschen viel gewesen. Erst das Herzklopfen, dann Marens Berührung und die seltsamen Worte »Bitte helfen Sie mir«, die nicht wirklich einen Sinn ergaben, und dann auch noch der Verlust meines Schutzschildes, sprich Annika.

Ich stammelte: »Oh, ja . . . hallo. Entschuldigung, ich war etwas . . . in Gedanken. Ich freue mich auch, dass ich hier bin.«

»Ob Sie das nach ein paar Minuten mit den anderen Müttern auch noch so sehen, wage ich zu bezweifeln«, flüsterte Maren so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.

Leider erwiesen sich ihre Zweifel als begründet. Die Vorstellung bei den drei Frauen, die in der Küche versammelt waren, glich einem Spießrutenlauf. Ich wurde von oben bis unten begutachtet, und meine legere Kleidung schien keinen großen Zuspruch zu finden, den kühlen und auch etwas missbilligenden Blicken nach zu urteilen. Das aufgesetzte Lächeln von allen Seiten strafte die höflichen Floskeln wie »Nett, Sie kennenzulernen« Lügen. Wie die Geier fielen sie über mich her und bombardierten mich mit Fragen zu meinem Privatleben. Viel lieber wäre ich bei Lena im Zimmer geblieben, nachdem ich ihr auf dem Weg in die Küche zum Geburtstag gratuliert hatte, und hätte mit den Kindern gespielt.

»Junge Frau«, sprach mich gerade eine aufgestylte Dame an. So wie sie sich benahm und wie sie ihre Worte wählte, war es schwer zu glauben, dass sie eine Tochter im Kindergartenalter hatte. Vielleicht war sie ja auch die Oma . . . Ob ich sie darauf ansprechen sollte? »Sie sind also die Tante von der kleinen Annika. Haben Sie selbst auch Kinder?«

»Nein, ich . . .«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein, das . . .«

»Das ist gut«, fuhr sie ungerührt fort. »Natürlich nicht die Tatsache, dass Sie in ihrem Alter noch keinen Mann gefunden haben. Aber wenigstens sind Sie so klug, in so einer ungewissen Situation auf Kinder zu verzichten.«

Mutig wagte ich einen neuen Versuch: »Ich glaube nicht, dass . . .« Weiter kam ich aber nicht, denn es folgte eine Moralpredigt, die gespickt war mit Seitenhieben auf Maren und Kommentaren, die aus dem Mittelalter hätten stammen können.

Um Himmels willen, wo war ich hier nur gelandet? Ein paar Jahrhunderte in der Vergangenheit vielleicht, ohne es zu merken? Zum Glück rettete eine hungrige Kindermeute Maren und mich davor, uns die Ansprache bis zum Ende anhören zu müssen.

»Ihr wollt Kuchen?«, fragte Maren die Kinder mit einem so strahlenden Lächeln, dass ich richtig neidisch wurde, weil dieses Strahlen nicht mir galt.

»Jaaa!«, brüllten sie im Chor. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie laut fünf kleine Kinder sein konnten, wenn sie hungrig und aufgedreht waren.

Annika zerrte an meiner Hand und sprudelte begeistert hervor: »Tweniah, Lena hat die neue Barbiepuppe zum Geburtstag bekommen. Die, die ich auch haben will. Die ist echt so toll.« Sie zog mich an der Hand ins Wohnzimmer und flüsterte verschwörerisch: »Und Lena hat gesagt, dass sie mich später damit spielen lässt. Aber erst, wenn die anderen weg sind, sonst sind sie eipfersüchtlich.«

Ich verkniff mir das Lachen, so gut es ging, und berichtigte sie: »Süße, das heißt eifersüchtig.«

»Worauf ist deine liebe Tante denn eifersüchtig?«, fragte eine Stimme hinter mir. Zu meiner großen Erleichterung war es Maren, die den Kopf durch die Tür steckte und mich belustigt anlächelte.

»Ich bin eifersüchtig auf Annika, die sich einfach so mit Lena in ihrem Zimmer vor den bösen Frauen verstecken kann«, gab ich leise zu, halb im Spaß, halb im Ernst. Dann fügte ich mit einem strafenden Blick hinzu: »Sie hätten mich ruhig warnen können!«

»Oh, war mein Bitte helfen Sie mir an der Tür nicht deutlich genug?« Lachend fuhr sie sich durchs Haar.

»Ach, das haben Sie damit gemeint. Jetzt wird mir einiges klar.« Ich grinste. Etwas ernster sprach ich dann weiter: »Sie dürfen sich so was wohl öfter anhören, weil sie alleinerziehend sind?«

»So ist es. Und es kommt noch erschwerend hinzu, dass sie nicht wissen, wer der Vater ist, wo er ist, was er tut und warum sie ihn nie zu Gesicht bekommen.« Maren hob ein wenig die Schultern, als ließe sie das alles kalt. Aber ein wenig traurig wirkte sie nun doch. Was allerdings auch an den Klatschweibern liegen konnte, die gerade ihre Kinder in der Küche zu bändigen versuchten.

»Ich bin es einfach leid, mich immer wieder für mein Privatleben rechtfertigen zu müssen«, murmelte sie, schon wieder halb in Richtung Küche gewandt. »Aber damit hätte ich wohl vorher rechnen können. Zum Glück spielen solche Überlegungen bei so einer Entscheidung keine Rolle.«

Während ich versuchte, ihren doch sehr seltsam klingenden Worten einen Sinn zu geben, zerrte meine Nichte auch schon wieder an mir. Sie wollte endlich ihren Kuchen essen, aber allein traute sie sich nicht in die Küche. Was ich durchaus verstehen konnte.

»Keine Sorge«, wisperte Maren, bevor wir die Küche wieder betraten. »Die sind sofort nach dem Kuchenessen weg. Schließlich muss das Essen auf dem Tisch stehen, sobald die Ehemänner die Wohnung betreten.«

Am Küchentisch waren die Damen damit beschäftigt, ihre Kinder mehr oder weniger mit dem Kuchen zu füttern. Maren und ich hingegen ließen unsere zwei Mädchen drauflosmampfen, auch wenn mal was danebenging. Schließlich waren sie noch Kinder, und noch dazu war dies ein Kindergeburtstag, kein Besuch bei der Queen Mum.

»Wann stellen Sie uns denn nun endlich mal Lenas Vater vor?«, wollte die Aufdringlichste des nervigen Trios von Maren wissen. Da diese gerade den Mund voll hatte und, wie mir schien, bewusst langsam kaute, fühlte ich mich verpflichtet, sie etwas aus der Schusslinie zu nehmen.

»Apropos Vater!« Ich sprach etwas lauter als sonst, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Da mir das exzellent gelang, konnte ich nun in einer normalen Lautstärke weitersprechen: »Kennen Sie Uwe, Annikas Vater? Er ist mein Bruder, wie Sie vielleicht wissen. Ich hätte ja nie gedacht, dass er einmal ein so toller Vater werden würde. Als wir noch zu Hause lebten, war er ein kleiner Macho, der sich von vorn bis hinten bedienen ließ. Aber seit er mit Maria zusammen ist, hat sich das radikal geändert. Er hilft so viel im Haushalt und verbringt so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie.«

Ich hatte mein Ziel erreicht. Es herrschte angespanntes Schweigen. Wahrscheinlich verglichen die drei gerade ihre Männer mit meinem Bruder – und da ich ihn viel besser dargestellt hatte als er in Wirklichkeit war, schnitten diese dabei ganz bestimmt recht schlecht ab.

Nach kurzer Zeit fing sich eine der Mütter wieder und fragte spitz nach: »Wo ist denn der tolle Papa heute?«

»Ach, das ist ja das Tollste überhaupt«, fuhr ich ungerührt fort. Insgeheim hatte ich auf genau diese Zwischenfrage gehofft. »Er ist nicht nur der beste Vater, den man sich vorstellen kann, sondern auch noch der wunderbarste Ehemann! Hin und wieder entführt er seine Frau zu einem romantischen Wochenende, natürlich unabhängig von den vielen Ausflügen, die sie zu dritt unternehmen. Er ist ja soooo romantisch«, schwärmte ich, bevor ich zum finalen Schlag ausholte: »Wissen Sie, ehrlich gesagt finde ich, dass man als Frau gewisse Ansprüche stellen sollte. Wenn ich mir einen dieser Machos als Ehemann vorstelle, wo das Essen pünktlich auf dem Tisch stehen muss, der Haushalt und die Kinder allein Sache der Frau sind, nein, ganz ehrlich, da sind wir ohne Mann doch viel besser dran, finden Sie nicht auch?«

Betretenes Schweigen war die Antwort. Keine der Damen konnte mir in die Augen sehen. Nur Maren blinzelte mich amüsiert an.

»Aber heutzutage duldet ja zum Glück keine Frau mehr so ein Verhalten bei ihrem Partner.« Mit dieser Feststellung lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Nervös rutschten meine Opfer auf ihren Stühlen herum. »Huch, schon so spät? Es wird Zeit für mich . . . ich muss . . . kochen. Für Michelle . . . Die Kleine braucht ihre festen Zeiten . . . und sie . . . also, mein Mann will ja auch noch etwas von ihr haben, bevor ich sie . . . er sie . . . ins Bett bringe, äh, bringt.«

Wie auf Kommando sprangen die drei auf und sammelten ihre Kinder ein.

»Vielen Dank, Maren, es war wie immer sehr nett bei Ihnen.« Ein letzter unsicherer Gruß in meine Richtung, und Sekunden später herrschte eine angenehme Stille.

»Sie sind weg«, seufzte Maren erleichtert auf. »Wow, diesen Trick muss ich mir fürs nächste Mal merken.«

Ich lächelte verlegen und fing schnell an, den Tisch abzuräumen. Schließlich musste Maren mein rotes Gesicht nicht unbedingt sehen. In Marens Gegenwart schien ich ständig vor Verlegenheit zu erröten, vor allem in ihrer alleinigen Gegenwart. Etwas Gutes hatte die Gesellschaft der drei Schnepfen offenbar doch gehabt.

Von der Tür aus beobachtete Maren mein wildes Treiben. Ich wagte ein kurzes Blinzeln in ihre Richtung und landete direkt in ihren Augen.

»Danke«, sagte sie, als sie meinen Blick auffing, und ihr Tonfall hatte schon beinahe etwas Zärtliches an sich.

Ich musste mich von ihr losreißen, schnell, um antworten zu können. Also schnappte ich das Geschirr und trug es zur Spüle. Mit dem Rücken zu Maren fühlte ich mich stark genug, zu sprechen. »Ach, die paar Teller, das ist doch kaum der Rede wert.«

Ich spürte, dass sie inzwischen direkt hinter mir stand – verdammt nah hinter mir. Wie lange konnte ich das Umdrehen wohl hinauszögern? Wollte ich das überhaupt? Ich genoss ihre Nähe. Und doch kam ich immer wieder an den Punkt, wo es mir zu viel wurde, meine Gefühle mich zu überwältigen drohten. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich mich über kurz oder lang in sie verlieben. Eher kurz als lang. Und das wäre das Letzte, was ich in meinem Leben gebrauchen könnte: verliebt in eine Heterofrau mit Kind. Ich würde die Abfuhr meines Lebens bekommen.

»Doch nicht für die schmutzigen Teller.«

Ich runzelte die Stirn und drehte mich nun doch zu ihr um, früher als geplant. Sie war in der Tat viel zu nah. Und ihre Augen waren viel zu liebevoll, ihre Lippen viel zu . . .

»Ich spreche davon, wie du mich vor den drei Cruellas in Schutz genommen hast. Du hast sie wie die Hyänen über dich herfallen lassen, nur um von mir abzulenken. Dafür wollte ich mich bedanken.« Dann fügte sie noch etwas schüchtern hinzu: »Das war sehr nett von dir.«

Ihr Blick löste sich von meinem, und sie lächelte verlegen einen scheinbar äußerst wichtigen Punkt auf dem Fußboden an. »Vor lauter Dankbarkeit bin ich wohl aus Versehen ins Du abgerutscht. Entschuldigung.«

Geschäftig trat ich zur Seite, um die restlichen Gläser vom Tisch zu holen. Eine Sekunde länger so nah neben ihr, und ich hätte sie in meine Arme gezogen. Sie sah so unbeschreiblich süß aus, wenn sie verlegen war.

»Das ist mir ehrlich gesagt auch viel lieber so«, besiegelte ich unsere Brüderschaft. »Abgesehen davon, dass es kein Abrutschen ist. Eher ein Aufstieg.« Ich lächelte die Tischplatte an, ehe ich mich Maren wieder zuwenden konnte.

»In der Tat. Welch ein Aufstieg, von der Kindergartenbekanntschaft zur Küchenhilfe.« Sie warf lachend den Kopf nach hinten. »Wohin dich dieser Aufstieg wohl noch führt?«

Oh, dazu wäre mir einiges eingefallen.

»Musst du auch schon los?«, fragte sie plötzlich mit großen, ernst und fast ängstlich blickenden Augen.

»Nein«, wollte ich sagen, doch meine Stimme war lediglich ein Krächzen. Deshalb schüttelte ich stattdessen den Kopf.

Marens Antwort war ein strahlendes Lächeln, noch strahlender als das, das sie den Kindern vorhin geschenkt hatte. »Da werden Lena und Annika sich aber freuen.« Allerdings verrieten mir ihre Augen, dass sie selbst sich nicht minder darüber freute.

Nachdem wir die Küche saubergemacht hatten, gab es zur Belohnung ein Glas Sekt im Wohnzimmer. Maren erzählte mir, wie schrecklich diese Geburtstage für sie immer waren, doch sie wollte Lena nicht das Vergnügen rauben, mit ein paar anderen Kindern zu feiern. Und so musste sie die Mütter wohl oder übel in Kauf nehmen.

»Hast du sonst noch Familie?«, wollte ich wissen. »Geschwister? Oder was ist mit deinen Eltern, kommen sie nicht zu Lenas Geburtstagen?«