Farben der Zukunft - Stanislav Struhar - E-Book

Farben der Zukunft E-Book

Stanislav Struhar

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Beschreibung

Ob sie sich nicht einsam hier am Wiener Stadtrand gefühlt hätten, fragte er, nachdem sie auf einer Bank im Beethovenpark Platz genommen hatten, und die Großmutter sah zu den nächsten Bäumen, sanft umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Nie zuvor seien sie so glücklich gewesen, wie an jenen Tagen, als sie nach Österreich gekommen seien, noch nie hätten beide so viele Pläne gehabt, wie damals, als sie hier, hier in Döbling, ihre neue Heimat gefunden hätten, erwiderte sie, und sein Blick wanderte über das Beethovendenkmal, verharrte schließlich am Himmel, an dem eine Vogelschar erschien, gewichtslos und einem Schatten gleich, mit wunderbarer Leichtigkeit den nahen Weingärten entgegenglitt. Die Reinheit der Farben Arno fühlt sich in Wien einsam, doch als seine Arbeitskollegin Ayana, eine Studentin mit äthiopischen Wurzeln, gekündigt wird, erfährt sein Leben eine Wendung. Er trifft sich mit Ayana, und bald zieht er in Betracht, ein Studium aufzunehmen. Da stellt Ayana ihm ihre Mutter vor … All die schönen Farben Als Martin seine Großmutter besucht, ist er bereits erwachsen, doch die Gemälde seines verstorbenen Großvaters schmücken immer noch ihre Wohnung. Großvaters Deutsch war von tschechischem Akzent geprägt, aber in seinen Gemälden blieb das Herz eines Wieners, der seine Heimat liebte. Auch Martin entdeckt die Schönheit Wiens, doch dauert es nicht lange, und dem Glück seiner Ferientage droht ein Ende …

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STRUHAR • FARBEN DER ZUKUNFT

STANISLAV STRUHAR

Farben der Zukunft

Erzählungen

Mit einem Nachwort von Ralf Rother

Die Arbeit an diesen Erzählungen wurde durch ein Werkstipendium des Bundeskanzleramtes der Republik Österreich, Sektion II »Kunst und Kultur«, unterstützt. Die Herausgabe des Buches erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Stadt Wien.

A-9020 Klagenfurt/Celovec, •.-Mai-Straße 12

Tel. + 43(0)463 370 36, Fax. + 43(0)463 376 35

[email protected]

www.wieser-verlag.com

Copyright © 2021 bei Wieser Verlag GmbH,

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Josef G. Pichler

ISBN 978-3-99029-448-2 (Print Ausgabe)ISBN 978-3-99047115-9 (Epub)

Inhalt

Die Reinheit der Farben

All die schönen Farben

Die Stille des alten Schattens

Nachwort

Die Reinheit der Farben

1

Die Einkaufsstraße lag im Licht des warmen Himmels, sanft glänzte das Laub der Bäume im Regen der Sonnenstrahlen, und im Gastgarten stand kein Tisch mehr frei. Freundlich bediente Arno das junge Paar, das am letzten Tisch saß, als er plötzlich sah, wie Ayana, seine Kollegin, den Gastgarten betrat. Ihr weißes Sommerkleid leuchtete geradezu an ihrer Haut, an ihrer sehr dunklen, fast schwarzen und wunderbar glatten Haut, und ihr schwarzes Haar, das hinter ihren Ohren steckte, fiel scheinbar gewichtslos auf ihre Schultern. Seltsam verspielt strahlten ihre silbernen Ohrringe im Schein der Sonne, und ihre Augen, groß und dunkel, funkelten in einem kleinen Lächeln. Auch er lächelte, und sie hob ihre Hand, winkte ihm leicht zu, ehe sie ins Café trat, doch dauerte es nicht lange, und er sah sie wieder, sah, wie sie auf ihn zukam, sah, dass sie nicht mehr lächelte. Sie gehe nach Hause, teilte sie ihm mit, als sie vor ihm stehen blieb, und er sah, wie sie seinem Blick auswich, unruhig ihren Kopf bewegte. Was passiert sei, wieso sie nach Hause gehe, fragte er, fragte leise und überrascht, und sie antwortete, sie werde nicht mehr kommen, sei gerade gekündigt worden. Weil sie zu spät gekommen sei? Ja, erwiderte sie und sagte, sie werde ihm das Buch, das er ihr geliehen habe, selbstverständlich zurückgeben, so bald wie möglich werde sie ihm das Buch zurückbringen. Aber nicht hier, hier ins Café wolle sie nicht kommen, zu unangenehm wäre es ihr, fügte sie hinzu und gab ihm ihre Handynummer, verließ den Gastgarten, und er ging ins Café, fragte, warum Ayana gekündigt worden sei.

»Sie ist ja schon in den ersten zwei Wochen zwei Mal zu spät gekommen«, antwortete Roland, sein Kollege, und lächelnd sah er zu seinem Freund, der am nächsten Tisch saß. Ob sie gesagt habe, warum sie zu spät gekommen sei, fragte Arno, und rasch blickte er zu Irmgard, die an der Theke stand und Gläser polierte. Nein, antwortete Irmgard und senkte den Blick, und er wandte sich von ihr ab, sah wieder Roland an. Er habe es geahnt, dass sie nicht lange bleibe, sagte Roland, und sein Freund fragte, wo genau sie herkomme, wie lange sie schon in Österreich lebe. Sie sei Äthiopierin, lebe aber schon lange in Wien, antwortete Roland, und sein Freund sagte, die Afrikaner hätten eine andere Mentalität, eine andere Arbeitsmoral, nie würden die sich hier integrieren. Sie habe doch einen deutschen Nachnamen, sagte Irmgard, und Rolands Freund sah alle an, fragte überrascht, ob sie etwa mit einem Österreicher zusammenlebe, ob sie verheiratet sei. Das wisse keiner hier, antwortete Roland, und Christopher, der Inhaber des Cafés, kam aus dem Büro. Das Gesicht ernst, trat Christopher an Arno heran, und mit unruhiger Stimme fragte er, ob er morgen und übermorgen Zeit hätte, ob er kommen könne. Ja, antwortete Arno, und Christopher sagte, nächste Woche würden sie eine neue Kollegin bekommen, eine erfahrene und nette Kollegin, und da könne er frei haben, könne sich gleich freie Tage nehmen. Danach ging er wieder ins Büro, und Arno drehte sich um, kehrte in den Gastgarten zurück.

Sanft öffnete der Stadtpark sich seinen Augen, und er verlangsamte seine Schritte, den Blick auf Blumen, die, in wohltuende Wärme der Sonne getaucht, ihre Farben zur Schau stellten. Menschen saßen auf den Bänken oder auf dem Rasen, und Vogelgesang drang in ihre Stimmen, Wildenten belebten den kühlen Glanz des Teiches. Er ging zum Donauweibchenbrunnen, und kaum hatte er auf einer Bank Platz genommen, sah er schon Ayana, die auf ihn zukam. Sie lächelte, fing an zu laufen, und als sie sich zu ihm setzte, nahm sie das Buch aus ihrer Handtasche, strich darüber. Es habe ihr sehr gefallen, schon lange habe sie keinen Roman gelesen, der so wunderbar geschrieben und erzählt sei, sagte sie und gab ihm das Buch, blickte zu dem Brunnen. Wie man so etwas tun könne, presste sie zwischen den Lippen hervor, und ihre Augen wanderten über den Brunnen, der hässlich beschmiert war. Man werde die Schmiererei bestimmt entfernen, sagte Arno, und sie wandte sich ihm wieder zu, sah ihn mit festem Blick an.

»Du hast gesagt, dass wir einen Kaffee trinken gehen«, sagte sie, und er öffnete seine Tasche, nahm eine Thermosflasche heraus. Auch die Decke zeigte er ihr, die schöne und weiche Wolldecke, die in seiner Tasche steckte, anschließend führte er sie zu einem Baum, der nah am Teich stand. Er legte die Decke auf den Rasen, und sie stieg aus ihren Schuhen, setzte sich und zog ihr Kleid zurecht, bedeckte wieder ihre Beine, dann fuhr sie mit der Hand über die Decke, fragte, ob sie neu sei. Nein, neu sei sie nicht, er habe sie nur noch nie mit nach draußen genommen, antwortete er und setzte sich, schenkte vorsichtig den Kaffee in zwei Becher. Milch oder Zucker? Beides, antwortete sie, und er griff abermals in die Tasche. Sie kicherte, und er sah, wie sie einen kleinen Buben beobachtete, der auf eine Schar Tauben zulief. Die Tauben flogen auf, ihr heftiges Flügelschlagen versetzte die Luft in Bewegung, und all die Menschen, die am Teich saßen, hoben ihre Köpfe, blickten zum Himmel. Eine junge Frau kam zu dem Buben gelaufen, und aufgeregt fasste sie ihn an der Hand, schimpfte. Ob er als Kind auch manchmal Tauben verscheucht habe? Manchmal schon, ja, das müsse er gestehen, antwortete er, und sie sagte, der Kleine schaue ihm ähnlich. Die blonden Haare, die blauen Augen, setzte sie hinzu, und er fragte, ob sie etwa nie Tauben verscheucht habe, ob sie stets ein braves Mädchen gewesen sei. Sie sei zu Hause dazu angehalten worden, alle Tiere zu lieben, erwiderte sie lediglich, und rasch sah sie zu einem jungen Paar mit Kinderwagen, das ans Ufer des Teiches kam, langsam stehen blieb. Der Mann nahm ein Kind aus dem Kinderwagen, ein kleines und zartes Mädchen, setzte es auf der Erde ab und strich ihm über den Kopf, und die Frau, die rothaarig war wie die Kleine, ließ sich in die Hocke nieder, tauchte ihre Hand in das himmelfarbene Wasser des Teiches. Ob er noch bei seinen Eltern wohne, fragte Ayana unvermittelt, und er verneinte, sagte dann, er habe seine eigene Wohnung. Ob er Geschwister habe, fragte sie weiter, und er schüttelte den Kopf, antwortete halblaut, er habe keine Geschwister.

»Und deine Eltern?«, fragte sie. »Leben sie auch in Wien?«

»Ja, aber ich habe sie schon lange nicht gesehen.«

»Wieso?«

»Weil wir uns nicht verstehen«, antwortete er und sah, wie die Frau sich dem Mädchen zuneigte, wie sie lächelte, ihm etwas ins Ohr wisperte. »Und du? Wohnst du noch zu Hause?«

»Ja, ich wohne bei meiner Mama«, antwortete Ayana, und er sah, wie der Mann vor der Kleinen in die Hocke ging, ihre Hand nahm.

»Und dein Vater?«, fragte Arno rasch.

»Er ist gestorben.«

»Das tut mir leid. Wann ist er denn gestorben?«

»Es ist schon vierzehn Jahre her. Ich war damals erst elf, aber manchmal scheint es mir, als wäre es vor wenigen Monaten passiert.«

»Deine Mutter blieb die ganze Zeit allein?«

»Nein, sie hat mich. Wir sind die besten Freundinnen.«

»Das hört man nicht oft«, sagte er und sah, wie das Paar mit dem Mädchen die Wildenten fütterte, große und kleine Enten, die zu ihnen geschwommen waren. Auch Ayana blickte zu ihnen, und lächelnd wies sie auf eine Möwe, die sich zu den Enten gesellte, zusammen mit ihnen schwamm. Das Füttern habe auch die Aufmerksamkeit der kleinen Fische erweckt, und das wisse die Möwe, sagte Ayana, und er sah, wie das Mädchen die Möwe mit Wasser bespritzte. Ob sie ein Tier zu Hause habe, fragte er, und sie verneinte, sagte, sie wolle kein Tier haben.

»Wieso nicht?«

»Mein Vater hat mir mal eine Katze nach Hause gebracht, die war ganz schwarz und so zart. Wenn ich zu Hause war, war sie permanent bei mir und schlief sogar in meinem Bett. Nachdem mein Vater gestorben war, starb auch sie. Es war an einem heißen Tag, an einem Tag wie heute, ich habe damals bemerkt, dass mit ihr etwas nicht gestimmt hat, aber ich dachte, ihr war nur zu heiß, und dann brach sie zusammen. Als meine Mama von der Arbeit nach Hause kam, haben wir sie in der Nähe unseres Hauses begraben. Ich habe so geweint. Seitdem will ich kein Tier mehr haben.«

»Vielleicht wirst du dir mal wieder ein Tier wünschen«, sagte er, und sie trank ihren Kaffee aus.

»Was ist das für ein Kaffee? Der schmeckt so gut.«

»Kaffee Irish Cream«, antwortete er und schenkte ihr nach. »Ich kenne ein Geschäft, wo es ganz viele Kaffeesorten gibt. Ich zeig’ es dir, wenn du mal Zeit und Lust hast.«

»In den nächsten Tagen werde ich bestimmt Zeit haben, ich meine, bis ich einen Job gefunden habe.«

»Es tut mir leid, dass es bei uns im Café nicht geklappt hat.«

»Das ist doch unser Nachbar«, sagte sie und wies auf einen alten Mann, der auf einer Bank saß, offenbar schlief. »Der arme Dieter, der ist schon schwach. Und so einsam.«

»Lebt er schon lange allein?«

»Ich war noch klein, als seine Frau gestorben ist, und seitdem lebt er allein. Er hat eine kleine Buchhandlung gehabt, gleich in der Nähe unseres Hauses. Ich habe immer noch die Kinderbücher, die er mir geschenkt hat. Ich war so gern in seiner Buchhandlung. Auch bei ihm zu Hause war ich gern, er hat ganz viele Bücher.«

»Er muss sehr belesen sein.«

»Er konnte zu jedem Buch etwas sagen, und wenn ein Buch ihm besonders gefallen hat, dann hat er darüber so schön erzählt. Meistens bin ich gleich nach dem Unterricht in seine Buchhandlung gegangen, und wenn er nicht gerade mit seinen Kunden sprach, zeigte er mir neue Kinderbücher oder las mir kurz vor, und manchmal hat er mir sogar ein Buch geschenkt. Es hat Nachmittage gegeben, an denen ich dort meine Hausaufgaben gemacht habe. Die Buchhandlung gibt es nicht mehr, aber ich werde sie nie vergessen.«

»Hast du damals viele Lieblingsbücher gehabt?«, fragte er, und sie bejahte, erzählte über die Bücher.

Schon waren die meisten der Tische besetzt, und immer wieder ertönten fremde Sprachen. Junge Touristen, Männer und Frauen, überwogen unter den Gästen. Noch war die Straße ruhig, die Sonne lauwarm, und reglos lagen die Schatten vor den Häusern, still stand jeder Baum. So viele Touristen gebe es hier, sagte die alte Frau, die im Haus gegenüber wohnte, ehe sie Platz nahm, und er fragte, was er ihr bringen solle, ob sie wieder eine Melange trinke. Als er dann die Melange auf ihren Tisch stellte, fragte er, ob sie ein schönes Wochenende gehabt habe, fragte, was sie denn gemacht habe, und sie antwortete, sie sei nur ein Mal draußen gewesen, habe kurz in den Volksgarten geschaut. Doch habe es so viele Menschen im Volksgarten gegeben, keinen ruhigen Platz habe sie gefunden, und die Frauen, die jungen Frauen, halb nackt seien sie auf dem Rasen gelegen, fügte sie hinzu, und er sagte lächelnd, es sei ja sehr warm gewesen, den ganzen Tag habe die Sonne gestrahlt. In ihrer Jugend seien alle Frauen schön angezogen gewesen, und sie ziehe sich immer noch schön an, wenn sie in den Volksgarten oder in den Burggarten gehe, setzte die Frau fort, und er sah, wie Helga aus dem Café trat, sah, wie sie lächelte, neben der Tür stehen blieb. Ob das seine neue Kollegin sei, erkundigte sich die Frau, und er bejahte, kam zu Helga und fragte, wie es ihr gehe, wie sie das Café finde. Es gehe ihr gut, und die Arbeit hier sei nicht so anstrengend wie in den Cafés, in denen sie bisher gearbeitet habe, antwortete sie, und er fragte, ob sie schon Roland kennengelernt habe. Bei ihrem Vorstellungstermin habe sie ihn kennengelernt und finde ihn nett, finde alle hier nett, antwortete sie, und sogleich fragte sie, wieso die Stelle frei geworden sei, wer hier denn vorher gearbeitet habe. Er antwortete, und sie gab einen Seufzer von sich, sagte, eine Schwarze werde es schwer haben, einen Job zu finden.

»Sie studiert«, sagte Arno, den Blick auf den Gastgarten. »Sie wollte halt nebenbei etwas Geld verdienen.«

»Was studiert sie denn?«

»Vergleichende Literaturwissenschaft«, antwortete er und bemerkte einen alten Mann, einen Bettler, der an der Ecke des Gastgartens stehen blieb und lächelnd ein junges Paar ansprach. Auch Helga sah den Mann, und energisch trat sie an ihn heran, forderte ihn auf, weiterzugehen, und nachdem der Mann sich entfernt hatte, kehrte sie zurück und sagte, es sei wieder einer aus dem Ausland gewesen, so viele Bettler gebe es schon in Wien, immer frecher seien sie. Und immer ärmer, bemerkte Arno, doch sie hörte ihm nicht mehr zu, lächelte und sprach Irmgard an, die an der Tür erschien.

Kaum hatte er den Stephansplatz betreten, sah er, wie Ayana vor dem Dom stand und nachdenklich vor sich hinstarrte, und als er zu ihr kam, fragte er rasch, ob sie schon lange da sei. Nein, nicht lange, antwortete sie und fragte, ob er ihr das Geschäft gleich zeige, wollte wissen, wo genau das Geschäft sich befinde. Er antwortete, und dann führte er sie schon am Dom vorbei, langsam bis ans Ende des Platzes. Zusammen betraten sie das Geschäft, und Ayana sagte, sie sei einige Male an dem Geschäft vorbeigegangen, doch habe sie nicht geahnt, dass es so schön sei, wäre nie darauf gekommen, dass es drinnen so wunderbar sein könne. Jetzt wisse sie, wo sie das nächste Mal einkaufen werde, sagte er dann, als sie durch das Geschäft schritten, doch sie schien seine Worte nicht wahrzunehmen, zu sehr war sie mit der Betrachtung der Kaffeesorten beschäftigt. Er trat an einen Tisch, auf dem verschiedene Teesorten ausgestellt waren, und da sah und hörte er, wie eine junge Verkäuferin auf Ayana zukam, sie auf Englisch ansprach und fragte, ob sie etwas Bestimmtes suche, ob sie ihr helfen könne. Nein, danke, antwortete Ayana, antwortete auf Englisch, und er sah, wie die Verkäuferin einen Blick zu ihm warf und sich umdrehte, zurück zur Kassa schlenderte. Ob sie schon eine Wahl getroffen habe, fragte er auf Englisch, als er zu Ayana kam, und sie lachte leise, nahm den Kaffee Irish Cream aus dem Regal. Den werde sie gleich morgen trinken, zusammen mit ihrer Mama werde sie ihn trinken, sagte sie dann, als sie hinaus auf den Platz kamen, und er sah, wie ihr Blick sich am Turm des Domes verfing, sah, wie ihre Augen sich bewegten, langsam über den Turm hinaufglitten.

»Als würde der Turm den Himmel berühren«, kam von ihren Lippen, die zärtlich lächelten. »Magst du in den Dom schauen?«

»Warum nicht, ich war schon lange nicht drinnen«, antwortete er, und dann betraten sie den Dom. Da sah er, wie Ayana sich bekreuzigte, und still blickte er zum Altar, der rein und hell war, so herrlich leuchtete. Menschen, junge und alte, die als Touristen zu erkennen waren, strömten durch das gedämpfte Licht des Domes, ihre Stimmen flüsterten, Augen glänzten sanft. Ein junges Paar mit zwei Kindern verharrte vor einem Kerzenständer, eine asiatische Familie, und Arno sah, wie sie alle vier die brennenden Kerzen betrachteten, sah, wie ihre Augen über die kleinen Flammen der Kerzen wanderten. Die Frau strich den Kindern übers Haar, der Mann richtete seine Kamera auf sie und machte Aufnahmen, und danach drehten sie sich alle um, schritten zum Ausgang. Ob er nach vorne schauen wolle, fragte Ayana leise, und als er mit dem Kopf nickte, gingen sie weiter, gingen durch den ganzen Dom. Er könne sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt in einer Kirchenbank gesessen sei, flüsterte er, als sie in einer Bank saßen, und draußen auf dem Platz fragte er dann, ob sie oft in den Dom schaue. Manchmal nur, erwiderte sie und fragte, ob er ein Eis möchte, und als er bejahte, führte sie ihn zur nächsten Straße, führte ihn dann bis zum Donaukanal. Ob sie als Kind zur Kirche gegangen sei, erkundigte er sich, als sie das Wasser entlangschritten, und sie senkte den Kopf, verlangsamte ihre Schritte. Ja, zusammen mit ihrer Mama und ihrem Papa, später dann nur mit ihrer Mama, und als sie größer geworden sei, sei sie auch allein zur Kirche gegangen. Seine Eltern seien nie zur Kirche gegangen, und er habe nur aus Neugier in die Kirchen geschaut, sagte er, und sie trat ans Ufer, ließ sich in die Hocke fallen. Sie würde so gern hineinspringen, so gern würde sie jetzt schwimmen, sagte sie plötzlich, und er kam zu ihr, hockte sich auch hin, sagte, das wäre gefährlich, zu starke Strömungen gebe es hier.

»Ich weiß. Ich wollte schon als Kind hier baden, aber meine Eltern haben mir erzählt, wie gefährlich und unberechenbar das Wasser sein könnte.«

»Welche Sprache sprichst du denn zu Hause?«

»Deutsch.«

»Nur Deutsch? Und welche Sprache kannst du noch?«

»Englisch und Französisch.«

»Ich kann nur Englisch.«

»Bist du ein echter Wiener?«

»Wer ist schon ein echter Wiener?«

»Bist du in Wien geboren? Sind deine Eltern in Wien geboren?«

»Ja«, antwortete er rasch.

»Schade, dass das Wasser so trüb ist«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich habe mir schon als Kind so sehr gewünscht, die Fische und die Wasserpflanzen zu sehen. Aber hier sieht man gar nichts.«

»Ich wollte hier als Kind angeln«, sagte er, den Blick auf einen alten Angler, der am anderen Ufer hockte.

»Hast du schon mal geangelt?«, fragte sie.

»Nein. Und du?«

»Noch nicht. Aber dafür bin ich hier einige Male mit dem Schiff gefahren.«

»Ich bin noch nie mit einem Schiff gefahren«, sagte er, richtete sich auf und sah das Badeschiff an, das ein Stück weiter am Ufer vertäut lag. »Und auf dem Badeschiff war ich auch noch nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte sie, dann gingen sie weiter, tauchten in die Musik, die unablässig in die Stille des Kanals drang. Aus dem kleinen Lokal mit Gastgarten, dem Badeschiff gegenüber, hallte Popmusik, und aus der Bar, die das Schiff beherbergte, kam Technomusik. In dem Gastgarten des Lokals saßen Männer, junge und ältere Männer, und alle lächelten sie vergnügt, alle dem Schiff zugewandt. In dem Schwimmbecken des Schiffes badeten junge Frauen, und direkt über ihnen, in einem schlichten Fußballkäfig, spielten Burschen Fußball.

»Das finde ich praktisch, da kann man sich nach einem Spiel gleich abkühlen«, sagte Arno.

»Das Schwimmbecken ist total nett und die Idee mit dem Spielplatz darüber super, aber ich glaube, das wäre trotzdem nichts für mich«, meinte Ayana, und beide beschleunigten sie leicht ihre Schritte, gingen auf die nächste Brücke zu.

»Es ist schon viel los hier«, sagte er, den Blick zum anderen Ufer, wo die nächsten Bars mit kleinen Gastgärten waren, und Ayana lachte.

»Du hörst dich an, als wärst du das erste Mal in Wien«, sagte sie, und er murmelte, da habe sie recht, er brauche schon dringend eine Stadtführung. Ob er tatsächlich so wenig ausgehe, fragte sie, und er bejahte, sagte, er tue leider nur wenig in seiner Freizeit.

»Wieso? Hast du denn keine Freunde?«

»Ich habe halt keine Lust.«

»Und was machst du, wenn du frei hast?«

»Ich lese zum Beispiel.«

»Also, wenn die Bücher so wunderbar sind wie das eine, das du mir geliehen hast, dann nutzt du deine Freizeit schon sinnvoll.«

»Ja, manchmal habe ich das Gefühl, dass nur mehr Bücher mein Leben wirklich bereichern«, sagte er und erzählte über Romane, die er zuletzt gelesen hatte. Da öffnete sich seinen Augen eine Strandbar mit Liegestühlen und Sonnenschirmen. Ob er schon mal hier gewesen sei, ob er die Strandbar kenne, fragte Ayana, und er verneinte. Das habe sie sich fast gedacht, sagte sie, und als sie an den Strand kamen, stieg sie aus ihren Schuhen und führte ihn zu einem Liegestuhl, der unter einem Sonnenschirm stand. Sie ließ ihn Platz nehmen und holte das Eis, und er entledigte sich seiner Schuhe, legte seine Füße auf den feinen Sand. Hier könne man glauben, die Stadt verlassen zu haben, sagte er und sah auf den Kanal, streifte mit den Augen über den Glanz des Wassers. Ob sie oft in die Bar hier komme, fragte er, und sein Blick glitt über die Gäste, vorwiegend junge Menschen, die, der prallen Sonne ausgesetzt oder unter den Schirmen versteckt, in den Liegestühlen saßen. Nicht oft, sie sei einige Male mit den Mädchen von der Uni hier gewesen, erwiderte sie und fragte ihn, ob er denn nicht studieren wolle, ob er nie darüber nachgedacht habe, ein Studium aufzunehmen. Schon, aber er würde es nicht schaffen, würde ein Studium bestimmt bald abbrechen, antwortete er.

»Du kannst viel mehr schaffen, als du glaubst«, sagte sie.

»Du kennst mich so gut?«

»Ich würde dir helfen.«

»Und was sollte ich deiner Meinung nach studieren?«

»Vergleichende Literaturwissenschaft.«

»Du meinst, das wäre was für mich?«

»So wie du fragst, habe ich mal meine Mama gefragt. Sie hat mich überzeugt und schließlich dazu gebracht, vergleichende Literaturwissenschaft zu studieren. Sie hat mir immer geholfen, schon als ich klein war und manchmal weinend nach Hause kam, hat sie es geschafft, dass ich wieder stark wurde.«

»Warum hast du geweint?«

»Weil mich zum Beispiel Buben beschimpft haben«, antwortete sie, und die Musik setzte ein, eine Melodie kam aus der Bar, eine sanfte und langsame Melodie, die seltsam verspielt durch das Sonnenlicht glitt, unaufdringlich tönte.