Fantastische Türen - Romy Gläser - E-Book

Fantastische Türen E-Book

Romy Gläser

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Beschreibung

Als die 17-jährige Lara auf einen mysteriösen Studenten trifft, der behauptet, Türen können sie in Bücher führen, hält sie es für eine Spinnerei. Doch als sie vor ihm flieht, findet sie sich plötzlich in der zauberhaften Welt der Bücher wieder. Entschlossen, diesem scheinbar verrückten Abenteuer zu entkommen, weigert sich Lara, dem Studenten bei seinem Vorhaben die Türen zu verschließen, zu helfen. Was soll sie schon damit zu tun haben? Doch als ihre geliebte Oma auf tragische Weise von einer Kreatur aus einem Buch getötet wird, muss Lara einsehen, dass die fantastischen Türen nicht nur Märchen sind. Verfolge Laras abenteuerlichen Weg, während sie sich mit dem geheimnisvollen Studenten zusammenschließt, um die faszinierenden Türen zu erkunden und sich ihrer Angst zu stellen. Gemeinsam kämpfen sie gegen gefährliche Kreaturen und enthüllen verborgene Geheimnisse in den magischen Welten der Bücher. Die fantastischen Türen waren darauf, geöffnet zu werden - wagst du den Schritt?

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Ich fühle mich sehr abenteuerlustig. Es gibt noch so viele Türen, die zu öffnen sind, und ich habe keine Angst, dahinter zu schauen. Elisabeth Taylor

Inhaltsverzeichnis

PROLOG - 1 JAHR ZUVOR

KAPITEL 1. JETZT

KAPITEL 2 - VOR 10 MONATEN

KAPITEL 3 - JETZT

KAPITEL 4

KAPITEL 5 EIN HALBES JAHR ZUVOR

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

EPILOG

Schlusswort vom Autor

PROLOG - 1 JAHR ZUVOR

Joao ritt auf seinem Esel an der Küste entlang. Dem Jungen war heiß, nicht nur weil die Sonne ihre Strahlen auf die kleine Insel schickte, sondern auch weil er vor Zorn kochte. Joao hatte sich mal wieder mit seinem Bruder gestritten. Sein Bruder war fünf Jahre älter als er und konnte schon bei der Ananasernte helfen. Nur sollte er den Arbeitern nicht im Weg stehen. Dabei war er schon 10 Jahre alt. Sein Bruder musste mit zehn auch schon mit auf den Plantagen helfen. Warum durfte er, Joao nicht? Er ging zur Schule. Er sollte Bücher lesen und rechnen lernen. Für was war das gut? Von einem Roman hatte noch keiner auf der Insel leben können. Sein Bruder Joaquim musste nie zur Schule.

„Du musst besser werden als ich“, betonte er immer und dann ging er mit den Männern zur Plantage. Warum sollte Joao denn besser werden als sein Bruder?

„Du wirst irgendwann mal von der Insel herunterkommen und ein berühmter Ingenieur werden.“

Was sollte das? Wer fragte denn ihn nach seiner Meinung? Ihm gefiel San Miguel. Das Klima war gut und die Leute nett. Klar, jetzt, da er schon lesen konnte und viele Bücher über die große weite Welt gelesen hatte, würde er gern mal nach Amerika reisen, Urlaub machen, aber seine Insel für immer verlassen? Das kam gar nicht in Frage. Er könnte doch im Hotel seines Onkels arbeiten. Touristen gab es dreiviertel des Jahres reichlich. Joao liebte San Miguel.

Der Esel blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Joao stand auf einem Gipfel, der über das Meer hinausragte. Von hier aus konnte man die Nachbarinsel sehen, wenn die Sonne halb über dem Berg stand. Die leichte Brise kühlte sein erhitztes Gemüt etwas ab. Es roch nach Salz und Fisch und Joao atmete den geliebten Duft tief ein.

„Na los, Sami, weiter. Wir müssen Joaquim sein Essen bringen, das er vergessen hat!“ Er hatte es vergessen, als er wütend und zornig die kleine Hütte verlassen hatte, die sie bewohnten. Jetzt fühlte Joao sich schuldig. Seit seine Eltern bei einem Bootsunglück ums Leben kamen, kümmerte sich Joaquim aufopferungsvoll um ihn.

Die Plantage lag noch ein ganzes Stück weiter die Küste hinunter. Doch der Esel rührte sich nicht, er schrie aus Leibeskräften.

„Was ist denn los?“, fragte Joao und blickte über das Meer. Da bemerkte er es auch. Zwischen den Inseln, fast genau in der Mitte tat sich ein Strudel auf. Er war riesig und schien immer weiter zu wachsen. Jetzt sahen es auch die Touristen am Strand, rechts unter ihm, die auf das wallende Meer hinauszeigten. Einige schrien in fremder Sprache. Der Strudel stieg in die Höhe, das würde eine Monsterwelle geben. Eine Wasserhose entstand.

„Das ist doch nicht möglich?“ Joao blickte zu dem blauen Himmel empor. Eine Wasserhose entstand gewöhnlich nur, wenn es Gewitter gab. Doch kein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Es war nichts dergleichen im Radio angesagt worden. Die Wellen würden den Strand komplett überfluten. Die Menschen mussten sofort vom Strand verschwinden. Einige schienen das auch begriffen zu haben, andere jedoch standen wie erstarrt und fasziniert direkt am Wasser.

„Was macht ihr denn? Rennt weg!“, brüllte Joao den Touristen zu. Doch die Wellen hatten auch Wind aufkommen lassen, der seine Worte wegtrug.

„Verdammt, sie werden sterben. Los Sami, wir müssen da runter!“ Verzweifelt trieb der Junge seine nackten Füße in die Flanken des Tieres. Doch der Esel, der weiter aus Leibeskräften schrie, bewegte sich nicht. Joao saß ab und beschloss nun, die Felswand hinab zu klettern. Er suchte nach einer geeigneten Stelle. Als er sie gefunden hatte, legte er sich flach auf den Bauch und schob seine Beine über die Kante. Es war nicht das erste Mal, aber durch den Wind, der auch die Gischt schon mit sich führte, wurde es erheblich gefährlicher. Wie oft hatten die Dorfjungen hier Mutproben ausgetragen? Joao klammerte sich an die Felswand, schaute nicht nach unten, er wusste, dass man das nicht tun sollte. Woher war nur dieser Strudel gekommen? Aus heiterem Himmel? Die Welle, die immer schneller zu wachsen schien, ragte nun schon Meter hoch, doch noch immer standen einige Touristen da und zeigten auf etwas, etwas das hinter der Welle im Meer erschien.

Joao kam zu einem Vorsprung und holte erst einmal wieder Luft. Von hier aus konnte er nur noch ein Eck des Strandes sehen, der Berg ragte zu weit in die Bucht hinein. Joao blickte wieder auf das Meer und war nun ebenfalls völlig gebannt von dem, was er da sah. Hinter der Welle, die langsam zu einem kleinen Tsunami geworden war, wuchsen Häuser aus dem Wasser, blaue und türkisfarbene Dächer waren zu sehen. Und es waren viele. Große Bauten, alle in den Farben des Wassers und mit Mosaiken übersäht. Sie schoben sich aus dem Wasser heraus. Man konnte Kathedralen erkennen, Brücken und Türme. Die Welle, die weiter auf San Miguel zuraste, hatte Joao völlig vergessen, so fasziniert starrte er auf die Stadt, die soeben aus dem Atlantischen Ozean auftauchte. Was war das? Ein riesiges U-Boot? Joao musste Joaquim davon erzählen. Der Gedanke an seinen Bruder holte den Jungen in die Realität zurück. Die Arbeiter auf der Plantage, die weiter westlich hinter einer Dünenansammlung lag, hatten womöglich nicht mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Er musste zu ihnen. Über den Strand wäre der kürzeste Weg, doch die Welle könnte höchstens noch Minuten brauchen, um den Strand zu erreichen. Joao musste wieder nach oben. Er fing an zu klettern. Die Felsen waren jetzt von der Gischt glatt und rutschig. Er fand kaum Halt und seine Kleider waren auch schon völlig durchnässt. Zudem waren seine Hände schwitzig vor Aufregung. Er biss die Zähne zusammen. Obwohl er am ganzen Leib zitterte, konzentrierte er sich. Normalerweise konnte er das Stück in einigen Minuten erklimmen. Es war ja nicht sehr weit, höchstens fünf Meter. Doch jetzt, unter diesen Umständen, schien es unmöglich. Der Wind drückte ihn förmlich gegen den schroffen Felsen. Schon oft hatten die Bewohner verlangt, eine Leiter anzubringen, damit man nicht um den ganzen Berg laufen musste. Doch der Bürgermeister sagte immer, dafür sei kein Geld da. Im selben Moment, als die Welle den Strand erreichte und die Menschen erfasste, die immer noch am Strand gestanden hatten und ins Landesinnere trug, erreichte Joao den Gipfel. Der Esel stand immer noch da und schrie.

Joao blieb erschöpft liegen. Für einige Sekunden spürte er den Schwall Wasser, der auch hier über den Gipfel rauschte. Da er so weit oben war, erwischte es ihn nicht so stark, höchstens wie die normalen Wellen, auf denen er immer surfte, wenn sein Bruder ihn mal mitnahm.

„Iaaah iaaah“, hörte er Sami. Joao hatte keine Zeit, sich auszuruhen. Er musste zur Plantage. Er musste zu seinem Bruder. Müde, erschöpft und völlig kraftlos zog er sich an dem Vierbeiner hoch.

„Los Sami, wir müssen zu Joaquim.“ Der Esel trabte los, er kannte den Weg und ritt im Galopp den Weg hinunter. Das Wasser hatte den Weg in eine wahre Schlammgrube verwandelt, und der Esel rutschte und schlitterte den Hang hinunter. Noch bevor sie unten angekommen waren, musste der Esel jedoch stoppen. Sie waren auf der Höhe der Dünen angekommen und von der Plantage war nichts mehr zu sehen. Alles stand unter Wasser. Hinter der Düne jedoch sah man nun eine Stadt, so groß wie Manhattan oder London und sie lag mitten im Wasser. Kleine und große Häuser, Brücken und Straßen. Alles leuchtete in Blau, türkis und grün. Joao konnte sich nicht sattsehen. So eine schöne Stadt, so etwas hatte er noch nie gesehen. Da fuhren Pferdegespanne und man sah Menschen in altertümlichen Gewändern, die am Wasser spazieren gingen und zu ihm hinüber zeigten. Joao winkte ihnen, einige winkten zurück. Das war doch total verrückt? Hatte er sich das alles eingebildet? Schlief er vielleicht? Vielleicht war er die Felswand hinabgestürzt und lag jetzt bewusstlos oder gar tot im Sand. Die Sonne spiegelte sich in den mit Edelsteinen verzierten Fassaden. Es flimmerte alles und Joao musste seine Augen schließen. Das Licht blendete ihn. Er hob die Hand schützend vor die Augen und nun war er sich sicher, dass er nur träumte, denn die Stadt schien sich aufzulösen. Sie flimmerte, wurde durchsichtig und nur Sekunden später lag das Meer völlig ruhig und einsam da. Die Stadt, mit all ihren Türmen und Brücken war verschwunden, als ob es sie nie gegeben hätte - und doch war die Plantage verwüstet und der Strand überflutet.

„Joao!“, rief da jemand rechts von ihm. Es war sein Bruder, er war am Leben. Joao wendete den Esel und ritt auf Joaquim zu. Beide Brüder fielen sich in die Arme und Joaquim berichtete, dass er gerade eine Lieferung weggefahren hatte, als die Welle kam. Man hörte noch viele Geschichten von der Stadt im Meer und die Inselbewohner beharrten darauf, dass es Atlantis gewesen ist.

KAPITEL 1. JETZT

Wie war sie nur hierher gekommen? Was genau war der Grund, dass sie an einem 45 Meter hohen Berg emporsah? Kurz blickte sie sich um. Immer wieder zischten gelbe, grüne und rote Lichtblitze an ihr vorbei. Er stand in einiger Entfernung und schrie irgendetwas. Nur was? Wieder starrte sie den Felsen an, unfähig sich zu bewegen. Ihr Hirn konnte nicht verarbeiten, was Laras Augen ihr mitzuteilen versuchten. Sie sahen einen riesigen Berg, aus dem sich Arme und Beine herausquälten. Dabei wurden kleinere und größere Brocken aus Granit herausgebrochen und prasselten hinab. Wie aus einem Steinpuzzle wand sich ein Ungeheuer aus dem Massiv. Kurz wunderte sie sich, warum keine der herabfallenden Steine sie traf. Den Armen und Beinen folgten der Rumpf und Kopf. Die Figur nahm immer mehr menschliche Züge an. Ein Steinmensch. Und er war riesig. Jetzt machte die Steinfigur einen Schritt nach vorn. Löste sich aus ihrem bergigen Gefängnis und schwankte etwas. Doch sie fand schnell ihre Balance und riss den Mund auf. Brüllend zeigte sie dabei eine Reihe sandgelber Zähne. Lara erkannte, dass die steinige Gestalt einen Arm hob, die grauen Finger zu einer Faust ballte. Wie war sie nur hierher gekommen? Schoss es ihr erneut durch den Kopf. Sie wusste nicht, warum sie sich das gerade jetzt fragte, wo der Steinmann gerade ausholte, um sie zu zerquetschen. Der Schatten der Faust über ihr wurde immer größer, dennoch gehorchten ihre Beine nicht. Die Gedanken waren wie in Watte eingetaucht. Das hier war doch nicht real. Sie drehte ihren Kopf. Da sah sie die Männer, vier oder fünf und ihn. Er war real, das hatte sie bereits festgestellt, oder träumte sie wieder? Erneut schrie er irgendetwas. Was willst du denn? Sie versuchte, seine Lippen zu lesen. Sie soll Kuchen essen? Wieso denn jetzt Kuchen? Ihr Blick ging wieder zu der Faust, die wie ein Damokles-Schwert über ihr hing. Wenn sie jetzt die Augen schloss und „aufwachen“ denken würde, wäre sie zu Hause in ihrem Bett und alles wäre gut. Ihre Großmutter würde in der Küche Kakao zubereiten und sie müsste sich für die Schule fertig machen. Die Schule, ihre Gedanken, die wie ein Nebelschleier durch ihr Gehirn rasten, wurden deutlicher, die Schule, dachte sie wieder. Der Schatten, den die riesige Faust warf, wurde noch größer. Bald hätte sie nicht mehr genügend Zeit, um auszuweichen. Dennoch rasten ihre Gedanken zurück zu dem Punkt, an dem alles begann. Bevor sie vor ihm geflohen war, in ihrem nagelneuen Hosenanzug, mit der schicken Frisur und den neuen Stiefeletten.

*

Im Physiksaal herrschte Aufbruchstimmung. Die Tische waren auf vier Stufen angeordnet, so dass man wie bei einem Hörsaal von oben auf den Lehrer hinabsah. Man hörte die Stühle über das Linoleum kratzen, Taschen wurden geschlossen, Papiere zusammengerauft. Es war eine extreme Geräuschkulisse, nachdem vorher so unnatürliches Schweigen geherrscht hatte. Normalerweise gab es im Unterricht immer irgendwelche Geräusche: der dozierende Lehrer, die Zicken-Clique tuschelte, die Kreide fuhr über die Tafel, Stifte, die auf Papier schrieben und Schüler, die Kaugummi kauten. Doch dieses Mal hatten sie ein Experiment zum Thema Ton- und Schallwellen gemacht, sie sollten die Stille hören. Konnte man Stille hören? Man hörte wirklich etwas. Lara war überrascht von den Atemzügen der anderen, die irgendwann im völligen Gleichklang kamen, und dem Summen der Leuchtstoffröhren an der Decke. Einige Jungen waren eingeschlafen und hatten geschnarcht. Das wiederum führte zu Gekicher. Geräusche, die man sonst nicht wahrnahm. Der Lehrer meinte, das nächste Mal werden sie darüber reden, warum unser Gehör und Gehirn wichtige und unwichtige Geräusche ausblenden kann und wie es das entscheidet. Seit man den Lehrplan angepasst hatte, waren Physik und Biologie ein Fach. Eigentlich ein interessantes Thema, doch Lara war zu Tode gelangweilt gewesen. Sie hatte sich in einen Wald geträumt. Mit Feen und Kobolden und anderen Fantasiewesen. Hätte das Umblättern der Seiten eines Buches nicht so viel Lärm in der Stille gemacht, hätte sie ihren aktuellen Fantasieroman, Magisterium von Cassy Claire, herausgezogen und gelesen. Blödes Experiment. Eigentlich sollte gerade sie in den Naturwissenschaften besser aufpassen, doch die Themen waren ihr einfach zu öde. Wie die Welt funktionierte, war doch eigentlich egal. Sie funktionierte und das reichte ja wohl, oder? Obwohl Lara die Naturwissenschaften nicht leiden konnte, hielt sie ihren Durchschnitt von 2,5 ganz gut. Lara liebte Geschichte, weil viel davon in ihren Büchern wiederzufinden war und die Themen oft für Geschichten ihrer Lieblingsautoren von Bedeutung waren. Lara mochte auch Deutsch, da Aufsätze schreiben ihr Spaß machte. Grammatik war nicht so Laras Ding, sie konnte nicht erklären, warum sie die Regeln anwendete, sie tat es einfach. Sie verließ den Saal als eine der Letzten. Gegenüber der Tür lehnte ein junger Mann, vielleicht um die 18 Jahre jung, also eigentlich noch ein Junge, an der Wand. Sie bemerkte wie sich zwei ihrer Schulkameradinnen nach ihm umdrehten und kicherten. Der Junge starrte Lara an, als sie aus der Tür trat. Lara nestelte noch an ihrem Rucksack, bemerkte plötzlich ein Unbehagen, etwas Gänsehaut machte sich auf ihren Armen breit und als sie aufsah, blickte sie in grüne Augen. So grün wie der dichteste Wald und so kalt wie die grüne See. Etwa zwei Herzschläge später bemerkte sie auch den Rest von ihm. Kurze schwarze Haare, ein ebenmäßiges Gesicht und durchtrainierter Körper. Er trug schwarze verwaschene Jeans und ein blaues Hemd, welches nicht bis zum Hals zugeknöpft war. Seine Hände verschwanden in den Hosentaschen. Wenn er nicht so kalte Augen hätte, wäre er wahrscheinlich attraktiv. So versprühte er eine dunkle Aura. Er erwiderte ihren Blick, und ein Schauder jagte über ihren Rücken. Da schubste sie jemand zur Seite.

„Geh aus dem Weg.“ Lara hatte nicht einmal bemerkt, dass sie mitten im Türrahmen stehen geblieben war. Schnell schob sie den Riemen ihres Rucksackes wieder zurecht und lief den Gang hinunter zur nächsten Unterrichtsstunde.

Lara dachte über die letzte Stunde nach, in der es um Algebra ging, als ihre Oma sie nachmittags abholte. Während sie die Tür des VWs öffnete und den Blick kurz auf die andere Straßenseite warf, bemerkte Lara augenblicklich, wie sich ihre Haare sträubten. Die grünen Augen waren direkt auf sie gerichtet. Bildete sie sich das nur ein? Er stand da und fixierte sie regelrecht. Quatsch, dachte sie, schüttelte kurz den Kopf und stieg zu ihrer Oma ins Auto. Jetzt endlich würde „die echte Zeit“ für sie beginnen. In der sie sich mit einem guten Buch vergnügen würde.

„Hallo Liebes, wie war die Schule?“, ihre Oma legte den ersten Gang ein und fuhr los.

„Wie immer, was gibt’s heute zu essen?“ Lara fühlte sich sofort wohler, als die Schule hinter ihr immer kleiner wurde.

„Ich habe Kaiserschmarrn gemacht. Für mehr hat die Zeit nicht gereicht. Im Buchladen war heute viel zu tun.“, ihre Oma lächelte.

„Die neue Lieferung ist gekommen“, freute sich Lara und hüpfte dabei aufgeregt auf dem Beifahrersitz hin und her.

„Genau mein Kind, aber …“, erwiderte die Oma und brauchte den Satz nicht zu beenden:

„… erst die Hausaufgaben“, stöhnte Lara.

„Schön, dass wir uns verstehen.“

Lara liebte ihre Oma und wollte ihr Abitur im übernächsten Sommer schaffen, so dass sie wusste, wie wichtig diese blöden Hausaufgaben waren. Nervte man sie in der Schule nicht schon genug mit sinnlosem Zeug, musste man einem auch noch die Freizeit rauben? Als sie zu Hause in der kleinen Stadt Gablingen im Landkreis Augsburg ankamen, nieselte es.

„Das richtige Wetter für eine Tasse Kakao und einen guten Roman“, seufzte Lara. Dabei fiel ihr Blick auf die Einmündung der Straße, in der ihr kleines Häuschen stand. Hatte sie da nicht die schwarzen Haare gesehen? Sie starrte die Straße hinunter. Ihr Nachbar ging mit seinem Hund Bobby spazieren und eine junge Frau schob einen Kinderwagen, die schwarzen Haare waren verschwunden. Litt sie jetzt schon an Halluzinationen?

„Was ist denn Lara? Kommst du?“ Die Oma hatte schon die Haustür geöffnet. Lara zuckte zusammen, schüttelte sich kurz und folgte ihr in das gemütliche Einfamilienhaus. Sie aß mit ihrer Oma zusammen den Kaiserschmarrn und machte sich dann am Küchentisch mit ihren Schulbüchern breit. Während ihre Oma Ilse den Abwasch erledigte und die Wäsche bügelte, saß sie an den Matheaufgaben, löste sie, so gut es eben ging, und machte dann die Englischhausaufgaben. Der Aufsatz für Deutsch war schon seit vier Tagen fertig für die Abgabe.

„Alles erledigt! Fahren wir jetzt in den Laden?“ Lara packte ihre Bücher zurück in ihre Tasche.

„Bring alles weg und zieh dir was Bequemes an, dann kann es losgehen. Ich mach uns eine Kanne heiße Schokolade.“

Lara fiel ihrer Oma um den Hals und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Im Auto drehte Lara das Radio auf. Sie sang lauthals und total falsch mit. Die Freude, bald neue Bücher lesen zu können, überströmte sie. Nichts war besser als ein gutes Buch. Sie kannte viele, die auf Hörbücher zurückgriffen, weil sie dann nebenbei noch etwas anderes tun konnten. Aber sie mochte das Gefühl von den Seiten zwischen ihren Fingern. Je dicker ein Buch, umso besser. Das versprach dann ein bis drei Tage Spannung und Erholung zu werden. Lara konnte in die Bücher reinkriechen. Ihre Oma sagte immer, man hätte wegen ihr das Wort Bücherwurm erfunden. Lara beschränkte sich dabei aber nicht auf ein Genre, sie las fast alles. Ihre liebsten Bücher jedoch waren Fantasie Romane. Lara konnte darüber auch stundenlang reden. Das Mädchen kannte sie alle, von Abercrombie bis Zelanzy und nun wurde es Zeit für etwas Neues.

„Wo stehen die Bücher, Omi?“, fragte Lara neugierig, als sie aus dem Wagen stiegen. Die zwei waren in Gersthofen angekommen. Dort hatte ihre Oma Ilse ihren kleinen Buchladen, der auch antiquarische Bücher und rare Ausgaben hatte. Das Fachgeschäft war ein Geheimtipp für jeden, der etwas Ausgefallenes suchte. Gegenüber des kleinen Antiquariats war eine Bäckerei. Laras Blick fiel auf das gelbe Schild und sie keuchte auf. Dort an der Ecke gelehnt, einen Krapfen in der Hand, stand er. Der Junge aus der Schule mit den grünen Augen. Der Schauder und die Gänsehaut kamen augenblicklich zurück. Verfolgte er sie etwa? Oder war es reiner Zufall? Grinste er sie auch noch an? War es überhaupt der Junge aus der Schule? Vielleicht täuschte sie sich. Immerhin hatte sie ihn kaum eine Minute gesehen. Lara drehte sich schnell zu ihrer Oma um, die gerade das „Books and More“ aufschloss. Die neuen Bücher verdrängten die Gedanken an den Jungen aus der Schule. Sollte er doch Krapfen essen, wo er wollte. Sie stürzte sich lieber in das Abenteuer, welches hinter der Tür von „Books and More“ auf sie wartete.

Am nächsten Tag lungerte der Junge vor ihrem Klassenzimmer herum. Dieses ungute Gefühl, welches er in ihr auslöste, machte Lara nervös. Warum hatten seine Blicke nur so eine Wirkung auf sie? Noch nie zuvor hatte Lara ähnliche Reaktionen auf einen Menschen gehabt. Sie las wahrscheinlich einfach zu viele Thriller, das wird es sein. Alles Einbildung, einmal durchatmen und den Kerl ignorieren, genau! Vielleicht war er der Freund von einem Mädchen aus ihrer Klasse. Tatsächlich sah sie ihn später wieder, diesmal im Gespräch mit drei Mädchen, die sie seit der 7. Klasse kannte und die zur Zicken-Clique gehörten. Doch als er wenig später tatsächlich auch im Buchladen bei ihrer Oma auftauchte und sich nach einem Buch erkundigte, wurde Lara mulmig. Sie war kein ängstlicher Mensch, aber das grenzte an Stalking. Sie konnte nicht hören, was die zwei vorne im Laden besprachen. Doch sie konnte hören, dass er eine angenehme dunkle Stimme hatte. Das ungute Gefühl verflog erst, als sie durch das Schaufenster sah, wie er in einen alten Honda stieg und davonfuhr.

Aus Lara’s Bücherschrank

FU tödlicher Fasching – Ein Horrorthriller von Frederic König

„Fasching ist doch was für Babys“, grinste Thomas. Sie waren keine Babys mehr. Sie waren vier knallharte Teenager. Er und seine Freunde Michael und Jonas saßen in dem Zelt, hinter dem Haus von Thomas Eltern. Sein Vater streckte den Kopf durch die Plane. Er hatte einen aufgemalten Bart und ein Cowboy Kostüm an. Thomas schämte sich. Wie kindisch sich seine Eltern doch benahmen. Lag wahrscheinlich am Alter.

„Okay Jungs, im Haus steht Popcorn und Getränke, wenn ihr was braucht. Wir sind erst spät zurück. Viel Spaß, ihr Faschingsmuffel und Yeehaa.“

Thomas versteckte sein Gesicht hinter den Händen und seine Freunde grinsten feist. Sie blieben in dem Zelt zurück und warteten bis sie den davonfahrenden Audi hörten.

„Okay was machen wir jetzt?“, Michael blickte sie die Reihe rum an.

„Ich habe einen Horrorstreifen von meinem Bruder geklaut, richtig derbes Zeug, was haltet ihr davon?“, schlug Jonas vor. Thomas hatte eigentlich keine Lust auf Horrorfilme. Insgeheim fürchtete sich der Junge vor solchen grusligem Zeug, wollte jedoch nicht, dass seine Freunde es mitbekamen und gab schließlich nach. Sie verließen das Zelt und begaben sich in das Wohnzimmer. Während Jonas die DVD in den Player gab, bereitete Thomas die Getränke und Snacks vor. Er ließ sich absichtlich Zeit dabei.

„Hey, lass mal. Das sind die Nachrichten“, hörte er Michael. Nachrichten?

„Wow, hey Thomas komm her, dass musst du dir ansehen“, rief Jonas in die Küche. Was bitte sollte an den Nachrichten denn so spannend sein?

„Zeugen berichten von einem Horrorclown, der auf der Veranstaltung mit Hilfe von großen, krummen Säbeln und Sicheln ein Blutbad angerichtet hatte und dann in der Nacht verschwunden war. Die Polizei sucht mit Nachdruck nach dem gefährlichen Mörder.“

„Oh mein Gott, wie cool wäre das denn?“, Michael hüpfte aufgeregt auf dem Sofa umher.

„Was meinst du?“, Thomas sah verstohlen zur großen Fensterscheibe, hinter dem Sofa und schluckte den Klos hinunter, der gerade in seinem Hals zu wachsen schien.

„Wenn der Clown hier auftauchen würde natürlich,“ pflichteten Jonas ihm bei.

„Damit ihr sterbt?“ Die zwei haben wohl nicht gehört, dass dieser Clown ein Mörder war. Ein Mehrfachmörder sogar.

„Uns würde er nicht kriegen. Wir sind zu schnell, bei dir wäre das wohl ein Problem.“ Die verletzenden Worte, die Jonas bezüglich Thomas eher rundlichen Figur machte, ärgerten den Jungen.

Er sprang vor und schlug Jonas in den Bauch.

„Hey, was wird das denn?“ kam Michael dazwischen und hielt Thomas am Arm fest, dass dieser nicht flüchten konnte.

Es dauerte nur Augenblicke, da drosch Jonas auf seinen angeblichen Freund ein und bald schon blutete Thomas aus der Nase.

„Komm Jonas, wir hauen ab. Mit dem ist nichts anzufangen. Suchen wir den Clown,“ Michael schnappte sich seine Jacke, Jonas die DVD und beide gingen zur Haustür. Thomas der am Boden lag und heftig nach Luft rang, versuchte sich aufzurappeln.

Jonas öffnete die Tür und erschrak. Vor ihm stand ein Clown, fast zwei Meter groß, mit einer böse grinsenden Maske und zwei wirklich langen Messern in den Händen. Selbst im schalen Licht der Eingangsbeleuchtung konnte man das Blut, dass heruntertropfte deutlich erkenne.

„Oh Scheiße,“ hörte Thomas noch und dann ein richtig übles Geräusch. Als würde eine Bowlingkugel auf den Boden fallen. Vorsichtig sah er zu dem Durchgang, der zur Haustür führte und sah wie der Kopf auf der Seite liegend hin- und herwippte. Bis Jonas tote Augen schließlich direkt auf ihn gerichtet liegen blieben.

KAPITEL 2 - VOR 10 MONATEN

Das Wetter war schön, das Meer ruhig und die Sonne nicht zu heiß. Das Schiff Queen Mary 2 tuckerte gleichmäßig über die ruhige See. Hella Larsen stand an der Reling und blickte in die Ferne. Sie hatte über fünf Jahre auf diese Transatlantik-Kreuzfahrt gespart. Eigentlich wollte sie diese mit ihrem Mann zusammen machen, doch dieser war letztes Jahr an Krebs verstorben. So trat sie nun allein den langen Weg von Europa nach Amerika an. Sie hatte ihren Mann vor fast fünfzig Jahren auf einer Kreuzfahrt kennengelernt. Damals war sie noch als Showgirl auf dem großen Schiff gewesen, hatte Abend für Abend gesungen und getanzt. Sie liebte das Meer und das Leben an Bord. Früher waren die Schiffe noch wesentlich kleiner und man kannte jeden Passagier. Heutzutage waren die Schiffe schon fast Großstädte, man kannte noch nicht einmal den Mitreisenden von der Nachbarkabine und die Menschen der diversen Decks blieben unter sich. Ihr Mann Henry und sie wollten ihre goldene Hochzeit auf der Titanic-Route feiern. Gegenwärtig war es ja völlig ungefährlich. Klar gab es immer noch Eisberge und andere Gefahren auf der Route, aber erstens fand die Fahrt einige Seemeilen weiter südlich statt, so dass die eigentliche Titanic parallel zu ihnen gefahren wäre, wenn sie es denn noch könnte. Und zweitens waren die Vorwarnsensoren, die im zwanzigsten Jahrhundert auf Schiffen Standard waren, viel besser als 1912. Sie war jetzt seit fast einer Woche auf dem Schiff und in wenigen Tagen würde die Queen Mary 2 New York erreichen. Hella seufzte und vermisste ihren Mann wieder schmerzlich. Das Leben allein und einsam gefiel ihr nicht. Sie stand zwar jeden Morgen auf, doch fehlte ihr der Antrieb. Daher hatten ihre Freundinnen aus dem Kegelverein gesagt, dass es Zeit würde, dass sie die Reise antreten sollte. Sozusagen, um endgültig Abschied von ihrem Geliebten zu nehmen. Henry war in ihrer Kabine. Heute war ihr Hochzeitstag. Er stand in einer Keramikurne neben ihrem Bett. Heute würde sie nach dem Abendessen die Urne ins Meer leeren. Ihn der See übergeben. Die entsprechenden Genehmigungen dafür hatte sie schon seit Monaten in der Tasche.

„Schönen guten Tag, Mrs. Larsen.“ Der Steuermann, der über ihr Vorhaben natürlich Bescheid wusste, stand neben ihr. „Guten Tag, wie geht es Ihnen?“, fragte die alte Frau. Der Steuermann lächelte aufrichtig.

„Nun, ich bin etwas nervös, Ihr Vorhaben heute Abend, das ist doch mal was Neues. Der Kapitän lädt Sie heute zur Feier des Tages an den Kapitänstisch zum Dinieren ein. Ich hoffe Sie kommen.“

Hella versprach, dies zu tun, und verabschiedete den freundlichen Seemann. Außer ihm hatte noch kaum jemand je das Wort an sie gerichtet. Sie machte sich auf, ihren morgendlichen Rundgang über das Deck zu machen. Danach würde sie ein Restaurant für das Mittagessen wählen und am Nachmittag gäbe es dann Kuchen und Eis an der Poolbar. Manchmal unterhielt sie sich dann mit dem einen oder anderen Passagier. Doch die meisten wollten für sich bleiben und interessierten sich nicht für eine alte einsame Frau. Jeder Tag hier lief gleich ab. Es war fast schon langweilig. Und sie hatte schon viele Kilos zugenommen, denn außer essen gab es ja nicht viel zu tun.

Das Essen mit dem Kapitän war eine nette Abwechslung. Es gab ein 5-Gänge-Menü. Die erlesenen Speisen, die mit großer Geste angepriesen wurden, waren lediglich Häppchen. Es war soviel vom Teller frei, dass man fast eine Lupe brauchte, um die kleinen Portionen zu finden.

„Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt, Gnädigste.“ Der Kapitän verbeugte sich, als er ihr die Hand hinhielt. Sie würden nun backbords eine kleine Zeremonie abhalten. Hella hatte ihre Tasche mit der Urne am Nachmittag dem Steuermann gegeben. Danach zog sie ihr schlichtes, schwarzes Kleid mit der Brosche an, welches sie auch zur offiziellen Beerdigung für die Angehörigen und Freunde getragen hatte, und schminkte ihr Gesicht. Ihr Gesicht besaß viele Merkmale des 70-jährigen Lebens, doch die meisten waren erst nach dem Tod ihres Mannes hinzugekommen. Er war so ein freundlicher und liebevoller Ehemann gewesen. Kinder hatten sie keine, da sie nicht schwanger werden konnte. Sie hatten sich natürlich überlegt, ob sie nicht ein Kind adoptieren sollten, sich aber dann dagegen entschieden. Stattdessen hatten sie Reisen unternommen. Fast die ganze Welt hatten sie schon gesehen. Meistens waren sie mit dem Fahrrad in England unterwegs gewesen, aber ab und zu reisten sie auch nach Mittelasien oder Australien. Sie waren große Fans von Seereisen, doch diese waren meistens zu teuer, so dass es ein sogenanntes Kreuzfahrtkonto gab, auf das sie jedes Jahr etwas einzahlten. Sie sparten schon lange für die Atlantik-Kreuzfahrt. Und nun, da sie das Geld zusammen hatte, war er nicht mehr da und sie plante, sich für immer von ihm zu verabschieden. Es tat so entsetzlich weh. Allein der Gedanke daran, mit der leeren Urne zurück in ihre Kabine zu müssen, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie schluckte schwer und ging am Arm des Kapitäns über das Deck.

Der Steuermann hatte einige Stühle aufgestellt, auf denen die Offiziere saßen. Es brannten Fackeln in den Halterungen und über ihnen strahlte das Licht der Sterne. Nirgends konnte man so viele Sterne sehen, wie auf hoher See.

„Wir haben uns heute hier getroffen, um Henry Larsen die letzte Ehre zu erweisen. Henry Larsen liebte die See, nicht zuletzt, da er auf einem Schiff, wie diesem seine wunderbare Frau Hella kennen und lieben gelernt hat. Um seinem und ihrem Leben zu huldigen, werden wir seine Asche heute dem Gott des Meeres überantworten und für immer Lebewohl sagen.“ Musik erklang und der Steuermann übergab feierlich der alten Witwe die Urne.

„Mrs. Larsen, wenn ich bitten darf.“

Hella trat an das Geländer. Beide Hände hielten das Keramikgefäß. Der Steuermann hatte die Kappe schon abgenommen und stand nun einige Schritte hinter ihr. Hella hob das Gefäß, sagte im Stillen:

„Danke Henry, für alles und jede Sekunde mit dir.“ Die Tränen, die sie verzweifelt versucht hatte zurückzuhalten, benetzten ihre Wangen und ihr Herz verkrampfte sich, als der Staub aus der Urne ins Wasser schwebte. Die leise Musik von Mozart begleitete die Reste des Verstorbenen dabei. Hella wollte sich gerade abwenden, als einer der Offiziere aufschrie. Überrascht blickten alle in die Richtung, in die der Mann zeigte.

Neben ihnen, nicht weit entfernt, war ein Schiff aufgetaucht, buchstäblich aus dem Nichts. Man sah die Lichter und der Wind trug sogar die Musik zu ihnen herüber. Jetzt dampfte neben ihnen ein großes elegantes Schiff, das Hella zu erkennen glaubte. Der Aufbau der Türme, die Länge und auch die Aufschrift an der Seite, jedem der Trauerbesucher kam das Schiff bekannt vor, spätestens seit Leonardo DiCaprio seine Rose an Deck getroffen hatte.

„RMS Titanic“, flüsterte der Kapitän und stand wie erstarrt da.

„Mr. Cross, war ein weiteres Schiff auf dem Radar?“ Mit diesen Worten riss er sich in die Wirklichkeit zurück. Doch alle Offiziere verneinten. Es wäre keinerlei Schiff auf der Route vermerkt gewesen. Das Schiff kam näher, schnell und mit vier qualmenden Schornsteinen. Es raste seitlich auf die Queen Mary 2 zu. Hella wagte es nicht, sich zu bewegen, während die Offiziere schnell auf ihre Posten rannten und der Kapitän zurück zur Brücke raste. Wenn die Titanic nicht sofort ihren Kurs ändern würde, wäre ein Zusammenstoß unvermeidlich. Der Kapitän der Titanic musste sie doch sehen. Was sollte dieses Manöver? Selbst wenn die Queen Mary 2 jetzt sofort volle Kraft geben würde, es gab keine Möglichkeit mehr, dem anderen Schiff auszuweichen. Hella klammerte sich an der Reling fest. Selbst für eine Rettung in letzter Sekunde blieb keine Zeit.

„Dann werden wir uns bald wiedersehen, Henry“, wisperte sie und schloss die Augen. Die Menschen an Bord konnte man nicht innerhalb von Minuten evakuieren. Der Steuermann kam auf Hella zu.

„Mrs. Larsen, Sie müssen da weg! Wir können eine Kollision nicht mehr verhindern. Wir haben alle Passagiere schon in den vorderen Teil des Schiffes gerufen, kommen Sie!“ Er griff nach ihrem Arm, doch Hella bemerkte es nicht.

„Ist das wirklich die Titanic?“, fragte sie. Der Steuermann, Mr. Cross, rief gegen den Lärm an, den die Dampfmotoren des alten Schiffes machten.

„Das ist jetzt egal. Es wird uns auf jeden Fall rammen. Wir können keinen Funkspruch mit denen da machen, kommen Sie!“ Er zerrte an ihrem Arm. Das Schiff war jetzt so nah, dass Hella die Passagiere sehen konnte, die auf dem Deck in aller Seelenruhe spazieren gingen. Die Titanic schien das wesentlich größere Schiff gar nicht zu bemerken, dabei waren sie nur wenige Meter voneinander getrennt. Gleich würde es in die Queen Mary 2 fahren, sie zerschmettern oder Schlimmeres. Es schienen nur noch Sekunden zu