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Caféinhaberin und Hobbydetektivin Lena ist schwer beschäftigt. Nämlich damit, Kriminalhauptkommissar Kimmel aus dem Weg zu gehen. Nachdem er knapp dem Tode entronnen war, hatte er Lena einen Heiratsantrag gemacht. Ohne zu wissen, dass sich die freiheitsliebende Lena geschworen hatte, diesen Fehler nie wieder zu begehen. Da kommen ihr der Ahrensloer Landfrauenverein und das geplante Herbstfest als Ablenkung gerade recht. Doch anstatt Federweißer und Zwiebelkuchen zu servierten, stolpert Lena mal wieder über eine Leiche. Als ihre geliebte, kluge Lotti, Teil ihres Ermittlerteams und des "dementen Trios", unter Verdacht gerät, kennt Lena kein Halten mehr und steckt ihre Schnüffelnase in die Angelegenheit. Dabei lernt sie nicht nur die Doppelgängerin von Schwester Mary Patrick aus Sister Act kennen, sondern gerät tief in die Abgründe des Vereinslebens. Zu tief? Dies ist der sechste Band der Serie um Lenas Café, in der die Pfälzerin Lena im verträumten schleswig-holsteinischen Ahrensloe Morde aufklärt. Jeder Band ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Caféinhaberin und Hobbydetektivin Lena ist schwer beschäftigt. Nämlich damit, Kriminalhauptkommissar Kimmel aus dem Weg zu gehen. Nachdem er knapp dem Tode entronnen war, hatte er Lena glatt einen Heiratsantrag gemacht. Ohne zu wissen, dass sich die freiheitsliebende Lena geschworen hatte, diesen Fehler nie wieder zu begehen. Da kommen ihr der Ahrensloer Landfrauenverein und das geplante Herbstfest als Ablenkung gerade recht.
Doch anstatt Federweißer und Zwiebelkuchen zu servieren, stolpert Lena mal wieder über eine Leiche.
Die gebürtige Rheinhessin Elisabeth Grimm hat in Frankfurt am Main Psychologie studiert und lebt und arbeitet in der Nähe von Hamburg. Sie schreibt seit dem zwölften Lebensjahr. Neben der Cosy-Krimi-Serie um Lenas Café hat sie unter Emma Grimm ein Kinderbuch veröffentlicht und schreibt Romane und Fantasy. Sie schreibt mit viel Humor und Herzenswärme über das, was sie liebt: Menschen, Katzen, die Natur und natürlich Essen und Trinken.
Bisher von Elisabeth Grimm erschienen:
Dampfnudeln, Butterkuchen und Mord, Lenas Café, Band eins.
Achtsamkeit, heiße Maronen und Mord, Lenas Café, Band zwei.
Weihnachten, Fliederbeersuppe und Mord, Lenas Café, Band drei.
Liebe, Kirschpralinen und Mord, Lenas Café, Band vier.
Meer, Salzkaramell und Mord, Lenas Café, Band fünf.
Federweißer, Zwiebelkuchen und Mord, Lenas Café, Band sechs.
Jeder Band ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen gelesen werden.
Als Emma Grimm:
Wo ist Oma Wagner? Nele und Kater Carlo ermitteln, Hörbuch für Acht- bis Elfjährige, gesprochen von Astrid Haag.
Originalausgabe
1. Auflage
© 2025 Elisabeth Grimm
Text: Elisabeth Grimm
Hindenburgstraße 52
23843 Bad Oldesloe
E-Mail: [email protected]
Alle Figuren und Ereignisse sind frei erfunden, Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Korrektorat: Tino Falke
Covergestaltung und digitaler Buchsatz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Alle Rechte vorbehalten.
Ich widme dieses Buch den mehr als elf Millionen Menschen in Deutschland, die unter Übergewicht leiden. Adipositas ist eine ernst zu nehmende Erkrankung. Eine dauerhafte und nachhaltige Gewichtsabnahme ist schwierig und ausschließlich durch eine grundlegende Veränderung des Lebensstils zu erreichen. Damit sind nicht nur Veränderungen der Essgewohnheiten und der Bewegung, sondern auch psychologische Faktoren verbunden. Emotionales Essen, Essen aus Frust, Ärger, Wut, Anspannung, Langeweile, Unruhe, Angst, Gewohnheit etc. spielt dabei häufig eine große Rolle. Akzeptanz und Wertschätzung sind eine große Hilfe.Elisabeth Grimm
Lena, 43 Jahre alt, nach Schleswig-Holstein vertriebene Pfälzerin, Caféinhaberin und Hobbydetektivin
Klaus Kimmel, 49 Jahre, Kriminalhauptkommissar, Passion: Vernichtung sämtlicher existierender Mettbrötchen
Das »demente Trio«:
Lotti, 76 Jahre, ehemalige Grundschullehrerin, trägt Blümchenblusen und ist normalerweise der Fels in der Brandung
Ava, 74 Jahre, aber dank Haarfärbemittel und Schminke geht sie für 72 durch
Hilde, 76 Jahre, von Rheuma geplagte »Kräuterhexe« des Dorfes
Kater Misti wird ungerechterweise auch Mistvieh genannt. Dabei ist er der zweitliebste Kater unter der Sonne, sein Sohn Schnuffel hat ihm leider den Rang abgelaufen
Florian, Lenas Sohn, Student, Aushilfe im Café und alleinerziehender Vater von Naomi, eineinhalb Jahre alt, beide leben bei Lena
Samantha (Sam), seine Freundin, Kunststudentin und Enkelin von Hilde
Frau Nolde, Lenas spitznasige und Tarotkarten legende Nachbarin
Karin Grootmann, erste Vorsitzende des Ahrensloer Frauenvereins, ehemals Landfrauenverein
Robert Grootmann, ihr Ehemann, der Norddeutschland irgendwie mit England verwechselt
Olli Olofson, ein Mann für alle Fälle, städtischer Hausmeister und Musiker und Odin, sein treuer Begleiter
Conny Cramer, Grundschullehrerin mit göttlicher Stimme
Ruth Bangert, graue Maus und Malerin
Jenny Fender, alles andere als eine graue Maus, hilft ab und an in Lenas Café
Tea Nielsen, kann fast alles: stricken, backen und kriminalisieren
Mareike Löhns, noch so ’ne Schnepfe, wäre im Gegensatz zu Lena gerne verheiratet
Heinz Hansen, norddeutsches Original, Lenas Vermieter und Avas Freund
Mike Schmidt, Kommissar
Mühevoll richtete sich die alte Hilde mithilfe ihrer Enkelin Sam und deren Freund Florian auf dem Sofa auf.
Sam öffnete die Terassentür. Es war Herbst, aber der noch blühende Garten mit den bunten, hochgewachsenen Löwenmäulchen, Dahlien und Rosen gaukelte dem Betrachter vor, der Winter wäre noch fern. Doch das war er nicht. Hilde spürte es in jedem ihrer schmerzenden Knochen.
»Oma, bist du dir wirklich sicher?«, fragte Sam erneut, während sie ihr einen Kräutertee reichte.
»Watt mutt, dat mutt«, sagte Hilde. »Es wird von Tag zu Tag schwerer. Bald schaffst du es nicht mehr. Du hast auch noch ein eigenes Leben. Nein, ich habe mich entschieden. So ist es das Beste. Für uns alle.«
Sam drückte sanft ihren Arm und Florian drehte unruhig seine Hände hin und her.
»Ich werde zur Sicherheit noch mal die Karten fragen«, sagte Hilde, die genau wusste, dass er sich Sorgen um seine Mutter Lena machte.
Mit krummen schmerzenden Fingern mischte Hilde die Karten. Dreimal legte sie sie und immer erschien der Tod.
»Was soll das?«, fragte Florian. »Gibt es schon wieder einen Mord?«
»Der Tod symbolisiert eher eine Veränderung. Etwas stirbt, etwas Neues entsteht. Das passt doch«, sagte Hilde. »Aber er kann natürlich auch einen realen Tod ankündigen.«
Es war ein goldener Oktobertag wie aus dem Bilderbuch. Rosen verwandelten vertrocknete Vorgärten in eine bunte Blütenpracht, die ersten Astern zierten Blumenkästen und Sonnenblumen schoben ihr Gesicht dem glühenden Ball am Himmel entgegen. Rotwangige Äpfel fielen von den Bäumen und Lotti hatte ihre berühmte gedeckte Apfeltorte gezaubert.
In Lenas Café in der pittoresken schleswig-holsteinischen Kleinstadt Ahrensloe herrschte gähnende Leere. Die Menschen hatten sich vor den unerwartet hohen Temperaturen in die kühle Brise der Ostsee in Sicherheit gebracht. Nur der Personaltisch nahe der Theke war voll besetzt. Gefräßige Stille wurde von vereinzeltem behaglichem Grunzen, Schmatzen und der Forderung nach mehr Kaffee unterbrochen.
Lena lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und öffnete den obersten Knopf ihrer Jeans. »Lotti, dein Kuchen ist gesundheitsgefährdend. Ich platze.«
Lotti, eine 76-jährige ehemalige Grundschullehrerin schaute sie mit gerunzelter Stirn über ihren zusammengekniffenen blassblauen Augen an. »Alltoveel smeckt bitter, un wenn t ook Honig is.1«
Kriminalhauptkommissar Klaus Kimmel und Freund der Caféinhaberin Lena beäugte unglücklich die eineinhalb Stücke Torte, die sie auf der Platte übrig gelassen hatten. Hauchdünner Zuckerguss bedeckte den goldgelben Teig, aus dem eine leicht säuerliche Apfelmasse herausquoll und einen vanilligen Duft verströmte. Er stöhnte und kratzte Sahnereste von seinem Teller. »Machst du mir bitte noch einen Kaffee, Lena? Auch wenn ich nicht weiß, wie der noch reinpassen soll.« Dann faltete er seine Hände über seinem inzwischen wieder ausgesprochen stattlichen Bauch.
Ava, ebenfalls 70 plus, aber im Gegensatz zu Lottis grauen Löcken und ihren Blümchenblusen und selbst genähten Gemütlichhosen brünett gefärbt und elegant in beiges Leinen gehüllt, kicherte. »Man merkt, dass es langsam Herbst wird, da züchtet jemand einen ordentlichen Kürbis.«
Kimmel wechselte seine Farbe in passendes Apfelrot und wuchtete sich wütend hoch. Er gab Lena einen schnellen Kuss und verließ vor sich hin schimpfend das Café.
Lena hörte »… alte Bitch!« und zwinkerte Ava zu, während sie etwas Milch in den eigentlich für Kimmel gedachten Kaffee goss, ihn selbst trank und sich wieder setzte. »Dass du ihn auch immer so ärgern musst.«
Ava zuckte die säuberlich gezupften und gefärbten Augenbrauen. »Mir ist langweilig. Und er ist niedlich, wenn er sich aufregt.«
Lotti schnaubte. »Pfff, es ist, als würde man ein Kleinkind ärgern. Keine echte Herausforderung. Stattdessen könntest du etwas Vernünftiges machen und mir bei der Organisation des diesjährigen Herbstmarktes helfen.«
Ava lachte. Dann wurde sie kreidebleich, erhob sich, rief »Tschüß zusammen« in die Runde und verschwand wie der Blitz.
Lena blickte erstaunt in Richtung Tür. Ein neuer Gast war eingetreten. Lotti drehte sich neugierig um. Ihre Gesichtszüge fielen in sich zusammen und sie machte ebenfalls Anstalten, sich zu erheben. Doch es war zu spät.
Die auffällig geschminkte Dame im azurblauen Hemdblusenkleid und dazu passenden hohen Sandalen hatte sich schon zu ihr heruntergebeugt und sie mit schrillem Kichern und Rechts-links-Küsserei begrüßt. Hier im Norden sagte man Moin und gab sich maximal die Hand. Alberne Sitte, diese Küsserei, dachte Lena, die genau wusste, dass Lotti das nicht mochte.
»Schätzchen, einen doppelten Latte bitte, aber laktosefrei. Oder hast du Mandelmilch, bio natürlich?« Die Dame würdigte Lena keines Blickes, während sie sich auf Avas Platz niederließ. »Ach, und bitte einmal den Tisch abwischen, ja?«, legte sie sofort nach und musterte angeekelt die Kuchenkrümel.
Lena spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg und dieser wie ein Kühlschrank anfing zu brummen. Mist, sie hätte nicht so viel Kaffee trinken sollen. Da war nur der Kimmel dran schuld. Schließlich hatte er seinen Kaffee einfach so stehen lassen. Seitdem sie offiziell verlobt waren, hatten sie beide tüchtig zugelegt. Fast jeden Abend verbrachten sie zusammen. Sie kochten, probierten den Wein und genehmigten sich noch etwas Nachtisch und ein paar Nüsschen auf der Couch. Lena sagte dann so etwas wie: »Schatz, ich habe uns eine Käseplatte zum Wein gemacht«, und Kimmel konterte mit: »Probiere mal diese neue Chipssorte, süßsauer, sehr interessant«. Lena spürte nicht nur, wie ihre Kleidung in der Wäsche schrumpfte, sondern auch, dass etwas an ihr nagte. Hunger war es nicht, so viel war klar. Es war viel mehr eine Art Unzufriedenheit, ein tiefes schwarzes Loch, das sich in ihrem Innern ausbreitete und immer größer wurde, egal mit wie viel Essen sie es zu stopfen versuchte. Morgens fühlte sie sich immer häufiger müde und zerschlagen. Alles schien irgendwie schwerer, anstrengender geworden zu sein. Zudem hatte sie ständig dieses unangenehme Brummen im Kopf. Ein Besuch beim Arzt hatte ihr einen Vortrag über die Gefahren von Übergewicht, metabolischem Syndrom und Bluthochdruck beschert. Mit knallrotem Gesicht und einem geschätzten Blutdruck von 190/100 war sie aus der Praxis gestürmt. Übergewicht! Sie. Unverschämtheit. Allerdings hatte der Gang auf die Waage betätigt, was sie schon geahnt, aber nicht hatte wahrhaben wollen. Die abendlichen Fressorgien mit Kimmel hatten ihr eine Zunahme von sage und schreibe zwölf Pfund beschert. Und das in nur wenigen Wochen. Neben einer Gewichtsabnahme hatte der Arzt ihr empfohlen, die Dinge leichter zu nehmen und weniger Kaffee zu trinken. Auf Alkohol solle sie auch gerne verzichten, das seien schließlich leere Kalorien, die sich sofort in Fett umwandeln würden. Lena versuchte es jeden Tag neu, schließlich mochte sie sich mit ihrer rundlichen Figur, fett wollte sie jedoch nicht sein. Und das ständige Brummen im Kopf ging ihr schwer auf den Senkel. Also reduzierte sie ihren Kaffeekonsum, verzichtete auf Alkohol und versuchte abends lediglich Salat zu essen. Leider hatte sie die Rechnung ohne Kimmel gemacht.
»Was ist jetzt mit dem Tisch?«, holte eine unangenehm keifige Stimme sie zurück ins Hier und Jetzt. Lena seufzte, nahm einen Wischlappen, säuberte den Tisch und ließ den Latte Macchiato darauf plumpsen. »Bio ist nicht«, sagte sie. »Und das ist der Personaltisch.« Sie nickte in Richtung Messingschild, das an der niedrigen Trennwand zwischen Tisch und dem weiteren Raum angebracht war.
Die Dame ignorierte sie und fragte Lotti kichernd, ob sie es wirklich nötig habe, ihre kleine Beamtenpension mit Backwaren für das Café aufzubessern, während sie an ihrem Getränk schnupperte, das Gesicht verzog und es weit von sich wegschob.
Wow!, dachte Lena. Die erfüllt die Biolattezickendiagnose zu hundert Prozent. Laut der von ihr selbst erfundenen Kaffeelogie waren bestimmten Getränken bestimmte Persönlichkeiten zuzuordnen. So war Kimmel als Kaffeeschwarztrinker ihrer Meinung nach eher pingelig und spaßbefreit, sie selbst als Kaffee-mit-Milch-Trinkerin war ein sogenanntes Ömchen, das ruhig und gelassen blieb und gerne strickte.
Vielleicht sollte ich mit dem Stricken anfangen, ruhig und gelassen ist mir in letzter Zeit abhandengekommen, dachte Lena. Sie lebte in völliger Ignoranz gegenüber ihrer explosiven Persönlichkeit mit einer ausgesprochen kurzen Zündschnur, die in den letzten Wochen noch kürzer geworden war.
In einem seltenen Augenblick der Selbsterkenntnis fragte sie sich, ob ihr Sohn Florian deshalb so wenig begeistert reagiert hatte, als sie vorgeschlagen hatte, mit ihm, seiner Freundin Sam und der kleinen Naomi in den Urlaub zu fahren. So hätten sie mehr Zeit für sich, während sie auf Naomi aufpassen könnte. »Nö, Mum, nicht nötig«, hatte Flori geäußert. »Es gibt einen Miniclub im Hotel auf Teneriffa.« Lena hatte verständnisvoll gelächelt, war aber tief verletzt gewesen. Zu gerne wäre sie dem täglichen Einerlei entflohen, das sich nach den aufregenden Ereignissen um eine Mordserie in ihrem Ostseeurlaub zusammen mit der unerträglichen Hitze wie eine lähmende Haube auf sie legte. Zudem war Kimmel immer noch krankgeschrieben, da eine Kugel knapp an seinem Herzen vorbeigeschrabbt war. Er schien seine freie Zeit zu genießen und hauptsächlich mit Essen und der Zubereitung von Essen zu verbringen. Insbesondere da er sich körperlich noch nicht so sehr anstrengen durfte. Was auch ihr Liebesleben, das sie sich als frisch Verlobte anders vorgestellt hatte, deutlich beeinträchtigte.
Lena warf der Lattezicke einen bösen Blick zu. Natürlich hatte die kein Gramm zu viel an ihrem braun gebrannten, ledrigen Körper. »Ein Stückchen Apfeltorte?«, fragte sie schmierig.
»Nein, danke. Lottis Kuchen sind immer so ekelig süß. Lotti, du musst dringend deine Rezepte überarbeiten. Der ganze Zucker und das viele Fett. Das ist so last century, nicht wahr?«
Lena drehte sich schnell um und täuschte einen Hustenanfall vor, während Lotti rot anlief. Dabei war diese nicht leicht aus der Fassung zu bringen.
»Karin, wolltest du etwas mit mir besprechen oder warum bist du hier?«, fragte sie.
»Ich habe dich gesucht. Mareike hat mir gesagt, dass du vermutlich hier bist«, sagte Karin und blickte sich stirnrunzelnd um. Sie schüttelte sich. »Das sei dein Stammlokal? Strange.« Sie schüttelte sich erneut. »Aber sicher kannst du dir von deiner Pension Luigi nicht leisten.« Sie legte ihre braune Lederhand mit den vielen Brillantringen auf Lottis faltige Hände. »Du Arme, ich weiß, es ist kein leichter Schritt, aber hast du schon mal was von der Tafel gehört?«
Lotti zog ihre Hand weg und starrte sie an. Lena zog hörbar die Luft ein. Karin drehte sich zu ihr um. »Wissen Sie, es ist so schön, dass es für unsere armen alten, alleinstehenden Frauen billige Etablissements wie dieses gibt. Irgendwo müssen die ja auch hin. Tja, die Altersarmut von Frauen ist ein großes Politikum. Ich überlege, ob ich mich nicht für die nächste Wahl aufstellen lasse und für unsere ärmeren Mitbürger einsetze. Lotti, ich wollte dir nur noch mal versichern, dass du komplett von deinen Aufgaben im Verein entlastet bist und dich endlich mal erholen kannst.« Ausgesprochen selbstzufrieden mit ihrer eigenen Güte und Großherzigkeit stand sie auf und schickte sich an zu gehen.
Lena stellte sich ihr blitzschnell in den Weg, während Lotti immer noch wie erstarrt wirkte. »Das macht dann 3,80 Euro bitte«, sagte sie.
»Ich habe den Kaffee gar nicht getrunken. Er riecht seltsam«, entgegnete Karin.
Lena zuckte mit den Schultern. »Ihre Sache, 3,80 Euro, bitte.«
Karin musterte sie von oben bis unten, dann klaubte sie vier Euro aus ihrer riesigen Ledergelbbörse. »Der Rest ist für Sie. Vielleicht reicht es dann für frische Milch«, antwortete sie und lächelte süßlich, bevor sie das Café verließ.
Lena setzte sich neben die immer noch starre Lotti und legte den Arm um ihre schmalen Schultern. »Was war das denn?«
Lotti seufzte und ihre blauen Augen wirkten trübe. »Das war der Albtraum meiner alten Tage. Karin Grootmann, neue Vorsitzende vom ehemaligen Landfrauenverein Ahrensloe. Der sich jetzt Frauenverein nennt. Landfrauen sind schließlich so last century, nicht wahr?«
Lena riss die Augen auf. »Aber du bist doch schon so viele Jahre Vorsitzende.«
»Ich wurde vor zwei Wochen abgewählt. Ich bin nun ihre Stellvertreterin.«
»Ach, du Schiete« war alles, was Lena dazu einfiel.
Mit hängenden Schultern schloss Lena an diesem Abend ihr Café ab. Es war zwar noch nicht 18.00 Uhr, aber sie hatte nicht die geringste Lust, erneut alle Gläser zu polieren und die Regale auszuwischen.
Wenn sich die Kundschaft lieber zwischen die immer noch zahlreichen Feriengäste an den überfüllten Strand quetschen wollte, als bei ihr im Café ohne Klimaanlage vor sich hinzuschwitzen, konnte sie sich das selbst auch gerne sparen. Zumal sie echt mies drauf war. Vor lauter Langeweile hatte sie den übrig gebliebenen Apfelkuchen, natürlich mit ordentlich Sahne, wenn schon, denn schon, verspeist und sich dann auch noch eine Pizza liefern lassen. Mit Schinken und Zwiebeln, lecker.
Traurig musterte sie ihr Spiegelbild im Schaufenster eines Klamottenladens. Sie würde nicht unbedingt behaupten, dass das Michelinmännchen lebte, aber es war nahe dran. Lena seufzte. Sie wusste nicht, wohin mit sich. Wenn sie nur daran dachte, welche Fressorgien Kimmel heute Abend wieder geplant hatte, fing ihr Bauch an zu drücken. Schlafen, essen, arbeiten, essen, schlafen. Das konnte doch nicht alles sein. Ach ja, sie hatte fernsehen vergessen. Und mindestens einmal essen mehr. Außerdem war die Arbeit im Moment sterbenslangweilig, so wie das ganze Kaff hier. Im Sommer klappten sie offenbar vorsichtshalber schon nachmittags die Bürgersteige hoch, anstatt wie sonst, sobald es dunkel wurde. Da wo in ihrer alten Heimat in Rheinland-Pfalz der Bär tobte und die Menschen ähnlich wie in Südeuropa abends die Städte bevölkerten, lachten, Wein tranken und aßen, waren hier höchstens ein paar alte Leute zu finden, die sich noch ein Eis genehmigten. Mit maximal einer Kugel, bloß nicht übertreiben.
Hier tobte gar nichts, außer gähnender Langeweile. Nach Hause zog sie auch nichts. Traurig dachte sie daran, wie sie vor ein paar Tagen ihren Sohn Florian, seine Freundin Sam und ihre süße, kleine Enkelin Naomi zum Hamburger Flughafen gebracht hatte. Sie hatte Naomi gar nicht loslassen wollen, bis die Kleine sich entnervt aus ihren Armen gewunden hatte und auf Floris Schoß eingeschlafen war. Lena war sich so fehl am Platz vorgekommen. Rasch hatte sie ihren Sohn und Sam gedrückt, der kleinen Maus noch mal über das schwitzige Köpfchen gestrichen und war nach Hause gefahren. In ein leeres Haus um fünf Uhr morgens. Obwohl die drei sie häufig nervten, weil ihr winziges Reihenhaus einfach zu klein für so viele chaotische Menschen war, legten sich die ungewohnte morgendliche Stille und Leere schwer auf ihr Gemüt. Kurz entschlossen krempelte sie die Ärmel hoch und räumte erst mal auf. Es war einiges zu tun. Windeleimer rausbringen. Wickelkommode abziehen, Wäsche einsammeln, waschen, saugen, putzen, Ablageflächen wischen, Essensreste entsorgen, ach ja, und die Kater füttern, die ihr permanent zwischen den Füßen herumliefen und herzerweichend miauten. Als endlich alles funkelte und blitzte, fühlte es sich irgendwie noch leerer an. Lena beschloss, zusammen mit den Katern ein gemütliches Stündchen auf dem Sofa zu verbringen, bevor sie zur Arbeit ging. Die beiden glotzten sie jedoch lediglich mit ihren grünen Katzenaugen an, liefen zur Terrassentür und forderten lautstark, herausgelassen zu werden. Untreue Mist… Nein, sie hatten ja recht. Es waren Individuen mit eigenen Plänen. Genau wie sie. Nur dass sie in letzter Zeit das Gefühl hatte, kein Individuum mehr zu sein. Sie fühlte sich nicht mehr so richtig, es sei denn, ihr Bauch drückte von zu viel Essen und natürlich, wenn er knurrte, weil sie Hunger hatte. Sie war nach einer schlimmen Scheidung hierher ans andere Ende von Deutschland gekommen und hatte sich mit einem eigenen Café ein neues Leben aufgebaut. Das war nun über drei Jahre her. Anfangs war es sehr schwer gewesen. Sie hatte sich erst an die trockene, norddeutsche Art, das kühle Wetter und ihr neues Zuhause gewöhnen müssen. Inzwischen fühlte sie sich heimisch, hatte Freunde gefunden … Freunde? Yvonne, ehemals nervige dauerbeschwipste Barbie, weilte zurzeit auf Teneriffa, wo sie eine Ausbildung zur Yogalehrerin machte und wo Flori, Sam und Naomi sie sicher in ihrem Urlaub besuchen würden. Das demente Trio, wie ein früherer Gast in ihrem Café die drei 70-plus-Damen Lotti, Ava und Hilde gemeiner- und ungerechterweise getauft hatte, frühstückten zwar nach wie vor jeden Morgen bei ihr, aber außer zu Lotti fühlte sie nicht wirklich eine enge Bindung zu ihnen. Und ihr Verlobter Klaus Kimmel? Nach dem ersten Trennungstief nach ihrer Scheidung hatte Lena sich herrlich frei und ungebunden gefühlt. So als habe es die über zwanzig Jahre der Ehe und Knechtschaft im Haushalt nicht gegeben. Als hätte sie dort weitergemacht, wo die neunzehnjährige Lena nach ihrem Abitur einfach aufgehört hatte, indem sie sich in den Bistrobesitzer Peter, bei dem sie gejobbt hatte, verliebte und dann auch noch schwanger wurde. Nicht, dass sie die Existenz von Flori und ihrer Enkelin bereute. Nie im Leben. Sie waren alles für sie. Aber darüber hinaus hatte sie angefangen, hier im Norden ein eigenes Leben zu entwickeln. Nur für sich. Nicht mehr für Peter, das Bistro, das Haus, den Garten, ihre Mutter, Flori … Nur sie, ihr Café und Misti, ihr geliebter Tigerkater. Dann waren Flori und Naomi bei ihr eingezogen, Sam war häufig da, Kater Schnuffel war dazugekommen. Als ob das nicht genug wäre, hatte Kimmel ihr auch noch einen Heiratsantrag gemacht, den sie nur angenommen hatte, weil sie Angst hatte, ihn zu verlieren. Die Abende verbrachte sie nicht mehr gemütlich mit ihren Katern in ihrer Sofaecke, sondern fressenderweise bei Kimmel. Wenn sie abends doch mal nach Hause kam, hatte sie das Gefühl, in ihrem eigenen Haus zu stören. »Oh, Mama, ich wusste nicht, dass du kommst. Wir haben gekocht. Setz dich doch dazu, es wird schon reichen«, sagte Flori dann.
Als Lena so vor dem Schaufenster stand, ihr dickes Ebenbild musterte und sich an die Leere, die sich irgendwie in ihr Leben geschlichen hatte, erinnerte, stiegen ihr Tränen in die Augen.
»Bewundern Sie unser Plakat? Ich habe es gezeichnet. Früher wollte ich einmal Kunst studieren, aber ich habe mich nicht getraut. Was bin ich Lotti dankbar, dass sie mir Mut gemacht hat für den Entwurf.« Erst jetzt nahm Lena das in herbstlichen Rotbrauntönen gehaltene Plakat, das auf den diesjährigen Herbstmarkt des Frauenvereins aufmerksam machte, wahr. Sie hatte die ganze Zeit blicklos darauf gestarrt.
Eine schmale ältere Dame mit unordentlichen grau-braunen Haaren, die sich aus einem Pferdeschwanz lösten, blickte Lena freundlich aus haselnussbraunen Augen an. Sie lächelte und legte Lena kurz eine kühle, blasse Hand auf den Arm.
»Entschuldigen Sie. Ich bin so stolz, ich muss es einfach jedem erzählen. Ich bin Ruth Bangert. Wollen Sie auch zur Versammlung des Frauenvereins?«
Lena hatte immer noch einen Kloß im Hals und traute sich nicht zu sprechen. Der Einfachheit halber nickte sie.
»Wie schön«, antwortete Ruth lächelnd. »Wir freuen uns immer über neue Mitglieder. Ehrlich gesagt, sind wir ein wenig überaltert. Sie passen perfekt zu uns.«
Lena zog wortlos eine Augenbraue hoch. Echt jetzt?
Ruth kicherte. »Weil sie noch so jung sind, natürlich. Ich Dummerchen. Lassen Sie uns mal einen Zahn zulegen, sonst kommen wir noch zu spät.« Sie senkte die Stimme. »Die neue Vorsitzende ist ein echter Drache.« Dann hakte sie die immer noch wie betäubte Lena ein und schleifte sie ins Bürgerhaus.
Widerstandslos ließ Lena sich in den großen Saal des alten Pfarrhauses schleppen. Sie hatte sowieso nichts Besseres vor. Ein wenig kam sie sich vor wie in einem alten englischen Krimi. Gleich müsste sie in eine Bibliothek gelangen mit Tee, Kamin und einer Leiche. Stattdessen stand am Saaleingang zwar ein Tisch mit mehreren Thermoskannen mit Kaffee und heißem Wasser für Tee. Leiche und Kamin fehlten bedauerlicherweise. Dafür gab es eine nicht ganz so verlockende Auswahl an Discounterkeksen. Dennoch schnappte Lena sich einen kleinen Vorrat, den sie zusammen mit ihrem Pfefferminztee und einer quietschgelben Serviette zu ihrem Platz neben Ruth trug. Diese hatte freundlich zu allen Seiten hin gegrüßt und dann in einer hinteren Stuhlreihe Platz genommen. Als Lena nach vorne guckte, verschluckte sie sich fast an ihrem Keks, so musste sie lachen. Da saß Lotti mit verkniffenem Gesicht zur Linken der Bitch aus dem Café, die es irgendwie geschafft hatte, einen höheren Stuhl als ihre Beisitzerinnen zu erwischen und diese um Kopfeslänge überragte. Lotti sah klein und unglücklich aus, was so gar nicht zu ihr passte. Gewöhnlich war sie der Fels in der Brandung und nichts konnte sie erschüttern. Lena war sich sicher, dass sie sich normalerweise pudelwohl fühlte, wenn sie wie früher als Lehrerin vor der »Klasse« stand. Diese bestand aus circa zwanzig eher mittelalten bis alten Frauen, die sich extrafein herausgeputzt hatten. So geschminkt, mit Perlen behängt und in edle Blusen gehüllt, liefen die Damen der Kleinstadt sonst nicht herum. Lena griff blicklos nach einem Keks und starrte enttäuscht auf ihre Hand, nachdem sie abgebissen hatte. Mist, das war gar kein Popcorn und sie war nicht im Kinosaal. Dennoch fühlte sie sich so. Es fehlte nur noch, dass das Licht anging und der Film startete. Ein Mikrofon quietschte. Lena war fassungslos, als sie sah, wie Karin mit ihren lackierten Nägeln am Mikrofon hantierte und immer wieder albern »Test, Test, Test!« hereinsprach. Sie wollte sich gerade bei Ruth bedanken, sie hierher mitgenommen zu haben, als sie von einem kurzen Anfall von Klaustrophobie abgelenkt wurde. Eine Art Blauwal mit knallrotem Gesicht über einem mit bunten Kätzchen bedruckten Festzelt hatte sich neben sie gequetscht. Leider brauchte so ein Wal mehr Platz im Aquarium. Er quoll über. Zudem war die Luft im Raum warm und staubig. Lena hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Mit gerunzelter Stirn fixierte sie den Wal. Dieser schien noch röter zu werden.
»Entschuldigen Sie. Es ist eng hier, nicht wahr? Zum Glück habe ich es gerade noch geschafft. Karin mag es nicht, wenn man zu spät kommt.« Sie zwinkerte Lena und Ruth zu und blickte sich dann hektisch um. »Ob ich es noch schaffe, mir einen Kaffee zu holen?«, überlegte sie laut.
Lena, die fest entschlossen war, ihre Tasche auf den Stuhl zu legen, sobald der Wal in Richtung Krill geschwommen war, ermutigte ihn lächelnd, während Ruth wie wild den Kopf schüttelte. Dann seufzte sie und sagte: »Arme Conny!«
Mit Recht. Kaum stand der Wal am Büfett und belud sich einen großen Teller mit Keksen, knackte auch schon das Mikrofon und Karins Stimme ertönte. »Guten Abend, ihr Lieben. Ich freue mich, mit euch zusammen das diesjährige Herbstfest des Frauenvereins zu organisieren.« Sie drehte ihren Kopf zum Wal. »Wenn unsere liebe Conny dann damit fertig ist, ihr ungesundes Gewicht mit noch mehr leeren Kalorien zu belasten, können wir vielleicht anfangen.«
Connys Hand, die gerade über den Schokoladenkeksen schwebte, blieb in der Luft stehen und wie ein verschrecktes Reh mit sehr rotem Gesicht starrte sie mit offenen Mund nach vorne. »Conny, meine Liebe, wenn du dann Platz nehmen könntest!«, sagte Karin. »Oder Lotti räumt einfach diese unsäglichen Kekse ab, du kannst dich ja doch nicht lösen und ich schlage für die Zukunft einen Obst- statt Kekstisch vor. Lotti!«
Auffordernd blickte sie auf die alte Dame hinab. Lena und der ganze Saal hielten den Atem an. Es war so still, dass man sogar das Ticken der großen Uhr über dem Eingang hören konnte. Und den Verkehrslärm der hinter dem Pfarrersgarten liegenden Straße. Lena hatte das Gefühl, sogar ihren Herzschlag im linken Ohr zu hören. Das hatte es noch nie gegeben. Die allseits respektierte ehemalige Grundschullehrerin Lotti, die bereits einigen von ihnen die Ohren lang gezogen hatte, wurde herumkommandiert wie ein Kleinkind. Was würde sie tun? Der Karinzicke zeigen, wo der Hammer hing? Sie einfach ignorieren, wie sie es üblicherweise tat, wenn ihr etwas zu dumm war, um darauf einzugehen? Aufstehen und gehen? Einfach gehorchen? Aufgeregt stopfte Lena sich einen Keks in den Mund. Der halbe Saal tat es ihr gleich, während die arme Conny sich schnell eine Handvoll Kekse schnappte und zurück zu ihrem Platz schlich. Aber Lotti war ihnen allen über. Sie lächelte die dritte Dame auf dem Podium milde an und sagte: »Mareike, sei doch so lieb und mach du das.« Sie griff sich an den Rücken und seufzte. »Mein Rheuma ist heute wieder so schlimm.« Lena wusste ganz genau, dass Lotti weder Rücken noch Rheuma hatte.
Die blonde Mareike, die in ihrem blassrosa Twinset mit Perlenkette aussah, als wäre sie einem englischen Landadel-Magazin entsprungen, sprang auf und lief in Richtung Büfett. »Natürlich, Lotti«, sagte sie. Lotti blinzelte. »Ach, bring mir doch bitte einen Tee und ein paar Kekse mit. Wir sollten sie für heute stehen lassen. Wir können schließlich kein Essen verschwenden.« Sie wandte sich Karin zu. »Aber für das nächste Mal ist es eine schöne Idee, zu den Keksen auch Obst anzubieten. Dann müsstest du aber etwas früher kommen, Karin. Das Schnippeln dauert seine Zeit.«
Lena hörte aufgeregtes Crunshen um sich herum. Würde Karin Lottis Gegenangriff parieren können? Selbst der Wal hatte aufgehört, im Affentempo Kekse in sich hineinzustopfen, und starrte mit weit aufgerissenen Augen nach vorne. Lena schämte sich plötzlich für ihre fiesen Gedanken. Conny wirkte nett und freundlich. Was für eine Rolle spielte da ihr Gewicht? Sie war Lena auf alle Fälle tausendmal lieber als die schlanke Hexe auf der Bühne. Diese verpasste Lotti einen bösen Blick und kündigte die Tagesordnung an. Der Wal grinste und Lena konnte nicht anders, sie hielt ihr die Hand zum High Five hin, in die Conny strahlend einschlug.
Böser Fehler. Die Hexe hatte sie entdeckt. »Ich sehe gerade, wir haben heute einen Gast hier? Oder suchen Sie eine neue Arbeit als Bedienung? Wir stellen niemanden ein, hier ist alles ehrenamtlich.«
Alle Augen richteten sich auf die ausnahmsweise sprachlose Lena. Es war doch nicht zu fassen. Diese Bitch ließ sie zum ängstlichen Kleinkind mutieren. Lena holte gerade tief Luft, um auf ihre übliche, aber leider in der Regel völlig unangemessene Pfälzer Art ordentlich loszupoltern, als Lotti erneut die Situation rettete.
»Lena, wie schön, dass du kommen konntest.« Sie warf Karin einen gehässigen Blick zu. »Ich habe sie hergebeten, da sie als Caféinhaberin und erfahrene Gastronomin eine unschätzbare Hilfe für unser Fest sein wird. Wir haben dieses Jahr ja einige unerfahrene Neulinge unter uns.« Dann zwinkerte sie Lena zu, die am liebsten ein erneutes High Five initiiert hätte. Lotti war einfach die Beste.
Nach der Versammlung blieben Ruth, Conny und Lena noch schnackend und die Keksplatte lehrend zusammen. Als Lena nach Hause ging, fühlte sie sich trotz der empfindlichen Kühle des herannahenden Herbstes innerlich angenehm warm. Conny und Ruth waren wirklich nett. Sie hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt.
Unglücklicherweise fand Lena es am nächsten Tag schwierig, sich aus den ihr von Lotti auferlegten Verpflichtungen herauszuwinden.
Verärgert stand sie vom Personaltisch auf und ließ das Geschirr klirrend in die Spüle fallen. »Lotti, ich möchte kein Mitglied in dem doofen Frauenverein werden«, schimpfte sie.
Lotti trank in Ruhe ihren Latte Macchiato aus und wartete, bis Lena sich wieder gesetzt hatte. Sie schaute Lena fest in die Augen. »Komm doch wenigstens heute noch einmal mit. Wir besprechen, wer welchen Stand aufbaut. Ich brauche wirklich Schützenhilfe.«
»Was ist denn mit der dritten Vorsitzenden? Wahnsinn! Wie viel Vorsitzende braucht so ein kleiner Popelverein überhaupt?«, fragte Lena.
»Mareike? Die kannst du vergessen. Die hängt ihr Fähnchen in den Wind. Noch nie so ein rückgratloses Wesen gesehen.« Lotti runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich muss mich korrigieren. Robert Grootmann ist noch schlimmer.«
»Wieso?«, fragte Lena.
Lotti gelang es gerade noch so, ein zufriedenes Grinsen zu unterdrücken. Wenn man Lena packen konnte, dann an ihrer Neugierde.
»Karin und ihr Mann sind vor vier Jahren hierhergezogen. In das alte Herrenhaus Richtung Besenberg. Er hatte eine gut laufende Werbeagentur, die er teuer verkauft hat, und macht nun hier einen auf Großgrundbesitzer.« Lotti lachte. »Stell dir vor, er läuft in Cordhosen und Barbourjacke herum. Es fehlt nur noch, dass er sich ein Gewehr umhängt. Ich glaube, er ist schon zweimal durch die Prüfung zum Jagdschein gefallen. Als sie ein paar Klare zu viel hatte, hat Karin erzählt, dass er eigentlich ein Haus in den Cotswolds kaufen wollte. Das konnten sie sich aber dann doch nicht leisten.«
»Schade, dass er nicht im Frauenverein ist. Ich würde ihn gerne mal sehen. Hört sich interessant an.«
Kimmel war hereingekommen und beugte sich über Lena, um ihr einen nach Wurstbrötchen riechenden Kuss zu geben. »Was höre ich da? Du interessierst dich mal wieder für andere Männer? Es gab doch gar keinen Mord und ergo auch keinen Mörder, der dir schöne Augen macht.«
Lena verdrehte die ihren und stand auf, um ihm einen Kaffee zu machen und das für ihn reservierte Schinkencroissant aus dem Schrank zu holen.
Er musterte es unglücklich. »Eigentlich ist mir eher nach Mettbrötchen.«
Lena zog den Teller wieder weg. »Kein Problem, Bäcker Meiers hat sicher noch welche.« Kimmels Hand schnellte nach vorne, um den Teller festzuhalten, und dabei erwischte er ihn zwar, aber mit solcher Wucht, dass das Croissant auf den Boden fiel. Sehr zur Freude des gerade hereingekommenen bunten Mischlings, der es mit drei Schmatzern weghapste. »Eh, das war mein Croissant!«, schimpfte Kimmel.
»Nicht den Hund füttern! Er hat ständig Magenprobleme«, schimpfte sein Besitzer, ein braun gebrannter Enddreißiger in lässigen Jeans und Holzfällerhemd, den Lena noch nie im Café gesehen hatte. Nettes Schnittchen, dachte Lena und kramte ihr Sonntagslächeln hervor.
Auch Lotti lächelte. »Moin, Olli, schön, dass du es geschafft hast. Das ist übrigens Lena, die den Fressstand übernimmt.« Während Lena die Information noch verdaute, schüttelte Olli ihr herzhaft die Hand und lächelte sie mit warmen braunen Augen und fetten Grübchen in den Wangen an. »Hammer!«, dachte Lena und sagte: »Hrumpf, äh, freut mich.«
Kimmel guckte zwischen den beiden hin und her, schüttelte den Kopf und erhob sich. »Ich bin dann mal bei Meiers.« Er drängelte sich zwischen Lena und den Holzfäller und gab ihr ein Abschiedsküsschen. Wow, dachte Lena. Er ist fast so gut wie Lotti. Diskussion vermieden, Revier markiert und ab zu den Mettbrötchen. Alles ohne viel Worte. Sie konnte noch einiges von ihm lernen. Sie wollte gerade Lotti fragen, was der Quatsch mit dem Essenstand sollte, als Olli sie fragte, wie er ihr helfen könne.
Lena hob ihre Augenbrauen.
»Olli ist Hausmeister für die Sporthallen und das Rathaus. Er hilft uns beim Aufbau des Marktes. Ich habe ihm gesagt, dass er die Erfordernisse der Fressbude mit dir besprechen soll. Es gibt einen Stand für Kaffee und Kuchen und einen für Herzhaftes. Ich dachte, den übernimmst du. Du hast es ja nicht so mit dem Backen.« Lotti grinste Lena an. Wat’n fiesen Möpp, dachte Lena, die genau wusste, dass Lotti auf ihre missglückten Dampfnudelbackversuche anspielte.
Aber Lotti hatte sie, genau wie sie es geplant hatte, an der Angel. Wenn der Köder auch so hübsche Augen hatte. Lena schaute verliebt in die blauen Augen des Hundes, der sich auf ihren Füßen niedergelassen hatte. Und das Herrchen war auch ganz niedlich.
Am Abend bereute Lena ihre vorschnelle Zusage. Es war ein wenig frisch, wie der Norddeutsche den leichten Nieselregen nannte, der sich den ganzen Tag mit der Sonne abgewechselt hatte. Immer wieder suchten Gäste im Café Schutz und Lena hatte wider Erwarten viel zu tun. Sie sehnte sich nach ihrer Sofaecke. Stattdessen war ein weiteres Treffen des Frauenvereins im alten Pfarrhaus angesagt. Müde erklomm Lena die leichte Anhöhe. Das Pfarrhaus lag gegenüber der hoch aufragenden Kirche, die von Krähen umschwärmt wurde und sich düster vor dem blassrosa Abendhimmel abzeichnete. Aus dem großen Saal drang ihr fröhliches Geschnatter entgegen. Lena nickte freundlich in die Runde, schnappte sich ein paar Apfelstückchen und jede Menge Kekse zu ihrem Tee und erspähte erfreut Conny und Ruth in einer hinteren Ecke. »Moin, ihr beiden«, grüßte sie.
»Lena, wie schön, dass du wiedergekommen bist.« Die kleine, zierliche Ruth strahlte zu ihr auf und Conny musterte neidisch Lenas überladenen Teller. Sie selbst hatte sich auf Obst beschränkt. Lena hielt ihr den Teller hin. Conny schaute sich nach allen Seiten um, schnappte sich dann zwei Kekse und steckte sie auf einmal in den Mund.
»Conny, meine Liebe. So wird das nie was«, ertönte da die schrille Stimme von Karin, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Heute war sie in ein dunkelrotes, enges Kleid gehüllt, das jeden Knochen sichtbar machte. Lena starrte sie neiderfüllt an. Sie hätte nichts dagegen, auch ein paar Kilo weniger mit sich rumzuschleppen.
»Leni, meine Liebe, Sie müssen hier nicht servieren. Das können die Damen selbst. Aber natürlich, wenn man es gewohnt ist. Ich nehme ihnen das gerne wieder ab«, sprach Karin, entwand Lena ihren Teller und kippte die Kekse in den Abfalleimer, bevor Lena auch nur Pieps sagen konnte.
Conny war knallrot angelaufen und bekam einen veritablen Hustenanfall. Die Kekse waren ihr tatsächlich nicht gut bekommen. Lena spürte, wie ihr Herzschlag im linken Ohr eine Trommelorgie veranstaltete. Nicht mit mir, dachte sie, zog seelenruhig zum Büfett und lud sich einen erneuten Teller voll. Karin war in der Zwischenzeit ans Mikrofon getreten. »Guten Abend, meine Lieben, wenn sich unsere liebe Leni hier endlich satt gegessen hat, können wir anfangen.«
Mit erhobenem, knallrotem Kopf marschierte Lena unter dem Gekicher der Frauen, die allesamt froh waren, dass es nicht sie getroffen hatte, zurück zu ihrem Platz. Ein wenig fühlte sie sich wie mit vierzehn im Geschichtsunterricht, als sie sich, nachdem sie mit einem Furzkissen permanent den Unterricht gestört hatte, auf dasselbe setzen durfte. Und zwar vorne vor der Klasse.
Karin hatte über das Flipchart auf der Bühne ein weißes Tuch gedeckt.
»Herzlich willkommen zur Orgasitzung des Frauenvereins. Wir verteilen heute die Stände und Aufgaben. Zuerst möchte ich euch jedoch das von mir selbst erstellte neue Werbeplakat für unser Event vorstellten. Tata!«
Sie zog das Tuch herunter und ein grellbuntes Plakat stach dem Publikum in die Augen. Vor dem Hintergrund sich beißender Rot- und Lilatöne war »Ahrensloer Herbstmarkt« in Goldbuchstaben gedruckt. Und fast genauso groß stand »Leitung: Karin Grootmann, neu, modern und trendy« darunter. Ganz klein konnte man das Datum und den Hinweis auf den Frauenverein erkennen. Sofern man denn über eine Lupe verfügte.
Außer dem Ticken der Uhr war nichts im Saal zu hören, die Frauen schienen sogar ihren Atem angehalten zu haben. Wow, dachte Lena, sie hätte auch Bündnis Karin Grootmann darunterschreiben können. Vermutlich würde der Frauenverein demnächst BKG heißen. Der Hammer. Aber wenn Wähler dumm genug waren, jemanden zu wählen, der sich dermaßen selbst verherrlichte, musste man sich nicht wundern. Der Frauenverein war eben auch nur eine Ansammlung von Schafen. Ruths Plakat war geschmackvoll und künstlerisch gewesen, das neue Plakat einfach nur hässlich und grell. So wie Karin. Es würde eventuell nach Las Vegas passen, natürlich nur, wenn man es noch mit bunt blinkenden Lichtern versah. Am besten, Karin verschwand zusammen mit dem hässlichen Plakat dorthin. Kurz hatte Lena das Bild einer mit kunterbunten Blinklichtern verzierten und wie die Freiheitsstaue aufgerichteten Karin vor Augen, die statt einer Fackel ihr dusseliges Plakat hochhielt. Sie schluckte einen Kicheranfall hinunter.
Erstaunlicherweise war es Conny, die als Erste ihre Sprache wiederfand. »Ich verstehe das nicht. Wir haben doch ein Plakat. Es hängt schon überall und ist wunderhübsch.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den Frauen.
Karin lachte schrill. »Ach, Conny, meine Liebe, wie süß von dir, die kleine Ruth zu verteidigen. Ruth, Schätzchen, es ist sehr hübsch, was du da gemalt hast, aber für so ein großes Event ist es wirklich nicht geeignet. Nicht wahr, Mareike?«
Mareike stand hastig auf. Sie antwortete wie auf ein Stichwort. »Karins Mann Robert, der sehr erfolgreich in der Werbung war, hat es zusammen mit Karin entworfen.«
Karin nickte zufrieden und übernahm wieder die Regie. »Genau, wir können dankbar sein, einen so renommierten Experten an unserer Seite zu haben. Robert steht uns gerne mit seinem Know-how zur Verfügung. Völlig unentgeltlich. Wir werden ein landesweit bekanntes Event auf die Beine stellen. So was hat Ahrensloe noch nicht gesehen. Robert, komm doch bitte mit auf die Bühne.«
Und so erfüllte sich Lenas Wunsch, den denkwürdigen Robert einmal kennenzulernen. Er trug eine mit silbernen Knöpfen versehene Walkweste zur Cordhose und winkte grinsend mit einer fetten Rolex am Handgelenk in die Menge, als sei er Queen Mum. Währenddessen stopfte Conny sich die Kekse von Lenas Teller in den Mund und Ruth stand mit Tränen in den Augen auf und verließ den Saal.
Andere Frauen folgten ihr schweigend. Was mit fröhlichem Geplapper und freudiger Erwartung begonnen hatte, verpuffte in unangenehmer Schwere und Stille.
Karin schien nichts davon zu bemerken. Sie wies Robert und Mareike an, ein paar Tische zusammenzustellen, sodass das Planungskomitee dort Platz nehmen konnte. Es bestand aus Karin, Mareike und nun offenbar auch Robert, Lotti, einer heftig geschminkten blond gefärbten Mittvierzigerin mit verhärmten Zügen, die sich als Jenny Fender vorstellte, einer strickenden alten Dame namens Tea Nielsen und Lena.
Karin musterte Lena mit gerunzelter Stirn. »Was will die Bedienung hier?«, fragte sie.
»Lena ist Gastronomin und wir freuen uns über ihre kostenlose Expertise, meine liebe Karin. Ist es nicht herrlich, dass wir zwei solche wunderbaren Fachleute für uns gewinnen konnten?«, sagte Lotti gelassen.
Lena nickte lächelnd in die Runde. »Das mache ich sehr, sehr gerne. Laien denken ja immer, Gastronomie kann jeder, aber nicht umsonst gibt es viele Ausbildungsberufe in diesem Bereich und ich helfe selbstverständlich mit meiner jahrzehntelangen Erfahrung.« Sie konnte nur mit Mühe einen Lachflash zurückhalten. Von Lotti konnte man echt viel lernen. Zwei Fliegen mit einer Klappe, Lena war an Bord und die Karin-Bitch bekam Kontra.
Als Lena durch die abendliche Kleinstadt zurück nach Hause wanderte, kam ihr das Gedicht von Möhring in den Sinn. »Markt und Straßen steh’n verlassen, still erleuchtet jedes Haus. Sinnend geh ich durch die Gassen, alles sieht so friedlich aus.« Besser konnte man es nicht ausdrücken, auch wenn es eigentlich ein Weihnachtsgedicht war. Die Fenster leuchteten genauso gelborange wie die riesigen Rudbeckiasträucher unter den Straßenlaternen zusammen mit den ersten Herbstastern. Noch war es nicht dunkel, aber im Übergang zum Herbst schien es nur einen Wimpernschlag zu dauern, bis aus einem milden Spätsommerabend eine raue Herbstnacht mit empfindlich gesunkenen Temperaturen geworden war.
Aus einer der alten Stadtvillen drang eine klare Frauenstimme, die inbrünstig »Yesterday« schmetterte. Lena musste schmunzeln. Das Lied passte perfekt zu ihrer Stimmung. Sie blieb stehen und lauschte. Da konnte jemand wirklich wunderschön singen, voller Gefühl. Neugierig musterte Lena die Wohnung. Eine Gestalt zeichnete sich als dunkler Scherenschnitt vor dem Fenster ab. War das Conny? Lena fühlte sich an Schwester Mary Patrick aus »Sister Act« erinnert. Jetzt musste sie nur noch Gospel singen. Und in der Tat. Wenig später begleiteten die Töne von »Hail Holy Queen«2 Lenas Schritte.
Die Fenster von Kimmels Wohnung im Erdgeschoss einer alten Villa an der Salzstraße strahlten ihr hell entgegen. Als sie die Wohnung betrat – seit Neuestem hatte sie einen Schlüssel –, kam ihr Bijou, Kimmels riesige weiße Perserkatze und die Mama ihres kleinen Katers Schnuffel, miauend entgegen und wand sich um ihre Beine. Lena bückte sich, um sie zu streicheln, und hatte das Gefühl, ihr wären gerade Fellhandschuhe angepasst worden. Rasch nahm sie eine Kleiderbürste von der Garderobe und stellte das ursprüngliche Schwarz ihrer Hose wieder her.
Kimmel kam in den Flur und brachte einen Schwall Knoblauchduft mit sich. »Hallo, Schatz!« Er gab ihr ein rotweinlastiges Küsschen. »Es gibt Rinderfilet in Rotweinsoße, ein neues Rezept«, sagte er und strahlte sie an. Er roch nach Knoblauch, Thymian und Rotwein. Seine »Hier kocht der Chef«-Schürze war über und über bekleckert und er wirkte rundum zufrieden. Deutlich zufriedener als bei seinen Ermittlungen. Nicht das erste Mal fragte Lena sich, ob er nicht besser Koch statt Kommissar hätte werden sollen. Er war zwar blitzgescheit, aber am liebsten aß er oder bereitete Essen zu. Das war seine wahre Passion.
»Du solltest ein Restaurant eröffnen«, sagte Lena. »Es riecht mal wieder unwiderstehlich.«
»Ich bin unwiderstehlich? Dann verstehe ich nicht, wieso wir immer noch keinen Hochzeitstermin festgelegt haben«, meckerte er.
Lena seufzte, während Kimmel zurück in die Küche ging, und wusch sich erst mal ihre vollgehaarten Hände. Wenn sie nicht zu müde wäre, würde sie Bijou nachher einmal gründlich bürsten. Im Gegensatz zu ihrem Kater Misti, der nicht genug davon bekommen konnte, verschwand Bijou schon hinter dem Sofa, wenn sie die Bürste nur sah. Da hieß es, trickreich zu sein.
Lena half Kimmel, die Speisen hereinzutragen. Auf der weißen Tischdecke funkelten Kristallgläser neben schweren Stoffservietten und zum goldenen Besteck passenden Kerzen.
»Es sieht fantastisch aus und schmeckt auch so«, sagte Lena. Das zarte Fleisch hatte eine angenehme Kräuternote und schmolz zusammen mit dem buttrigen Kartoffelmöhrenpüree geradezu im Mund. Lena genoss einen Schluck des milden Dornfelders, während im Hintergrund leise Klaviermusik für Entspannung sorgte. »Du solltest wirklich umsatteln.«
Kimmel musterte sie mit seinen klaren wasserblauen Augen nachdenklich. »Ich weiß nicht, ich habe keine Ahnung von Gastronomie. Aber mit dir zusammen …«
Lena spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Vermutlich bekam ihr der Wein nicht. Schnell nahm sie sich einen Schluck Wasser. Doch Kimmel ließ nicht locker. Er legte sein Besteck beiseite und schaute ihr direkt in die Augen. »Lena, immer wenn ich über das Heiraten spreche, weichst du mir aus. So geht das nicht.«
Lena senkte den Blick. Sie wäre am liebsten aufgestanden und weggelaufen. Wieso verstand er sie denn nicht? Die zwanzigjährige Ehe mit ihrem geschiedenen Mann Peter und vor allem deren Ende steckte ihr eben immer noch in den Knochen. Sie war zufrieden, so wie es war. Sie hatte nicht das Bedürfnis, sich erneut zu binden. Es war so unfair. Was war ihm überhaupt eingefallen, kaum dass er dem Tode entronnen war, noch im Krankenhaus um ihre Hand anzuhalten? Das machte man doch nicht! Was hätte sie in der Situation dazu sagen sollen?
»Lena?« Kimmel hatte sich neben sie gesetzt und zwang sie, ihn anzuschauen.
Sie fühlte sich wie in einer Falle. Tränen stiegen ihr in die Augen. Warum musste er immer alles verderben? Es war so ein schöner Abend, ein wunderbares Essen, sie hätten die ganze Nacht für sich gehabt, maximal gestört von einer haarenden Katze …
»Warum kann es nicht einfach bleiben, wie es ist?«, fragte sie leise.
Kimmel setzte sich wieder an seinen Platz ihr gegenüber und schnitt sehr sorgfältig ein kleines Stückchen von seinem Fleisch ab, das er gefühlt im Zeitlupentempo zusammen mit der richtigen Portion Püree auf seine Gabel schaufelte und unendlich lange kaute. Danach nahm er einen Schluck Wein und widmete sich dem nächsten Stück. Lena hatte das Gefühl, gleich aus der Haut fahren zu müssen. Erst die Arbeit, dann die Comedy beim Frauenverein und nun diese Mischung zwischen Heiß und Kalt. Bekocht und umworben zu werden und dann ignoriert und mit Nichtachtung gestraft. Sie hatte einfach keinen Bock auf so was.
Wütend warf sie ihre Serviette auf den Tisch und stand auf. »Mir ist der Appetit vergangen. Ich kann das so nicht. Ich habe mir geschworen, mich nie wieder von einem Mann tyrannisieren zu lassen. Und kaum bin ich Peter los, fängst du an.«
Auch Kimmel war aufgestanden. Wütend blitzte er sie an. »Ach ja? Wahnsinnig tyrannisch bin ich. Ich koche jeden Abend für dich, egal, ob du hier aufzutauchen gedenkst oder einfach wie gestern nicht erscheinst. Oh, was bin ich dreist und erwarte eine gewisse Verbindlichkeit. Gib es doch einfach zu. Du willst dich gar nicht binden. Du willst dich mit Losern wie Hugo und Drogentony herumtreiben. Mann, werd endlich erwachsen.«
Lena war sprachlos. Bei der Erwähnung von Tony hatte sie für einen kurzen Augenblick sein lebloses, von Möwen zerpicktes Gesicht vor Augen und ein säuerlicher Essensbrei drängte sich nach oben. Schnell hielt sie sich die Serviette vor den Mund und rannte in Richtung Bad, stolperte über die überraschte Bijou, fiel in den Flur und erbrach sich dort, während Bijou sie vorwurfsvoll anmiaute.
Kimmel war hinterhergekommen, half ihr aufzustehen und schob sie sanft ins Badezimmer. »Es tut mir leid. Ich mache das weg.«
Lena musterte sich im Badezimmerspiegel, nachdem sie sich immer wieder kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte. Riesige dunkelgrüne Augen starrten ihr aus dunklen Höhlen in einem aufgedunsenen, bleichen Gesicht entgegen. Kurz ließ sie ihre Stirn an den kühlen Spiegel sinken. Dann schrak sie zusammen. Nicht nur, dass die den Flur vollkotzte, nun verschmierte sie auch noch seinen blitzblanken Spiegel. Das Wischen mit nassem Klopapier machte es auch nicht besser. Lena sah sich um, überall blitzte und glänzte es, nirgendwo lag eine leere Shampooflasche oder eine haarige Bürste oder gar ein zerknülltes Taschentuch herum. Wie wäre es, mit Kimmel zusammenzuleben? Würde sie seinen Putzwahn ertragen? Und er ihr Chaos? Sie sank auf den Badezimmerhocker und starrte die terracottafarbenen Wände an. Sie hatte das Bedürfnis, einfach dort sitzen zu bleiben. In einer Zwischenwelt zwischen Entscheidungen, die sie im Moment nicht treffen konnte. Sie hatte das Gefühl, weder vor noch zurück zu können.
»Lena?« Kimmel klopfte an die Badezimmertür, während Bijou wild miaute. »Lena, alles in Ordnung?«
»Ja, ja, Moment.« Wahnsinn, nicht mal hier hatte sie ihre Ruhe.
Einige Tage später machte Lena sich auf dem Weg zum Herbstmarkt. Es war zwar erst sieben Uhr in der Früh, aber sie schwitzte. Heute sollte in einem letzten Aufbegehren des Sommers die Sonne mit fast dreißig Grad auf sie herunterbrennen, bevor ein Temperatursturz und Regen zu erwarten waren. Die hohe Luftfeuchte war schon spürbar und legte sich unangenehm auf die Haut.
Lena fühlte sich jetzt bereits erschöpft. Sie hatte zwei Abende zusammen mit Lotti gebacken. Quiche Lorraine, Kürbis- und Zwiebelkuchen, jeweils mit und ohne Speck. Es war geplant, dass sie mit Olli zusammen, der abends die Stände bereits aufgebaut hatte, diese mit Fressalien bestückte. Gegen 10.00 Uhr sollte der Markt von Karin – wem sonst? – und dem Bürgermeister mit einer Rede eröffnet werden. Lena fuhr erst mal ins Café und bewaffnete sich mit mehreren Thermoskannen Kaffee. Olli schaute kurz bei ihr rein und berichtete, dass er mit dem Aufbau fertig sei und sie nur noch einziehen müsse. Odin starrte sie mit seinen seltsamen blauen Augen an und winselte so lange, bis Lena ihm ein paar Scheiben gekochten Schinken zukommen ließ. Sie kniete sich vor ihn und streichelte ihn. Er blickte auf und knurrte. Oliver lachte. »Er wird nicht gerne beim Essen gestört. Wenn du was von ihm willst, dann nach dem Essen.«
»Typisch Mann«, sagte Lena und Olli zwinkerte ihr zu. Kurz musste sie daran denken, dass sie Kimmel seit dem Streit vor ein paar Tagen nicht mehr gesehen hatte. Sein Frühstück schien er seit Neuestem bei Bäcker Meiers einzunehmen und die Abende hatte Lena mit Backen verbracht. Anstatt sich einfach gegenseitig zu ignorieren, sollten sie vielleicht miteinander sprechen.