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»Nicht nur du hast jemanden verloren, Thalia. Wir haben den gleichen Feind. Lass uns zusammenarbeiten – auch wenn ich dir vielleicht Angst mache.« Eine schreckliche Mordserie hält Köln in Atem. Die Opfer werden vor dem wunderschönen Friedhof in Melaten abgelegt, der für seine kunstvollen Grabmäler und Statuen bekannt ist. Als der Kollege und einzige Freund der Journalistin Thalia ebenfalls ermordet wird, reißt sie sich seine Recherche zu den Fällen unter den Nagel. Am Tatort findet sie das steinerne Bruchstück eines männlichen Gesichts. Von diesem Zeitpunkt an fühlt sie sich verfolgt. Doch ist es wirklich der Täter, der ihr auf den Fersen ist? Als mit einem Mal eine männliche Gargoyle-Statue vor ihren Augen lebendig wird und Hilfe anbietet, ist sie sich sicher: Hier geht etwas ganz und gar Übernatürliches vor, das sie ihren Verstand kosten könnte. Nicht nur, weil die Männerstatue so verdammt attraktiv ist, vor allem in menschlicher Form. Doch wird es ihr gelingen, die Wahrheit herauszufinden und den Zusammenhang der Morde mit dem Fluch des Gargoyles rechtzeitig zu erkennen?
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Epilog
Dank
Katja Segin
Fate of Stone
Der Fluch des Gargoyles
Fantasy
Fate of Stone: Der Fluch des Gargoyles
»Nicht nur du hast jemanden verloren, Thalia. Wir haben den gleichen Feind. Lass uns zusammenarbeiten – auch wenn ich dir vielleicht Angst mache.«
Eine schreckliche Mordserie hält Köln in Atem. Die Opfer werden vor dem wunderschönen Friedhof in Melaten abgelegt, der für seine kunstvollen Grabmäler und Statuen bekannt ist. Als der Kollege und einzige Freund der Journalistin Thalia ebenfalls ermordet wird, reißt sie sich seine Recherche zu den Fällen unter den Nagel. Am Tatort findet sie das steinerne Bruchstück eines männlichen Gesichts. Von diesem Zeitpunkt an fühlt sie sich verfolgt. Doch ist es wirklich der Täter, der ihr auf den Fersen ist? Als mit einem Mal eine männliche Gargoyle-Statue vor ihren Augen lebendig wird und Hilfe anbietet, ist sie sich sicher: Hier geht etwas ganz und gar Übernatürliches vor, das sie ihren Verstand kosten könnte. Nicht nur, weil die Männerstatue so verdammt attraktiv ist, vor allem in menschlicher Form. Doch wird es ihr gelingen, die Wahrheit herauszufinden und den Zusammenhang der Morde mit dem Fluch des Gargoyles rechtzeitig zu erkennen?
Die Autorin
Katja Segin, Jahrgang 1980, liebt Geheimnisse aller Art. Besonders gern verfasst sie deswegen geheimnisvoll-dramatische Fantasy- und Familiengeschichten mit einem historischen Hintergrund. Dafür durchforstet sie regelmäßig Geschichtsbücher und alte Fotoalben und sucht nach Inspiration.
Privat lebt sie ganz ohne Drama mit ihrem Mann und zwei Schildkröten in der Altstadt von Paderborn.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, September 2025
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2025
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-374-5
ISBN (epub): 978-3-03896-375-2
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Erinnerungen sind seltsam.
Sie werden mit der Zeit ungenau,
verblassen sogar.
Irgendwann ist alles,
was übrig bleibt,
das Gefühl,
das man damals hatte.
Toby trat durch den Seitenausgang und schloss den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Hals. Der Wind fegte jaulend um die Hausecke des Hotels, das sich direkt neben dem wohl bekanntesten Friedhof Kölns erhob. Was für ein Scheißwetter wieder, dafür war er nicht richtig angezogen.
Immerhin sah er cool aus, das war auch etwas wert. Die Kleine von der Rezeption stand auf seinen James-Dean-Look, da war er sich sicher. Noch gab sie sich brav und bieder, erzählte von ihrem Verlobten und der bevorstehenden Hochzeit, als würde das irgendwen interessieren. Insgeheim warf sie ihm aber vielsagende Blicke zu. Es würde nicht mehr lange dauern, dann bekäme er sie rum.
Und solange vergnügte er sich eben mit irgendeiner Tussi, die er im Internet aufriss. Das war einfach, diskret und man wusste im Vorfeld ziemlich genau, was man bekam und worauf die Sache hinauslief. Tatsächlich schrieb er seit einigen Tagen mit einer heißen Reporterin, die ziemlich versaut zu sein schien. Vielleicht würde er ihr morgen mal ein Treffen vorschlagen.
Mit den Händen in den Taschen und aufgestelltem Kragen lief Toby durch die einsetzende Dämmerung. Seine Schritte wurden langsamer, als ihm einfiel, dass er ja überhaupt nicht nach Hause wollte.
Wo wohnte noch gleich sein Kumpel Bret? Hinter dieser riesigen Waschanlage am Melatengürtel, oder nicht?
Toby stöhnte auf. Das war genau auf der anderen Seite des Friedhofs.
Vor dem Eingangstor blieb er stehen und sah auf das Schild mit den Öffnungszeiten. Das konnte er schaffen, wenn er schnell war. Andererseits wurde es bereits dunkel und das Gelände war ihm irgendwie unheimlich.
Er schaute sich noch einmal um, löste sich dann von dem Eingang und machte einige Schritte Richtung Aachener Straße. Dabei fiel sein Blick auf einen Friedhofsplan, den jemand achtlos fallen gelassen hatte.
»Mist«, murmelte er.
Von seiner Position führte der direkte Weg zu der Waschanlage einfach ganz gerade über den Friedhof. Wenn er außen herum ging, egal in welche Richtung, war es viel weiter … und er hatte verdammten Kohldampf.
Er schnaubte unwillig. »Ach, was soll’s.«
Mit diesen Worten drehte er um und lief durch den einsetzenden Nieselregen zurück zum Haupteingang.
Fröstelnd betrat er den Platz vor der Trauerhalle, dabei war ihm normalerweise gar nicht kalt. Nie.
Direkt hinter den Mauern des Friedhofs schien die Temperatur schlagartig um ein paar Grad abzusinken.
»So ein Schwachsinn.« Eigentlich wollte Toby sich selbst mit diesen Worten beruhigen, doch der Klang seiner Stimme ließ ihn erschauern.
Bevor er den Hauptgang des Friedhofs betrat, der auf die andere Seite führte, stutzte er.
Diese Statue … hatte die gerade schon dort gestanden?
Er konnte sich nicht erinnern, sie gesehen zu haben. Dabei war der lebensgroße weiße Engel mit der Kapuze, die sein Gesicht verbarg, kaum zu übersehen. Der stand ja mitten im Weg, an der Stelle, an der das Pflaster des Platzes in den Teerbelag des Weges überging.
Da gehörte er ganz sicher nicht hin. Andererseits wirkte er auch alles andere als neu, der Stein war stellenweise stark verwittert und mit Moos bewachsen.
Ob er umgestellt werden sollte? Wohl kaum um diese Zeit.
Ein Schauer überfiel Toby, als er an der Figur vorbeiging. Obwohl er die Augen des Engels nicht sehen konnte, fühlte er sich irgendwie von ihm beobachtet.
»Na, hat dich jemand vergessen?« Toby lachte hart auf, obwohl ihm gar nicht zum Lachen zumute war. »Bist ja auch nicht der Schönste. Einfach abgestellt und stehen gelassen, was?«
Kaum war er vorbei, nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Eine winzige Drehung des Kopfes unter dem Umhang.
Ihm entfuhr ein Keuchen und er machte einen Satz nach vorn. Sein leerer Magen überschlug sich beinahe und drückte bittere Galle in seine Speiseröhre.
»Scheiße!«
Mühsam versuchte er, sich zu beruhigen.
War das einer dieser Typen, die angemalt in der Fußgängerzone standen und Touristen anbettelten? Dann war das Kostüm aber verflucht gut. Doch was hatte so einer abends auf dem Friedhof verloren?
Mit aller Macht schluckte Toby die Magensäure wieder hinunter und straffte sich.
Das wäre gelacht, wenn er sich von so einem Arsch Angst einjagen ließe. Das Spiel konnte man auch anders spielen.
Er fuhr herum und machte einen Satz auf die Statue zu. »Buh!«
Der Typ rührte sich keinen Millimeter.
Unmöglich, dass er sich bei so einer Aktion nicht erschrocken hatte.
Toby stupste ihn an. Unter seinen Fingerspitzen nahm er kalten, feuchten Stein wahr.
Ein etwas irre klingendes Lachen hallte über die Gräber und es dauerte einen Augenblick, bis Toby bemerkte, dass er es selbst war, der lachte.
Mit beiden Händen tastete er über das Gewand des Engels.
Hart wie Granit.
Er musste sich die Bewegung eingebildet haben. Wie dämlich. Schnell sah er sich um, doch es war niemand da, der seine Aktion mitbekommen haben konnte. Hoffentlich wurde der Bereich nicht videoüberwacht.
Mit einem unguten Gefühl ging er weiter, schneller als zuvor. Er sollte machen, dass er hier wegkam. Dieser Ort tat ihm gar nicht gut.
Gleich, bei seinem Kumpel Bret, könnte er sicher darüber lachen, jetzt gerade wollte er allerdings nur fortlaufen.
Einige Wegkreuzungen gelang es ihm, sich nicht umzudrehen. War ja auch Unsinn. Hier war vermutlich niemand mehr außer ihm, wen sollte er also hinter sich sehen?
Dann hielt er es nicht mehr aus. Hastig warf er einen Blick über die Schulter.
Die Statue war verschwunden.
Toby blieb stehen und fuhr herum. Sein Blick huschte hin und her. War er schon zu weit auf den Friedhof vorgedrungen? Spielten ihm die Lichtverhältnisse einen Streich?
Die Nerven. Es waren sicher seine Nerven.
Dadurch war aber nicht zu erklären, dass er die Trauerhalle sehr gut sehen konnte. Zu gut, denn eigentlich sollte die Statue genau zwischen ihm und der Halle stehen. Wenigstens die Silhouette müsste sich abzeichnen.
Doch da war nichts.
Stattdessen wurde der Eindruck, beobachtet zu werden, stärker.
Als wollte er sich selbst überzeugen, schüttelte er ganz deutlich den Kopf.
So ein Quatsch.
Er drehte sich wieder um und lief weiter. Beinahe hatte er Angst, dass die Statue jetzt vor ihm auftauchte wie in einem dieser irren Filme, die er hin und wieder sah, wenn er völlig stoned war. Doch das hier war kein Film, das war das echte Leben, und da bewegten sich Statuen nicht vom Fleck.
Obwohl er sich damit ziemlich sicher war, wurde er mit jedem Schritt schneller. Sein Herz gab den Rhythmus vor, nur dass seine Füße nicht mitkamen. Er stolperte, fing sich, lief weiter.
Hinter ihm knirschte Kies. Er blickte sich nicht um.
Jetzt rannte er.
Das Kribbeln in seinem Hinterkopf wurde unerträglich.
Ein Geräusch erklang, fast wie ein Keuchen, und es war ganz nah.
Direkt hinter ihm.
Etwas riss ihn von den Beinen und er landete unsanft auf dem Asphalt. Ein stechender Schmerz schoss bis in seinen Ellbogen. Seine Handflächen brannten von dem Aufprall. In seinem linken Handgelenk hatte es deutlich geknirscht. Die Füße hatten sich in etwas verheddert, er konnte sie nicht bewegen. Hilflos zappelte er mit den Beinen und kleine, spitze Steinchen bohrten sich dabei durch seine Jeans in die Haut.
Vielleicht waren es auch Scherben.
Ein Ruck fuhr durch seinen Körper, als er an den Füßen in die Richtung gezerrt wurde, aus der er gerade gekommen war.
Ein heiserer Schrei entrang sich seiner Kehle.
Unvermittelt wurde er empor katapultiert, als würde jemand seinen Körper an den Beinen durch die Luft schwingen wie einen Baseballschläger. In aller Deutlichkeit spürte er, wie etwas in seiner Hüfte riss. Sein linkes Bein fühlte sich locker an, als wäre es gar nicht mehr mit seinem Körper verbunden, doch der erwartete Schmerz blieb aus.
Der Asphalt kam in rasender Geschwindigkeit auf ihn zu.
Es wurde schwarz um ihn.
Thalia ließ die Polizeimeldung sinken und starrte aus dem Fenster.
Hinter einem hässlichen Hochhaus konnte sie in der Ferne die Zwillingstürme des Doms ausmachen, die brutal in die Wolkendecke stießen. Es erweckte nicht den Eindruck, als würde die Sonne sich jemals wieder zeigen.
Nachdenklich strich sie sich über die Stirn und spielte dann mit dem wellenförmigen Anhänger ihrer Lederkette.
Eine grausam verstümmelte Leiche war schrecklich, konnte aber Zufall sein. Eine zweite und eine dritte mit den gleichen Wunden, das war ein Muster. Ein sehr beunruhigendes, zumal die Kripo nicht damit herausrückte, welcher Art die Verletzungen waren.
Wenn sie dort nur einen Kontakt hätte …
Ihr Lieblingskollege Konstantin passierte ihren Schreibtisch, der im Großraumbüro der News Cologne passenderweise genau zwischen seinem Platz und der Kaffeeküche platziert war. Er stoppte und hockte sich auf die Kante, wofür er zuerst ihren vollen Kaffeebecher beiseiteschieben musste. Mit seiner massigen Gestalt verdeckte er ihr die Aussicht, doch sein Lächeln war ihr ohnehin lieber, obwohl es mal wieder von einem deutlichen Bartschatten unterstrichen wurde. Seine Falten wirkten auch tiefer als sonst. Alle, mit Ausnahme der Lachfältchen.
Mit dem Zeigefinger stupste er den Bericht an. »Wir sollen es nicht allzu aufbauschen, sagt der Polizeisprecher. Sonst gibt’s Ärger.«
Ein leichter Geruch nach Old Spice und Zigaretten wallte in Thalias Riechzentrum und erinnerte sie ganz kurz an die dreißig Jahre Altersunterschied, die sie so gern vergaß.
Sie nickte. »Schon klar. Die wollen keine Panik in der Bevölkerung.«
»Wer sollte in Panik geraten, weil einigen Bewohnenden unserer schönen Stadt brutal das Gehirn entfernt wurde?« Ein schiefes Grinsen begleitete Konstantins Worte.
Unwillkürlich zuckte Thalia zusammen. Erneut überflog sie die Pressemittelung rasch. »Hier steht nichts von Gehirnen.«
Ihr Kollege räusperte sich, sagte aber nichts.
Sie fixierte sein Gesicht. »Wie kommst du auf Gehirn?«
Er wiegte den Kopf. »Thalia …«
»Konstantin. Wie kommst du auf Gehirn?« Ihr Herz pochte unangenehm gegen die Rippen.
Ein Seufzen. »Du musst das unbedingt für dich behalten.«
Wie sie es hasste, wenn er so etwas tat. Er wusste genau, dass es sie reizte. »Was? Was muss ich für mich behalten, Konstantin?«
»Das mit den Gehirnen. Die Information ist nicht öffentlich.«
»Aber du hast sie.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Die Frage lautete eher, woher er sie hatte, doch das würde er ihr vermutlich ohnehin nicht verraten. Es ginge gegen seine Ehre als Investigativjournalist. Das war eine seiner ersten Lektionen für sie gewesen, nachdem er sie vor einigen Jahren unter seine Fittiche genommen und ihr alles beigebracht hatte, was er übers Zeitungsmachen wusste.
Du schützt deine Quellen ebenfalls. Sogar ihm gegenüber.
»Ich habe es aufgeschnappt.«
»Aufgeschnappt.« Na klar. »Und was genau hast du aufgeschnappt? Haben wir es mit gehirnfressenden Zombies zu tun?« Sie schnaubte, was nicht so amüsiert klang, wie sie es gern wäre.
Er sah sie nur einen Moment lang an. Einen Moment, der ewig zu dauern schien.
Dann endlich lachte er, doch ganz aufrichtig klang es nicht. »Quatsch! Du guckst zu viele schlechte Filme!«
»Ich gucke solche Filme überhaupt nicht!« Es schüttelte sie bei dem Gedanken. »Kann ich nämlich gar nicht leiden. Ich hasse es, mich zu gruseln, das weißt du genau.«
»Sei beruhigt. Es handelt sich definitiv nicht um einen Zombie, der Gehirne frisst.« Verstohlen beugte er sich näher zu ihr. »Es wurde lediglich ein kleiner Teil des Gehirns entfernt. Die Zirbeldrüse.«
»Vielleicht ein Zombie mit einem erlesenen Geschmack.« Sie musste selbst schlucken bei diesem dummen Scherz. »Ich meine, was weißt du darüber, welcher Teil vom Gehirn besonders delikat ist? Die Zirbeldrüse könnte …«
»Schsch!«, machte Konstantin und sah sich um. »Könntest du bitte etwas diskreter sein? Das müssen ja nicht alle hier mitbekommen.«
Thalia blickte hinter sich. Im Großraumbüro der Redaktion hockte nur noch die etwas pummelige Bärbel Schelonka an ihrem Schreibtisch in der Ecke und tippte eifrig. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren und eine Styroporverpackung neben sich, aus der sie fleißig etwas in ihren Mund schaufelte. Klar, mit leerem Magen schrieb sich eine Restaurantkritik vermutlich nicht besonders leicht.
»Hier ist doch niemand.«
»Du weißt genau, dass in einer Zeitungsredaktion die Tische Ohren haben.«
»Na, solange die Tische keine Artikel schreiben können, geht’s ja noch.« Sie streckte sich, dann fixierte sie ihren älteren Kollegen. »Apropos hier ist doch niemand: Wo warst du eigentlich gestern den ganzen Tag?« Hoffentlich klangen die Worte harmloser, als es sich für sie anfühlte. Er musste ja nicht wissen, wie sehr sie sich um ihn sorgte.
Immerhin ist er nicht dein Vater oder so. Auch wenn es sich mitunter so anfühlt.
»Ich habe geschlafen.«
»Tagsüber? Bist du jetzt unter die Vampire gegangen?« Sie lachte, wobei die Worte einen unangenehmen Nachgeschmack hinterließen. Dieses ganze Gerede über Horrorgestalten brauchte sie gerade gar nicht.
»Ich wüsste zwar nicht, was dich das anginge, aber wenn du es genau wissen willst: Ich habe recherchiert.« Er wickelte eine ihrer langen, dunkelblonden Strähnen um seinen Finger, wie er sie mit seinen Worten stets um den Finger wickelte. »Du bist ja schlimmer als meine echte Tochter«, fügte er hinzu.
»Nur weil deine Tochter sich überhaupt nicht für dich interessiert.« Mit einem Ruck befreite sie ihre Haare. »Nachts. Du hast nachts recherchiert?«
Konstantin ignorierte ihren Tiefschlag und sie bereute es sofort, auf seine Tochter eingegangen zu sein. Immerhin waren sie füreinander viel eher Familie, als eine Blutsverwandtschaft es jemals bedingen könnte.
»Es gibt Dinge, die man besser nachts erledigt.« Er kniff die Lider zusammen und grinste. Der Schatten in seinen Augen, der ihn seit Tagen zu begleiten schien, blieb.
Eine Gänsehaut lief über Thalias Rücken, obwohl es in der Redaktion durch die vielen dauerhaft laufenden Rechner stickig und warm war.
Erst die Sache mit dem Gehirn, und jetzt das.
»Ich weiß. Was denkst du, warum ich so viel Kaffee trinke.« Wenn sie nur wüsste, woran ihr Kollege arbeitete … Der Gedanke, dass er sich nachts gleichzeitig mit einem irren Killer in der Stadt herumtrieb, bereitete ihr Bauchweh.
Es sei denn, er war selbst der Täter. Das würde auch sein angebliches Wissen über die Gehirne erklären.
»Was du nachts machst, weiß ich genau. Du gibst mir aber Bescheid, falls du wieder zu einem deiner ›privaten‹ Treffen losziehst, ja?« Er sah sie eindringlich an und aus seiner Miene sprach Missbilligung. Es war ihm hoch anzurechnen, dass er diese nicht anderweitig zum Ausdruck brachte.
»Keine Sorge, der Typ, mit dem ich seit ein paar Tagen chatte, meldet sich ohnehin nicht mehr.« Sie war viel zu abgelenkt, um sich darüber zu ärgern. Eine Sekunde lang stellte sie sich Konstantin vor, wie er einem armen Passanten am Haupteingang vom Melaten-Friedhof im Gebüsch auflauerte, ihn hinterrücks mit einem Felsbrocken erschlug und ihm dann den Schädel öffnete, um fein säuberlich …
»Mach’s trotzdem. Damit ich weiß, wer dich umgebracht hat, wenn es dich irgendwann erwischt«, fügte er hinzu.
Sie schnaubte nur. Wo genau saß eigentlich diese Zirbeldrüse und wie entfernte man die? Musste man dafür medizinisches Fachwissen besitzen oder reichte es, wenn man richtig gut recherchieren konnte?
Jetzt schüttelte es sie geradezu. Das war natürlich völliger Blödsinn. Wenn sie für jemanden die Hand ins Feuer legen würde, nichts mit den Morden zu tun zu haben, dann für ihn. Eher noch würde sie sich selbst verdächtigen, nachts zu schlafwandeln und deshalb einen unbeschreiblichen Hunger auf Zirbeldrüsen zu haben.
Sie würgte und trank schnell einen Schluck Kaffee. Dann musste sich Konstantin über ihr Würgen wenigstens nicht wundern.
Bittere Flüssigkeit überschwemmte ihre Zunge, aber der Krampf in ihrem Magen ließ überraschenderweise nach.
Was ist denn mit dir los? Sonst macht dir die ganze Scheiße, die in der Welt passiert, auch nicht so viel aus.
Konstantin rutschte auf der Tischplatte hin und her. »Dass dich die Vorstellung, ich könnte nachts gewisse Sachen machen, so anekelt, ist schon ein bisschen verletzend.«
Jetzt musste sie ehrlich lachen. »Ich bin nur eifersüchtig, das weißt du doch.«
»Dann bin ich wohl zu Recht so verschwiegen.« Er schubste die kleine blaue Actionfigur um, die auf ihrem Schreibtisch stand. »Außerdem will ich nicht, dass du dir Sorgen machst.«
Als ob dieser Satz jemals irgendjemanden dazu bewegt hätte, sich keine Sorgen zu machen. »Du bringst dich also in Gefahr?«
»Nein.« Er zuckte mit den Schultern. »Natürlich nicht. Vermutlich nicht.« Mit diesen Worten erhob er sich. »Du solltest lieber mal an deiner eigenen Schlafqualität arbeiten, Kind. Es ist nicht gesund, so viel Kaffee zu trinken. Kein Wunder, dass du so schlecht pennst.« Er verschwand, bevor sie weiter nachbohren konnte.
Mit einem Seufzen stellte sie die Figur wieder auf. Es war ein muskulöser blauer Kerl aus irgendeiner alten Disney-Serie mit Hörnern und Flügeln.
Warum noch mal hatte sie den überhaupt?
Dann machte sie sich wieder an die Arbeit. Sie hatte noch einen Artikel über eine verschwundene Engelsstatue von einem Kirchengrundstück zu schreiben, und den spannend zu gestalten, würde ihre ganze Fähigkeit und Konzentration erfordern.
Mit hochgeschlagenem Kragen und den Trenchcoat eng um sich geschlungen stapfte Thalia durch den Nieselregen. Diesen Herbst wollte es wirklich gar nicht mehr hell werden. Ganz im Gegenteil: Jeder Tag präsentierte sich dunkler und trüber als der vorangegangene.
Sie starrte nur auf das Pflaster vor sich. In Köln wurde man einfach dauernd angequatscht und auf den Kontakt zu irgendwelchen Passanten, egal wie freundlich die auch sein mochten, hatte sie momentan überhaupt keine Lust. Das Interview mit dem Pastor, der den Engel als vermisst gemeldet hatte, hatte ihr gereicht.
In ihrer Vorstellung sah sie aus wie die Karikatur einer Journalistin aus einem Hardboiled-Krimi. Oder gleich wie die Privatdetektivin.
Thalia Marlowe, zu Ihren Diensten.
Obwohl es zu kalt war für Anfang Oktober und der Regen langsam, aber sicher ihren Mantel durchweichte, war sie froh, aus der stickigen Redaktion heraus zu sein.
Jede Zeitungsredaktion hatte so einen ganz eigenen Geruch nach altem Teppichkleber, staubigen Akten und Kopierertinte. Egal, wie lange sie bereits alles digital speicherten und wie lange der Austausch des Teppichs durch pflegeleichtes Vinyl her war, der Gestank blieb. Nur in alten Stadtverwaltungen und dem Sekretariat von Schulen roch es ähnlich.
Trotzdem nervte es, wie die Feuchtigkeit ihr in den Nacken kroch. Ein Trenchcoat war doch ein verdammter Regenmantel, oder nicht? Wer entwickelte denn einen Regenmantel ohne Kapuze?
Die Geisselstraße spuckte sie an der Weinsbergstraße aus. Direkt vor ihr lag der Nebeneingang vom Melaten-Friedhof, der über den alten Ehrenfelder Friedhof führte.
Irgendetwas zwang sie, stehen zu bleiben. Normalerweise wählte sie immer den Weg durch diese Anlage. Es war nicht nur eine Abkürzung zu ihrer Wohnung, sondern auch eine Möglichkeit, die Arbeit hinter sich zu lassen. Die wunderschöne Grünanlage mit den vielen interessanten Grabmälern brachte ihren herumwandernden Gedanken oft den nötigen Frieden.
Bisher hatte allerdings auch kein Killer in Köln sein Unwesen getrieben, der Menschen umbrachte, ihnen eine Drüse im Gehirn entfernte und sie dann vor dem Haupteingang von eben diesem Friedhof niederlegte. Jedenfalls nicht, soweit es ihr bekannt war.
Sie zögerte einen Augenblick zu lange, sodass sie sich lächerlich vorkam.
Was sollte das denn? Sie ließ sich doch nicht den Weg über den Friedhof vermiesen. Das war schon dem Namen nach der friedlichste Ort, den sie sich vorstellen konnte. Außerdem war es noch nicht einmal richtig dunkel und um diese Zeit waren bei jedem Wetter Spaziergänger unterwegs.
Mit gestrafften Schultern und einem mulmigen Gefühl betrat sie das Gelände und ihre Füße trugen sie ohne ihr Zutun nach rechts. Offensichtlich war es ihrem Körper lieber, sich möglichst weit vom Haupteingang entfernt zu halten.
Das sorgte allerdings dafür, dass sie schließlich direkt auf den berühmten Sensenmann zulief. Normalerweise vermied sie es, ihm zu begegnen, obwohl dieses Wahrzeichen von Melaten beeindruckend war.
»Er wird nachts lebendig, dreht seine Sanduhr um und hat dann so viel Zeit, eine sündige Seele zu fangen, wie der Sand braucht, um hindurchzulaufen. Und wen er fängt, dem präsentiert er seinen Totenschädel, bis sein Opfer vor Angst ohnmächtig zusammensinkt. Er grinst sein lippenloses Grinsen und blickt aus leeren Augenhöhlen ohne Mitleid auf die Menschen herab. Und dann hebt er die Sense hoch über seinen Kopf und lässt sie niedergehen!«
Sie hörte die Stimme ihrer Großmutter beinahe wirklich, sah ihre gestische Untermalung vor ihrem inneren Auge. Wie die kleine, grauhaarige Frau einen hölzernen Kochlöffel, oder was auch immer gerade zur Hand war, durch die Luft sausen ließ. Fast schon fühlte sie den Luftzug, der dabei entstand.
An ihre Kindheit besaß sie nur wenige Erinnerungen, doch diese war ihr stets präsent. Die Geschichte hatte ihre Oma vermutlich nur erfunden, damit die kleine, neugierige Thalia sich nicht spätabends noch herumtrieb.
Die Nebenwirkung: Seitdem verspürte sie beim Anblick der Figur immer ein bedrohliches Brizzeln im unteren Rücken. So auch jetzt. Das riesige Steinskelett schien mit seiner Sense über der Schulter und einer Sanduhr in der Hand ja nur auf eine Seele zu warten, die es sich holen konnte.
Ein wenig atemlos blieb Thalia stehen. Das war lächerlich. Sie war eine erwachsene Frau, verdammt, und der Sensenmann hatte ganz sicher nichts mit den Morden zu tun.
Es war mittlerweile schon ein wenig düster geworden, was bestimmt an der dichten Wolkendecke lag. Bis auf eine ältere Dame, die entgegen den Vorschriften ihren süßen Fifi auf dem Friedhofsgelände ausführte, war sie keiner Menschenseele begegnet – jedenfalls keiner lebenden. Wie man seinen Yorkshire-Terrier Fifi nennen konnte, war Thalia unbegreiflich, das klang ja wie ein Schimpfwort. Gemessenen Schrittes trat sie auf die gut zwei Meter hohe Steinfigur zu, die sich hell vor dem dunklen Blattwerk hervorhob.
Tapfer starrte sie den grausigen Totenschädel an. Er starrte reglos, aus leeren Augenhöhlen links an ihr vorbei.
Wenn er jetzt ganz langsam seinen Kopf in ihre Richtung drehte, würde sie schreien.
Sie hielt den Atem an. Der Sensenmann vielleicht auch, er blieb vollkommen still. Ein Glück.
Irgendwo hinter ihr brach ein Ast und sie zuckte zusammen. Ihr Herz raste, ihr Kopf fuhr herum. Niemand war zu sehen.
»Hallo?«, rief sie.
Ihre Stimme war viel fester, als sie es ihr zugetraut hätte. Immerhin schien sich ihre Kehle in den letzten Sekunden deutlich verengt zu haben, als würde ihr eine unsichtbare Gestalt die Finger um den Hals legen und sanft zudrücken.
Es kam keine Antwort. Nur die wenigen an den Ästen verbliebenen Blätter raschelten im Wind.
Kurz darauf knackte es erneut und ein winziges Wesen mit einem buschigen Schwanz huschte einige Meter vor ihr über den Weg.
Ein Eichhörnchen. Nur ein hungriges Eichhörnchen auf der Suche nach Futter. Süß und harmlos.
Eichhörnchen erbeuten im Frühjahr Vogelküken, rauben sie aus den Nestern und werfen sie ihren eigenen Jungen zum Fraß vor.
Thalia schüttelte sich. Woher kam denn jetzt dieser Scheißgedanke?
Das immer stärker werdende Kribbeln in ihrem Hinterkopf ignorierend, wandte sie sich wieder zum Gehen. Sie hatte den Sensenmann schon einige Meter hinter sich gelassen, bevor sie es wagte, sich umzudrehen.
Die Figur stand reglos da und starrte an die gleiche Stelle wie zuvor. Natürlich tat sie das. Sie hatte sich schließlich noch niemals bewegt.
Bei dem ›Kreisverkehr‹ an der Hauptachse des Friedhofs stoppte sie erneut. Sie blickte auf den Stein in der Mitte des runden Rasenstücks, der so aussah, als wäre jemand hindurchgerannt wie Carl Cojote in einem Roadrunner-Cartoon.
Normalerweise ginge sie jetzt weiter geradeaus, bis sie den Friedhof durch einen der Nebeneingänge an der Aachener Straße wieder verlassen konnte. Von dort war es nicht mehr allzu weit zu ihrer Wohnung.
Irgendetwas zog sie heute nach links. Sie lief die Hauptachse entlang und an den Grabstätten berühmter Persönlichkeiten vorbei. Die Gräber waren allesamt aufwendig gestaltet, weswegen diese Strecke auch Millionenallee genannt wurde.
Überall säumten Engels- und andere Statuen ihren Weg, die in diesem Moment auf sie nicht weniger beängstigend wirkten als der Sensenmann. Eine hatte sich zum Beispiel auf einem breiten Grabstein aufgebaut und beugte sich über einen steinernen Sarkophag, was in diesem Licht so wirkte, als wollte sie den Insassen erdolchen.
Was dachten sich die Leute nur dabei, so etwas auf ihrem Grab errichten zu lassen?
Keine dieser Figuren bewegte sich, doch was hieß das schon? Wenn sie eine Statue wäre, würde sie sich auch nur bewegen, wenn niemand hinsah. Sich von hinten anzuschleichen, war ja viel effektiver.
Ihr Hinterkopf kribbelte und sie verfluchte ihre Oma und ihre verdammten Geschichten.
In der Ferne sah sie die Lichter der Piusstraße. Der Verkehr erinnerte sie daran, dass da draußen noch die Realität existierte – das echte Leben.
Außerdem gab es da draußen einen echten Mörder, der keine Statue war und der echte Menschen umbrachte. Vielleicht sorgte sie sich mal lieber darüber.
Unter ihren Füßen änderte sich der Bodenbelag von Teer zu Pflaster. Die gelblich wirkende Fassade der Trauerhalle tauchte neben ihr auf und links, außerhalb der Mauern, ragte das Hotel in den Himmel, in dem ihr letzter Flirt arbeitete. Vor ihr lag der Haupteingang, doch nur die Nebenpforte war geöffnet.
Sie sah auf die Uhr. Halb acht, sie musste sich beeilen. In einer halben Stunde schlossen sich auch diese Tore und sie müsste einen riesigen Umweg auf sich nehmen.
Dennoch trat sie an das Gitter des großen Haupteingangs. Mit beiden Händen umfasste sie die Stäbe und sah hinaus.
Nur ein paar Meter vor ihr waren eine Absperrung und ein weißes Zelt aufgebaut. Man könnte es durchaus für den Schutz von Kanalarbeiten halten, damit die Arbeitenden nicht nass wurden, wenn sie aus dem Gully stiegen. Und natürlich, damit niemand ins Loch fiel und sich das Bein brach – oder Schlimmeres.
Doch der Polizeiwagen, der einige Meter entfernt an der Straße parkte, strafte diese Vermutung Lügen.
Thalia meinte, zwei helle Gesichter in dem Fahrzeug auszumachen, war sich aber nicht ganz sicher. Bestimmt ein undankbarer Job, einen Tatort zu bewachen, bis die Spurensicherung mit der Stelle fertig war.
Immerhin würde unter den Augen der Polizisten niemand eine weitere Leiche hier ablegen.
Die Beifahrertür öffnete sich ein Stück.
Sofort stieß Thalia sich von dem Gitter ab, steckte die Hände in die Taschen und stapfte den Weg zurück, den sie gekommen war. Das fehlte noch, dass sie hier von übereifrigen Beamten befragt wurde.
Den ganzen Weg über den Melaten-Friedhof heftete sie den Blick fest auf den Boden. Sie schien jetzt völlig allein zu sein.
Hoffentlich.
Dennoch nahm sie einen früheren Ausgang als sonst und lief den Rest des Weges an der Straße entlang. Natürlich nur, damit sie nicht versehentlich eingesperrt wurde.
Einer Eingebung folgend, steckte sie sich ihr Headset ins Ohr und wählte Konstantins Nummer.
Er nahm nicht ab. Nach dem zehnten Piepen ging die Mailbox ran.
»Wehe, du passt nicht auf dich auf, du Schuft!«, schimpfte sie los.
Eine Spaziergängerin mit einem kleinen Hund sah sie stirnrunzelnd an. Es war die Frau, die ihr vorhin schon auf dem Friedhof entgegengekommen war. Thalia blickte finster zurück und wartete darauf, dass die Frau vorüberging.
Die Leitung war still. Selbstverständlich war sie das, es war ja nur eine Mailbox.
»Als die fürsorgliche Tochter, die du dir immer gewünscht hast, rate ich dir, dich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, alter Mann. Wehe, du liegst demnächst vor Melaten rum, mit einem Loch im Kopf. Dann reiße ich dir eigenhändig noch den Arsch auf, damit du es weißt.«
Ohne Abschiedsformel drückte sie den roten Hörer. Den restlichen Weg zu ihrer Wohnung legte sie schweigend zurück.
Dieses Mal war es ihr definitiv nicht gelungen, ihren Arbeitstag auf dem Friedhof zurückzulassen. Es gab nur zwei Dinge, die in einem solchen Fall halfen.
Thalia lag in der frei stehenden Badewanne, die in der Ecke ihres Schlafzimmers stand, und gab sich große Mühe, sich zu entspannen. Wenn das nicht klappte, würde sie sich noch einmal ins nächtliche Köln wagen müssen – für die einzige andere Sache, die ihr Entspannung versprach. Nicht ganz ungefährlich, solange ein Mörder frei herumlief.
Diese Badewanne war dafür ausschlaggebend gewesen, dass sie sich für die Wohnung bis ins hohe Alter verschuldet hatte. Sie wohnte in einem der höchsten Häuser im Stadtteil Melaten mit einem tollen Blick über den Stadtwald. Staffelgeschoss, viel zu groß für sie allein und viel zu teuer für die Größe. So viel bezahlte man ansonsten nur für direkten Domblick.
Eine Badewanne, von der aus man ins Grüne sehen konnte, war für sie eben unbezahlbar.
Dafür konnte sie sich kein Auto mehr leisten, aber im Notfall bekam sie ja einen Wagen von der Redaktion. Und wer wollte schon in der Großstadt Auto fahren?
Sie ließ sich tiefer in den Schaum sinken. Nicht wenig von der weißen Pracht quoll über den Rand und machte sich auf den Weg auf ihren Fußboden.
Das warme Wasser umgab sie, hüllte sie ein und zwang ihre Muskeln geradezu, die Anspannung loszulassen. Sie vergaß ihren leeren Kühlschrank, wie sie zuvor bereits vergessen hatte, in dem kleinen Supermarkt an der Ecke vorbeizugehen. Was sollte es, sie würde später vielleicht einfach etwas bestellen.
Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Was für ein Luxus, ohne Vorhänge leben zu können. Keine neugierigen Nachbarn, die ihr ins Schlafzimmer gucken konnten.
Am Himmel war es inzwischen vollständig dunkel geworden, doch die Lichter der Stadt drangen bis nach hier oben zu ihr. Nur schemenhaft zeichneten sich die Bäume davor ab.
Thalias Augen brannten und sie schloss sie. Nur für einen Moment. Nur kurz ausruhen.
Das Mobiltelefon schrillte los und sie schoss in die Höhe. So wie ihr Herz sich aufführte, musste sie eingeschlafen sein.
Verdammter Mist! Ihr Telefon lag natürlich auf dem Bett, und das war in unerreichbarer Ferne. Das Display leuchtete und blinkte, als wollte es sie verhöhnen.
Sie reckte den Kopf, konnte aber das Bild des Anrufers nicht erkennen. Immerhin musste die Nummer in ihrem Telefonbuch gespeichert sein, sonst wäre der Bildschirm einfach nur blau.
War das Konstantins freches Grinsen?
Ihr Herzschlag beruhigte sich. Mit einem Seufzen erhob sie sich und tastete nach dem Handtuch. Sie hatte es neben der Wanne fallen lassen, erreichte es aber nicht.
Schaum haftete an ihren Brüsten, sie sah ihr Spiegelbild in der dunklen Scheibe. Eine schlanke, helle Gestalt mit dunkelblonden Haaren, die feucht an ihren Schultern klebten. Nur das schwarze Lederband um ihren Hals bildete einen sichtbaren Kontrast.
In der Reflexion erblickte sie auch das Handtuch. Es lag viel weiter links, als sie erwartet hatte. Sie musste sich weiter strecken, bis ihre Fingerspitzen endlich das dunkelgraue Frottee erwischten.
Ein Frösteln zog über ihren Körper. Das Wasser war inzwischen längst nicht mehr heiß, allenfalls lauwarm, doch das war nicht der Grund für diese Reaktion ihres Körpers. Es war ein Frösteln, wie es einen überfiel, wenn man durch einen dunklen Wald schlich. Wenn man sich fragte, was hinter der Wand aus Bäumen wohl lauern mochte – oder wer.
Plötzlich war sie sich sicher, beobachtet zu werden. Das Gefühl überfiel sie so unmittelbar, dass sie sich ins Handtuch wickelte, noch bevor sie aus dem Wasser gestiegen war.
Der untere Rand hing ins Wasser und sog sich voll, aber das war ihr egal. Noch immer erschauernd tapste sie auf Zehenspitzen zum Bett und hinterließ dabei eine Spur aus Tropfen und Schaum.
Tatsächlich war es Konstantins Bild, das auf dem Bildschirm prangte. Sie erkannte es schon, als sie noch ein paar Schritte entfernt war. Bestimmt hatte er ihre Nachricht abgehört und ihr jetzt seinerseits ein paar Dinge zu sagen.
Das Bild erlosch genau in dem Moment, in dem sie auf den grünen Hörer drückte.
Verdammt.
Sie rief sofort zurück. Eine Stimme informierte sie, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Seltsam, er musste doch gerade noch das Telefon in der Hand gehalten haben.
Vielleicht hatte er ihr geschrieben. Ein paar Nachrichten waren eingegangen, vor allem von der zwielichtigen App, die sie für ihre gelegentlichen Verabredungen nutzte. Danach stand ihr momentan überhaupt nicht der Sinn.
Nichts von Konstantin.
Irgendetwas brachte sie dazu, zum Fenster zu sehen.
Es war ein seltsames Gefühl, wie eine Ahnung, dass dort jemand stand und sie beobachtete. Hatte sie etwa eine Bewegung wahrgenommen?
Sie erblickte nichts als die Spiegelung des Zimmers.
Dort konnte niemand sein. Vermutlich war es lediglich ihr Abbild in der dunklen Scheibe gewesen. Ihre Nerven waren einfach total überreizt, seit sie wusste, dass ihr Lieblingskollege in dieser Mordserie recherchierte.
Trotzdem starrte sie noch ein paar Sekunden in die Dunkelheit und zog das Handtuch enger. Zum ersten Mal, seit sie hier lebte, wünschte sie sich Vorhänge.
Du wohnst im fünften Stock, es gibt keine Feuerleiter, du bist vollkommen sicher.
Jedenfalls, bis ein Feuer ausbricht.
Mit aller Kraft widerstand sie dem Drang, auf ihre Terrasse hinauszutreten und nach dem Rechten zu sehen. Wenn man das einmal tat, ertappte man sich als Nächstes dabei, wie man von der Arbeit nach Hause lief, um sicherzugehen, dass der Herd aus war.
Schnell zog sie sich Jogginghose und Sweatshirt über und ging in die Küche, um sich auf die Suche nach irgendeinem Fertiggericht zu machen. Sie wollte heute niemanden mehr sehen.
Während sich der Teller mit Erbsensuppe in der Mikrowelle drehte, lauschte sie auf das Gurgeln der ablaufenden Badewanne und sah aus dem Fenster.
Die Küche ging zur Straße raus. Schräg gegenüber befand sich ein altes Gebäude, in dem sich einige Ärzte niedergelassen hatten. Vielleicht gab es auch Mietwohnungen, aber die mussten furchtbar dunkel sein. An Fenstern hatte die Gebäudeplanung gespart.
Das Licht der Straßenlaternen erreichte so gerade die heruntergekommene Dachterrasse, auf die Thalia insgeheim ein wenig neidisch war – trotz der schäbigen steinernen Blumenkübel, die dort in gleichmäßigen Abständen auf der Brüstung standen.
Das war vermutlich der einzige Punkt in der Gegend, von dem aus man einen noch besseren Blick hatte als von ihrer Wohnung aus. Eine Schande, dass sich niemand darum kümmerte.
Alte Gartenmöbel rotteten vor sich hin und eine Vogeltränke mit abbröckelndem Rand stand gefährlich nah an der Brüstung.
Alles sah völlig normal aus. Kein bisschen bedrohlich.
Warum nur hatte sie dann keine Lust, ins Schlafzimmer zurückzukehren?
Ein paar Stunden später riss ein Klingeln Thalia aus dem Schlaf. Sie erwachte auf dem Sofa, die Schlaftabletten, die Doktor Fidi-Kefali ihr verschrieben hatte, wirkten einfach zu schnell. Ein Rest Erbsensuppe stand noch auf dem Couchtisch, ihr Buch war von ihrer Brust geschlittert und auf den Seiten gelandet.
Der Geschmack in ihrem Mund war tödlich. Schmatzend suchte sie nach ihrem Mobiltelefon. Es war unter das Couchkissen gerutscht und sorgte dafür, dass ihr ganzer Kopf vibrierte.
Das war garantiert Konstantin. Na, dem würde sie etwas erzählen, sie so lange warten zu lassen. Er wusste genau, dass sie sich Sorgen machte.
Mit noch halb geschlossenen Augen kramte sie das Gerät hervor und drückte, ohne hinzusehen, auf den grünen Hörer.
»Spinnst du, einfach nicht ranzugehen und dann jetzt erst zurückzurufen? Ich bin schlaflos vor Sorge!«
Sie unterdrückte ein Gähnen. Er musste ja nicht mitbekommen, dass sie sehr wohl geschlafen hatte.
»Frau Wollseif?«, fragte eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. »Thalia Wollseif?«
Schnell warf Thalia einen Blick aufs Display. Statt Konstantins Bild wurde dort tatsächlich eine ihr unbekannte Nummer angezeigt.
Sie räusperte sich. »Ja?« Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Es kroch aus ihren Lenden empor, bis es ihren Brustkorb erreichte und ihr das Atmen schwermachte.
»Mein Name ist Schneider, von der Kripo Köln. Sie sind als Notfallkontakt für Herrn Konstantin Blauberg angegeb…«
Den Rest hörte sie nicht mehr. Das Wort »Notfallkontakt« übertönte alles in ihrem Kopf.
Konstantin. Irgendetwas war geschehen. Sie bemerkte, dass sie etwas stammelte, ohne eine Ahnung zu haben, was sie da sagte.
Das Letzte, was sie noch wahrnahm, waren die Worte: »Warten Sie dort. Ich schicke Ihnen einen Wagen.«
Die Gerichtsmedizinerin schlug das Laken zurück. »Ist das Herr Konstantin Blauberg?«
Thalia schluckte die bittere Galle hinunter und nickte. Gnädigerweise hatte die Frau vorgesorgt und ein weiteres Tuch über Konstantins Haare und Stirn gelegt.
Vielleicht machte die Vorstellung von dem, was darunter verborgen wurde, alles auch noch schlimmer. Thalia hatte ausreichend Lebenserfahrung und vor allem genug Fantasie, um es sich auszumalen.
Ansonsten sah Konstantin recht friedlich aus. Nicht, als würde er schlafen – wer so einen Mist erzählte, hatte vermutlich noch niemals eine Leiche gesehen –, doch auch nicht so, als wäre er gewaltsam zu Tode gekommen. Sein Gesicht war blass und irgendwie matt. Vor allem seine Lippen waren ungewöhnlich gefärbt.
»Möchten Sie sich setz…«
Etwas ruppig fiel Thalia der Frau ins Wort. »Können Sie uns mal bitte allein lassen?« Sie räusperte sich. »Mich. Ich meine, können Sie mich mal allein lassen?«
»Natürlich.« So gut wie geräuschlos zog die Leichenbeschauerin sich zurück.
Nur die Tür klickte, als sie ins Schloss fiel.
Thalia fixierte Konstantins Gesicht. Sie blinzelte, wischte sich mit einer wütenden Bewegung über die Augen. Sie würde hier nicht weinen, auf keinen Fall.
»Du verdammter Arsch«, flüsterte sie. »Du hattest mir versprochen, dich nicht in Gefahr zu bringen.«
Konstantin wehrte sich nicht gegen die Beleidigung. Einen Vorteil hatte es also, dass er tot war.
Ihre Finger zitterten, als sie nach dem Tuch auf seinem Kopf griff. Sie hob es nur ein winziges Stück an. Lediglich so viel, dass sie seine grauen Haare sehen konnte.
Bloß dass sie keine Haare entdeckte. Jemand, vermutlich die Leichenbeschauerin, hatte sie ihm entfernt. Natürlich, sonst konnte man eine Kopfwunde ja schlecht untersuchen.
Wenn Thalia so rational darüber nachdachte, war es ihr beinahe möglich, bei dem Gedanken an das, was ihrem Kollegen geschehen war, nicht wahnsinnig zu werden.
Sie ließ das Tuch wieder sinken, ohne genauer hinzusehen. Lieber besorgte sie sich irgendwie Bilder von einem Opfer, das sie nicht persönlich kannte.
Stattdessen tasteten ihre schweißfeuchten Finger nach Konstantins Hand. Sie ergriff sie und drückte zu, ertrug es kaum, dass seine Haut so kalt war und die Finger kraftlos in ihren lagen.
Die Tür öffnete sich wieder.
»Herr Schneider von der Kripo würde Sie gern kurz sprechen.«
Thalia ließ Konstantins Hand sanft zurücksinken und nickte. Dann drehte sie sich ab, ohne ihn noch einmal anzusehen. Vor ihr lag nur noch eine leere Hülle, die nichts mehr mit ihrem Kollegen zu tun hatte. Ihrem Freund. Was von ihm übrig war, musste sie in ihrem Herzen bewahren, wo er hingehörte.
So voll und schwer hatte sich ihr Brustkorb niemals zuvor angefühlt. Schmerzte Trauer deswegen so sehr?
Sie folgte der Frau auf den hellgrau gestrichenen Gang mit dem mittelgrauen Linoleum auf dem Boden. Warum sollte man diesen traurigen Ort auch in irgendeiner Form angenehm gestalten? Dabei sah sie nur auf ihre Hand, die gerade noch die ihres Freundes gehalten hatte.
»Frau Wollseif?«
Thalia sah auf und in das Gesicht eines müden Mannes Mitte vierzig mit Bauchansatz und Tränensäcken. Dem tat sein Job sicher auch nicht besonders gut.
Sie nickte.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Es war sicher nicht leicht für Sie.«
»Ja. War es nicht.« Sie räusperte sich und knetete mit der einen Hand die andere.
»Ich muss Sie bitten, Stillschweigen über die Art des …« Er zögerte.
»Schon gut. Ich werde morgen keinen Zeitungsartikel darüber schreiben, wenn Sie das meinen.« Sie presste die Worte durch die zusammengebissenen Zähne.
»Wir möchten eine Panik in der Bevölkerung vermeiden.«
»Vielleicht wäre ein bisschen Panik ganz angebracht«, entfuhr es ihr. Sie biss sich auf die Unterlippe.
Ihr Gegenüber senkte den Kopf. »Ich verstehe, was Sie meinen. Aber wir arbeiten auf Hochtouren daran, den Täter …«
»Und warum haben Ihre Kollegen denjenigen, der das zu verantworten hat, nicht erwischt, als er die Leiche vor dem Haupteingang vom Melaten-Friedhof abgelegt hat?« Wütend funkelte sie den Beamten an. »Die saßen da doch in ihrem Polizeiauto und haben den Tatort bewacht. Waren die etwa gerade gemeinsam pinkeln oder was?«
Schneider schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Frau Wollseif. Ihr Kollege wurde nicht in Melaten gefunden.«
Sie stutzte. »Aber wurden nicht bisher alle Opfer …?«
»Herr Blauberg nicht.« Er sah zu Boden und schluckte, sein Adamsapfel arbeitete sich mühsam in seinem Hals auf und ab. Er schien sich zu einer Erklärung durchringen zu müssen. »Auch die Art der Verletzungen unterscheidet sich, wenn auch nur minimal.«
Thalias Instinkt als Journalistin regte sich und drängte die Trauer und den Schock ein Stück zur Seite. »Sie unterscheidet sich?«
Er nickte und wirkte erleichtert. »Sie war weitaus weniger … heftig. Wir vermuten, dass der Täter gestört worden ist oder fürchten musste, Aufsehen zu erregen.«
Thalia schaltete kurzzeitig in den Arbeitsmodus. Ihr Körper tat das automatisch. Konstantin sagte immer, dass das eine gute Journalistin ausmachte: das Näschen.
Hatte. Er hatte das gesagt, als er noch lebte.
»Und was darf ich mir darunter vorstellen?«
Die Miene des Kommissars wurde hart. »Wenn Sie es genau wissen wollen: Die anderen Opfer sahen aus wie …« Er suchte nach Worten. »Wie Puppen, die ein wütendes Kind gegen die Wand geschleudert hat.«
Der Mann machte nicht den Eindruck, als würde er sich oft so bildlich ausdrücken. Vermutlich versuchte er, sie zu schockieren und so eine Reaktion aus ihr herauszukitzeln.
Den Gefallen tat sie ihm nicht. »Und wo wurde er gefunden?«
»Das darf ich Ihnen wirklich nicht …«
Es gelang ihr, ihn mit einem strafenden Blick zu unterbrechen.
»Na schön. Irgendwann erfahren Sie es ja ohnehin. Er wurde vor einem kleinen Industriegebäude entdeckt. Einige Labore befinden sich dort, Tiermedizin, Pharmazeutik und so ein Zeug.«
»Dennoch glauben Sie, es war derselbe Täter? Ich meine, es könnte auch ein Nachahmungstäter gewesen sein. Vielleicht jemand aus einem dieser Labore, der ein menschliches Gehirn für seine Forschung benötigte.«
»Ich bitte Sie.« Schneider lachte auf, doch es klang freudlos. »Wir sind hier nicht in einer Hollywoodkomödie mit Steve Martin. Natürlich haben wir die anwesenden Personen aus den umliegenden Laboren bereits überprüft. Jeder von ihnen hat für mindestens eine der Tatzeiten ein Alibi. Die übrigen nehmen wir uns auch noch vor.« Er räusperte sich. »Außerdem weiß sonst niemand, was genau bei den Opfern des Melaten-Mörders entnommen wurde. Wir haben nur die Formulierung ›einen Teil des Gehirns‹ freigegeben.«
»Konstantin wusste es jedenfalls.« Thalias Augen verengten sich, was ihrer Übelkeit nicht gerade guttat. »Was hat er dann Ihrer Meinung nach dort gewollt?«
»Ich hatte gehofft, dass Sie mir das sagen könnten. Sie haben ihn zuletzt gesehen, am vergangenen Abend in der Redaktion von der ›News Cologne‹, richtig?«
Sie nickte, und wie ohne ihr Zutun verhakten sich ihre Finger. »Ich schätze schon. Also, dass ich die Letzte war.«
Als sie die Redaktion verlassen hatte, war Konstantin noch über irgendwelche Aufzeichnungen gebeugt gewesen. Sie hatte es nicht richtig erkennen können. Jetzt wünschte sie, ihm mehr als nur ein »Stirb nicht, alter Mann« zugerufen zu haben.
»Sie wussten nicht, wo er noch hinwollte?«
Thalias Blick blieb auf ihrer Hand haften. Da war etwas auf ihrer Handfläche. Etwas Blaues, wie eine verwischte Zeichnung … oder wie Zeichen. »Nein … Nein, leider nicht. Er hat mir nicht gesagt, woran er arbeitet.«
»Wirklich nicht? Sie haben ihm kurze Zeit später eine Nachricht hinterlassen, dass er es nicht wagen soll, sich ein Loch in den Schädel schlagen zu lassen, weil Sie ihm sonst noch den Arsch auf…«
»Ich weiß, was ich gesagt hab«, fiel Thalia ihm ins Wort. Vermutlich wäre sie jetzt wütend geworden, wenn diese blauen Zeichen sie nur nicht so ablenken würden. Was war das bloß?
So funkelte sie den Polizisten nur dunkel an.
»Also wussten Sie, dass er etwas Gefährliches vorhatte.« Die Miene ihres Gegenübers blieb neutral.
Wie er das nur schaffte?
»Nein, wusste ich nicht.« Thalia hielt die Hand so, dass der Mann die Zeichen nicht bemerken konnte. »Aber ich kannte ihn. Wenn es nicht gefährlich gewesen wäre, dann hätte er mir gesagt, woran er arbeitet. Und er hat versucht, mich anzurufen, kurz bevor …« Jetzt kam sie nicht umhin, sich eine Träne wegzuwischen. Mit dem Ärmel, verstand sich.
»Oh, tut mir leid. Das war einer von unseren Leuten, der ein wenig übereifrig war.« Der Kommissar sah rücksichtsvoll in seine Akte. »Woher wussten Sie von der Art der Verletzung bei den früheren Opfern? Das Loch im Schädel? Wie gesagt, wir haben diese Information nicht öffentlich gemacht.«
Sofort stieg Übelkeit in Thalia auf. Sie kämpfte das Gefühl mit aller Macht nieder. Auf einen Erbsensuppen-Auftritt wie im Exorzisten hatte sie vor diesem Mann nun wirklich keine Lust. »Von ihm.«
»Er arbeitete also an einer Story über den Melaten-Mörder. Wer war sein Informant?«
»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich das nicht weiß?« Das kam unfreundlicher heraus, als Thalia beabsichtigt hatte, aber ihre Nerven lagen nun mal ziemlich blank.
Schneider hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut. Wir werden es ja erfahren, sobald wir uns seinen Computer vornehmen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Mein Kollege wird Sie wieder nach Hause bringen. Versuchen Sie, zu schlafen.«
Sie ignorierte die Hand. »Mache ich.«
»Sollen wir noch jemanden informieren, der über Nacht bei Ihnen bleibt?«
»Nicht nötig. Er war schließlich nur ein Arbeitskollege.« Ihre Kehle war so eng, dass sie die Worte beinahe nicht hinausbekommen hätte. Ihre Augen fühlten sich heiß an, als würde sie etwas ausbrüten, doch das tat sie natürlich nicht. Sie wusste genau, woran das lag.
Ohne weitere Worte drehte sie sich um und verließ diesen Ort des Schreckens. Länger hätte sie es nicht ausgehalten. Dabei presste sie ihre Hand gegen ihr Sweatshirt, damit sie bloß nicht weiter schwitzte.
Nicht, bevor sie nicht herausgefunden hatte, was ihr Kollege ihr da noch im Tode mitteilen wollte.
Thalia saß an ihrem Küchentisch und starrte auf ihre Handfläche, bis die Sonne den Himmel grau färbte. Auf dem Zettel vor ihr hatte sie sich verschiedene Notizen gemacht, aus denen sie allesamt nicht schlau wurde.
Was auch immer Konstantin da in seiner Handfläche notiert hatte, es musste sich um eine Buchstaben- und Zahlenkombination handeln. Schnell war ihr klar geworden, dass es spiegelverkehrt war und sie es umdrehen musste, ganz sicher war sie sich trotzdem nicht.
131nF vielleicht? Oder E, falls der Abdruck nicht ganz vollständig war?
Sie seufzte. Immerhin konnte sie froh sein, dass Konstantin noch einen Füller benutzte, bei dem die Tinte wasserlöslich war, sonst hätte sich das niemals von seiner Haut auf ihre übertragen. Oft genug hatte sie sich darüber lustig gemacht, doch wenn er wie beinahe jeder andere Mensch heutzutage einen Kugelschreiber benutzt hätte, hätte sich da vermutlich überhaupt nichts abgedrückt.
Ob sie es noch einmal schaffte, zu seiner Leiche vorgelassen zu werden, um sich seine Hand anzusehen?
Ein taubes Gefühl breitete sich in ihr aus, als sie an ihren alten Freund als Leiche dachte. Es war, als wollte ihr Körper sie davor schützen, aber irgendwann würde die Erkenntnis mit aller Macht über sie hereinbrechen und sie mit sich in einen schwarzen Abgrund reißen.
Ihr graute vor diesem Moment. Momentan war sie dankbar für die Taubheit, denn so blieb sie handlungsfähig. Sie hatte schließlich einen Mörder zu fangen, denjenigen, der den Menschen getötet hat, der ihr am wichtigsten war.
Wenn sie es genau betrachtete, war sie ganz gut darin, traumatische Erlebnisse zu verdrängen. Mit ihrer Therapeutin war sie immer noch damit beschäftigt, ihrem Kindheitstrauma auf die Spur zu kommen. Arbeitslos wurde Frau Doktor jedenfalls so schnell nicht.
Ein Gähnen brach sich Bahn. Sie erhob sich und setzte Wasser auf. Während sie die Kaffeebohnen mahlte und sich der sanfte, warme Duft in der Küche verbreitete, starrte sie nachdenklich aus dem Fenster.
Langsam schälten sich Umrisse aus der grauen Dämmerung. Frühnebel hing in der Luft und benetzte die Fensterscheibe. Gegenüber öffnete sich eine Haustür und ein müder Mann mit einem quirligen Golden Retriever trat auf die Straße.
Der Wasserkessel stieß ein schrilles Pfeifen aus und Thalia zuckte zusammen. Rasch füllte sie das Kaffeemehl in einen Filter und setzte ihn auf eine Glaskanne. Langsam tropfte die dunkle Flüssigkeit herab.
Der Kaffee würde ihr guttun, sie hatte einen schweren Tag in der Redaktion durchzustehen. Vor allem musste sie an Konstantins Rechner, bevor die Polizei ihr zuvorkäme.
Der frisch gebrühte Kaffee weckte neue Lebensgeister in ihr. Sobald er ausgetrunken war, packte sie einen nagelneuen USB-Stick in ihre Tasche, schnappte sich ihre Jacke und machte sich auf den Weg in die Redaktion. Sie würde eine der Ersten sein, und das wäre mehr als ungewöhnlich. Hoffentlich musste sie sich keine dummen Fragen gefallen lassen.
Natürlich nahm sie den Weg über den Friedhof. Es war Tag, die Sonne zeigte sich und vertrieb den Nebel. Nur vor ihren Lippen kondensierte eine weiße Wolke.
Jetzt kamen ihr die Statuen nicht mehr so bedrohlich vor wie am Abend zuvor. War es wirklich möglich, dass nur eine Nacht vergangen war, seit sie zuletzt hier entlang gelaufen war? So viel war geschehen in dieser Zeit.
Eine ganze Existenz war zerstört worden.
Tatsächlich war sie die Erste in der Redaktion. Sofort steuerte sie auf Konstantins Schreibtisch zu. Das war nicht allzu ungewöhnlich, sie hockte oft hier und blätterte in seinen Unterlagen, betrachtete die Fotos auf seinem Schreibtisch und hielt seinen Stuhl warm, wie er es nannte. Sie unterstützten einander bei ihren Reportagen – oder hatten sich unterstützt. Solange niemand von seinem Tod erfuhr, war ihre Anwesenheit hier völlig unverdächtig.
In ihrer Kehle wurde es schlagartig eng. Sie blinzelte ein paarmal.
Normalerweise versuchte sie nicht, plötzlich aufkeimende Gefühle zu unterdrücken, dafür kam das zu selten vor. Immerhin arbeitete sie hart daran, verborgene Empfindungen wieder hervorzuholen.
In diesem Fall musste es sein. Die Redaktion füllte sich langsam, der erste PC hinten in der Ecke des Großraumbüros wurde bereits gestartet. Sie würde hier nicht heulen.
Während auch der PC ihres alten Kollegen hochfuhr, öffnete sie nacheinander alle Schubladen in dem Rollcontainer unter der Arbeitsplatte, um sich abzulenken. Sie enthielten hauptsächlich Büromaterial, Druckerpapier, USB-Sticks und Stifte. Nichts anderes hatte sie erwartet, Konstantin war nicht der Typ gewesen, der alles ausdruckte und irgendwo ablegte. Das Wichtigste hatte er immer im Kopf. Hoffentlich hatte er überhaupt etwas über sein streng geheimes Projekt niedergeschrieben.
Wenigstens seine Passwortabfrage war kein Problem. Sie hatte sein Passwort nach drei Wochen ihrer Bekanntschaft erraten und er hatte es niemals geändert. Dafür war er viel zu beeindruckt gewesen. In seinen Augen hatte sie sich wohl das Recht erarbeitet, seinen Computer zu starten.
Sobald sie Zugriff hatte, klickte sie sich durch seine Ordner. Sie enthielten Recherchematerial und jeweils die fertigen Artikel in der Druckfassung. Was das anging, war er sehr ordentlich.
Auch für das aktuelle Projekt hatte er immerhin schon einen Ordner angelegt. Er hieß ›Melaten-Morde‹ und enthielt einen Friedhofsplan, eine abgespeicherte Mail und einen Link zu einer Website. Er führte zu ›Good-Night-Pharmaceuticals‹, einem kleinen Pharmaunternehmen mit Sitz in Köln, das nicht viel über sich preisgeben wollte, wie es aussah. Dass sie sich mit Schlafforschung beschäftigten, zeigte schon der Name.
In Thalias Gehirn zuckte es. Die Zirbeldrüse, produzierte die nicht irgendein Schlafhormon?
Schnell kopierte sie alles auf ihren USB-Stick, bevor sie die Mail öffnete.
Sie stammte von einer Person, die offenbar anonym bleiben wollte, denn der Name im Absender war definitiv nicht echt. Sogar Thalia erkannte, dass es sich um den Vornamen und den Nachnamen von zwei verschiedenen Figuren einer alten Mysteryserie handelte: Fox Scully.
Beschrieben wurde nur ein Treffpunkt in einer Straße, die sie nicht kannte. Eiswasser ergoss sich in Thalias Adern, als sie den Zeitpunkt sah: gestern Nacht gegen halb zehn – kurz nachdem sie durch ihr Handy aus der Badewanne geholt worden war.
»Ach, die Frau Wollseif ist ja schon anwesend. Etwas früh für Ihre Verhältnisse«, hörte sie plötzlich vom Eingang her. »Kommen Sie ruhig gleich mit, sie sitzt an Herrn Blaubergs Schreibtisch.«
Ihr Kopf ruckte hoch. Ihr Chefredakteur Charly, der eigentlich Karl-Heinz hieß, steuerte direkt auf sie zu und in seiner Heckwelle bewegte sich ausgerechnet der Herr Schneider von der Kripo.
»Verdammt«, murmelte sie und zog den USB-Stick ab. Die Mail löschte sie aus dem Ordner. In Konstantins chaotischem Posteingang war sie sicher noch vorhanden, sie unterschlug also keine Hinweise für die Polizei. Aber vielleicht erkaufte sie sich dadurch ein wenig Zeit.
Zeit, in der sie sich dort in Ruhe umsehen konnte, bevor sich die Polizei breitmachte.
Es gelang ihr gerade noch, den Stick in der Hosentasche verschwinden zu lassen, bevor die beiden Herren sie erreichten.
»So schnell sieht man sich wieder«, begrüßte Herr Schneider sie freundlich. Seine Augen blieben jedoch kühl und schienen sie zu scannen.
Charly stutzte. »Sie kennen einander?«
»Frau Wollseif ist Herr Blaubergs Notfallkontakt.« Der Kripo-Beamte hielt es vage. Vermutlich wollte er nicht in einer Zeitungsredaktion herumposaunen, was für eine Nachricht Thalia ihrem Kollegen hinterlassen und woran dieser gearbeitet hatte. Es war besser, keine schlafenden Hunde zu wecken.
»Dann weißt du es bereits?« Charly wirkte enttäuscht. Er überbrachte schlechte Nachrichten zu gern selbst.