Fancynien - Tina Reinhardt - E-Book

Fancynien E-Book

Tina Reinhardt

0,0

Beschreibung

Drachen gibt es auf dem Planeten Fancynien nicht. Oder doch? Für die Menschen sind es nur Fabelwesen. Auch der jungen Sira von Drachenfels geht es so. Das ändert sich eines Tages ganz plötzlich, als sie sich selbst unter qualvollen Schmerzen in ein solches Wesen verwandelt. Am nächsten Morgen erwacht sie ... als Mensch. War das alles nur ein Traum? Verliert sie jetzt den Verstand oder sollte sie nur etwas weniger Alkohol trinken? Sie ahnt nicht, dass dies erst der Anfang ihrer Geschichte ist und viele Schwierigkeiten auf sie warten. Sira steht vor dem Beginn eines ganz neuen Lebens und du kannst sie auf ihrer Reise begleiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin:

Tina Reinhardt wurde 1988 in Gera geboren. Heute lebt sie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Seit 2015 leitet sie eine kleine Textagentur und hat das Schreiben zum Beruf gemacht. Im gleichen Jahr entschied sie sich, ihren ersten Roman zu verfassen – „Liebe ist unvergänglich“. Dieser wurde im Juni 2017 veröffentlicht. Im Sommer 2016 wurde ihre erste Kurzgeschichte „Das Strandhaus“ in der Anthologie „Sommer und mehr“ veröffentlicht. Tina Reinhardt schreibt und veröffentlicht heute Geschichten aus dem Genre Liebesroman und aus dem Fantasy-Bereich.

Kartenauszug

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

DANKE

Ich danke

Weitere Romance von Tina Reinhardt

Ausfullbucher von Tina Reinhardt

Prolog

Der Planet Fancynien liegt weit entfernt von der Erde. Magie schlummert im Kern dieser Welt und ist in jeder Pflanze, jedem Tier enthalten. Bevölkert wird der Planet von Drachen und vielen verschiedenen Tieren. Einige davon sind auf der Erde bekannt, andere nicht. Neben magischen Wesen nennen aber auch Menschen Fancynien ihr Zuhause. Vor vielen hundert Jahren sorgte eine Planeten-Sonnen-Monde-Konstellation dafür, dass sich mystische Portale öffneten. Sie suchten sich einen reich besiedelten Planeten und schufen einen Zugang zur Erde. So gelangten einige irdische Menschen und Tierarten nach Fancynien. Nachdem sich die Planeten weiterbewegt hatten, hatten sich auch die Portale geschlossen. Für die Menschen gab es keinen Rückweg. So kam es, dass nichtmagische Wesen auf einem völlig unberührten Planeten landeten. Dort entwickelten sie sich weiter. Aufgrund naturgegebener Umstände veränderten sich im Laufe der Generationen die Sprache und das Aussehen der Wesen. Sie wurden bunter.

Der Aufbau der Zivilisation geschah ähnlich, wie auf der Erde, hatte aber seine Eigenheiten. Menschen mussten sich den Planeten mit Drachen teilen. Doch es entstand Krieg, der nur durch eine Teilung der Welten beendet werden konnte. Nun leben die Drachen im Verborgenen. Eine magische Kraft hält die Menschen von ihnen fern. Legenden lassen die Wesen bis heute in den Köpfen der Menschen verharren, doch nur wenige glauben noch an ihre tatsächliche Existenz.

Schließlich beginnt die Geschichte der jungen Sira. Ein Mädchen, das sich euch selbst vorstellen möchte. Begleitet sie auf ihrer unglaublichen und fantastischen Reise durch eine ihr bisher unbekannte Welt.

1. Kapitel

„In fünf Minuten müssen wir rein, bis dahin wird uns doch etwas einfallen, oder?“

„Ach, wir können das doch spontan entscheiden“, gab Romy wieder.

„Bloß nicht, dann stehen wir erneut an unserem Stammplatz und diskutieren den halben Abend, was wir machen und bis ihr Mädels euch entschieden habt, sind mir die Füße abgefroren“, mischte sich Sean ein.

Ich musste lachen. „So schlimm sind wir jetzt auch nicht. Lasst uns doch einfach im Ches Billard spielen gehen. Nebenan ist ne Bar, da chillen wir, wenn wir keine Lust mehr haben, die bunten Kugeln herum zu schubsen“, warf ich ein.

„Klingt gut“, gaben meine beiden Freunde im Chor zurück.

Ich freute mich darüber, dass wir nun einen Plan hatten und ging in Gedanken meine Kleiderauswahl für den anstehenden Abend durch.

Gong...

Juhu, wir hatten uns entschieden. Gerade war das Läuten ertönt, welches unsere Pause beendet hatte. Gemeinsam mit vielen anderen Schülern verließen wir den Hof und gingen zurück ins Gebäude. Die letzten zwei Stunden warteten auf uns. Es war Freitagmittag und wir hatten noch eine Doppelstunde Geschichte des Universums vor uns. Sean und Romy waren meine besten Freunde und wir gingen in die IOC der örtlichen Reifeschule.

Doch fangen wir von vorne an: Mein Name ist Sira von Drachenfels. Mir gefiel mein Name schon immer, denn er hatte etwas Mystisches, Erhabenes. Doch meine Familie war nicht adlig. Wir lebten in einem kleinen Dorf namens Slaronia. Man hatte hier kaum Privatsphäre. Jeder kannte jeden und jeder wusste über den anderen Bescheid. Geheimnisse zu haben war schwer für diesen Ort. Allerdings störte das die wenigsten. Das Dorf glich einer großen Familie und die meisten verstanden sich bestens. Wir halfen einander, feierten große Dorffeste und plauderten, wenn wir uns auf der Straße trafen. Allerdings wohnten meine Eltern und ich in einer kurzen Seitenstraße, die in einer Sackgasse endete. Dahinter zogen sich Felder entlang, die in einen Wald übergingen. Gegenüber von unserem Haus erstreckte sich ein Spielplatz. Ein Kletterturm aus Holz mündete in einer langen Rutsche. Es gab dicke, gewundene Balken am Boden, auf denen Kinder balancieren konnten. Ein Sandkasten bot Spaß für die Kleinsten und eine künstlich erbaute Höhle führte zu fantasievollen Rollenspielen. Der Spielplatz war schön gestaltet. Die Eltern konnten im Schatten der Bäume auf Bänken sitzen und dem Nachwuchs zuschauen. Aber oft war es ruhig auf dem Gelände.

In einem unserer benachbarten Häuser lebte Willy Traughter. Er war ein Freund meines Vaters und kam ab und zu rüber. Seine Frau war vor Jahren gestorben und sein bereits erwachsenes Kind lebte in einer anderen Ortschaft. Weiterhin gehörte ein älteres Ehepaar zu unseren angrenzenden Nachbarn. Sie verließen das Haus nur selten und ich kannte sie so gut wie gar nicht. Alle paar Wochen sahen wir uns im Vorbeigehen, grüßten uns und das war es. Keine Ahnung, ob sie überhaupt wussten, wer ich bin. Außerdem hatten wir noch das ganze Gegenteil des älteren Pärchens in der Straße. Ein junger Mann war erst kürzlich zugezogen. Meine Eltern hatten ihn mit einem Willkommensgruß überrascht und ein nettes Gespräch geführt. Doch der Kerl war viel arbeiten und an seinen freien Tagen meistens nicht zu Hause. Einmal hatte er mir erzählt, sein Name wäre Hugon und er liebe die Musik. Sein Traum war es, andere Menschen mit seinen Liedern zu begeistern.

Natürlich gab es auch bei uns im Dorf schwarze Schafe. Menschen, die einem nichts gönnten oder einfach zurückgezogen für sich lebten.

In Geschichte des Universums lernten wir alles über das Weltall: Welche Sonnensysteme es gab, die Vielfalt der Planeten, sonstige Lebensformen und so weiter. Derzeit behandelten wir die Erde. Soweit wir wussten, hatte bisher noch keiner unseres Planeten die Erde betreten. Dafür war sie zu viele Lichtjahre entfernt. Doch wir erkundeten diesen Himmelskörper mit kleinen Sonden, die die Menschen auf der Erde scheinbar noch nie bemerkt hatten. Unsere Raumfahrt war nicht so weit entwickelt, dass wir persönlich auf andere Planeten reisen konnten. Aber die Sonden waren sehr klein und konnten weit ins All geschossen werden. Wie genau sie funktionierten, wusste ich nicht. Das war nicht gerade mein Fachgebiet und ich interessierte mich eher wenig für die Technik. Ich hatte mal gehört, dass die Sonden per Zufall auf die Erde trafen. Keine Ahnung.

Auf vielerlei Art und Weise glichen sich unsere Welten, was uns so neugierig auf diesen Planeten machte. Auch die Bewohner der Erde waren Menschen, ihr Körperbau glich dem unseren. Nur waren unsere Haar- und Augenfarben vielfältiger. Außerdem gab es zwar auf Fancynien übergewichtige Leute, es waren aber recht wenige. Wir würden auf der Erde gar nicht auffallen. Selbst die Fähigkeiten ähnelten sich. Der größte Unterschied war der Glaube. Die Menschen auf der Erde hatten verschiedene Religionen und fast jede glaubte an einen Schöpfer. Wir glaubten nicht an einen Gott, waren aber dafür offener gegenüber Gedanken an Übernatürliches, wie Magie, Bestimmungen und solche Sachen. Die Menschen auf der Erde beschäftigten sich häufig mit wissenschaftlich beweisbaren Dingen. Sie hielten sich an das Geschriebene aus diversen, heiligen Schriften und an Dinge, die sie eben sehen und verstehen konnten. Gedanken an Hexerei hegten scheinbar nur wenige Erdenbewohner.

Das alles hatten wir bereits in den letzten Stunden gelernt. Heute konnten wir über eine der vielen Sonden eine Liveübertragung auf der Erde beobachten. Durch die Entfernung des Planeten war sie etwas zeitversetzt, aber aktuell genug für den Unterricht. Dabei lernten wir viel über den Alltag dort. So verging die Doppelstunde wie im Flug.

Verglichen mit den Menschen auf der Erde lebten wir etwas altmodischer. Zwar war unsere Technik sehr weit fortgeschritten, aber hier in der Gegend machten wir die Dinge lieber selbst. Handarbeit machte uns stolz auf unsere Habseligkeiten. Maschinen konnte jeder bedienen, aber selbst etwas errichten war schon besonders. Daher gab es in Slaronia nur eigens erbaute Häuser und selbst angelegte Gärten. Die Natur auf unserem Planeten glich einerseits der auf der Erde, aber sie war viel farbenfroher. Bei uns wuchsen palmenartige Bäume mit leuchtend lilafarbenen Wedeln. Manche davon hatten gelbe Tupfen. Viele Sonnenblumen zierten unsere Beete an den Wegesrändern. Ich sah sie über die Sonden auch auf dem anderen Planeten, aber unsere waren nicht nur gelb. Es gab sie außerdem in pinken, türkisen oder strahlend blauen Varianten. Selbst unsere Früchte trugen herrliche Farben. Ich glaube, auf der Erde hat noch nie jemand in einen blauen Apfel gebissen, der so saftig war, dass es einem wieder aus den Mundwinkeln lief. Unsere Äpfel wuchsen so am Baum.

* * *

Als ich daheim ankam, klingelte bereits das Haustelefon in meinem Zimmer.

„Hallo mein Schatz, wie war dein Tag?“ begrüßte mich mein Freund am Ende der Leitung.

„Hi, du bist aber früh dran, bin gerade zur Tür rein“, antwortete ich und freute mich über den Anruf von Simru. Wir plauderten eine Weile und ich fragte ihn, ob er Sean, Eomy und mich am Abend begleiten würde. Doch Simru hatte eine Sonderschicht angenommen und musste arbeiten. Drei Jahre Altersunterschied lagen zwischen uns. Das war nicht viel, sorgte aber dafür, dass ich noch die Schule besuchte, während er bereits einem Job nachging. Simru und ich hatten uns in einer Bar kennengelernt. Auf Fancynien durften wir ab einem Alter von fünfzehn Jahren ohne die Begleitung der Eltern in solche Lokale. Damals saß ich auf einem Hocker am Tresen, als ein Fremder mich angesprochen hatte. Der Typ wollte einfach nicht begreifen, dass ich kein Interesse an ihm hatte, obwohl ich es ihm mehrfach deutlich gesagt hatte. Er hatte nicht lockergelassen. Da war plötzlich Simru um die Ecke gekommen und hatte mir einen Kuss aufgedrückt. Er hatte mich von hinten in den Arm genommen. Der Fremde war ein Stück zurückgewichen, hatte große Augen und scheinbar auch Angst vor meinem muskelbepackten Scheinfreund bekommen. Fluchtartig hatte er den Platz verlassen und war in der Dunkelheit der Bar verschwunden. Als er nicht mehr zu sehen gewesen war, hatte Simru mich losgelassen. Er hatte mir ganz förmlich die Hand gegeben und sich vorgestellt.

„Sorry, aber ich hab das Schauspiel ne Weile beobachtet und dachte mir, dass du vielleicht Hilfe brauchst. Mein Name ist übrigens Simru.“

Ich hatte ihn angelächelt und bereits in diesem Augenblick gewusst, dass ich mich durch ihn nie belästigt fühlen würde. Das Gefühl von Sicherheit war sofort da gewesen. So waren wir ins Gespräch gekommen.

Dieser Abend lag nun etwa ein halbes Jahr zurück. Wir waren schon eine Weile ein glückliches Paar und ich hoffte, das würde sich nie ändern. Noch hatten wir etwas Zeit zum Plaudern, bis Simru sich verabschieden musste. Es tat gut, mit ihm über den Alltag zu reden und seine Stimme zu hören.

* * *

Meine Eltern und ich saßen beim Abendessen. Heute gab es eine Mahlzeit, zubereitet aus buntem Fancynien- Kohl, geringelten, kleinen Nudeln und gehacktem Fleisch. Es war ein deftiges Essen und wir verschlangen jeder mehrere Portionen davon. In der Schule hatten wir gelernt, dass der Fancynien- Kohl früher das Hauptnahrungsmittel unseres Planeten gewesen sei. Noch heute wird er oft gegessen, doch mittlerweile haben wir eine beträchtliche Auswahl an Lebensmitteln. Wie viele andere Früchte gab es das Gemüse in mehreren Farben. Alle Varianten glichen sich allerdings im Geschmack. Da Mahlzeiten auch für das Auge angenehm sein sollten, mochte es meine Mamyu die verschiedenen Fancynien-Kohlsorten zu mixen und ein farbenfrohes Gericht zu zaubern.

Mam und Pap waren sehr locker und duldeten so ziemlich alles. Anfangs äußerten sie sich skeptisch über den Altersunterschied zwischen mir und Simru, aber ich hatte noch nie etwas Schlimmes angestellt, brachte stets gute Noten nach Hause, war immer pünktlich daheim und war nie in Schwierigkeiten verstrickt. So entstand von klein auf eine schier unzerstörbare Vertrauensbasis zwischen uns, die ich nicht vorhatte, für eine egoistische Unbedachtheit zu opfern.

Nachdem wir uns die Bäuche vollgeschlagen und uns über den Tag ausgetauscht hatten, verzog ich mich in mein Zimmer, um mir andere Klamotten zu nehmen. Ich zog mich gern schlicht, aber sexy an.

Für heute sollte es eine schwarze Stoffhose und ein dunkles Top mit weitem Ausschnitt sein. Dazu legte ich eine silberne Kette mit einem Drachenanhänger an. Drachen waren für mich die schönsten Fabelwesen. Ich las unheimlich gerne Bücher über diese Geschöpfe. Ihre Ausstrahlung und ihre Macht faszinierten mich. Zumindest in meiner Fantasie.

Meine dunklen Haare reichten mir über den halben Rücken und in der figurbetonten Kleidung kamen meine Kurven richtig gut zur Geltung. Rundum zufrieden betrachtete ich mich im Spiegel. Dabei fuhr ich mit den Händen an meinen Hüften nach unten und drehte mich nach links und rechts. Gut, mein Ego schwebte manchmal ziemlich weit oben und musste, bildlich gesehen, an einer Schnur wieder heruntergezogen werden. Aber ich freute mich auf den Abend mit meinen Freunden und ein perfektes Äußeres war mir sehr wichtig, wenn ich das Haus verließ.

2. Kapitel

Der Bus kam pünktlich und brachte mich in die nächste Großstadt. ,Cantyln‘ stand auf dem Ortseingangsschild. Großstadt bedeutete allerdings nicht Hochhaus an Hochhaus. Sowas kannte ich nur von Bildern der Erde. Auch hier waren die Gebäude maximal drei Stockwerke hoch. Höchstens zwei bis drei Familien bewohnten ein Haus. In der Regel teilten sich mehrere Generationen einer Familie das Gebäude. So war es beispielsweise möglich, dass die Eltern eine Wohnung im unteren Stockwerk hatten und das Kind mit eigenem Partner in der oberen Etage lebte. Einfache, gepflasterte Straßen boten Zugang für Bus und Auto. Je nach Wohngebiet, gab es manchmal nur Trampelpfade. Was die Großstadt vom Dorf unterschied? Hier lebten mehr Menschen und es gab zahlreichere Freizeitangebote, verschiedene Arzte und eine größere Vielfalt an Einkaufsmöglichkeiten. Bars gab es beispielsweise nur selten in einem Dorf, Discotheken und Ähnliches fand man nur in der Stadt. Aus Geschichte des Universums kannten wir atemberaubende Bilder von ausgebauten unterirdischen Bahnsystemen auf der Erde. Sogenannte Züge fuhren durch ganze Städte und unter ihnen. Auf Fancynien gab es nicht einmal Straßenbahnen. Zumindest nicht dort, wo ich aufgewachsen war.

Als ich um 18:58 Uhr ausstieg, musste ich nur ein kurzes Stück laufen. Es war genau 19 Uhr, als ich am Treffpunkt ankam. Sean war bereits da und ich schenkte ihm eine Umarmung zur Begrüßung.

„Lässt Romy wieder auf sich warten?“, wollte ich wissen.

„Du kennst sie doch“, lachte Sean.

Ich setzte mich auf den Rand des Brunnens, an dem wir uns immer trafen. Er stand in der Ortsmitte und, wie für meine Liebe zu diesen Fabelwesen gemacht, stellte er einen großen Drachen dar. Dieser stand auf einem Felsen, der umgeben von Wasser war. Seine Flügel hatte er zur Hälfte ausgebreitet und sein Blick ging gen Himmel. Mit viel Liebe zum Detail hatte der Steinhauer jede noch so kleine Schuppe filigran ausgearbeitet. Die Augen des Drachen schienen zu funkeln, so echt wirkten sie. Doch aus seinem Maul schoss keine Flamme, sondern Wasser. Der Springbrunnen war etwa fünf

Meter hoch und ein Anziehungsort für Groß und Klein. Die Kinder planschten dann mit Händen und Füßen darin und die Erwachsenen saßen auf der flachen Mauer, die die Wasserquelle eingrenzte. Sie genossen das plätschernde Geräusch des Wassers. Außerdem war die Statue ein perfektes Objekt für Erinnerungsfotos. Warum es ausgerechnet ein Drache war, der hier in Stein gemeißelt stand? Die Drachen sind nicht nur in meiner Fantasie starke und mächtige Geschöpfe. Sie gelten bei uns allgemein als Sinnbild für Schutz und Sicherheit. Nicht nur ich mag die Geschichten um diese Tiere. Schade eigentlich, dass es sie nicht in Wirklichkeit gibt. Es wäre bestimmt toll, einem zu begegnen - toll oder angsteinflößend.

Heute Abend ging ein kühler Wind und Sean hatte sich zu mir gesetzt.

„Ich hoffe, sie beeilt sich etwas. Ich meinte das ernst mit dem Füße Abfrieren!“, meckerte er.

„Benimm dich mal wie ein Mann und nicht wie eine Zicke.“ Ich knuffte ihn in die Seite. „Sie wird schon bald auftauchen und dann gehen wir ins Warme. Dabei ist es heute gar nicht so kalt“, stellte ich fest. Ich stützte mich mit meinen Armen hinter mir ab und legte den Kopf in den Nacken. Eine leichte Brise umspielte mein Haar und mein Gesicht. Ich spürte, wie die Kette auf meiner Haut lag.

„Was ist mit Simru, kommt der auch?“, wollte Sean wissen und blies sich eine Locke aus dem Gesicht.

„Nein, der hat ne Sonderschicht. Aber es wird sicher trotzdem lustig.“

„Hey, Leute!“, rief es von weiter weg.

Als ich die Augen öffnete und nach vorne blickte, sah ich eine winkende Romy auf uns zurennen. Ihr Kleid flatterte im Wind. Es reichte ihr bis zu den Knien, war aus dunklem Stoff und mit weißen, kleinen Schmetterlingen bemustert. Die halblangen Ärmel lagen eng an der Haut.

„Sorry, habs nicht früher geschafft, der Bus ... na ihr wisst schon“, sagte Romy völlig außer Atem.

„Ja, ja, der Bus. Es ist doch immer der Bus“, stichelte Sean.

„Hol doch erstmal Luft und dann gehen wir ne Runde Billard spielen, ehe Sean noch erfriert“, witzelte ich in seine Richtung.

Ohne weitere Worte machten wir uns auf dem Weg in das Lokal. Der Springbrunnen war nicht nur unser Stammtreffpunkt, weil er so toll aussah. Er lag direkt in der Stadtmitte und egal, in welche Richtung man von ihm aus lief, man fand schnell eine Bar, ein Tanzlokal oder ein Restaurant. Hier gab es alles, was das Feier- und Ausgehherz begehrte. Die einladenden Lokale hatten bunte Lichter an den Außenwänden hängen. So konnten wir die Bars und Co. von den Wohnhäusern und Einkaufsläden unterscheiden. Das Ches trug seinen Namen in Leuchtschrift über dem Eingang. Die Buchstaben wechselten regelmäßig die Farben und flackerten immer mal wieder.

* * *

„Da, der eine Billardtisch ist frei, gehen wir schnell hin, ehe ihn jemand besetzt“, rief ich und lief vor, ohne auf die anderen zu achten.

„Sean bestellt noch Getränke“, sagte Romy, die mittlerweile neben mir stand und mir half, die Kugeln richtig aufzuteilen.

„Müsste grad Happy Hour sein, oder?“, fragte ich.

„Ja, Sean holt uns bestimmt wieder diese leckeren XXL- Erdbeercocktails.“

„Schade, dass die Erdbeeren nicht mehr Saison haben, da schmeckt dieser Cocktail noch besser.“

„Immer hast du was zu schimpfen“, stellte Sean fest, der sich scheinbar lautlos durch das Lokal bewegt hatte und drückte mir augenzwinkemd mein Glas in die Hand. „Heute gib?s blaue Früchte“, fügte er hinzu.

„Na, das ging ja heute schnell und dann schleichst du dich auch noch so an“, gab ich erstaunt zurück und stellte das Glas auf dem Tisch neben mir ab.

„Und schon wieder meckert sie“, lachte er.

„Ich meeker überhaupt nicht“, gab ich gespielt beleidigt zurück und verschränkte die Arme.

„Lasst uns endlich spielen und trinken“, mischte sich jetzt Romy ein, die uns das Glas mit der hellblauen, cremigen Flüssigkeit hinhielt.

Ich nahm meinen Drink und wir stießen an. Dann griff Sean nach dem Queue und begann die erste Runde. Ich war nicht wirklich beleidigt gewesen. Wir neckten uns gerne alle gegenseitig und konnten dann darüber lachen. Keiner von uns nahm dieses Gespräch ernst.

Sean gewann die erste Runde. Romy und ich hatten uns als Team zusammengeschlossen und schafften es ganz knapp, in der zweiten Partie die letzte Kugel vor Sean zu versenken.

Wir hatten über eine Stunde gespielt und jeweils zwei Cocktails geleert, als wir beschlossen, das Ches zu verlassen und in die Bar nebenan zu gehen. Dort standen gemütliche Sessel in einem dunklen und rauchigen Ambiente, was nur durch wenige, gedimmte Lampen an einigen Ecken und durch Kerzen auf den Tischen beleuchtet war. Die Musik lief hier eher ruhig, die Gäste waren umso lauter. Schließlich gab es hier die leckersten Absacker der Stadt. Lecker und stark. Wir nannten die kleinen, gefüllten Schnapsgläser so, weil deren Inhalt einen regelrecht in die Sitzpolster absacken ließ. Daher grölten die meisten Gäste in ihren Sesseln lümmelnd und übertönten dabei die eher gemütliche Musik.

Ich fragte mich schon oft, warum die Lieder hier langsam und ruhig waren. Aus anderen Bars war man härtere Töne gewohnt, aber dieses Lokal war eben einzigartig. Die Mitarbeiter achteten darauf, dass sich der Laden nicht zu sehr füllte. Gab es keine freien Sitzplätze, wurde niemand mehr hineingelassen.

Auch Romy, Sean und ich waren vom Alkohol angeheitert. Wir brüllten uns regelrecht an, um uns trotz der anderen lauten Besucher zu verstehen. Gemeinsam lachten wir viel und tranken einen Absacker nach dem anderen. So verging die Zeit wie im Flug.

3. Kapitel

Der Abend war schon weit fortgeschritten. Wir beschlossen, das Lokal erneut zu wechseln. Daher gingen wir nach draußen.

Betrunken war ich nicht, aber alles fühlte sich so unglaublich leicht an. Obwohl der kühle Wind mir durch die Haare wehte, fröstelte es mich nicht. Im Freien öffnete ich die Arme, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Okay, vielleicht spürte ich den Alkohol doch etwas. Hinter mir kamen Sean und Romy aus der Bar. Sie kicherten und konnten kaum geradeaus laufen. Als sie sich wieder gefangen hatten, fragte Romy, wo wir denn jetzt hingehen würden.

Plötzlich durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Er begann über dem Po, am Steißbein und zog sich den Rücken entlang, bis in den Nacken. Ich ging in die Knie und konnte nicht antworten. Romy und Sean fragten mich bestürzt, was los sei, doch der Schmerz wurde schlimmer und ich bekam kein Wort heraus. Einer der beiden legte mir eine Hand sanft auf den Rücken. Es fühlte sich an, als würde mir jemand die Luft abschnüren. Eine innere Stimme schrie mich plötzlich an- „Renn!“

Und als würden meine Beine von allein loslaufen, tat ich es. Ich drehte mich um und rannte, so gut ich es mit diesen Schmerzen konnte, ohne mich zu verabschieden oder etwas zu sagen. Die Straßen waren voller Menschen, wie immer mitten in der Stadt um diese Uhrzeit zum Wochenende. Alle waren in Feierlaune. Viele grölten, sangen und alberten herum. Meine Freunde mussten von meiner Flucht so überrascht gewesen sein, dass sie mich aus den Augen verloren hatten, bevor sie mir nur ansatzweise folgen konnten. Blind vor Schmerz bog ich mehrmals kurz hintereinander ab. Ich wusste einfach nicht wohin mit mir, so sehr tat es weh.

Mittlerweile war ich in einer verlassenen Seitengasse und hörte die Stimmen der vielen Menschen nur noch in der Ferne. Ich war an die Hauswand gelehnt und fragte mich, was denn überhaupt los sei. Der Schmerz hatte für den Moment nachgelassen, aber wo er herkam oder vor was ich weglief, war mir selbst nicht bewusst. Ich war ziemlich außer Atem. Dann kam der Schmerz wieder. Wie ein Messerstich im Rücken fühlte es sich an. Ich schrie auf, fiel zu Boden und krümmte mich. Es war kaum auszuhalten. Irgendetwas passierte mit meinem Rücken. Ich hatte das Gefühl, Käfer würden unter meiner Haut krabbeln. Auf einmal riss meine Haut am Rücken an zwei Stellen auf und etwas Großes stieß hervor. Es kam aus mir heraus und es war scheinbar an mir angewachsen. Der Schmerz presste mich zu Boden und ich schrie, so laut es meine Stimmbänder zuließen. Todesangst trieb mir Tränen in die Augen. Dann hörte ich Stimmen, Menschen kamen in meine Richtung. Ich verstummte augenblicklich und rappelte mich auf. Als ich den Kopf drehte, sah ich verschwommen zwei Flügel aus meinem Rücken ragen. Sie waren groß und schuppig. Bevor ich darüber nachdenken konnte, suchte ich die nächste Feuerleiter und kletterte sie herauf. Dabei schwenkten meine Flügel ohne Kontrolle hin und her. Ich konnte kaum das Gleichgewicht halten. Der Schmerz hatte mich wieder für kurze Zeit verlassen und ich wollte nur weg. Niemand durfte mich so sehen, das war mein einziger Gedanke. Auf dem Dach angekommen, breitete ich meine Flügel aus. Das Führen dieser schuppigen Teile war genauso einfach, wie meine Hände zu bewegen. Dafür musste ich mich nur etwas konzentrieren. Es schien plötzlich, als hätte ich schon immer Flügel besessen. Fest davon überzeugt, dass ich wahrscheinlich sturzbetrunken in der Ecke liege und das alles nur träumte, schlug ich mit den Schwingen und hob tatsächlich ab. Ich flog!

Eine bestimmte Richtung hatte ich nicht. Alles, was gerade passierte, war so unerklärlich und viel zu viel für meinen Verstand – vor allem, falls ich doch nicht schlief. Die Stadt unter mir lichtete sich und ich kam an deren Rand. Häuser wichen Feldern und ich nahm Kurs auf einen nahegelegenen Wald. Hier war niemand mehr weit und breit, weder Haus noch Mensch. Daher flog ich nah am Boden. Kurz bevor ich den Wald erreichte, kam der Schmerz mit einem Ruck zurück und warf mich nieder. Ich überschlug mich mehrmals und kugelte über die Wiese. Als ich zum Liegen kam, konnte ich die Blutergüsse nicht spüren, die ich mir beim Absturz garantiert zugezogen hatte. Viel schlimmer war die Ursache meiner unsanften Landung. Wieder krümmte ich mich. Diesmal war es nicht der Rücken, der mich quälte, es war der ganze Körper. Meine Arme und Beine knackten. Wie Knochenbrüche an allen Gliedmaßen gleichzeitig hörte und fühlte es sich an. Meine Schreie konnte niemand hören. Ich war allein. Als ich auf meine Hände sah, formten sich diese zu großen Klauen. Ich verwandelte mich, aber in was eigentlich und wieso? Als meine Füße es den Händen gleichtaten, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich war mittlerweile im Vierfüßlerstand angekommen. Mein ganzer Körper knackte, bebte und machte Geräusche, die schon beim Hören wehtun mussten. Meine Körpergröße schoss rasant in die Höhe und Breite. Plötzlich war ich zwei“, drei-, viermal so groß. Mein Gesicht fühlte sich an, als würde es unter einem Bulldozer liegen. Aus meinem Mund wurde eine Schnauze, meine Haare verschwanden und der Kopf blieb kahl. Mein Schrei wurde ein Brüllen, tief und gefährlich klang es. Dann war es überstanden. Der Schmerz war wie weggefegt und ich war kein Mensch mehr.

Meine Flügel waren noch da, aber was war ich? Fliegen konnte ich weiterhin und so hob ich ab und überquerte den Wald. Mittendrin war ein kleiner See. Es war eine klare Nacht und dank der zwei hellen Vollmonde konnte ich mein Spiegelbild in seiner ganzen Pracht sehen, als ich langsam und nah über dem Wasser flog. Ich war sicher fünf Meter hoch und noch etwas länger. Die längliche, rundliche Schnauze war da, wo ehemals mein Gesicht war. Ein Schwanz schwang elegant an meinem Hinterteil, während die Spannweite meiner Flügel so gewaltig war, dass ich meinen Blick von links nach rechts wandern lassen musste, um die Flügelspitzen zu erkennen. Schuppen zierten meinen ganzen Körper, die Farbe konnte ich bei fehlendem Tageslicht nicht erfassen. Meine Hände und Füße hatten sich in Pranken mit langen, dicken und wahrscheinlich tödlichen Krallen verwandelt.

Ich war ein Drache und ich war wunderschön.

4. Kapitel

Als die große Sonne am frühen Morgen den Tag erhellte, erwachte ich. Blinzelnd kam ich zu mir und fragte mich, wo ich eigentlich war. Langsam nahmen die Umrisse vor mir klare Gestalt an. Ich saß an unsere Hauswand gelehnt, neben der Eingangstür und stützte mich mit der linken Hand am Boden ab. Meine Beine lagen angewinkelt übereinander. Sie taten weh, was kein Wunder war, wenn ich in so einer, auf Dauer echt unbequemen Haltung eingeschlafen war. Ein Vogel saß auf meinem Knie und zwitscherte mir munter entgegen. Ich brummelte ihm ein ,Guten Morgen4 zu und er legte den Kopf schief, als würde er mir zuhören. Zu Tieren hatte ich schon immer eine gute Verbindung. Sie waren sehr zutraulich und manchmal hatte ich das Gefühl, sie würden meine Worte verstehen. Nun schien mir das Vögelchen einen Abschied entgegen zu piepsen, denn kurz darauf spannte es die Flügel und erhob sich in die Lüfte.

Moment mal... Flügel? ... Fliegen? ...

Ich sprang auf wie ein geölter Blitz. Dabei tastete ich meinen Oberkörper ab und musterte mich selbst von oben bis unten. Ich war ein Mensch. Aber wie kann das sein? In der letzten Nacht hatte ich mich in einen Drachen verwandelt, die Erinnerung in meinem Kopf war so lebendig, dass ich die Schmerzen noch nachfühlen konnte. Doch auch bei der Selbstuntersuchung meines Rückens konnte ich keine Flügel oder sonstige Hinweise auf Unnatürlichkeiten entdecken. Auch die Krallen waren nicht mehr da, meine Finger fühlten sich an wie immer. Außerdem realisierte ich erst jetzt, dass ich komplett bekleidet war. Aber bei einer Verwandlung in einen Drachen – oder was auch immer – müsste es meine Klamotten in alle Einzelteile zerfetzt haben. Oder nicht? Jedenfalls konnte ich nicht die kleinste Beschädigung an meinem Outfit ausmachen.

„Okay Sira“, sagte ich nach einiger Zeit zu mir selbst, „du hast diesmal echt zu viel getrunken.“ Habe ich mir tatsächlich eingebildet, ein Drache zu sein? Solche Wahnvorstellungen sind mir neu. Ich suchte nach meinem Handy und fand es auf dem Boden an der Stelle, an welcher ich geschlafen hatte. Zwölf unbeantwortete Anrufe. Romy und Sean hatten beide mehrfach versucht, mich zu erreichen. Ich tippte auf Romys Namen und kurz darauf läutete ihr Telefon. Eine verschlafene Stimme meldete sich.

„Sira, zum Glück rufst du an! Ist alles in Ordnung? Wir haben uns Sorgen gemacht.“

„Guten Morgen, Romy. Mir geht es gut, aber was ist eigentlich gestern passiert und weißt du, wie ich heimgekommen bin?“

„Keine Ahnung, du hast uns einfach vor dem Lokal stehen lassen und bist weggerannt. Weißt du das nicht mehr?“

„Nein, der Abend ist verschwommen. Ich bin gerade erst aufgewacht. Aber ich bin zu Hause, also hatte Sean wohl Recht. Ich sollte echt weniger trinken.“

„Wir haben gedacht, dir sei übel und du musst dich übergeben. Aber dann haben wir dich nicht mehr gefunden und ans Telefon bist du auch nicht gegangen. Sean meinte, dass du bestimmt nach Hause getorkelt bist. Wir hatten beide ein ganz schlechtes Gewissen, weil wir dann doch irgendwann heimgegangen sind.“

„Mach dir keine Gedanken, mir geht es ja gut. Ich lege jetzt auf. Schlaf dich aus.“

Ich hatte ihr bewusst nichts von meinen Wahnideen oder der Tatsache, dass ich vor meinem Haus geschlafen habe, erzählt. Sie sollte sich nicht noch mehr sorgen. So ging ich ins Haus, schlich leise in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Meine Familie schlief noch und auch mir fielen prompt die Augen wieder zu. Bevor ich einschlief, sah ich vor meinem inneren Auge das Ende eines großen, schuppigen Flügels.

* * *

Als ich wieder erwachte, war der Tag schon weit vorangeschritten und ich trabte schlaftrunken ins Badezimmer. Als ich bereits nackt war und gerade in die Dusche steigen wollte, kam meine Mamyu zur Tür herein.

„Oh, guten Morgen“, sagte sie. „Ich dachte, du schläfst noch.“

„Bin gerade aufgewacht. Brauche eine Dusche“, murmelte ich.

„Und Kaffee?“

„Oh, ja.“

Gerade, als meine Mam wieder gehen wollte, warf sie scheinbar einen genaueren Blick auf meinen Rücken.

„Du meine Güte, hast du dich geprügelt?“, fragte sie und nahm sich die Brille von der Nase.

Jetzt kam Mamyu komplett ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Sie legte ihre Sehhilfe auf das Waschbecken und ertastete sanft meinen Rücken.

„Warum? Was ist los?“, wollte ich wissen.

Ihre weichen Hände fuhren noch immer über meinen Oberkörper.

„Du hast da überall blaue Flecken!“

Plötzlich blitzte der Sturz auf den Boden wieder vor meinem inneren Auge auf. Doch augenblicklich verschwamm die Erinnerung wieder. Ich drehte mich zum Spiegel. Meine Mamyu hatte recht, es sah schlimm aus.

„Ich ... Ich ... Nein, das kann gar nicht sein.“

Fragend sah mich meine Mamyu durch ihre lilafarbenen Augen an. Ihre langen, blonden Haare fielen ihr seitlich ins Gesicht.

„Ich ... bin gestürzt, Mam. Alles okay.“

„Sira, du musst mich, nicht anlügen“, sagte sie mahnend.

„Bitte lass mich allein“, gab ich zurück und drängte sie sanft aus dem Bad.

Dann schloss ich die Tür ab und betrachtete mich erneut vor dem Spiegel. Ich drehte mich nach links und rechts und suchte nach den Stellen, aus denen meine Flügel gewachsen waren ... Falls das wirklich geschehen war. Aber ich konnte außer den blauen Flecken nichts erkennen oder fühlen. Seufzend stieg ich endlich in die Dusche und ließ das warme Wasser über mich prasseln.

„Was ist letzte Nacht nur wirklich passiert?“, fragte ich, ohne dass mir jemand antworten konnte.

* * *

Den Rest des Tages verbrachte ich mit meinen Eltern im Garten. Mein Papyu war ein kräftiger, bärtiger Mann. Sein Erscheinungsbild wirkte düster und seine Gesichtszüge waren in Falten gelegt, dass man denken konnte, er wäre stets schlecht gelaunt. Doch in Wirklichkeit war er sehr liebevoll und einfühlsam und meiner Meinung nach gab es keinen sichereren Ort, als in seinen Armen. Gerade war er dabei, die Bäume zu beschneiden.

Meine Mam war eine echte Schönheit. Groß, schlank, wunderschöne lange Haare und die Anmut einer Gazelle. Bis vor ein paar Minuten hat sie das Unkraut von den Beeten gejätet und nun erntete sie frische Kräuter für das Abendessen.

Ich half meinen Eltern, neue Blumen zu pflanzen. Da gab es Samen für Rosen, so blau wie der Ozean. Und welche in Regenbogenfarben. Es war hier Zufall, welche Blüte welche Farbe bekam. Manchmal hatte eine Blüte Rot-, Grün- und Blautöne. Auch gelb oder orange war möglich. Diese Pflanzen waren bei jeder Blüte eine neue Überraschung.

Doch während der Gartenarbeit blitzten immer wieder Bilder der Verwandlung in meinem Kopf auf. Und ich dachte über die blauen Flecken nach. Eigentlich wollte ich diese Halluzination als solche abstempeln, aber es gelang mir nicht. So zog ich mich am Abend mit einer Flasche Schnaps in mein Zimmer zurück und drehte die Musik auf. Von meinem Alkoholdiebstahl aus Papyus ,Bar‘ bekam keiner etwas mit. Natürlich trank ich nicht alles aus, das hätte das stärkste Tier umgehauen, aber ich hatte schon einen leichten Schwips. Und das am zweiten Tag in Folge. Es geschah nichts. Gar nichts. Absolut überhaupt rein gar nichts! Ich saß nur da und wartete, dass sich etwas in meinem Körper regte. Doch da war keine noch so geringe Veränderung zu spüren. Also trank ich über den Schwips hinaus.

Plötzlich verspürte ich ein Blubbern im Bauch. Ich stellte den Schnaps weg und machte mich auf alles gefasst. Anspannung überkam mich. Zur Sicherheit hielt ich mich am Tisch fest ... um dann festzustellen, dass mein Magen geknurrt hatte. Resigniert brachte ich die Flasche zurück. Unabsichtlich stellte ich sie lauter als geplant zu den anderen Schnapsflaschen und torkelte danach in mein Bett. Dabei stieß ich mir die Schulter an der Wand, denn mein Gleichgewicht ließ zu wünschen übrig. Meine Eltern schliefen bereits. Unsere Wände waren dick, daher wurden sie von meiner Musik und von meinem versehentlichen Gepolter nicht gestört. Erneut verspürte ich ein seltsames Gefühl im Magen. Ich schreckte hoch ... und übergab mich ... auf dem Boden ... neben meinem Bett. Schlimmer konnte der Abend nicht werden! Notdürftig putzte ich die Stelle, wie es mir in meinem Zustand möglich war. Weitere

Reinigungsarbeiten mussten bis zum nächsten Morgen warten. Mir fielen die Augen zu.

* * *

Am nächsten Tag wollte ich Simru besuchen. Meinem Magen ging es etwas besser und ich hatte ein spätes Frühstück zu mir genommen. Jetzt ging es schon auf die Mittagszeit zu, daher schlüpfte ich in schwarze Hotpants aus weichem, anschmiegsamem Stoff. Dazu wählte ich ein kurzes Top, welches je nach Lichteinfall in Blau oder Lila schimmerte. Schnell band ich mir die Haare zu einem Zopf, schminkte mich dezent und schlüpfte dann in leichte Sportschuhe. Als ich draußen durch knalligen Sonnenschein lief, wurde mir etwas schwindelig und der Kopf schmerzte. Scheiß Alkohol, dachte ich mir und massierte meine Schläfen. Dann holte ich aus meiner Hosentasche einen Kaugummi. Ich steckte ihn in den Mund, er schmeckte nach frischen Kräutern. Hauptsächlich kaute ich ihn, damit ich für Simru nicht nach Schnaps roch und schmeckte.

Als ich bei meinem Freund ankam, zog er mich sofort in seine starken Arme und drückte mir einen