Fatum - Mathebu - E-Book

Fatum E-Book

Mathebu

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Beschreibung

Ein leises Wimmern. Eine Entscheidung. Ein Mord, der erst nach 20 Jahren aufgeklärt wird. Ein unerwartetes Wiedersehen. Julia Gruber findet auf ihrer Laufstrecke in Saarbrücken ein ausgesetztes Baby. Während ihrer Ehe mit Robert musste sie fünf Kinder zu den Sternen schicken, da ihr Körper nicht in der Lage war, die Babys auszutragen. Sie erachtet das winzige Mädchen als Manifestation ihres in die Wirklichkeit gerutschten Wunsches. Augenblicklich steht für sie fest, dass sie dieses Kind nie mehr hergeben wird, auch wenn sie dafür kriminell werden muss.

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Seitenzahl: 439

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FATUM
Über die Autorin
Impressum
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
Dank

Mathebu

FATUM

Jenseits der Stille

XOXO Verlag

Über die Autorin

Die Autorin Maria Theresia Buch schreibt unter dem Pseudonym MATHEBU. Sie lebt mit ihrer Familie in Blieskastel. Nach einem mehrjährigen Fernstudium für Malerei und Kunstgeschichte belegte sie ein Schreibstudium beim Weltbildverlag. 2017 veröffentlichte sie den Krimi »Mord und andere Geschenke«, der, wie auch dessen Fortsetzung »Endgültig! Du entkommst mir nicht«, letzterer 2020 erschien. Das dritte Buch ist ein Roman mit dem Titel »Ojum und der dunkle Riss«. In der Anthologie »achtzehn texten« ist sie mit zwei Kurzgeschichten und bei »100textefuerdenfrieden« mit einem Text vertreten. Die Cover ihrer Bücher gestaltet sie selbst.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-097-2

E-Book-ISBN: 978-3-96752-597-7

Copyright (2023) XOXO Verlag

Lektorat: Siegfried Hess

Cover-Illustration und Text: Mathebu

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Deutschland (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Wir sind alle nur Besucher, hier an diesem Ort,

zu dieser Zeit.

Wir sind nur auf der Durchreise.

Unsere Aufgabe ist es zu beobachten,

zu lernen, zu wachsen, zu lieben …,

um dann wieder nach Hause zu gehen.

― Weisheit der australischen Aborigines

Teil 1

Julia

Nacht für Nacht der gleiche verhängnisvolle Traum. Ich horche, drossele meinen Schritt, versetze mich in die Bedeutsamkeit des Tages, schaue mich um. Ich sehe mich auf dem schmalen Weg, der als blasser Streifen die Landschaft durch saftige Wiesen und einen undurchdringlichen Wald gürtet.

Zwischen Bäumen, die ihre Wurzeln tief in das Erdreich krallen, verteidigt dornenreiches Gestrüpp die Zwischenräume. Ich verharre auf der Laufstrecke, glaube, etwas zu hören das meiner täglichen Routine widerspricht.

Wie ich mit angehaltenem Atem still stehe, vernehme ich ein leises Krächzen, kaum zuzuordnen, ob Tier ob Mensch. Ein leidendes Stimmchen, das zu einem Lebewesen gehört, das hier an einem völlig ungeeigneten Platz ausgeliefert scheint.

Noch während ich überlege, soll ich oder nicht, verändern sich die Laute. Ein zaghaftes Wimmern raunt von drohender Gefahr. Mir bleibt keine Wahl.

Ich erkenne, wie ich den Weg verlasse und mich durch namenloses Gestrüpp kämpfe. Umständlich weiche ich Bäumen aus, die mir mit ihren herabhängenden Armen ins Gesicht schlagen. Ich zwänge mich durch ein Dickicht, das wildwuchernd diesen Landstrich despotisch beansprucht. Und dann ist es still.

Kein Laut mehr zu hören. Ich bleibe stehen, spüre wieder meinen hämmernden Herzschlag in den Ohren, fühle erneut die unerträgliche Spannung auf das, was mich beim nächsten Schritt erwartet, auf etwas, das lauernd sich vor mir verbirgt.

Die Vögel stellen ihren Gesang ein. Eine dunkle Wolkenwand kündigte den herannahenden Regenguss an. Meine Füße setzen sich mechanisch in Gang, die Augen sezieren die Blätterfront, die sich mir in den Weg stellt. Ungeachtet der spitzen Dornen, die mir Arme und Hände zerkratzen, wühle ich mich bis zu dem blauen Etwas, das die Farbe der vorherrschenden Natur unterbricht.

Vor meinen Füßen liegt ein unbewegliches Stoffbündel, nach dem ich vorsichtig taste. Immer wieder, auch jetzt im Traum, trifft mich der Schock beim Erkennen dessen, was ich gerade hochhebe.

Ein Leichtgewicht, das mich in die Knie zwingt. Ein Menschenkind, weggeworfen wie Müll. Geschlossene Augen im gräulich blauen Gesicht. Still, unendlich still.

Der Sturm der durcheinanderwirbelnden Gefühle in denen sich Angst mit Entsetzen ballt, wo Verwunderung die Augen aufreißt, und Erkennen zur Eile mahnt, drücke ich das blaue Bündel an meine Brust.

Es atmet, dieses arme ungewollte Kind. Ich wünsche mir, dass es meinen Herzschlag spürt, auch wenn das T-Shirt durchgeschwitzt ist. Ich drücke es an mich, damit es bemerkt, dass es nicht mehr alleine ist.

Auch im Traum laufen mir Tränen über das Gesicht wie damals. Erneut gefangen in diesem Albtraum ist das nicht mehr von Belang.

Es ist der gleiche Traum, der mich zerreißt, der aufkeimt mit minimalen Facetten.

Ich schrecke hoch und reibe mir die Augen im Bewusstsein, dass sich selbst im Schlaf die Wahrheit nicht biegen lässt.

***

Nur Schwachsinnige versuchen, im hellen Licht des herankriechenden Morgens ihre Verbrechen schönzureden. Sequenzen aus der Tiefe schieben sich schon wieder ans Tageslicht. Ich sehe alles vor mir, als sei es erst gestern geschehen. Ich handelte damals richtig, es gab keine Alternative.

Die Konsequenzen, die der Tag heraufbeschwor, sah ich nicht vorher. Hatte ich eine Wahl? Sollte ich es liegenlassen, dieses kleine entsorgte Menschenkind, es dem Tod in die Hände geben wie es die verzweifelte Mutter wollte?

Sie versteckte es abseits der Weggrenze. Hätte sie es doch in eine Babyklappe gebracht! Was bewog sie, eine Adoption auszuschließen? Warum legte sie es nicht an den Rand des Weges? Das erhöhte die Chance in erheblichem Maß, dass es gefunden werde. Aber hier unter dornenreichem Gestrüpp scheint mir, konnte nur namenlose Abscheu Voraussetzung für diese drastische Vorgehensweise sein.

Nun, es ist mir vollkommen klar, dass Fiktion und Realität sich manchmal die Hand geben. Um der Geschichte nicht vorzugreifen wage ich den Sprung in die gelebte Vergangenheit. Also zurück zum Anfang.

***

Der Frühlingstag neigt sich dem Ende entgegen. In seinem Abglanz hält sich ein klaffendes Loch hartnäckig im Himmelsblau.

Es drängt mich, doch noch die Laufschuhe hervorzuholen, sie anzuziehen mit dem Vorsatz, täglich eine Stunde zu joggen, um die winterliche Trägheit aus den Knochen zu vertreiben.

Meine ersten noch sorgfältig gesetzten Schritte bringen mich an die Stelle, die mein Leben aus der Bahn wirft. Mir ist augenblicklich klar, was danach zu erwarten ist. Mein Dasein zerfällt in zwei Teile, in eine gemäßigte Vergangenheit und eine Zukunft, für die es gilt einen Rahmen zu schaffen. Davon wird mich nichts und niemand abhalten.

Dass es gerade mich trifft, dieses Kind zu finden, gleicht einem Wunder, das eine Zukunft in sich birgt, die ich bis dato für unmöglich hielt.

Ich renne mit dem Findling zurück zu meinem Wagen. Die Gedanken überschlagen sich. Das Kind wimmert. Ich lege es auf einer Decke im Fußraum ab, wende das Auto und brause nach Hause.

Dem Impuls, ich müsste es zur Polizei oder in ein Krankenhaus zur Untersuchung bringen, verweigere ich mich vehement.

Wie ein Dieb seine Beute, bringe ich dieses arme Wesen sachte an mich gedrückt in mein Schlafzimmer. Behutsam wickele ich es aus dem blauen Tuch. Immer noch hält es die Augen geschlossen. Dick verquollen verwehren sie ihm die Möglichkeit, sich zu öffnen.

Unter dem Wickeltuch verbirgt sich ein, in einen erbärmlichen alten, abgewetzten Strampelanzug gesteckter winziger Körper, den ich noch nicht seinem Geschlecht zuordnen kann. Wenigstens kehrt im warmen Raum ein wenig Rosé in das Gesichtchen zurück.

Staunend betrachte ich dieses unvorhergesehene Geschenk. Nach kurzer Versenkung fangen meine Gedanken erneut zu rotieren an.

Ich eile an den Wandschrank, fische ein Mohair Winterunterhemd aus der unteren Schublade, entkleide das Kind, entferne die Windel, ein Stück Stoff, abgeschnitten aus einem verwaschenen Bettbezug oder etwas ähnlichem.

Ich reinige das kleine Mädchen, das zum Vorschein kommt mit einem weichen Waschlappen, trockne es ab wie ein rohes Ei, schiebe es in die warme Wäsche. Anhand der Nabelschnurreste schließe ich, dass das Neugeborene erst ein oder zwei Tage alt ist.

Hatte es die Mutter sofort nach der Geburt entsorgt oder erst nach einem für sie schmerzhaften Erlebnis, dessen sie sich augenblicklich entzog?

Ich renne zur Hausapotheke, nehme Desinfektionsmittel und eine dünne Mullbinde heraus, eile zurück und versorge den Nabel der Kleinen, damit sich keine Bakterien darin ausbreiten können.

Sie schläft tief und fest. Der Rutsch ins Leben kostete nicht nur die Mutter viel Kraft. In Kissen gebettet liegt die Kleine vor mir wie ein Engel, bewegungslos wie eine Wachsfigur, das Leben in ihr nur erkennbar an dem minimalen Heben und Senken der zarten Brust.

Meine Augen fließen über, mein Herz flattert und strömt mit aller Macht diesem Baby zu. Damit ist augenblicklich klar, dass ich für es sorgen werde, dass ich es nie mehr hergeben kann.

Ich reiße mich aus der Verzückung, schalte meinen Verstand ein, überlege die weitere Vorgehensweise.

Muttermilch, kommt mir zuerst in den Sinn, aber woher nehmen? Windeln, Anziehsachen, ein Kinderbettchen, Fläschchen, Sauger, Badewännchen und Badezusatz, Lätzchen, und Babycreme. Brauche ich auch Schlaflieder? Nein, singen kann ich selbst.

Aber wie soll ich alles auf die Schnelle besorgen? Ich möchte das Kind nicht alleine lassen. Nie wieder, soll sich dieses zarte Wesen einsam, ja ungeliebt fühlen. Das schwöre ich mir im Geheimen.

Die Verantwortung, die ich übernehme, bringt mich nicht aus der Fassung. Ich marschiere geradewegs in eine Zweisamkeit, die ich als gottgewollt interpretiere.

Aber ich erkenne, dass ich einen Verbündeten brauche, der mir zumindest bei den ersten, ungewohnten Schritten zu Hilfe kommt.

Ich selbst habe keine Kinder. Mein Mann Robert pflegte zu sagen, dafür bliebe uns noch genügend Zeit. Aber nach fünf Fehlgeburten in Jahrzehnten unerfüllter Glückseligkeit, ist uns beiden klar, dass mein Körper für ein solches Glück nicht geschaffen ist.

Da wir uns nach einem Kind sehnten, strebten Robert und ich eine Adoption an. Wir seien zu alt, einem Kind ein gutes Zuhause zu ermöglichen, beschied man uns nach bangen Wochen.

Ich raste vor Wut. Mit Anfang Vierzig ist man doch nicht zu alt, Mutter zu sein! Einen Vater zu haben wie Robert, ist für jedes Kind ein Glücksfall, obwohl er zehn Jahre mehr als ich auf dem Buckel hat.

Nun ja, Robert bleibt ein Elternglück verwehrt. Kurz nach unserem Adoptionsversuch reißt ihn ein Autounfall aus dem Leben. Ich fühle mich doppelt verlassen.

Das Leben ist manchmal einfach nur ungerecht. Die einen wünschen sich Kinder, und die anderen werfen sie weg.

Völlig konfus renne ich zum Telefon und rufe meine allerliebste Freundin Hanna an.

»Du musst mir helfen!«, schreie ich ihr fast hysterisch ins Ohr.

»Bitte kaufe für mich alles ein, was ein Neugeborenes braucht. Eine komplette Erstausstattung, verstehst du? Vor allem Babynahrung und Windeln, auch Kleidung für ein Mädchen, für einen Winzling von Kind, neugeboren und weggeworfen.«

Ich erkenne, wie sie nach Luft schnappt, bevor sie fragt, ob sie sich verhört habe.

»Ich erkläre dir den Sachverhalt, wenn du kommst. Bitte beeil dich, es ist äußerst dringend«, werfe ich ihr entgegen.

»Aber ich verstehe nicht …«

»Beeile dich, komm zu mir. Du wirst schon sehen.«

Ich weiß, dass ich genervt klinge.

»Okay, im Reformhaus werde ich sicher fündig, aber haben die auch Babywäsche? Und welche Größe soll es sein?«

»Die Kleinste, die du findest. Vorerst. Das Kind ist winzig.«

»Ich spurte gleich los«, sagt Hanna und ihre Stimme klingt heiser vor Erregung.

»Dafür danke ich dir auf ewig«, flüstere ich und weiß, dass sie es nicht mehr hört.

***

Geschlagene zwei Stunden später trifft Hanna schwer bepackt und schnaubend bei mir ein.

Schon im Flur vernimmt sie das Krächzen, das sich wie aus einer wundgeschrienen Kehle anhört. Ein Schreck fährt ihr in die Beine. Sie lässt die Tüten fallen und eilt an den Ort, aus dem die Laute dringen.

Ich laufe ihr, das weinende Baby auf dem Arm wiegend, entgegen.

»Hast Du alles bekommen, was ich dir aufgetragen habe?«

»Ja Julia, habe ich. Aber wie kommst du zu diesem Kind?«

»Es ist hungrig, siehst du das nicht! Ich muss ihm ein Fläschen zubereiten. Alles andere später.«

»Lass mich das machen. Mein jüngster Enkel ist gerade mal ein Jahr alt, ich weiß, wie es zu handhaben ist. Kümmere du dich erst einmal um das Baby und versorge es mit einer frischen Windel und Kleidung. Übrigens, die Strampler überließ mir meine Tochter. Alles, was sie mir mitgab, kann ich verschenken, sagt sie. Ihre Familie ist vollständig, mit weiteren Nachkommen rechnet sie nicht mehr. Somit musste ich nur noch für Nahrung sorgen. Im Reformhaus empfahlen sie mir dieses Pulver, es sei muttermilchähnlich, für ein Neugeborenes bestens geeignet. Wo steht der Wasserkocher?«

»Neben der Spüle auf der linken Seite.«

»Die freundliche Verkäuferin erklärte mir, ich müsse zwei Portionslöffel Pulver auf 100 ml. abgekochtes und abgekühltes Wasser geben. Flaschen und Sauger sollten ausgekocht sein. Die von Lisa sind es.«

»Aber wo kann ich das Kind baden? Dachtest du auch an eine kleine Badewanne?«

Hanna zieht scharf die Luft ein. Sie schaut mich verwirrt und ärgerlich an. Mit einer harschen Bewegung schiebt sie sich die ins Auge fallenden Haare hinter das Ohr.

»Sonst noch was?«, schnaubt sie. »Schnapp dir eine Schüssel, fülle sie mit lauwarmem Wasser, nimm ein wenig von der Waschlotion, die da auf dem Tisch liegt. Pass auf ihren Nabel auf, wenn du sie ins Wasser tauchst. Fang schon mal an, während ich das Fläschchen zubereite.«

Das Baby wimmert herzerweichend.

Ich nehme ein Badetuch, lege es auf mein Sofa, bette die Kleine zwischen dicke Kissen, um ein Herunterfallen zu vermeiden.

Die größte Plastikschüssel, die ich finde, befülle ich mit pulswarmem Wasser, bringe sie zum Sofa, stelle sie auf dem kleinen Tisch der daneben steht ab.

Mit einem weichen Waschlappen beginne ich das Kind behutsam zu waschen. Auf seinem Köpfchen sprießen nur ein Paar Fläumchen, kaum als Haare zu bezeichnen. Die Fontanelle, die noch Zeit braucht, sich zu schließen, spare ich mit umkreisenden Bewegungen aus.

Ich trockne den zappelnden Winzling und ziehe ihm die zu große Windel an, die ihm bis unter die Ärmchen reicht.

Hanna brachte einen schönen bunten Strampelanzug mit, der ein wenig Farbe durch die vielen Waschungen eingebüßt hat.

Sie reicht mir das Fläschchen.

Ich setze mich in die Sofaecke, nehme das Kind auf den Arm und schiebe ihm den Sauger in den kleinen Mund. Sofort beginnt es zu nuckeln. Ich betrachte dieses fremde Wesen wie ein Kleinod, wie ein konkretes Ebenmaß meines in die Realität gerutschten Wunsches.

»Pass auf, dass sie sich nicht verschluckt«, mahnt Hanna, die mir auf einem Stuhl am Wohnzimmertisch gegenübersitzt.

»Du machst dich gut als Mutter«, lächelt sie.

»Das liegt in der Natur der Frauen«, entgegne ich.

»Das Glück springt dir aus den Augen«, sagt sie, »aber wo kommt es plötzlich her?«

»Hätte das Glück Beine, könnte ich sagen, es ist mir zugelaufen. Aber das ist es nicht.«

»Erzähl schon, wie kommst du zu dem Kind?«

Ich berichte in allen Einzelheiten, wie es zu dieser unglaublichen, herzergreifenden Begegnung gekommen ist. Hanna lauscht gespannt, versucht mehrmals, zwischen das Gesagte zu grätschen, unterlässt es, durch meinen mahnenden Gesichtsausdruck gebremst, weitere Fragen zu stellen.

Ich kann sehen, was ihr durch den Kopf schwirrt. Es dauert nur Sekunden, bis es aus ihr heraussprudelt.

»Du musst zur Polizei. Bring die Kleine zu einem Arzt oder in ein Krankenhaus zur Untersuchung. Dir bleibt nichts anderes übrig. Das ist dir hoffentlich klar.«

»Bist du verrückt? Was meinst du, was geschieht, wenn ich den Fund des Kindes bei der Polizei angebe? Die machen sich augenblicklich auf die Suche nach der Mutter. Wenn sie sie finden, wird sie zu allem Elend auch noch bestraft. Das Kind wird ihr abgenommen, und landet in irgendeinem Heim. Wie ich es sehe, ist die Frau am Ende. Man wirft nicht aus Jux und Tollerei ein Kind in den Wald, oder siehst du das anders? Sie legte das arme Schätzchen zum Sterben ab. Was muss in einem Menschen vorgehen, dermaßen drastisch zu handeln? Bei mir bekommt das Mädchen alle Liebe, die ich geben kann. Ich werde es beschützen, jetzt und für alle Zeit. Kannst du mich nicht ein wenig verstehen?«

Ich bin außer mir.

»Kann ich. Ich weiß, dass du und Robert euch sehnlichst ein Kind gewünscht habt, aber deshalb darfst du dich nicht über alle Regeln hinwegsetzen. Es gibt nun mal Vorschriften, das wissen wir beide. Wenn du sie ignorierst, machst du dich strafbar.«

»Mir blutet das Herz, wenn ich daran denke, dieses arme Kind einer Bürokratie auszusetzen, in deren Machenschaften drei Menschen auf der Strecke bleiben, die Mutter, die Kleine und ich. Aber mir ist klar, dass ich einen Weg finden muss, dass das Mädchen eine reelle Vita bekommt und damit offiziell meine Tochter wird. Hast du eine Idee, wie sich das verwirklichen lässt?«

»Ad hock fällt mir nichts dazu ein. Merkst du es noch? Du ziehst mich gerade in ein Verbrechen hinein, machst mich zu deiner Komplizin. Was ist, wenn die Polizei dahinter kommt, dass es nicht dein leibliches Kind ist? Dann stehst du als Entführerin da. Bei mir werden sie sagen, mitgegangen mit gefangen. Was meinst du, passiert, wenn du zum Standesamt läufst und sagst, du hättest die Kleine zuhause allein geboren?«

»Ach Hanna, dann fragen sie nach meinem Frauenarzt, oder dem nicht vorhandenen Mutterpass und dann …?«

»Hast recht, das ist blöd. Dein Frauenarzt kennt dich seit Jahren. Durch ihn könnten sie von den Fehlgeburten erfahren. Stell dir vor, sie kämen auf die Idee, eine Blutuntersuchung von dir und dem Kind anzuordnen. Eine Übereinstimmung ist mehr als fraglich, wenn sogar unmöglich. Damit hätten sie dich am Schlafittchen. Wer glaubt dir danach noch, dass du die Kleine unter einem Gestrüpp fandest, und sie nicht aus dem Kinderwagen einer Mutter geraubt hast?«

Julia schüttelt nachdenklich den Kopf.

»Siehst du«, meint Hanna, »das ist keine Option.«

Eine Minute schweigen wir, jede in Gedanken versunken.

»Schau doch mal, wie friedlich die Kleine aussieht. Hast du es auch gehört, sie hat ein Bäuerchen gemacht. Wie süß, sie legt das Köpfchen auf meine Schulter. Ich glaube, sie ist eingeschlafen. Ich bringe sie ins Schlafzimmer, bette sie zwischen zwei Kissen. Sie soll es warm und sicher haben. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte ich sie nicht gefunden. Nicht auszudenken ist das.

Ins Wohnzimmer zurückgekehrt, schaut mich Hanna mit gerunzelter Stirn an.

Ich lernte in den Jahren unserer Freundschaft, die einige Hochs und Tiefs durchlitt, in ihr zu lesen wie in einem Buch.

Hanna ist das Gegenteil von mir. Eine herzensgute, treue Seele, die für fast alles Verständnis zeigt.

Sie bringt nichts aus der Ruhe, mich dagegen schon Kleinigkeiten. Von außen betrachtet schauen wir aus wie Pat und Patachon, sie klein und pummelig, ich 1,78 m groß, mit wenig ausgeprägten weiblichen Rundungen.

»Du kennst mich, ebenso gut wie ich dich kenne. Ich weiß, dass du mein Handeln nicht gut findest«, sage ich zu ihr. »Aber dir ist auch klar, dass ich mich mit dem Thema Kind, sei es das eigene, oder ein adoptiertes, über lange Zeit beschäftigt habe. Bei meinen mannigfaltigen Recherchen stieß ich auch auf die Problematik von Findelkindern.«

»Ich erinnere mich«, stimmt Hanna mir zu. »Wir haben oft darüber geredet.«

»Wusstest du, dass die Morbiditäts-und Mortalitätsrate laut Christoph Hufeland bei Findelkindern besonders hoch ist?«

»Nein.«

»1798, berichtete er, haben in Paris zum Beispiel von 7000 Findelkindern trotz ausreichender Pflege und Ernährung nach 10 Jahren nur 180 Kinder überlebt. Sie welken dahin, sie verlöschen, heißt es. Die Wissenschaft bezeichnet diese Tragödie als Marasmus oder auch als psychischen Hospitalismus, von an sich gesund geborenen Kindern, infolge totaler emotionaler Deprivation. Genau das möchte ich der Kleinen ersparen.«

»Aber die Zeiten, von denen da die Rede ist, gehören längst der Vergangenheit an. Heute gibt es gute Heime, auch Pflegeeltern mit einer besonderen Ausbildung. Die Kinder werden beschützt, das Jugendamt hat ein Auge darauf.«

»Und du glaubst, das ersetzt Mutterliebe?«

»Willst du behaupten, dass allen angenommenen Kindern die Liebe verweigert wird?«

»Natürlich nicht! Aber ich durfte mit 40 Jahren kein Kind adoptieren. Warum, ist mir bis heute schleierhaft. Mit 40 ist man durchaus in der Lage ein Kind zu lieben und zu fördern damit es, wenn es groß ist, ein eigenes Leben führen kann.

Wer garantiert, dass eine Frau in jungen Jahren das Kind, das sie zur Welt bringt, bis zu seiner Selbständigkeit begleiten kann?

Das Gleiche gilt auch für den Vater. Wer kann voraussehen, wann die Fanfare ertönt, die uns aus dem Erdendasein abberuft? Gibt es eine Garantie nur, weil man jung ist?«

Quelle: Christoph Hufeland- Findelkinder-Bericht Internet

»Du weichst mir aus. Glaubst du, das merke ich nicht?

Julia, ernsthaft, wie stellst du dir vor, wie das hier weitergehen soll?«

Ich atme tief durch, weiß selbst nicht, wie das weitere Prozedere ablaufen wird. Eines steht für mich fest. Wenn ich dieses Kind behalten will, und das ist keine Frage, muss ich, wie Hanna es sagt, kriminell werden. Das ist es mir wert.

Wir schweigen.

»Ich glaube, wenn ich es recht bedenke, bleibt mir nur die Wahl, mich mit der Kleinen aus dem Staub zu machen.«

»Du willst abhauen, untertauchen mit einem Säugling, der dir nicht gehört? Entschuldige, aber das ist jetzt nicht dein Ernst.«

»Doch, genau das mache ich. Ich packe alles Nötige zusammen und fahre mit der Kleinen weg, irgendwohin wo mich niemand kennt. Das gibt mir die Zeit, die ich brauche eine Strategie auszuarbeiten. Verstehst du? Wie sieht das denn aus, wenn ich hier auf dem Standesamt auftauche, sage, das ist mein Kind, das ich zuhause allein auf die Welt gebracht habe? Stell dir vor, ich treffe dort auf Leute aus meinem Umfeld, die wissen, dass ich gar nicht schwanger war, was dann …?«

»Du hast sie doch nicht alle. Selbst wenn du ein Jahr lang wegbleibst, das Kind ist nicht dein Kind, egal wie lieb du es hast. Was ist, wenn du mit der Entführung, als die dein Vergehen gewertet wird, auffällst? Wie glaubst du, wirst du damit fertig, wenn du die Kleine, die dir jetzt schon ans Herz gewachsen ist, zurückgeben musst? Und was bedeutet das für das Mädchen?«

»Was heißt hier zurückgeben? Ich habe sie nicht in den Wald geworfen. Dieses Kind ist für mich, und ich für es, ein Glücksfall. Ich denke nicht daran, es herzugeben. Nicht dem Jugendamt, auch sonst niemand. Sollte ich erfahren, dass die Mutter das Gewissen drückt, und sie nach ihrem Sprössling sucht, zeige ich mich bereit, mit ihr zu verhandeln.«

»Was gibt‘s denn da zu verhandeln? Das Kind gehört dir nicht! Außerdem ist es kein Gegenstand, um den man feilschen kann. Du führst dich auf, wie eine Figur aus Brechts Drama vom kaukasischen Kreidekreis. Die Rolle des Küchenmädchens »Grusche« nimmt dir niemand ab.«

»Ich gäbe das Kind frei. Ich werde ihm niemals wehtun. Mein Entschluss steht fest. Ich mache mich schlau, wohin ich mit dem Baby verschwinde. Zuerst muss ich checken, was ich für die ersten Tage brauche, dann packe ich sie ins Auto und bringe uns an einen sicheren Ort.«

Hanna stöhnt. »Bisher dachte ich, meine Freundin sei cool, ehrlich und überaus nett. Jetzt zweifle ich. Wie lange willst du wegbleiben? Wer kümmert sich um dein Haus? Wer um die finanziellen Angelegenheiten, Rechnungen ect., die Post im Allgemeinen? Einen Nachsendeauftrag wirst du nicht erteilen oder? Hast du das auch schon bedacht?«

»Okay, okay, ich bleibe noch ein paar Tage hier, bis alles geregelt ist. Ich hoffe, dass du ab und zu meinen Briefkasten öffnest und die Post an dich nimmst. Dadurch ist die Gefahr vor Einbrechern gesichert. Haustiere gibt es nicht, die Pflanzen kannst du mitnehmen. Ich überlasse dir sämtliche Schlüssel, damit du jederzeit nach deinem Gustus schalten und walten kannst. Einverstanden? Wie lange ich wegbleibe, um meine Angelegenheit zu regeln, kann ich dir nicht sagen. Es kann lange dauern oder schnell gehen. Mal schauen.«

»Also doch. Du machst mich, ohne geringste Skrupel zu verspüren, zu deinem kriminellen Gehilfen und behauptest frech, du bist meine beste Freundin.«

»Aber Hanna, du musst doch niemand sagen, dass du meine Absichten kennst. Wenn du gefragt wirst, wo ich mich aufhalte, antwortest du, ich sei im Urlaub. Ich hätte eine Rundreise durch Italien oder durch eines der nordischen Länder gebucht. Such dir etwas aus. Mit dem Säugling hat mich hier noch niemand gesehen.«

»Dir fehlen noch eine Babytragetasche und ein Kindersitz für das Auto. Ich frage meine Tochter, ob sie auch diese Dinge entbehren kann. Wenn ja, bringe ich sie dir vorbei.«

»Du hast ihr doch hoffentlich nicht gesagt, dass ich die Babysachen brauche?«

»Meinst du, ich erkenne nicht, wozu du mich verführst? Ich erklärte Lisa, ich hätte auf dem Spielplatz, den ich immer mit ihrer Tochter besuche, eine junge Mutter kennengelernt, die mir furchtbar leidtat. Sie kam mittellos aus Syrien, mit einem wenige Tage alten Kind. Auf der Flucht, das erzählte sie mir, nahm sie nur mit, was sie tragen konnte. Sie machte einen unglücklichen, bedauernswerten Eindruck auf mich. Ich wollte ihr helfen. Ich erinnerte Lisa an mein allseits bekanntes Helfersyndrom, erklärte ihr halbseiden, dass ich die Babysachen für diese arme Frau brauche. Lisa glaubte mir. Jetzt kannst du mal sehen, was ich alles für dich veranstalte. Ich belüge meine Tochter, benutze eine arme Flüchtlingsmutter, die es gar nicht gibt, zumindest nicht in meiner Nähe, tische Lisa eine frei erfundene Geschichte auf.«

»Sagtest du nicht, sie schenke mir die Babysachen?«

»Ach, das hab ich zu dir gesagt. Deine Geschichte ist, wie wir beide wissen, eine andere. Aber auch wenn du deine Flucht als Urlaub tarnst, brauchst du einen Namen für das Mädchen. Wie könnte die Kleine heißen, was glaubst du, welcher Name passt zu ihr?«

»Darüber dachte ich noch nicht nach. Fällt dir etwas dazu ein?«

»Für einen Jungen fände ich Felix gut.«

»Ja, Felix, der Glückliche. Das bringt mich sofort auf eine Idee. Wie findest du den Namen »Felizitas«? Bedeutet das nicht auch »die Glückliche«?

»Ja natürlich, einen besseren Namen werden wir nicht finden.«

»Felizitas ist hervorragend. Felizitas Paulina Gruber, das hört sich vielversprechend an.«

»Wieso Paulina?«

»Paulina hieß meine Oma. Damit schaffe ich einen Bezug zu meiner Familie. Julia Maria und Felizitas Paulina Gruber. Das wird eines Tages in den Papieren stehen.«

»Nun ja bis dahin ist, wie mir scheint, noch ein langer Weg.«

»Den es zu gehen lohnt, glaub mir.«

Hanna seufzt vorhersehbar.

***

Gleich am nächsten Tag suche ich im Internet nach einer Route, die Felizitas und mich von Saarbrücken, meiner Heimatstadt, nach Italien, vorzugsweise an den Gardasee bringen könnte. Ich plane einige Übernachtungsmöglichkeiten ein, damit die Reise für uns beide nicht zu anstrengend wird. Etappenziel Nummer 1 könnte Salzburg sein. Da wollte ich immer schon mal hin. Jetzt halte ich den Zeitpunkt für ideal. Hanna bremst mich sofort, sagt, dass es mit einem Neugeborenen besser ist, mal kurz die Botanik zu durchstreifen, anstatt in einer Stadt mit vielen Touristen herumzuflanieren. Sie hat Recht.

Ich schaue mir bei einer Autovermietung die Angebote für Wohnmobile an. Mittlerweile erkenne ich, dass mit einem Kleinkind doch viel mehr Gepäck anfällt, und sich in keiner Pension oder einem Hotel unsere Privatsphäre besser schützen lässt als in einem Wohnmobil.

Hanna bringt mir einen gut erhaltenen Kindersitz, eine kleine Badewanne, eine Babytragetasche und ein Tragetuch vorbei. Sie zeigt mir, wie ich das Tuch inclusive Winzling umbinden kann.

Die Kleine an meinem Herzen zu tragen, erfüllt mich mit Glück und Dankbarkeit. Feli gefällt diese Methode. Sie weint nur, wenn sie Hunger hat oder ihre Windel schwer ist. Ich bleibe dann doch noch ein paar Tage zu Hause. Die Eingewöhnung in diese überraschende Glückseligkeit braucht etwas mehr Zeit, als ich zuerst glaubte.

In den ersten Nächten komme ich kaum zum Schlafen. Alle drei bis vier Stunden meldet sich Feli. Sie hat Hunger, muss gefüttert und gewickelt werden. Dass schlaflose Nächte Kraft fordern, wusste ich schon vorher. Aber diese Anstrengung beschert mir ein ungeahntes Glücksgefühl.

Erst am dritten Tag öffnet Feli die Augen. Ich schaue in ein undefinierbar dunkles Sternenmeer. Ich rätsele, ob sie mich sehen kann? Sie reagiert auf meine Stimme und meine Berührung.

Ich werde mit Hanna reden, sie fragen, ob wenige Tage alte Babys schon sehen können oder nicht. Mit diesem Gedanken schiebt sich die erste Sorge in mein Glück. Feli, wie ich sie liebevoll nenne, wird doch nicht blind sein?

Hanna lächelt süffisant.

»Diesbezüglich brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen«, sagt sie in einem Ton, den ich als überheblich einstufe.

»Ich muss noch viel lernen, das weiß ich«, reagiere ich zähneknirschend.

Ich bitte Hanna, auf Feli aufzupassen.

Um die Reise antreten zu können, schaue ich mich in einem Autohaus in Saarbrücken nach einem Wohnmobil um. Nachdem ich das passende Objekt gefunden habe, miete ich den Wagen vorsorglich für eine Woche. Gleichzeitig buche ich ein Fahrertraining und lasse mich in die Handhabung der technischen Geräte einweisen.

Ich erhalte ein Handbuch, indem ich alles Wichtige nachlesen kann, lasse es mir aber nicht nehmen, auf einem mitgebrachten Block mit meinen eigenen Worten Notizen anzulegen. Das gibt mir zusätzlich Sicherheit.

Nach Erledigung der Formalitäten übergibt mir der Autoverkäufer die Schlüssel für den vollgetankten Wagen. Er bittet mich, vorsichtig zu fahren, und wünscht mir eine gute Reise.

Ich gebe zu, es ist schon ein erheblicher Unterschied, ein Wohnmobil oder einen PKW zu steuern. Meine Augen streifen aus ungewohnter Höhe die neben mir und an mir vorbei rauschenden Autos. Ich fühle mich ein wenig überlegen.

Zuhause angekommen, parke ich das Wohnmobil in der Garage, in der zu Lebzeiten meines Mannes zwei Autos bequem Platz fanden. Der Mercedes von Robert erlitt bei dem schrecklichen Unfall einen Totalschaden. Seine Hälfte steht seit jenem grauenhaften Tag leer. Somit gelingt es mir, das Wohnmobil mit etwas mehr als handbreitem Abstand neben meinem Megan Cabrio abzustellen. Das Aussteigen aus dem Wagen entpuppt sich als kleines Kunststück.

***

Vor fast zehn Jahren kauften Robert und ich in einem Neubaugebiet im Saarbrücker Ortsteil Schafbrücke am Waldrand ein Haus. Zu dieser Zeit arbeitete mein Mann als Kriegsberichterstatter und Autor. Seine Arbeit brachte ihn in Krisengebiete, von wo er über das brisante Weltgeschehen für einen Fernsehsender berichtete. Zum Ausgleich zog es ihn in die Anonymität und Abgeschiedenheit eines ruhigen Landlebens. Für seinen Seelenfrieden brauchte er die Einsamkeit.

Ich denke auch heute noch, dass es ein Glücksfall ist, dieses Anwesen, das von Wald und Wiesen umgeben ist, fünfzig Meter vom nächsten Haus entfernt, zu besitzen. Um die Distanz zu den Nachbarn entschieden zu wahren, erwarb Robert das Grundstück zwischen den Häusern gleich mit. Er ließ einen Stabmattenzaun errichten, der die Grenze klar definiert. Was andere Leute zu dieser Einkerkerung sagen, interessierte ihn nicht.

Ausgebrannt, nach vielen teils gefährlichen Auslandsaufenthalten, suchte er totalen Abstand. Wir lebten in unserem eigenen Kosmos.

Ich arbeitete bis zum vierzigsten Geburtstag bei einer großen Kanzlei. Hanna lernte ich mit 30 Jahren an meinem Arbeitsplatz kennen. Ich beriet sie in einer Erbangelegenheit.

Wir fühlten uns auf ungeahnte Weise verbunden. Sie brachte mich mit ihrer quirligen, freundlichen Art immer wieder zum Schmunzeln, selbst bei meiner nüchternen Arbeit, die ich tagein und tagaus verrichtete. Als ich die gewünschten Aufgaben zu ihrer Zufriedenheit geregelt hatte, lud sie mich zu einem Essen in die Altstadtpizzeria Aldo ein. Ich stimmte freudig zu. Bereits bei unserem ersten Zusammentreffen herrschte Sympathie, die auf eine wachsende Freundschaft hinauslief.

Wir redeten, bis Aldo uns mit einem Zwinkern bat, endlich zu zahlen und das Restaurant zu verlassen. Es fiel uns nicht auf, wie schnell die Zeit davonrannte. Beim Abschied versprachen wir, einmal die Woche ein paar Stunden einzuplanen, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Seit diesem Abend vergingen zehn Jahre.

Hanna ist meine Seelenfreundin, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann. Sie stand mir zur Seite, wenn ich mal wieder ein Baby zu den Sternenkindern schicken musste. Sie hielt mich im Arm, als Robert den schrecklichen Autounfall hatte, der ihn das Leben und mich den Lebenswillen kostete. Meine Ursprungsfamilie ist schon seit Jahren verstorben. Ich hatte außer Robert niemanden mehr.

Hanna ist mein Fels in der Brandung. Sie fängt mich auf, wenn ich am Boden liege. Sie beschützt mich und ist immer für mich da. Ich sehe mich gleichsam als ihr Findelkind, wenn auch in unangemessener Größe. Deshalb glaubte ich, dass gerade sie mich versteht, warum es mir unmöglich ist, Felizitas wieder herzugeben.

***

Ich kann mich nicht erinnern, jemals deutlicher gespürt zu haben, was Glück bedeutet. Mit dem Auffinden von Felizitas schließt sich für mich ein Kreis. Nach fünf Fehlgeburten glaube ich wieder an den Gott aus meiner Kindheit, den ich lange Zeit als »scheinheilig« abtat. Muss ich zuerst vom Leben wie ein Kiesel geschliffen werden, um zu erfahren, was tiefe Zufriedenheit bedeutet?

Ich bedauere, dass ich dieses Glück nicht mit Robert teilen kann. Den großen Wunsch, Vater zu sein, bremste mein Körper aus. Nicht allein die Trauer, wenn ein Herzenskind uns verließ, noch bevor wir es sehen konnten, löste in mir das Gefühl aus, eine Versagerin zu sein. Trotzdem frage ich mich, wie Roberts Entscheidung in meiner jetzigen Lage ausfiele? Vor dem inneren Auge sehe ich ihn den Kopf schütteln. Für einen Verstandesmenschen wie er es war, ist mein Vorhaben untragbar. Er fände es nicht gut, oder zumindest grenzwertig, ich erkenne es. Aber, tangiert das auf irgendeine Weise meine Absicht? Nein, nicht mit dem größten Geschenk meines Lebens in den Händen.

Vor Jahren fand ich in einem Antiquariat in Saarbrücken ein unscheinbares Buch mit leeren Blättern. Diesem kleinen, alten Exemplar mit den leicht vergilbten Seiten, vertraue ich alles, was für mich bedeutend ist, an. Nicht nur der schöne Goldrand gibt ihm seinen Wert, auch der fast prähistorische Einband wirkt immer noch anziehend auf mich.

Es ist weniger ein Tagebuch, eher eine Aufbewahrungszelle für außergewöhnliche Entscheidungen, die ich treffe.

Niemand bekam es bisher zu Gesicht, nicht einmal mein Mann. Zwischen den welk wirkenden Seiten verberge ich meine Aktionen, die guten wie die schlechten.

Jetzt krame ich es hervor und beschwere es mit meinem neuen Geheimnis.

***

Feli ist aufgewacht. Ich kann es kaum erwarten, ihr quäkendes Stimmchen zu vernehmen. Ich eile zu ihr und drückte sie sanft an meine Brust.

Organisation ist alles, wenn man ein Baby versorgen will. Das Wasser für die Flasche ist abgekocht und heruntergekühlt, das Milchpulver bereitgestellt. Die zwei Komponenten mische und schüttele ich, wie Hanna es mir zeigte. Nach einer Minute kann ich die hungrige Feli füttern. Ich genieße es, das Kind im Arm zu halten, kann immer noch nicht fassen, dass ich nicht träume.

Ruck-Zuck ist die Flasche leer. Über meine Schulter gelehnt klopfe ich ihr sacht den Rücken, bis ein Bäuerchen entweicht. Meine süße, kleine Tochter weint selten. Sie ist ein stilles Kind. Ich trage sie durch den Raum, wiege sie, singe für sie ein Kinderlied, das ich aus der Erinnerung krame, setze mich in einen Sessel, lege sie auf meine Knie, schaue zu, wie ihr Gesichtchen Grimassen vollführt.

Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Was wird passieren, wenn ich mit Feli wegfahre, mich mit ihr in ein Krankenhaus begebe, und erkläre, ich hätte das Kind allein im Wohnmobil entbunden? Mein biologisches Alter spielt dabei keine Rolle. Heutzutage kommen Babys eher später zur Welt. Viele Frauen ziehen es vor, ihr Studium abzuschließen, im Beruf erfolgreich zu sein, gegebenenfalls ein Häuschen ihr eigen zu nennen. Ein Kind steht, durch Verhütung geregelt, oft erst nach dem 30. Geburtstag auf ihrer Liste.

Mit 40 Jahren kann ich theoretisch und praktisch durchaus noch ein Kind bekommen. Weit weg von der Heimat weiß niemand, dass es mir nicht möglich ist, ein Baby auszutragen. Felizitas und ich sollen gemeinsam registriert werden, denke ich. Und das, wird mir bewusst, muss schnell passieren, oder gar nicht. Mich reizt eher Letzteres, aber die Möglichkeit aufzufliegen ist riesengroß.

Hanna hilft mir, die gepackten Sachen in das Wohnmobil zu schaffen. Ich sehe ihr den Frust an, den sie mehr oder weniger verbergen möchte.

»Hast du dir das gut überlegt? Willst du nicht zur Polizei und berichten, wo dieses Kind herkommt? Ich meine, es ist immer besser, die Wahrheit zu sagen.«

»Ich habe dir doch erklärt dass man Robert und mich, unseres Alters wegen, von einer Adoption ausschloss«, schnorre ich. »Du weißt was das heißt!«

»Ja, verstehe. Auf natürlichem oder legalem Weg kannst du kein Kind haben.«

»Na endlich kapierst du, was ich meine.«

»Das macht die Sache auch nicht besser.«

»Hanna, du weißt, dass ich dich liebe, aber bitte pfusch mir nicht in mein Glück. Es wird sich ein Weg herauskristallisieren. Ich nehme jetzt Feli, packe sie in den Wagen. Dann heißt es für uns beide »Tschüss«, wie wir Saarländer sagen. Halte die Augen offen, damit uns niemand sieht.«

»Okay.«

Feli quengelt, als ich sie in den Wagen schiebe. Ich gurte sie auf dem Beifahrersitz in ihrer Kindertragetasche an. Dass das mit Sicherheit nicht die beste Lösung ist, weiß ich. Ich nehme mir vor, in der nächsten Stadt die passende Autobabyschale zu besorgen denn für den Kindersitz, den Hanna mir brachte, ist sie noch zu klein. Alles was mir sonst noch fehlt, gilt es schnellstmöglich anzuschaffen. Im Rückspiegel sehe ich Hannas Hand wie eine Fahne flattern. Sie winkt bis wir aus ihrer Sichtweite fahren.

Bevor ich auf die Autobahn A 5 Richtung Karlsruhe düse (über Frankreich zu brausen ist besser, aber das möchte ich nicht), schaue ich in Felis friedliches Gesicht. Inzwischen weiß ich, wohin ich will. Mein Ziel heißt Todtmoos im Schwarzwald. Robert und ich urlaubten dort vor vielen Jahren.

Feli schläft tief und fest. Ich fühle mich gesegnet und gar nicht kriminell mit diesem kleinen Wesen an meiner Seite.

Wenn ich heute darüber nachdenke, verschmolz damals alles zu einem Wegweiser, der in Richtung Katastrophe führte.

Nach ungefähr 170 Kilometern Autobahn, vorbei an einer eintönigen Landschaft, die sich mir zeigt wie ein überdimensionales, ausgeblichenes Tuch, chauffiere ich das Wohnmobil auf einen Rastplatz, auf dem erstaunlich viele Lastkraftwagen parken. Mein Auto fällt in der Menge der großen Kollegen nicht sonderlich auf.

Felizitas will gefüttert und gewickelt werden. Sie beschwert sich meckernd, weil ich trotz meiner Organisation zu lange brauche, bis sie den Sauger des Fläschen an ihrem Mündchen spürt. Gierig saugt sie die Nahrung ein. Kurz danach vernehme ich das erwartete Bäuerchen wie auf Kommando.

Ich traue meinen Augen nicht. Feli schenkt mir zum ersten Mal ein bezauberndes, zahnloses Lächeln, das mich völlig aus der Fassung bringt. Mein Schatz lächelt mich an, bewusst oder unbewusst, das spielt in dem Moment keine Rolle. Unendlich glücklich werte ich es als Einverständnis von ihr, mich als ihre Mutter zu akzeptieren.

***

Ich umfahre Freiburg, gelange auf die Schwarzwaldhochstraße und nehme die Ausfahrt Richtung Todtnau.

Die abgängigen Straßen ähneln Schlangen, die sich nadelöhrschlingengleich um den Berg schmiegen. Ich drossele die Geschwindigkeit, gezwungenermaßen, oft bis auf Tempo 30. Schneller zu fahren, wage ich nicht mit dem fremden, für meine Gewohnheit viel zu großen Wagen. Es geht mir, gelinde gesagt, am Allerwertesten vorbei, dass manche Autofahrer hinter mir zu drängeln anfangen. Sollen sie doch denken «Frau am Steuer, Ungeheuer.« Ich zeige ihnen im Geiste den Mittelfinger.

Die Fahrerei ist höllisch anstrengend, aber ich riskiere nichts. Oftmals finde ich die Fahrbahn der verdammt engen, steilen Kurven nicht ausreichend gekennzeichnet. Hier ist nicht nur für mich und meinen Schatz äußerste Vorsicht geboten. Auf dieser Strecke habe ich nur wenig Möglichkeiten, meine Augen über die wunderschöne Landschaft schweifen zu lassen.

Der Schwarzwald verdient seinen Namen durch die straff gesetzten Baumbestände, dicht und grün, mit eingeschmiegten, steil abfallenden Wiesen zur Freude der Skifahrer. Leider verrichtet auch hier der Borkenkäfer an etlichen Stellen sein teuflisches Werk. Die befallenen Bäume stehen wie Zahnstocher zwischen dichtem Grün. Die Fahrt hier her ist schwierig und lang für eine ungeübte Wohnmobil-Fahrerin wie mich. Ich merke, wie sich Bauch und Rücken verkrampfen. Aber da ist auch die Freude über die schönen Schwarzwaldhäuser mit ihren blumenstrotzenden Balkonkästen und den schindelbedeckten Walmdächern, die sie tragen wie heruntergezogene Hüte.

Seit etwa fünf Stunden sitze ich in Habachtstellung in diesem Gefährt und kann es kaum erwarten, endlich mein Ziel zu erreichen. Es bleiben nur noch wenige Kilometer bis nach Todtmoos, bis zum gebuchten Wohnmobil-Stellplatz »Jägermatt«. Ich bin ein wenig enttäuscht, habe ihn mir größer, freundlicher vorgestellt. Der nette Mann im Empfangshäuschen wickelt mit mir die Formalitäten ab und weist mich auf dem gebuchten Platz ein.

Ich nehme Feli aus der Tragetasche, wickele, füttere und bette sie in mein Tragetuch. Vor mir liegt ein schöner beschaulicher Ort.

Im ersten Restaurant nehme ich an einem der wenigen, freien Tische im Außenbereich Platz. Ich mag nicht mehr lange suchen. Ich habe Hunger.

Außer mir sitzen hauptsächlich Touristen an den derben Tischen. Die meisten tragen Wanderkleidung, kurze Hosen, Windjacken, feste geländegängige Schuhe mit gestrickten Strümpfen über die, wie ich erstaunt feststelle, eine Art Regenschutz gestülpt ist.

In den Bergen schlägt das Wetter oft unvorhergesehen um. Daher rührt sicher diese Vorsichtsmaßnahme. Rucksäcke und Nordic-Walking-Stöcke lehnen an Tischbeinen. Die Wanderer genießen müde, aber gutgelaunt, ihre wohlverdiente Vesper.

Auch ich fühle mich ausgelaugt, dennoch glücklich, freue mich auf ein gutes, bürgerliches Essen. Ich verspüre Lust auf eine in der Speisekarte angepriesene Ofenkartoffel mir Kräuterquark und einen Salat.

Der Koch, oder die Köchin gab sich bei der Zubereitung des Salates erstaunlich viel Mühe. Sie oder er richtete ihn mit ungewöhnlich unterschiedlichen Zutaten an. Neben dem üblichen Grünzeug finde ich kleine Würfelchen von roter Beete und Kürbis, Endivienschnitze und Honigmelonenstückchen, garniert mit allerhand Nüssen, Sesam und Sonnenblumenkernen. Abgerundet ist alles mit einem leichten, frischen Dressing. Diesen Salat werde ich zuhause mit Sicherheit nachmachen, er schmeckt ausgezeichnet.

Feli, mein liebes Kind, ruht seelenruhig an meiner Brust. Während der langen Fahrt ist mir einiges durch den Kopf geschwirrt. Es spiegelte sich eine Vorgehensweise, in der ich die Möglichkeit erahne, mein Vorhaben mit geringem Aufwand umzusetzen. Es kommt auf einen Versuch an, denke ich mir.

Am Anreisetag gönne ich uns zuerst mal Ruhe. Ich muss mit einem klaren Kopf zu Werke schreiten, will mein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein.

Am nächsten Morgen fahre ich in die Stadtmitte von Todtnau, auf der Suche nach einem geeigneten Parkplatz. Gar nicht einfach. Es bedarf mehrerer Runden durch enge Straßen. Endlich finde ich einen geeigneten Platz, das Wohnmobil außerhalb der City abzustellen.

Bevor ich den Wagen mit Feli verlasse, schaue ich mich um, ob ich alleine bin, oder ob mich irgendwelche Menschen auf ihrem Radar haben. Mich in Sicherheit wähnend, nehme ich aus dem Werkzeugkasten einen Schraubenzieher und breche das Türschloss des Wohnwagens von außen auf. Die Klappe des Handschuhfaches reiße ich aus den Angeln. Ich schaffe im Innern des Wagens Chaos, damit es nach einem Einbruch aussieht.

Feli, die solchen Lärm nicht gewohnt ist, fängt an zu schreien. Oh, sie hat ein kräftiges Stimmchen, wenn sie ängstlich oder unzufrieden ist. Dermaßen laut habe ich sie noch nicht gehört.

Ich nehme sie aus der Babytragetasche, wiege sie tröstend, spreche beruhigend auf sie ein, binde sie in mein großes Tuch und verlasse den Wagen.

Es zieht mich in die City. Ich muss mir die Beine vertreten und das, was noch fehlt, besorgen.

Da ich mich hier nicht auskenne, spreche ich entgegenkommende Passanten an, die mir freundlich den Weg zu einem Kinderfachgeschäft zeigen. Ich laufe zurück zum Wohnmobil und fahre in die Nähe des avisierten Zieles. Bewusst suche ich nach einem Parkplatz, der eine Straße von diesem Fachgeschäft entfernt liegt. Ich betrete mit dem Kind den Laden.

Der auf uns zueilende Verkäufer staunt nicht schlecht, als ich ihm ein Blatt Papier vorlege, auf dem er notiert findet, was ich zu erwerben gedenke.

Beflissen sucht er die gewünschten Artikel zusammen. Dabei mustert er mich immer wieder unverhohlen.

»Stellen Sie doch ihre Frage bevor Ihnen die Augen aus dem Kopf fallen«, animiere ich ihn.

Rotgeworden duckt er sich, fischt etwas aus einer Schublade, legt es wie einen Fehlgriff zurück.

»Junger Mann« beginne ich. Ich erachte das folgende Gespräch als eine Generalprobe, »ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die Sie glauben können, oder nicht.

Ich trage, wie Sie unschwer erkennen, mein Baby bei mir. Zwei Wochen zu früh und für mich völlig unvorbereitet, presste es sich in die Welt. Ich musste es allein in meinem Wohnmobil gebären. Diese Überraschung war für mich ein mittelschwerer Schock, aber für Sie ist es ein Geschäft, das Sie sicher nicht jeden Tag tätigen werden. Gott sei Dank hatte ich im Wagen eine Tasche vorbereitet mit den wichtigsten Sachen, die ich nach der Geburt brauche. Den Rest gedachte ich zuhause zu erwerben. Ausgehend vom errechneten Termin glaubte ich, mir blieben mindestens zwei Wochen Zeit, mich auf die Niederkunft vorzubereiten. Dafür dass es meine Tochter dermaßen eilig hat, gab es keinerlei Anzeichen. Sie ist mein erstes Kind, ein Wunder, mit dem ich nie gerechnet habe.«

Der Verkäufer hüstelt verlegen, entschuldigt sich, fragt kleinlaut: »Bin ich Ihnen zu nahe getreten?«

»Nein«, sage ich. »Ich erkenne nur einen ungläubigen Ausdruck in ihrem Gesicht. Es ist alles in Ordnung. Wenn ich sehe, was sich hier auf der Theke anhäuft, scheint mir, brauche ich Ihre Hilfe.«

Nach einer dreiviertel Stunde liegt eine komplette neue Babyausstattung auf dem Tresen. Während ich mit meiner EC-Karte bezahle, fragt mich der von meiner Offenheit sichtlich geplättete junge Mann freundlich, ob er mir die Sachen zu meinem Auto bringen darf. Ich zeige ihm mein strahlendstes Lächeln.

»Gerne«, sage ich, »aber ich muss Sie daraufhinweisen, dass mein Wohnmobil eine Straße weiter steht. Vor Ihrem Geschäft ist leider kein Platz, ein Auto dieser Größe zu parken. Ich finde es außerordentlich nett von Ihnen, mir beim Tragen zu helfen«, gurre ich.

Es entgeht mir keineswegs, dass sich für einen kurzen Moment eine kleine Falte in seine jugendliche Stirn schleicht, die gleich darauf wie von Geisterhand verschwindet.

Schwerbepackt hechelt der junge Mann hinter mir her, zu meinem Wagen. Gerade dabei aufzuschließen, zeige ich entsetzt auf das Türschloss.

»Jetzt schauen Sie sich das an, die Tür ist aufgebrochen. Oh mein Gott, bitte nicht! Das Wohnmobil ist nur ausgeliehen.«

Der Verkäufer stellt die Einkäufe ab und schiebt mich beiseite.

»Ich inspiziere die Lage«, sagt er und schaut finster. »Es ist möglich, dass sich der Einbrecher noch im Wagen aufhält.«

»Bitte seien Sie vorsichtig!«, flehe ich ihn an. »Ich könnte mir nicht verzeihen, wenn Ihnen etwas passiert.« Hinter seinem Rücken kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn ich weiß ja, dass sich kein Einbrecher im Wohnmobil aufhält.

Wie ein Held mit offenem Visier schleicht der nette Mann in das Auto. Ich verharre in einiger Entfernung, bis er mit hochroten Wangen und aufgerissenen Augen wieder im Türrahmen erscheint.

»Was ist?« Ich lasse meine Stimme zitternd vibrieren.

»Da hat aber einer gewütet«, sagt er, »wir müssen die Polizei rufen.«

Ich dränge mich an ihm vorbei in den Wagen und sehe mir die Bescherung an.

Jetzt ist großes Theater angesagt. Ich fange heftig zu weinen an. Feli setzt wie erwartet, mit einem Crescendo ein. Wir heulen um die Wette. Mit überbordenden Tränen betrachtete ich das Handschuhfach.

»Alles ist weg, … meine Papiere, schauen Sie doch! Was will jemand mit den Papieren anfangen? Wo ist mein Handy? Ich kann in diesem Durcheinander nichts finden.«

Felizitas schreit. Sie ist hungrig und muss gewickelt werden.

»Haben Sie ein Handy dabei?«, frage ich den Verkäufer, dem das Entsetzen im Gesicht steht.

»Ich habe bereits die Polizei informiert«, sagt er. »Sie dürfen nichts verändern«, hat man mir aufgetragen.

»Na die sind lustig. Ich muss Feli füttern und eine frische Windel braucht sie auch. Ich kann nicht abwarten, bis die Kavallerie hier ist.«

Ich wühle mich durch die am Boden liegende Kleidung, schiebe mit den Füßen die Töpfe und das Geschirr zur Seite bis ich, angeblich erst in der hintersten Ecke, aus dem Karton gerissene Windeln finde.

Immer noch schluchzend setze ich mich auf die Treppe des Autos, ziehe Felizitas auf meinen Knien aus, tausche die verbrauchte Windel gegen eine frische ein, ziehe ihr den zweiten, verwaschenen Strampelanzug, den Hanna mir aufgeschwatzt hat, an. Die neuen Kleidungsstücke, die ich zuvor eingekauft habe, müssen erst gewaschen werden.

Feli zittert ein wenig, obwohl die Sonne uns an diesem noch frühen Julitag bereits mit 24 Grad Wärme verwöhnt. Anschließend schiebe ich eine Seite meines Pullovers hoch und lege Felizitas an meine Brust. Ihr Mäulchen findet die Milchquelle, die keine ist, und sie fängt an zu saugen.

Der junge Mann dreht sich, wie erhofft, um. Es dauert nicht lange, bis Feli merkt, dass aus meiner Brust keine Milch kommt. Ihr Schreien mutiert zu einem anklagenden Krächzen.

»Oh nein, nicht das noch«, weine ich. »Ich kann sie nicht stillen.«

»Das kommt sicher durch den Schock«, insistiert der junge Mann.«

»Ist das möglich?« Ich muss noch einmal in den Wagen. Ich habe Fläschen und Babynahrung für alle Fälle mitgebracht. Keine Ahnung, wo ich jetzt suchen soll.

Ich wühle mich durch, bis ich den Flaschenwärmer und ein Fläschen finde, fülle es mit abgekochtem Wasser und zwei Löffeln Babynahrung, schüttele die Flasche und stelle sie in die Wärmevorrichtung. Erneut setze ich mich auf die Stufen des Wagens und füttere Felizitas.

***

Der Polizeiwagen bremst scharf hinter dem Wohnmobil. Ein junger Mann in Uniform steigt aus und kommt mit weit ausholenden Schritten auf uns zu.

Mir fällt auf, dass seine Augen bereits aufmerksam die Umgebung scannen. Er begrüßt uns nickend mit strengem Beamtenblick.

»Es ist eingebrochen worden«, säusele ich und lege eine verzweifelte Miene an den Tag.

»Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis?«, fordert mich der Polizist auf.

»Aber das ist ja das Problem«, schniefe ich.

»Mein Name ist Julia Gruber. Ich kann mich nicht ausweisen. Mein Perso, mein Handy, mein Führerschein, alles ist weg. Als hätten die letzten Tage mich nicht schon genug aus der Bahn geworfen.«

Der junge Polizist heftet seine Augen herausfordernd auf mich, als wolle er mich sezieren.

»Wie meinen Sie das?«, fragt er eine Spur freundlicher.

»Möchten Sie sich nicht zuerst das Chaos im Wagen ansehen? Ich kann mir mit dem besten Willen nicht vorstellen, was der Einbrecher hier zu finden glaubte. Ich bin eine alleinstehende Frau, wollte ein paar Tage vor der Geburt meines Kindes Urlaub machen. Aber dann kam alles anders.«

Der Polizist drückt sich an mir vorbei und schaut sich im Wagen um.

»Viel scheint nicht beschädigt«, meint er nach einer ersten, oberflächlichen Begutachtung. »Außer ein paar Tellern und Gläsern, den herumliegenden Kleidungsstücken und dem Handschuhfach mit der herausgerissenen Klappe, fällt mir nichts auf. Haben Sie schon nachgesehen, was fehlt?«

Ich schaue wie geistesabwesend auf Feli, seufze, wiege sie im Arm. Der Polizist wartet, bis ich seine Frage beantworte.

Ich zucke mit der Schulter.

»Das sagte ich bereits. Mir fehlen Perso, Führerschein, Handy und, oh, wie mir gerade auffällt, auch das Kuvert mit den 200 Euro, das ich hinten im Handschuhfach als Notgroschen sicherheitshalber deponiert habe. Das ist mir im ersten Schock nicht aufgefallen. Ach ja, der Vertrag mit der Autovermietung ist auch weg, und das Türschloss ist aufgebrochen.«

Ich deute auf den jungen Mann, der immer noch fassungslos neben mir steht.

»Es gibt sie noch, die hilfreichen Menschen, wie Sie sehen können«, erkläre ich dem Polizisten. »Dieser nette Mann half mir mit den Einkäufen, die ich nicht alleine tragen konnte. Gut, dass er ein Handy dabei hatte.«

»Ich muss Sie beide bitten, mit mir auf die Polizeidienststelle zu kommen, um den Einbruch zu dokumentieren. Sie brauchen einen Ersatzführerschein«, sagt der Polizist mir zugewandt, »sonst darf ich sie nicht mehr fahren lassen. Ich möchte Ihnen ermöglichen, mit dem Baby wieder nachhause zu kommen.«

»Das verstehe ich, aber es gibt noch eine Sache, die mir am Herzen liegt und die ich erledigen möchte. Kann ich das hier oder auf dem Polizeirevier mit Ihnen besprechen?«

»Das überlasse ich Ihnen.«

»Entschuldigung«, unterbricht der Verkäufer das Gespräch, »brauchen Sie mich noch lange? Ich muss zurück zur Arbeit. Ich denke, mein Chef wundert sich bereits, wo ich bleibe.«

»Zeigen Sie mir Ihre Papiere und machen Sie eine Aussage, dann können Sie zurück.«

»Aber der Ausweis ist in meiner Jacke auf der Arbeitsstelle. Ich kann ihn schnell holen, brauche nur wenige Minuten. Okay?«

Feli fängt erneut an zu quengeln. Ich wiege sie sanft hin und her.

»Ist das ihr Kind?«, fragt der Polizist und betrachtete Felizitas mit einem schmalen Lächeln.

Mir treibt es augenblicklich die Schamröte ins Gesicht, aber ich fange mich gleich wieder.

»Diese Frage wird man mir in Zukunft öfter stellen«, bemerke ich lahm. »Ist es denn verwunderlich, dass eine Frau wie ich, mit knapp über vierzig, ein Kind bekommt? Ich kann es ja selbst kaum glauben«, füge ich verhalten hinzu.

»Wissen Sie, mein Mann Robert ist vor sechs Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Wir hatten keine Kinder. Ob uns Egoismus oder Karrieregeilheit davon abhielt, die Familie zu erweitern, kann ich heute nicht mehr sagen. Nach Roberts Tod fühlte ich mich einsam und unendlich allein. Meine Freundin Hanna und ich zogen manchmal um die Häuser, in erster Linie, um mich aus der eingetretenen Lethargie zu holen. Na ja, ich behaupte nicht, eine Heilige zu sein. Ich hatte einen One-Night-Stand. Nie im Leben dachte ich, dass man bei einem beiläufigen »Streifschuss« schwanger werden kann.«

»Warum erzählen Sie mir das? Was hat das mit dem Einbruch zu schaffen?«, rügt mich der Polizist.

»Das versuche ich Ihnen gerade zu erklären. Felizitas, diesen Namen habe ich mir für mein Kind ausgesucht, kam vor vier Tagen überraschenderweise, zwei Wochen zu früh, hier im Wohnmobil zur Welt. Ich dachte, ich könnte mich vor der Geburt noch ein paar Tage erholen, aber Feli sah das anders. Ich wollte nur kurz in den Schwarzwald, wollte die Orte, an denen ich einmal mit meinem Mann schöne Ferien verbrachte, noch einmal sehen. In Memoriam, wenn Sie verstehen. Als mich während der Fahrt immer mehr Schmerzen attackierten, schaffte ich es gerade noch auf dem nächstliegenden Seitenweg am Waldrand von Todnau. Bis Todtmoos, wo ich einen Stellplatz auf dem Campingplatz »Jägermatt« gebucht habe, schaffte ich es nicht mehr. Zuerst dachte ich, es handle sich um Senkwehen, davon hatte ich schon gehört. Aber plötzlich platzte die Fruchtblase und ich konnte nicht mehr in eine Klinik. Entschuldigen Sie, dass ich das detailgenau erkläre, aber ich muss es, damit Sie es nachvollziehen können.«

»Warum haben Sie keinen Krankenwagen gerufen?«