Fantastische LMU - Nikodem Skrobisz - E-Book

Fantastische LMU E-Book

Nikodem Skrobisz

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Beschreibung

Wenn hinter den Türen der Ludwig-Maximilians-Universität nicht nur akademische Herausforderungen lauern, sondern auch bissige Krokodile die Hörsäle entern, dichte Nebel, Schattengestalten, Geister, Gnome und Skelette durch die Flure ziehen, die Statuen im Lichthof zu sprechen beginnen – dann besuchen wir die Welt der „Fantastischen LMU“. Zwölf Kurzgeschichten von Julia Dörner, Natascha Druschba, Zsófia Meggyesi, Xenia Taufertshöfer, Petra Teichert und Nikodem Skrobisz.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

07/2023

 

Fantastische LMU

 

© by Nikodem Skrobisz

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Creativ Work Design,

Coverbild von Xenia Taufertshöfer

Lektorat: Matthias Schlicke

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

 

Coverbild ›Menschen und andere seltsame Wesen‹

© 2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Coverbild ›Spinnenpinata‹

© 2022 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-222-2

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

Printed in Germany

 

 

Hrsg.

 

Nikodem Skrobisz

 

Fantastische LMU

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anthologie

 

 

Die Geschichten

 

Das Metaethik-Reptil von Nikodem Skrobisz

Traumbaumvon Natascha N. Druschba

Die Mysterien des Sommerfests von Nikodem Skrobisz

Was fehlt?von Julia Dörner

Knochentanzvon Natascha N. Druschba

Der ewige Studentvon Petra Teichert

Zwei durchbohrte Herzenvon Natascha N. Druschba

Kleine Problemevon Nikodem Skrobisz

Monsterjagdvon Xenia Taufertshöfer

Wolfswissenvon Zsófia Meggyesi

Der Ballvon Julia Dörner

Ewige Philosophievon Nikodem Skrobisz

Das Metaethik-Reptil

von Nikodem Skrobisz

 

 

Als das Krokodil den Seminarraum betrat, dachte ich bei mir, es wäre nicht der Augenblick zu übertreiben. Wobei ich damit nicht das Krokodil meinte, sondern mich selbst. Ein weniger gebildeter und kultivierter Mensch hätte nun vermutlich die Contenance verloren. Gründe gab es genug: Seit fünf Minuten saß ich nun schon allein im Raum, pünktlich, wie ich mich mehrmals versichert hatte, und wartete auf den Beginn des Metaethikseminars bei dem berühmten Professor, dessen Name nicht genannt werden darf. Anstelle des Professors oder irgendwelcher Kommilitonen bekam ich aber nun Gesellschaft von einem großen Reptil, das mich mit seinem breiten, zahnbewehrten Maul hungrig anblinzelte. Eine insgesamt sehr merkwürdige, wenn nicht gar absurde Situation. Zweifelsohne, ein weniger gebildeter und kultivierter Mensch wäre nun in eine primitive Panik im Angesicht des kaltblütigen Anderen verfallen. Nicht aber ich! Nicht mit meinem an Lacan und der Dekonstruktion sowie in der kritischen Theorie geschulten Geist! Ich tat das, was von einem exzellenten Philosophiestudenten wie mir (oder zumindest hielt ich mich dafür; in meinem Notenspiegel wollte sich meine Exzellenz aufgrund des positivistischen Lehrplans partout nicht manifestieren) zu erwarten ist: Ich analysierte die Situation gründlich mit der gesamten Kapazität meiner kritischen Vernunft. Das herankriechende Krokodil konnte offensichtlich kein Kommilitone von mir sein, schließlich brauchte man für das Studium eine Hochschulzulassung in Form eines Abiturs — und Reptilien sind nicht gerade dafür bekannt, ein Abitur abzulegen. Zumindest waren mir solche Fälle nicht bekannt. Aber das konnte ein Vorurteil sein; und wenn ich etwas während meines Studiums und an langen Abenden in verschworenen Geistesgemeinschaften gelernt hatte, dann doch das kritische Hinterfragen sämtlicher gewachsener Vorurteile, Institutionen und Traditionen sowie das Konsultieren der Fachliteratur.

Also klappte ich meinen Laptop auf, klickte mich zu Google Scholar durch und tippte Krokodil Abitur ein. Der Google Konzern fragte mich — äußerst ableistisch und robophob — nach der Bestätigung meiner Menschlichkeit durch das Ausfüllen eines Captchas. Beim vierten Durchklicken von kleinen Fotos mit Ampeln zeigten sich endlich die Suchergebnisse. Es schien auf den ersten Blick zu diesen Schlagwörtern etwas Fachliteratur zu geben, aber beim Scrollen stellte ich fest, dass sie sich tatsächlich mit ganz anderen Themen beschäftigte. Verstohlen tippte ich dann sogar in OpenAIs Chat GPT die Frage ein, ob Krokodile ein Abitur haben oder studieren können — die KI lieferten einen ausführlichen Text darüber, dass das Studieren ein menschliches Konzept sei, das nicht-sprechenden Tieren wie Krokodilen unzugänglich ist, weshalb sie weder Abitur haben, noch an einer Universität studieren könnten. Der KI-Text war eindeutig ein vom Speziesismus des Datenmaterials reproduziertes Vorurteil, schließlich sah ich doch ein Krokodil direkt vor mir in der Uni auf mich zu kriechen; also klickte ich die Seite von OpenAI verärgert wieder zu.

So viel dazu, dass die moderne Technologie eine Lösung für alle Fragen und Probleme liefern kann. Am Ende ist man immer auf seine eigenen kritischen Kapazitäten, auf das eigene Dasein zurückgeworfen.

Ein lautes Knirschen riss mich aus meinen Überlegungen. Das Krokodil hatte meinen linken Fuß abgebissen und zermalmte gerade in seinem Maul meinen Knöchel. Ich riss die Augen schockiert auf und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Denn da wurde mir bewusst, dass ich selbst einem Vorurteil unterlag. Schließlich konnte ich es hier nicht mit einem Krokodil zu tun haben, sondern mit einem Alligator. Oder mit einem biologischen Krokodil, welches sich selbst als Alligator identifiziert.

Frenetisch begann ich in Google Scholar herumzutippen und zog sogar die Stanford Encyclopedia of Philosophy und schließlich das Archiv der Süddeutschen Zeitung zurate, ob denn Alligatoren möglicherweise Abitur machen konnten. Nichts.

Daraus folgerte ich nach einiger kritischer und analytischer Reflexion, das Reptil, welches gerade unter dem Tisch an meinem Bein knabberte, könne kein Kommilitone sein. Durch das Ausschlussverfahren und Ockhams Rasiermesser sowie etwas Induktion aus der Situation, Abduktion zu höheren Prinzipien sowie der anschließenden Deduktion kam ich endlich zu dem Schluss, dass das Reptil der berühmte Professor, dessen Name nicht genannt werden darf, sein musste. Dieser Professor hatte bekanntlich seine akademische Ausbildung in vielen verschiedenen Ländern der Welt erhalten. Vielleicht konnte er kein Abitur vorweisen, aber eine andere, etwas leichtere und damit möglicherweise auch für Reptilien zugängliche Hochschulzulassung wie einen amerikanischen High-School-Abschluss. Es gab schließlich genug Koryphäen, die es trotz solcher Handicaps im akademischen Betrieb weit gebracht hatten.

Durch meine Synapsen kitzelte die Erregung, die ein jeder Geistesmensch verspürt, wenn er ein kompliziertes Problem endlich bis zu seinem Grund durchdacht und erfolgreich gelöst hat — die ich mir selbstverständlich nicht anmerken ließ, außer durch ein so subtiles wie anmutiges Lächeln. Doch da traf mich die Erkenntnis! Ich war wieder einem — diesmal äußerst eurozentrischen — Vorurteil unterlegen! Ich hatte ganz vergessen, dass auch meine Kommilitonen eine andere Form von Hochschulzulassung als das Abitur haben könnten, womit wieder alle Möglichkeiten offenstanden. Ich erkannte — wie Sokrates bereits in seiner Weisheit — dass ich nur wusste, dass ich nichts wusste. Mittlerweile war das Krokodil seit mehreren Minuten im Raum und hatte bereits meine Chinos komplett zerfetzt, beim nur zur Hälfte gelungenen Versuch, mein linkes Knie abzubeißen. Bestürzt realisierte ich meinen Fauxpas: Ich hatte die ganze Zeit nur geschwiegen. Statt zu grüßen und zu fragen, wer mir denn Gesellschaft leiste, hatte ich mich unhöflich in meinen hochfliegenden Gedanken verloren und auf meinem Laptop herumgetippt. Das war eine Pietätlosigkeit, die zu meiner kultivierten Persona so gar nicht passte. Der Anstand gebot nun, mir mein sokratisches Unwissen endlich einzugestehen, und das Richtige zu tun, nämlich zu fragen.

Also räusperte ich mich und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, aber sind Sie der Professor, dessen Name nicht genannt werden darf, der heute hier die Einführung in die Metaethik liest?«

Das Reptil hielt inne und rückte etwas von meinem bluttriefenden Oberschenkel ab, bevor es seinen Kopf reckte und zu mir hochsah.

»Nein, ich bin sein Assistent. Sie wollen zu seiner Einführung in die Metaethik?«, knurrte das Reptil, während es mit einem Rülpsen einen meiner braunen Lederschuhe von Santoni hoch würgte und ausspuckte. »Die ist in Raum M207.«

»Ist das nicht hier?«, fragte ich irritiert.

»Wir sind hier in M203«, sagte das Reptil, bevor es mit einem schnellen Bissen meine linke Hand abriss. Die Knochen knirschten, Blut spritzte über mein weißes Etonhemd und das blaue Vistula-Sakko sowie auf meine Wangen.

»Eureka!«, schrie ich begeistert. »Das ist es! Das ist die Lösung dieses Rätsels! Es ist absolut nichts merkwürdig hier — ich bin einfach im falschen Raum!« Ich schob den Laptop mit dem blutigen Stumpf in meine Aktentasche und humpelte auf einem Bein los, das Gesicht von der Euphorie der Epiphanie zu einem breiten Grinsen verzerrt. Wie schön war doch das Erlebnis, wenn sich endlich alle Puzzleteile zusammenfügten und man eine tiefgründige Erkenntnis fand, wenn man endlich etwas Wesentliches verstanden hatte!

In der Tür hielt ich kurz inne und überlegte, ob ich das Reptil noch fragen sollte, ob es nun ein Krokodil oder ein Alligator war — aber ich sah ein, besser auf diese doch sehr sensible und viel zu persönliche Frage zu verzichten. Schließlich hatte ich dem Reptil bereits genug Unannehmlichkeiten bereitet. Da mein Seminar im Raum nebenan cum tempore begann, also erst Viertel nach, kam ich zum Glück noch pünktlich, um nicht den Beginn der wirklich großartigen Einführung des berühmten Professors in die Metaethik zu verpassen. Leider muss ich berichten, dass am Ende des Semesters auch dieser Professor bei der Benotung der Hausarbeiten meine Exzellenz nicht erkennen wollte, aber das ist nun ein ganz anderes Thema.

 

Traumbaum

von Natascha N. Druschba

 

 

Als mich am Odeonsplatz ein Schwall Menschen aus der völlig überfüllten U-Bahn spülte, stand ich bereits kurz vor dem absoluten Nervenzusammenbruch. Und das vor 10:00 Uhr morgens! Ich hatte ohnehin nicht gut geschlafen und der Kaffee, der mein Frühstück ersetzte, wirkte bedauerlicherweise nicht einmal halb so gut als Muntermacher, wie es die Menge des billigen Instant-Pulvers in meinem Thermobecher eigentlich versprach. Es grenzte wirklich an ein Wunder, dass ich bisher niemanden ermordet hatte. Vorzugsweise natürlich den verdammten Vollidioten, der mir die ganze Fahrt über seinen Ellenbogen in die Rippen bohrte, als gäbe es dafür irgendeinen Preis zu gewinnen.

Während ich mich vom Menschenstrom des morgendlichen Berufsverkehrs zur Rolltreppe treiben ließ, erklangen in meinen Ohren die ersten Töne von Seek & Destroy. Ich drehte die Musik voll auf. Nur das Kreischen der E-Gitarren und das Wummern des Basses, das ich nun fast wie einen zweiten Herzschlag in meinem Körper spürte, hielten mich im Augenblick davon ab, wahllos irgendwem den Kopf abzureißen. Nicht, dass irgendeiner dieser Menschen es verdiente, abgemurkst zu werden, nur weil mir gerade alles und jeder auf den Geist ging. Trotzdem stellte ich mir vor, wie ich dem jungen Mann, der mich aus Versehen mit seiner Aktentasche am Arm streifte, eins mit einem Baseballschläger überzog.

Die U3 fuhr in den Bahnhof ein, und noch bevor sie anhielt, begann ich zu bereuen, nicht einfach zu Fuß vom Odeonsplatz zur Uni gelaufen zu sein. Wie üblich war dieser Zug noch voller als der davor. Ich quetschte mich als eine der letzten hinein, bevor sich die Türen mit diesem nervtötenden Piepen schlossen, das sogar Metallica nicht übertönen konnte. Die Fahrgäste pressten sich so eng zusammen, dass ich endlich zu verstehen glaubte, wie sich Masthühner in ihren Käfigen fühlen mussten. Das weiße Licht, das grell und grauenvoll auf mich herunter strahlte, ließ mich so stark blinzeln, dass meine Augen brannten. Sollte einen dieses sterile Krankenhauslicht nicht eher wacher machen als müder?

Ich hob den Kaffeebecher und leerte ihn mit zwei großen Schlucken. Dabei verpasste ich dem Typen neben mir beinahe einen Kinnhaken. Mit gerunzelter Stirn musterte ich die zahllosen Kratzer, die den matten Edelstahl des Thermobechers verunstalteten, und überlegte dabei, ob es wohl sehr unhöflich wäre, ihn jetzt in meiner Umhängetasche zu verstauen, die zwischen dem Typen und meinem Hintern klemmte.

Einerseits bot sich damit eine relativ harmlose Möglichkeit, ihm das mit der Aktentasche heimzuzahlen, denn ja, es handelte sich tatsächlich genau um den Kerl von eben. Andererseits hatte er mich kaum berührt, und auch das nicht einmal mit Absicht. Von allen Menschen, die mir heute schon auf die Nerven gegangen waren, verdiente er es wohl am wenigsten, dass ich meine schlechte Laune an ihm ausließ. Ich behielt meinen Kaffeebecher also in der Hand und nahm mir fest vor, ihn nicht gleich als Waffe einzusetzen, wenn der Mann wieder von einem Ruckeln des Zuges gegen mich geschleudert wurde, nur weil er es nicht schaffte, sich an einer dieser blöden Stangen festzuhalten. Es gelang mir erstaunlich gut.

Als die U-Bahn an der nächsten Station hielt, ließ ich es mir allerdings nicht nehmen, beim Aussteigen die dämliche alte Schachtel anzurempeln, die offenbar meinte, sie sei besonders schlau und käme schneller in den Zug, wenn sie sich genau mittig vor den Türen platzierte.

Mit halb offenem Mund drehte sie sich zu mir um, und ich blieb stehen. Sicher hatte sie vorgehabt, mir an den Kopf zu werfen, was für ein unverschämtes Gör ich doch sei. Meiner Erfahrung nach kamen derartige Kommentare meist genau von solchen Menschen, die zwar stets Respekt für sich selbst einfordern, jedoch keineswegs gewillt waren, auch nur einen Bruchteil desselben irgendjemand anderem entgegenzubringen.

Jetzt, da sie sehen konnte, wer sie da fast umgerannt hatte, schien es sich die Frau doch noch einmal anders zu überlegen und ihr Gemecker herunterzuschlucken. Es machte Spaß, ihren Blick dabei zu verfolgen, wie er von meinen knallroten Haaren über meine tätowierten Schultern bis hinunter zu meinen Stahlkappenstiefeln wanderte, und zuzusehen, wie ihre Augen dabei immer größer wurden.

Kaum eine Sekunde später wandte sie sich abrupt ab und drängte sich in die U-Bahn, noch bevor alle anderen aussteigen konnten. Das rettete ihr vermutlich das Leben. Das, oder die Tatsache, dass ich gar keinen Baseballschläger besaß, mit dem ich ihr den dummen Schädel hätte einschlagen können. Na ja, wahrscheinlich hätte ich das wohl selbst dann nicht gemacht, wenn genau in dieser Sekunde einer in meiner Hand aufgetaucht wäre. Zum einen, weil ich momentan echt weder Zeit noch Lust hatte, ins Gefängnis zu wandern, immerhin stand bald die Klausurenphase an, zum anderen, weil ich das Shirt, das ich trug, wirklich gern mochte und bezweifelte, dass man Gehirnmasse so leicht aus Baumwolle herauswaschen konnte. Außerdem war ich dafür wirklich zu gut erzogen.

Ich stapfte die Treppen hinauf zur Oberfläche und warf im Vorbeigehen kurz einen Blick auf die Uhr. Die Vorlesung sollte in gut zehn Minuten beginnen, deshalb ließ ich mir Zeit. Zum ersten Mal in diesem Semester schaffte ich es, nicht an einem der schlecht geparkten Fahrräder rund um den Aufgang zur Schellingstraße hängen zu bleiben.

Zum Glück liefen hier oben nicht ganz so viele Menschen herum, sogar recht wenige für diese Uhrzeit. Auch der Geschwister-Scholl-Platz zeigte sich ungewöhnlich leer. Niemand lehnte am Brunnen, niemand hockte auf den Bänken im kühlen Schatten der Bäume, und niemand stand mir nervig im Weg, als ich zwischen den Säulen der Vorhalle zu den Türen lief. Aber das kam mir eigentlich sehr gelegen. Je weniger Leute meine Geduld heute noch auf die Probe stellten, desto besser.

 

Schon nach den ersten paar Treppenstufen merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Es war dunkel und seltsam still. Keine einzige Lampe leuchtete. Vielleicht gab es ja einen Stromausfall.

Allerdings erklärte das nicht, warum kein Tageslicht durch die großen Fenster des Lichthofs hereinfiel. So musste es ungefähr aussehen, wenn man mitten in der Nacht in die Universität einbrach. Nur, dass es nicht Nacht war, sondern helllichter Tag. Oder … ehemals helllichter Tag. Hier drinnen herrschte überall kühles Zwielicht.

Als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass die Glastüren, die ich gerade erst durchquert hatte, kein Licht hereinließen. Wo eben noch die Sonne schien, lag jetzt nur noch ein gespenstischer grauer Dunst. Wie riesige weiße Schlangen krochen die Nebelschwaden an den Säulen der Eingangshalle hinauf, wo sie sich auflösten und unter der Decke umher waberten. Die Bäume auf dem Platz glichen verzerrten Schattengestalten, die ihre Arme in alle Richtungen reckten, als versuchten sie, das auf unerklärliche Weise verschwundene Tageslicht wiederzufinden. Den Brunnen hatte der Nebel längst verschluckt.

Einen winzigen Augenblick lang dachte ich darüber nach, hinauszugehen. Selbstverständlich tat ich es nicht. Ich kannte genug Horrorfilme, um zu wissen, dass es niemals eine gute Idee war, einfach so mir nichts, dir nichts in irgendeinen ominösen Phantom-Nebel hinein zu marschieren. Außerdem hatte ich nicht das nervenaufreibende Chaos des öffentlichen Berufsverkehrs erduldet, um dann meine Vorlesung zu schwänzen und sofort wieder nach Hause zu fahren, nur wegen eines komischen Naturphänomens, das sich bestimmt ganz logisch erklären ließ.

Kopfschüttelnd kehrte ich den Türen den Rücken zu. Vermutlich hätte ich heute Morgen im Wetterbericht sogar etwas über den Nebel gehört, wäre ich nicht so beschäftigt gewesen, in meinem schlaftrunkenen Zustand zu versuchen, mir gleichzeitig die Zähne zu putzen und zwei zusammenpassende Socken zu finden — eine schon in wachem Zustand kaum zu bewerkstelligende Aufgabe.

Wenigstens die Stille ließ sich leicht erklären. Meine Kopfhörer taten keinen Mucks mehr. Ich musste gestern Abend vergessen haben, sie aufzuladen. Der Heimweg würde sicher besonders lustig werden, da musste ich es dann irgendwie schaffen, all die Menschen am Leben zu lassen, ohne dabei von meiner heißgeliebten Rockmusik unterstützt zu werden.

Seufzend stopfte ich die Kopfhörer zusammen mit dem Kaffeebecher in meine Tasche und lief die restlichen Stufen hinauf. Am oberen Treppenabsatz blieb ich erneut stehen. Ich konnte förmlich spüren, wie mir die Kinnlade herunterklappte.

Im Zentrum des Lichthofs stand ein Baum. Er schien einfach dort aus dem Boden gebrochen zu sein. Das Mosaik hatte Wellen geschlagen und an einigen Stellen, wo mehrere Steine herausgeplatzt waren, wuchsen mächtige Wurzeln aus dem Untergrund. Die ausladenden Zweige wurden von einem silbrigen Lichtschein erhellt, der durch die gläserne Dachkuppel fiel und einen feinen Schimmer auf die Blätter des Baumes zeichnete. Winzige Glitzerpartikel tanzten durch die Luft. Sie sahen aus, wie ich mir Feenstaub vorstellte.

Meine Tasche glitt von meiner Schulter und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Ehrfürchtig stieg ich die wenigen Stufen zum Lichthof hinunter und stakste durch das Netz aus Wurzeln und zerklüfteten Mosaiksteinen, bis ich vor dem knorrigen, schief gewachsenen Stamm stand. Als ich mit den Fingerkuppen über die trockene Rinde strich, ging ein Schauer durch das Blattwerk. Bis auf ein leises Rascheln blieb es still.

»Hallo Nikki.«

Erschrocken wirbelte ich herum. Links neben der Treppe, am Sockel der Statue von König Ludwig dem Ersten, lehnte ein Mann in einem langen schwarzen Mantel, der für diese Jahreszeit viel zu warm aussah. Durch sein pechschwarzes Haar, das sich bis zu seinen Schultern kräuselte, zogen sich drei schneeweiße Strähnen. Die schwarz lackierten Fingernägel seiner rechten Hand, an der er mehrere klobige Ringe trug, tippten auf dem runden Knauf seines Gehstocks herum.

»An einen faszinierenden Ort hast du uns hier gebracht.« Seine wohlklingende, ruhige Stimme hallte leise von den Wänden wider.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

Er deutete mit dem Gehstock in meine Richtung. »Du hast ihn mir verraten.«

»Sorry, kennen wir uns?«, fragte ich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, diesem Mann noch nie begegnet zu sein, geschweige denn ihm je meinen Namen gesagt zu haben.

Ein winziges Lächeln stahl sich auf seine schmalen Lippen. »Oh ja, wir kennen uns.«

Er richtete sich auf und kam auf mich zu. Beim Gehen zog er das rechte Bein etwas nach, dennoch schien er kaum Gewicht auf den Stock zu verlagern, der bei jedem Schritt ein mehrstimmiges Klackern durch den Lichthof schickte.

»Beziehungsweise«, fuhr er fort, als er schließlich knapp einen halben Meter von mir entfernt stehen blieb, »ich kenne dich, Nikki.«

Ich widerstand dem Drang, vor ihm zurückzuweichen und schob das Kinn vor. »Wer sind Sie?«

Er lächelte noch immer. Jetzt, wo er direkt vor mir stand, erkannte ich ein paar blasse Narben in seinem Gesicht, die aussahen, als habe ihm jemand mit einem Messer zwei Kreuze über die Augen zeichnen wollen. Die langen diagonalen Linien gruben sich tief in seine eingefallenen Wangen und teilten seine dunklen Augenbrauen an mehreren Stellen.

»Ich trage viele Namen.«

»Wie schön für Sie. Zum Beispiel?«

Er musterte mich nachdenklich. »Du kannst mich Hypnos nennen.«

Forschend sah ich ihn an. In seinem Gesicht konnte ich nicht das geringste Anzeichen dafür erkennen, dass er das nicht ernst meinte.

»Altgriechisch für Schlaf«, murmelte ich. »Sie sind nicht zufällig der griechische Gott des Schlafes, oder?«

»Oh, die Griechen sind keinesfalls die Einzigen, die einen Anspruch auf mich erheben, und sie waren auch nicht die Ersten, die mir einen Namen gaben.«

Ich starrte ihn an und vergaß über seine Worte glatt die Regeln der Höflichkeit. »Du willst mir jetzt nicht ernsthaft weismachen, dass du ein Gott bist, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Gott und Sklave, König und Narr. Du kannst mir jeden Titel geben, den du willst. Jeder von ihnen ist ebenso wahr, wie er es nicht ist.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Das wundert mich nicht.« Er seufzte und blickte hinauf in das dichte Geäst des Baumes. »Die Menschen versuchen es seit Jahrtausenden, aber ich bin nicht leicht zu verstehen.«

Eine Weile standen wir nur schweigend da. Ich folgte seinem Blick. Wieder erschauerte die Baumkrone.

»Also … wenn du kein griechischer Gott bist, warum hast du dann einen griechischen Namen?«, fragte ich irgendwann, als ich das Schweigen nicht mehr aushielt.

»Wie ich schon sagte«, erklärte er, ohne den Blick von dem Baum abzuwenden, »ich trage viele Namen. Die Griechischen gefallen mir einfach besonders gut. Sie kommen meinem wahren Namen am nächsten.«

»Und der wäre?«

»Er existiert in keiner menschlichen Sprache. Nenn mich lieber bei einem der Griechischen. Hypnos, Morpheus, Thanatos … Such dir einen aus.«

»Das sind alles unterschiedliche Gottheiten«, wandte ich ein. »Hypnos ist der Gott des Schlafes, Thanatos ist sein Bruder, der Gott des Todes, und Morpheus sein Sohn, der Gott der Träume.«

»Du weißt sehr gut über die griechische Mythologie Bescheid, hm?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ist Teil meines Studiums. Der Punkt ist, dass das nicht die gleichen Götter sind. Sie haben total unterschiedliche Aufgaben und Fähigkeiten.«

»Und doch beschreiben sie alle mich.«

»Aber wer genau bist du denn? Was bist du?«

Hypnos drehte langsam den Kopf und sah mich an. In seinen schwarzen Augen lag eine unbeschreibliche Leere. Es fühlte sich an, als würde ich in die leblosen Knopfaugen einer Puppe starren. Da war nur nacktes, kaltes Nichts. Eine Gänsehaut kroch über meine Arme. Mit einem Mal wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich diesem Blick zu entziehen, diesen seelenlosen, toten Augen zu entkommen und einfach wegzulaufen, weit weg.

Ohne weitere Überlegung rannte ich los. Mehrmals stolperte ich fast über die riesigen Wurzeln, die sich inzwischen sogar um die Marmorsäulen und die Treppengeländer gewickelt hatten. Auf dem Weg in den ersten Stock nahm ich immer zwei Stufen auf einmal.

Von der Galerie aus konnte ich sehen, dass Hypnos noch immer vor dem Baum stand und mich beobachtete, allerdings keinerlei Anstalten machte, mir zu folgen.

 

Ich rauschte durch die Glastüren und stand wieder im Dunkeln. Kein Licht brannte, kein Mensch war in Sicht. Nichts zu hören, außer meinem rasselnden Atem und dem Echo meiner Schritte. Mein Herz pochte so schnell, dass mir schwindelig wurde und ich stehen bleiben musste, um wieder zu Atem zu kommen.

Keuchend lehnte ich mich gegen eine Wand und rutschte an ihr hinunter zu Boden. Ich zog die Knie an und vergrub meine Hände in den Haaren. Was ging hier nur vor? Wurde ich jetzt verrückt? Ich hatte ja schon immer eine sehr lebendige Fantasie gehabt, aber das hier erschien mir doch etwas zu lebendig.

Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Wenn ich erst einmal in meiner Vorlesung saß, würde sicher alles wieder gut werden. Meine Kommilitonen würden sich über den seltsamen Baum unterhalten und über den Stromausfall, und ich würde mich nicht mehr fühlen, als müsste ich mich selbst in die Irrenanstalt einweisen lassen.

Langsam rappelte ich mich auf und lief zu meinem Vorlesungssaal. Ich riss die Tür auf und stand im nächsten Augenblick wieder auf dem Treppenabsatz im Lichthof. Als ich mich umdrehte, war die Tür hinter mir verschwunden. Da lag nur noch die Treppe, die hinunter zu den Glastüren und zum geisterhaften Nebel dahinter führte. Auch der Baum stand noch im silbrigen Lichtschein unter der Dachkuppel. Von Hypnos fehlte jede Spur.

Zögerlich ging ich die Treppenstufen wieder nach unten und sah mich kurz um. Er lehnte an keinem der Statuensockel und auch an keiner der Säulen.

Ich wollte gerade erleichtert aufatmen, als hinter mir eine Stimme sagte: »Also, falls du den Prinzen suchst, der ist da drüben.«

Augenblicklich drehte ich mich um, konnte aber niemanden entdecken. Ich stand alleine im Lichthof. Die Stimme räusperte sich.

»Hier oben.«

Mein Blick wanderte zur Statue Ludwigs des Ersten. Der steinerne König hatte den Kopf gedreht und sah mich an. Mit offenem Mund starrte ich zurück.

»Guten Tag, junge Dame.«

Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu sammeln, dann antwortete ich nicht sehr einfallsreich: »Äh …?«

Die gemeißelten Gesichtszüge des Königs formten ein sanftes Lächeln. »Geht es dir gut? Du bist ein wenig blass um die Nase.«

»Ich … äh … Ich hab nur noch nie mit einem Stein geredet.«

Der König schürzte die Lippen. »Ich bin kein Stein. Ich bin eine Statue.«

»Das ist doch im Grunde das gleiche, oder?«

»Nein«, widersprach Ludwig in beleidigtem Tonfall, »das ist nicht das gleiche. Würdest du sagen, du bist ein Steak, nur weil du aus Fleisch und Knochen bestehst?«

»Ähm … wohl nicht«, gab ich zu.

»Na eben. Ich bin ebenso wenig ein Stein wie du ein Steak bist.«

»Du hast eben einen Prinzen erwähnt?«, fragte ich schnell, um das Thema zu wechseln und den König nicht noch mehr aufzuregen.

Ludwig nickte. »Nun, ich sah vorhin, wie ihr euch unterhalten habt, daher dachte ich, du suchst ihn womöglich.«

»Sprichst du von Hypnos?«

»Ach, so nennt er sich diesmal also? Ihm muss aufgefallen sein, dass du eine Schwäche für die griechische Mythologie hast.«

Stirnrunzelnd sah ich zu der Statue hoch. »Nein … Nein, er hat gesagt, dass er die griechischen Namen besonders gern mag.«

Der König lächelte erneut. »Natürlich hat er das gesagt.«

Eine Weile schwieg die Statue. Ich musterte sie nachdenklich. Kurz dachte ich, sie wäre wieder zu Stein erstarrt, doch dann nieste der König plötzlich laut. Das Geräusch hallte von allen Wänden wider.

Ludwig schniefte. »Verzeihung.«

»Gesundheit.«

»Vielen Dank.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Irgendwann schien ihm aufzufallen, dass ich ihn dabei beobachtete, denn er ließ rasch den Arm sinken und guckte auffällig unauffällig in der Gegend herum.

Nach kurzem Zögern fragte ich: »Also … Wieso nennst du ihn Prinz?«

»Nun.« Ludwig gestikulierte mit der steinernen Schriftrolle in seiner Hand. »Das ist eine der vielen Bezeichnungen, die die Menschen ihm in den letzten Jahrtausenden verliehen haben. Der schwarze Prinz. Herr der Träume. Fürst Orcus. König der Nacht. Ach, es gibt so viele Namen für ihn.«

»Herr der Träume?«, hakte ich nach.

»Oh ja. Er liebt die Menschen und ihre verrückten kleinen Fantasien. Nein, ich glaube, er liebt so ziemlich alles an ihnen.«

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung in der Dunkelheit wahr. Als ich hochblickte, sah ich Hypnos hinter dem Geländer im ersten Stock stehen.

»Ah«, rief Ludwig aus, der meinem Blick folgte, und deutete mit der Schriftrolle auf ihn. »Da ist er ja.«

»Mhm«, antwortete ich bloß, dann stieg ich die Treppen hinauf.

Hypnos tippte wieder mit den Fingernägeln auf seinem Gehstock herum. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er leise, als ich vor ihm stand.

»Bestens.« Ich konnte mir den scharfen Sarkasmus in meiner Stimme nicht verkneifen. »Also, schwarzer Prinz … Wieso bist du eigentlich hier?«

Hypnos schmunzelte. »Schwarzer Prinz? König Ludwig war wohl in Plauderlaune.«

»Was willst du von mir?«, beharrte ich.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, entgegnete er ruhig. »Immerhin hast du mich gerufen.«

Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte. Zwar glaubte ich ziemlich sicher, dass ich ihn nicht gerufen hatte, dann wiederum war ich mir auch sicher gewesen, dass Statuen nicht sprechen konnten. Ich warf König Ludwig einen kurzen Blick zu.

---ENDE DER LESEPROBE---