Fee und der Schlangenkrieger - Joanne Foucher - E-Book

Fee und der Schlangenkrieger E-Book

Joanne Foucher

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Beschreibung

Fee Maiwald ist Archäologiestudentin, lebenslustig und sehr von Tom, ihrem neuen Dozenten, angetan. Das Problem ist, dass Fee außerdem mit ihren Kommilitoninnen Ela und Schlotte in der Bronzezeit gestrandet ist. Mitten im Krieg zwischen den benachbarten Stämmen des Sonnenvolkes und des Schlangenvolkes gelandet, haben die drei Freundinnen keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen sind. Die Überraschung ist groß als sie Tom wiedertreffen, der sich als Anführer des Sonnenvolkes herausstellt. Neugierig macht sich Fee daran, das Leben im Sonnendorf kennenzulernen und stößt dabei auf zahlreiche Ungereimtheiten: Warum sehen Ela und Fee aus wie zwei Bronzezeitkriegerinnen, die im Verlauf der Fehde ermordet wurden? Welche Rolle spielt der geheimnisvolle in Gold gewandete Nehr Keseke? Wo befindet sich die mythologische Sonnenscheibe, die das Sonnenvolk einst von den Göttern selbst bekam? Und wie kommen die drei jungen Frauen wieder nach Hause? Als Fee von Toms Todfeind Lenyal entführt wird, spitzt sich die Lage zu...

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Seitenzahl: 418

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Joanne Foucher

Fee und der Schlangenkrieger

Roman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Regen

Der neue Dozent

Nachts in der Bibliothek

Fees Referat

Exkursion zum Mittelberg

Das Dorf

Das Geschenk der Götter

Ning Sonnensohns Geschichte

Der Schwarze Krieger

Überfälle

Im Winter

Entführt

Neun zu Eins

Die Kriegerin und die Schlange

Nehr Keseke

Das Schlangenfest

Fees Entscheidung

Frejas Abschied

Die Geschichte von Ennaj und Ning

Die Schlangenkriegerin

Die Hüter der Zeit

Rückkehr

Impressum

Der Regen

Der Magnolienbaum vor dem Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie der Uni Bonn quoll über vor blassrosa Blüten. Charlotte Mayer und Michaela Thomas saßen auf den Treppenstufen vor dem Eingang und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Es war ein sehr warmer Tag Ende März im Jahr 2003.

Michaela seufzte. „Ich schaff’ das nicht, Schlotte“, sagte sie. Michaela war 27 Jahre alt, ihr weißblondes langes Haar hing ihr offen über den Rücken und glänzte in der Sonne hell. Sie hatte blaue Augen und trug ein dünnes Sommerkleid.

Charlotte – Schlotte – hatte grüne Augen, trug Jeans und T-Shirt und ihr hellbraunes Haar im Pferdeschwanz.

„Quatsch“, widersprach sie mit fester Stimme, „natürlich schaffst du das! Deine Magisterarbeit zu schreiben hast du auch geschafft, obwohl du meintest, du schaffst es nicht.“

„Das war auch die Hölle. Aber das hier… ist noch schlimmer… ich lerne einfach nicht! Ich weiß nicht, wieso, ich tu es einfach nicht!“

„Ach komm, das stimmt doch nicht. Du lernst doch die ganze Zeit. Nur weil du jetzt mal hier zehn Minuten in der Sonne sitzt...“

Schlotte ließ den Blick auf der blühenden Magnolie ruhen.

„Eigentlich sollte ich in der UB sein“, fuhr Michaela fort, „aber ich hab die Fee schon so lange nicht gesehen… man geht sozial total unter, wenn man so im Lernstress steckt, weißt du.“

Die Fee hieß eigentlich Hannah, Hannah Maiwald, und war Schlottes Mitbewohnerin. Wie Schlotte und Michaela studierte sie Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie im Hauptfach, und sie hatte sich mit Schlotte verabredet, jetzt am Ende der Semesterferien, ins Institut zu gehen um herauszufinden, welche Veranstaltungen angeboten wurden und ob es sonst irgend etwas gab, was sie wissen sollten. Schlotte hatte Michaela zufällig auf der Straße getroffen, als diese auf dem Weg in die UB, die Universitäts- und Landesbibliothek, war und überredet, mitzukommen.

„Die wird schon gleich kommen. Ich meine, sie hatte um halb vier Schluß.“

Michaela hatte keine Uhr.

„Und wie spät ist es jetzt?“

„Zehn vor vier.“

„Was? Schon? Driss, ich muss echt los!“

„Wieso, die UB hat doch offen bis um neun!“

„Ja, schon, aber ich hab so furchtbar viel zu tun… und ich hab keinen Bock drauf, das ist mir alles so egal… wenn du deinen Abschluss machst, dann komm bloß nicht auf die Idee, Wikingerhandelspätze zu nehmen, Schlotte, das ist das beschissenste Thema, das man sich nur aussuchen kann. Und die latènezeitlichen Wagengräber! Mittlerweile muss ich jedesmal brechen, wenn ich das Wort „Achsnagel“ lese.“

Schlotte wusste nicht, was sie sagen sollte. Michaela steckte tief im Examensstress und quälte sich sehr mit dem Lernen. Sie ließ ihren Blick über die Grünfläche schweifen, vom Alten Zoll zum Hofgarten hinüber und bemerkte erleichtert, dass in diesem Augenblick Fee über die Straße kam. Fee war, wie sie selbst, 25 Jahre alt. Sie hatte kurzes, sehr dunkles braunes Haar, das sie sich mit einem Tuch aus dem Gesicht gebunden hatte, und braune Augen. Sie trug ein dunkles Tanktop, eine abgeschnittene Jeans und dicke Arbeitsschuhe. Alles an ihr, von ihrem Kopftuch über ihre Haut bis hinunter zu ihren Schuhen, war dreckig und staubig. Sie stand an der Ampel mit David Ranseier, einem ihrer Kommilitonen, der einige Semester später als Schlotte und Fee mit dem Studium angefangen hatte, und unterhielt sich mit ihm. Schlotte konnte nicht hören, worüber sie sprachen, aber sie konnte sehen, dass sie viel lachten. Kurz darauf wurde die Ampel grün und sie kamen den Weg zum Institut hinauf. Vor dem Koblenzer Tor verabschiedete sich Fee von David, der dann durchs Tor verschwand, und kam zu Schlotte und Michaela.

„Hallo!“ sagte sie fröhlich, ließ sich neben Schlotte auf der Treppenstufe nieder und reckte sich vor, um Michaela besser sehen zu können. „Ich hab dich ja ewig nicht gesehen, Ela!“

Ela musterte sie neugierig.

„Warst du graben?“

Fee nickte.

„Ich dachte, du wolltest nie mehr graben.“

„Wollte ich auch nicht“, sagte Fee achselzuckend, „aber ich brauch das Geld.“

„Und wo bist du?“

„Auf der Römerstraße. Ist ganz okay. Sind immerhin ein paar nette Leute dabei.“

„Und was habt ihr für Befunde?“

„Ach, lauter hässlichen Römerkram halt.“

„Ach so, seid ihr im Lager?“

„Ja, klar.“

„Können wir mal über die wichtigen Dinge sprechen?“, mischte sich Schlotte ein und bedachte Fee mit einem vorwurfsvollen Blick. „David Ranseier?“, fragte sie tadelnd.

Fee zuckte wieder mit den Achseln und nahm ihr Kopftuch ab. Mit der linken Hand wuschelte sie sich durch die Haare, die danach wild in alle Richtungen abstanden, so dass Fee wie ein kleiner Kobold aussah.

„Ich hab ihn am Bertha von Suttner-Platz getroffen.“

„Worüber habt ihr euch unterhalten?“

Fee lachte. „Reisen. Der hört sich so gerne reden. Der wollte überhaupt nicht in diese Richtung. Der ist nur mitgekommen, weil er mir die ganze Zeit irgendwas erzählen wollte.“

„Und wo war er so überall?“

„Keine Ahnung. Ich hab nicht zugehört.“

Schlotte lachte.

„Ich glaub, der mag dich.“

„Oh Göttin.“

„Wer ist das denn überhaupt?“ fragte Ela, „Ich hab den noch nie gesehen!“

„Ja, der ist im fünften Semester oder so“, erklärte Fee.

„Ich kenn überhaupt niemanden mehr hier.“

„Was Professor Ranseier betrifft, hast du nichts verpasst. Der Typ ist so arrogant und von sich selbst überzeugt…“

„Wieso nennst du ihn denn Professor?“

„Na, weil er die ganze Zeit Vorträge hält. Der hält sich für superschlau und erklärt dir andauernd die Welt…“

„Naja, der wird halt noch klein sein, fünftes Semester… auch der wird irgendwann erwachsen werden.“

„Der ist älter als wir. Der ist 29.“

„Echt?“ fragte Schlotte überrascht.

„Ja. Der war halt vorher beim Bund oder was weiß ich. Deswegen labert der die ganze Zeit so viel über Panzer, wo er im Einsatz war und den ganzen Müll.“

Schlotte lachte amüsiert auf.

„Das passt ja!“

„Und?“ wandte Fee sich an Ela, „wie läuft’s bei dir? Man sieht dich gar nicht mehr.“

Ela seufzte.

„Ich bin so angenervt von allem… ich könnt’s echt hinschmeißen.“

„Och je… du musst dich mal entspannen. Du wirst es schon schaffen, wahrscheinlich sogar mit ’ner eins.“

„Na klar“, sagte Ela ironisch, „das Ding ist einfach, ich will nicht mehr! Ich hab’s so satt! Ich hab kein Sozialleben mehr, ich krieg nichts mehr mit, ich hab keine Freizeit mehr…“

„Soll ich am Wochenende zu dir kommen? Du setzt dich in dein Schlafzimmer und lernst und ich setz mich an deinen Computer und mach da was? Dann könnten wir zwischendurch immerhin mal spazieren gehen oder wir erzählen uns was oder so…?“

„Ja! Das wär super!“

„Okay. Kommst du mit rein?“

„Nee.“ Ela stand auf und hängte sich ihre Tasche um. „Ich werd in diesem Semester bestimmt keine Veranstaltungen belegen. Zumindest hab ich das nicht vor! Ich muss in die UB!“

„Na gut. Dann telefonieren wir, okay?“

Schlotte und Fee sahen Ela nach, wie sie über die Wiese in Richtung der Universitätsbibliothek davon ging. Zwischen den Kastanien führten einige Leute ihre Hunde aus und überwiegend junge Leute gingen zum Rhein hinunter, um sich in den Biergarten am Alten Zoll zu setzen. Fee bemerkte, dass der Wind stärker geworden war. Er trieb dunkle Wolken vor sich her.

„Es wird bald regnen“, sagte sie, „komm, gehen wir ’rein.“

„Ich frage mich“, sagte Fee als sie das Foyer durchquerten, „ob sie dieses Semester was Interessantes anbieten.“

„Das wird derselbe Frühmittelaltermist sein wie jedes Semester“, antwortete Schlotte und drückte auf die Klingel neben der Glastür, dem Eingang zum Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie.

„Ich würd so gern mal was Eisenzeitliches machen“, sagte Fee sehnsüchtig, „oder noch besser, was Bronzezeitliches!“

Jemand im Inneren drückte auf den Summer und Schlotte schob die Tür auf.

Das Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie war ein sehr kleines Institut. Es gab nur einen einzigen Flur. Auf der rechten Seite befand sich direkt neben dem Eingang das Sekretariat und auf der linken Seite die Toiletten. Dann folgten links die Bibliotheksräume und auf der rechten Seite die Büros der Dozenten. Schlotte und Fee grüßten durch die offene Tür die Sekretärin und gingen dann direkt zum Schwarzen Brett.

„Hier geht’s schon los“, sagte Fee und las vor: „,Ausgewählte awarenzeitliche Gräberfelder zwischen Elbe und Donau’ beim Duhler. Und hier, es wird noch schlimmer: ,Probleme der Typologie und Chronologie der langobardischen S-Fibeln’. Auch beim Duhler.“

Friedrich Duhler war der Direktor des Instituts. Sein Fachgebiet war das Frühmittelalter, eine Zeit, die Fee nicht besonders interessierte.

„Wer ist denn T. Maler?“ fragte Schlotte, die Fee nicht zugehört hatte. Fee überflog den Aushang und fand den Namen, den Schlotte anstarrte.

„,Keramische Formen als Identifizierungsmittel bronzezeitlicher Kulturgruppen vom östlichen Mitteleuropa bis zum Schwarzen Meer: Möglichkeiten und Grenzen der Aussagen von Keramiktypologien’. Wow!“

Schlotte sah Fee abschätzig an.

„Keramiktypologien? Das findest du toll?“

„Bronzezeit!“

Schlotte wandte sich wieder dem Aushang zu.

„Aber Typologie…? Ich weiß ja nicht.“

„Ist doch fantastisch, sieht so aus, als würd’ ich dieses Semester tatsächlich endlich mal was Bronzezeitliches machen.“

„Dann sieht’s so aus, als würdest du dieses Semester tatsächlich überhaupt mal wieder was machen!“

Fee überging die Anspielung darauf, dass sie in den vergangenen zwei Semestern weder Veranstaltungen besucht noch Scheine erworben hatte.

„T. Maler…“, sagte sie nachdenklich, „ich geh mal fragen.“

Sie ging zum Sekretariat und klopfte an den Türrahmen. Frau Wagner, die fröhliche und sehr neugierige Sekretärin, die Fee gut leiden konnte, lächelte sie an.

„Hannah, Liebchen“, sagte sie freundlich, „wie geht’s dir?“

„Gut“, erwiderte Fee lächelnd, „und Ihnen?“

„Och, auch gut. Bist ja schon so braungebrannt, wo biste gewesen?“

„Nirgends, ich war auf Grabung. Auf der Römerstraße.“

„Ach! Firma?“

„Nee, fürs Amt. Die Chaoten von der Außenstelle Overath. Frau Wagner, ich hab mir gerad das Lehrangebot fürs Sommersemester angesehen. Wer ist denn T. Maler?“

Frau Wagner grinste.

„Das möchteste gerne wissen, was?“

„Klar, Bronzezeit ist doch spannend.“

„Findeste? Ich weiß von so was nichts. Der Herr Maler ist ab dem Sommersemester hier bei uns Dozent.“

„Ach was?“

„Ja. Hat einen Zweijahresvertrag. Herr Doktor Thomas Maler aus Hamburg.“

„Aha. Und war er schon mal hier? Wie ist er so?“

„Sei nicht so neugierig, Liebchen“, tadelte Frau Wagner, und Fee verkniff sich ein Grinsen. Niemand war neugieriger als Magda Wagner und niemand teilte seine Informationen so bereitwillig, sprich tratsche so gerne, wie Magda Wagner.

„Das ist ein ganz Stiller. Der war schon ein paarmal hier. Wohnt in Beuel. Wohnst du nicht auch in Beuel?“

„Doch.“

„Nicht weit vom Rhein, glaub ich. Sehr höflich, aber sehr zurückhaltend. Gar nicht mal unattraktiv, aber zu jung für mich.“

„Ach?“

„Ja, der ist bestimmt noch keine 40. Wär vielleicht was für dich, Hannah.“

Fee brach in helles Lachen aus. „Frau Wagner!“

„Na! Ist doch jetzt schon fast ein Jahr her, seit du dich von deinem Freund getrennt hast, oder? Oder wär das ein Problem für dich, ein älterer Mann? Wie alt biste jetzt?“

Fee zog es vor, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen und schob irgendeine Ausrede vor, um das Sekretariat zu verlassen. Draußen auf dem Flur traf sie auf Schlotte, die sich den Bauch hielt vor lauter Lachen.

„Die Frau macht mich fertig“, stieß sie mühsam hervor.

„Pssssst“, zischte Fee, „sie hört dich doch!“

Schlotte lachte noch lauter. Aus der hintersten Tür auf der linken Seite, dem Arbeitsraum, trat ein junger Mann und warf Schlotte einen mißbilligenden Blick zu.

„Komm, lass uns abhauen“, lachte Fee, „gehen wir nach Hause.“

Der Mann kehrte zurück in den Arbeitsraum.

„Den hab ich noch nie gesehen“, lachte Schlotte, „kennst du den? Vielleicht war er das ja! Na, Fee, wär' der nichts für dich? Du hast doch kein Problem mit einem älteren Mann, oder?“

„Nicht, wenn er so aussieht wie der gerade. Der Typ sah ja super aus! Weißt du, wer das war?“

„Nee, stell dir vor, woher denn?“

„Schade.“

Fee zog Schlotte lachend aus dem Institut. Draußen war es inzwischen noch dunkler geworden und der Wind hatte zugenommen.

Fee blieb kurz stehen.

„Herrlich“, sagte sie.

Als Fee in Beuel in der Küche stand und sich Pestonudeln auf den Teller häufte, brach draußen der Regen los. Einen Augenblick lang sah Fee lächelnd aus dem Fenster, bevor sie sich wieder um ihr Essen kümmerte. Sie liebte Regen, aber es war schon gut, dass sie Zuhause in ihrer Küche stand und nicht mehr draußen auf der Fläche.

Zur gleichen Zeit war Ela überhaupt nicht nach Lächeln zumute. Sie hatte das Gebäude der Universitäts- und Landesbibliothek gerade zu dem Zeitpunkt verlassen, als die ersten Tropfen fielen. Sie hatte geglaubt, es noch rechtzeitig durch die Stadt zum Bahnhof schaffen zu können. Da sie jedoch in beiden Händen Baumwollbeutel voll schwerer Bücher trug, war sie langsamer als sonst. Außerdem brach das Unwetter schneller los, als sie erwartet hatte. Sie hatte erst die halbe Strecke zwischen der Bibliothek und dem Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie zurückgelegt, und beschloss, sich in die Institutsbibliothek zu flüchten. Bei der Gelegenheit konnte sie noch nachsehen, ob sie dort die Monographie über die Glasperlen von Haithabu hatten.

Ela rannte, so gut es mit ihrem Gepäck ging, den Fußweg hinauf. Der Regen peitschte beinahe waagerecht von Westen durch die Luft, fegte in die Kastanien und brach kleinere Äste ab. Nur wenige Augenblicke später war ihre Kleidung durchnässt und ihre Haare klebten am Kopf. Ela riss wütend die Tür auf, stapfte zum Eingang des Instituts, wobei das Wasser aus ihrer Kleidung tropfte, und drückte auf die Klingel. Frau Wagner drückte den Summer und Ela schob die Tür auf. Ohne auf ihre Umwelt zu achten ging sie den Gang hinunter, nahm ihre Brille ab und versuchte, das Wasser von den Gläsern zu wischen, was nicht besonders gut ging, da sie noch immer ihre Büchertaschen schleppte. Mit dem Fuß stieß sie die Tür zum Arbeitsraum auf und warf ihre Taschen auf den nächsten Tisch. Eine der Tüten rutschte herunter, die Bücher fielen heraus und verteilten sich über den Boden.

„Verdammt“, fluchte Ela und warf genervt ihre Handtasche hinterher. Dann ging sie in die Knie und machte sich daran, ihre Handtasche und ihre Bücher wieder einzusammeln. Sie donnerte die Bücher ohne Hinzusehen auf den Tisch und richtete sich wieder auf. Ihre Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt.

In diesem Moment teilten sich draußen die Wolken und durch die hohen Fenster fiel goldenes Sonnenlicht herein. Für einen Augenblick vergaß Ela ihren Ärger. Ihr Blick hing an den Wassertropfen in den Zweigen draußen, in denen sich das Sonnenlicht brach, und einen Moment lang war sie erfüllt von der Schönheit und Reinheit dieses Lichts.

Dann verdunkelte sich der Himmel wieder und aus ihren Haaren lief ihr Wasser in die Augen. Ihr Ärger kehrte zurück und Ela ließ sich genervt in den Stuhl fallen. Dann spürte sie, dass jemand sie beobachtete und hob den Kopf. Zwei Tischreihen weiter saß ein Mann, den sie noch nie im Institut gesehen hatte, und sah sie an. Er war mit Sicherheit einige Jahre älter als sie. Ela schätzte ihn auf Ende dreißig; vielleicht sogar Anfang vierzig. Er hatte dunkelblondes Haar, er war schlank und hatte grüne Augen. Vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen mehrere Bücher und Ela bemerkte, dass er keinen Laptop benutzte, sondern sich mit Kugelschreiber Notizen auf einem ganz normalen Din A 4 Karoblock machte. Ela sah sich um, als nähme sie den Arbeitsraum zum ersten Mal war, und stellte fest, dass außer ihm niemand da war. Er sah aus, als ob er an irgend etwas Wichtigem arbeitete und ihr Auftritt musste ihn ganz schön gestört haben.

„Entschuldigung“, sagte sie.

„Macht nichts“, sagte der Mann und bückte sich. Aus einer Tasche, die am Boden stand, zauberte er ein Handtuch hervor und stand auf. Er trug dunkelblaue Jeans und ein sehr gut geschnittenes graues Hemd. Als er um den Tisch herum kam, bemerkte Ela, dass er nicht nur sehr groß, sondern auch ziemlich muskulös war.

Sein Blick war merkwürdig, und er reichte Ela ohne zu lächeln das Handtuch. Ela fand das sehr nett, aber sein Blick verwirrte sie. Und um sich nicht einschüchtern zu lassen, beschloss sie, den fremden Mann, obwohl er offensichtlich älter und wahrscheinlich kein Student war, zu duzen.

„Danke“, sagte sie und nahm das Handtuch, „hast du immer ein Handtuch dabei, wenn du in die Uni gehst?“

„Nein“, sagte der Mann und lehnte sich gegen die Kante des nächsten Tisches, „nur, wenn ich danach noch zum Sport will.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie weiterhin an.

„Aha“, machte Ela. Sie trocknete sich ihr Gesicht und drückte ihre Haare aus. „Danke jedenfalls. Das war sehr nett von dir.“

Sie gab ihm das Handtuch zurück. Er nahm es ohne zu lächeln, den Blick unverändert auf sie gerichtet.

Ela sah ihn erwartungsvoll an, aber er sagte nichts.

Schließlich lächelte sie und fragte: „Wieso starrst du mich so an?“

Der Mann fuhr zusammen.

„Das tut mir leid“, sagte er und rannte beinahe zu seinem Arbeitsplatz zurück, „das war mir nicht bewusst. Du erinnerst mich an jemanden, aber ich komme nicht drauf, an wen. Entschuldige bitte!“

Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und griff sich eines der Bücher.

Ela war jetzt neugierig. Langsam ging sie um die Tische herum zu ihm hinüber.

„Das macht nichts“, sagte sie und warf einen Blick auf seine Bücher. „Wobei hab ich dich gestört?“

Er hob unwillig den Blick. Dann reichte er ihr wortlos das Buch. Es schien sich um eine Fibeltypologie zu handeln. Ela sah sich die Abbildungen an und erkannte, dass es sich um Fibeln der Bronzezeit handelte.

„Du würdest dich gut mit meiner Freundin Fee verstehen“, sagte sie, „die liebt die Bronzezeit.“

Er sah sie interessiert an.

„Du nicht?“

„Nein. Ich habe nie etwas Bronzezeitliches gemacht. Hat mich aber auch nie sonderlich interessiert.“

Er sah enttäuscht aus.

„Das überrascht mich“, sagte er. Ela gab ihm das Buch zurück.

„Naja, wir haben keine Dozenten, die Bronzezeit anbieten. Und ich mag auch dieses hässliche Zeug wirklich nicht.“

„Hässlich.“

Ela zuckte mit den Achseln.

„In dieser Bibliothek fehlen außerdem grundlegende Werke über die Bronzezeit“, sagte der junge Mann.

„Unser Professor ist halt Frühmittelalterspezialist.“

„Und du, hast du dich auch auf’s Frühmittelalter festgelegt?“

Ela zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.

„Ich hab mich überhaupt nicht festgelegt. Ich hab meine Magisterarbeit über wikingerzeitliche Textilreste geschrieben. In vier Wochen gehen meine Prüfungen los, und da hab ich Themen aus der Latènezeit, der Wikingerzeit, der Römischen Kaiserzeit und musste außerdem noch was Bronzezeitliches dazu nehmen, deswegen bin ich nicht so gut darauf zu sprechen.“

„Ach, dann bist du noch gar nicht fertig.“

„Naja, so gut wie.“

„Wie alt bist du denn?“

Die Frage klang in Elas Ohren irgendwie vorwurfsvoll, so als ob sie mit ihren 27 Jahren bereits fertig sein müsse.

„Was ist das denn für eine Frage, wie alt bist du denn?“, schoss sie zurück.

Er hob abwehrend die Hände.

„Schon gut, war nicht so gemeint. Ich dachte, du wärst Doktorandin.“

„Nein, bin ich nicht. Erstmal der Magister, danach mach ich mir Gedanken um meine Diss.“

„Hast du schon ein Thema?“

„Ja, ich bearbeite einige merowingerzeitliche Gräberfelder am Niederrhein. Mit insgesamt mehr als dreitausend Gräbern.“

„Steht das alles schon?“

„Ja. Der Duhler hat sich für mich eingesetzt, ich hab ab Juli ein Stipendium und dann geht’s los.“ Ela atmete tief durch. „Dann geht der Stress weiter.“

„Wie heißt du?“

Ela, überrascht über diesen plötzlichen Themenwechsel, sah ihn überrascht an.

„Michaela“, sagte sie dann, „und du?“

„Tom. Forschung macht eben Arbeit und kostet viel Zeit.“

Ela sah ihn überrascht an. So wie Tom das gesagt hatte, klang es ungeheuer ernst und vorwurfsvoll.

Ela seufzte. „Da hast du recht.“

„Und, was hast Du für ein bronzezeitliches Thema?“

„Aunjetitzer Kultur und Bezüge zum Nordischen Kreis.“

Er nickte. Sie rieb sich müde die Stirn.

„Das Problem ist, dass ich nicht mal weiß, wie ich einsteigen soll. Das Thema ist mir so fremd.“

„Ich hab gehört, es soll dieses Semester eine Exkursion zu bronzezeitlichen Fundplätzen geben. Vielleicht wäre das was für Dich.“

Sie sah ihn interessiert an und nickte dann. „Ja, das ist vielleicht wirklich eine gute Idee. Kommt natürlich darauf an, wann und wie lange, ob ich Zeit hab, während der Prüfungsphase... und es wäre schon gut, wenn die Aunjetitzer Kultur thematisiert würde.“

„Wird sie. Die Himmelsscheibe von Nebra und die Kulturkontakte, die sich an ihr ablesen lassen. Nicht nur zum Nordischen Kreis, natürlich, aber das könnte trotzdem interessant für dich sein.“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, während er sprach. Ela fand, dass dies nun der merkwürdigste Gesichtsausdruck war, den sie bisher bei ihm gesehen hatte. Er schien mit einem Mal traurig, verbittert und alles in allem überfordert von irgend etwas. Dann stand er plötzlich sehr unvermittelt auf.

„Ich muss jetzt los.“

„Tut mir leid“, sagte Ela und stand auch auf. „Ich wollte dich nicht vom Arbeiten abhalten.“

Sie schob ihren Stuhl weg.

„Ist schon okay.“

Tom packte seinen Block und sein Handtuch ein und klemmte sich die Bücher unter den Arm.

„Viel Glück für deine Prüfungen!“

„Danke. Mach’s gut!“

„Du auch!“

Er verließ den Raum und Ela sah ihm nach. Er war hübsch.

Der neue Dozent

Am Samstagnachmittag fuhr Fee zu Ela. Sie brachte ihre Bücher mit und setzte sich an Elas Schreibtisch, während Ela auf dem Bett lag und einen weiteren Artikel über ihre Wagengräber las. Allerdings hatte Fee keine Lust, die Bücher über die Zwischenprüfungsthemen ihres Nebenfachs zu lesen und surfte statt dessen im Internet. Als sie am späten Nachmittag zu einem Spaziergang mit Ela aufbrach, hatte sie ein schlechtes Gewissen.

„Ich weiß überhaupt nicht, wie ich jemals meinen Abschluss machen soll“, sagte sie mutlos. Ela lebte nicht direkt in Bonn sondern in Alfter. Nun gingen sie zusammen über die Felder. „Ich hab einfach keine Disziplin.“

Ela seufzte.

„Tja, das kann ich mir nicht leisten. Wenn ich jetzt aufhöre zu lernen, war’s das für mich. Durchgefallen.“

„Du wirst nicht durchfallen, Ela. Du, im Gegensatz zu mir, bist sehr diszipliniert.“

Ela lachte müde.

„Komm lass uns nicht über die Uni reden. Gibt’s was Neues von dir und, wie hieß er noch, David Ranseier?“

Fee brach in Gelächter aus.

„Wie bitte?“

„Nicht? Ich dachte, da läuft was.“

„Du liebe Güte, nein! Mit dem doch nicht.“

„Mit wem anders?“

Fee hob die Augenbrauen.

„Mit wem denn? Bei uns im Institut ist doch nichts zu holen.“

„Das stimmt allerdings.“

Ela ließ ihren Blick über die Felder schweifen, über die grünen Triebe, die dort aufgelaufen waren, und die den braunen Feldern nach dem Winter nun ein frisches grünes Aussehen gaben.

„Furchtbar. Ich meine, ich hab ja sowieso keine Zeit, aber ich hätt’ so gern mal wieder ’nen Mann.“

Fee zuckte mit den Achseln.

„Du bist jetzt auch schon ziemlich lange Single, oder?“, wollte Ela wissen.

„Über ein Jahr.“

Ela nickte. Fee hatte sich von ihrem Freund, mit dem sie vier Jahre lang zusammengewesen war, getrennt, weil sie nicht mehr verliebt in ihn gewesen war. Das Problem, das Ela sah, war, dass sie sich auch in niemand anderen verliebte. Fee selber fand das prima. Nachdem sie solange in einer festen Beziehung gewesen war, die begonnen hatte, als sie zwanzig war, tobte sich Fee seit einem Jahr aus, feierte, schleppte Männer ab und genoss ihr Leben.

„Woran liegt es, dass du dich auf niemanden einlassen kannst?“

Fee zog eine Grimasse. Sie redete nicht gern mit Ela über ihre Gefühle. Ela konnte sehr rechthaberisch sein und brachte sie in Situationen, in der Fee das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen. Sie war im Moment vollkommen zufrieden damit, die Dinge einfach so weiterlaufen zu lassen, anstatt sich zu viele Gedanken zu machen.

„Hm“, machte sie, um Zeit zu gewinnen, „ich such einfach keine Beziehung…“, ein Konzept, das, wie sie wusste, Ela nicht verstehen konnte, „ich find es super, Männer kennenzulernen, wir machen, was wir wollen, finden uns gegenseitig großartig, haben Spaß miteinander, aber es ist völlig unverkrampft, weil es nicht zwangsläufig auf eine Beziehung hinauslaufen soll. Was ist mit dir?“

„Tja, nach der Pleite mit Mark… ich hab gedacht, er wär anders…“, sie verließen die Feldwege und kehrten auf die asphaltierten Straßen zurück. „Ich könnt manchmal wirklich brechen! Nur am lernen, ewig nur Stress, die Männer sind alle Lügner… ich find das unfair. Wieso krieg ich eigentlich nur die Scheiße ab und Schlotte hat immer Glück?“

Weil du jedesmal ohne lange zu fackeln mit beiden Händen beherzt in die Scheiße greifst, dachte Fee, hütete sich aber, das zu sagen. Schlotte stand noch am Anfang ihrer Magisterarbeit. Sie arbeitete konsequent daran und hatte nicht dass Gefühl, dass ihr Privatleben und ihre Beziehung zu kurz kamen. Fee wusste, dass Ela dazu neigte, sich mit ihren Freundinnen zu vergleichen, und das, was sie, Fee, oder Schlotte hatten, erschien ihr dann erstrebenswerter, als das was sie selbst hatte. Besonders, dass sie Single war, machte sie traurig. Ela wünschte sich so sehr einen Freund, der sie liebte und den sie glücklich machen konnte, dass sie sich, so schien es Fee, unreflektiert in jede Beziehung stürzte, die sich anbot. Es überraschte Fee nicht, dass diese Beziehungen beinahe immer im Chaos und in Tränen endeten. Schlotte hingegen war seit über drei Jahren mit ihrem Freund glücklich.

Fee zuckte mit den Achseln.

„Lass uns mal langsam wieder zu dir gehen. Die Sonne geht unter, und mir wird kalt.“

Der Sonnenuntergang war außergewöhnlich schön. Fee sah verzaubert zu, wie der Himmel sich orange färbte und die Wolken in ein orange-rotes Licht getaucht wurden. Als sie später in Elas Küche bei einer Tasse heißem Kakao saßen, dachte sie darüber nach.

„War der Sonnenuntergang heute besonders schön oder liegt es nur daran, dass ich in einer blöden Stadt wohne und einfach seit Wochen keinen Sonnenuntergang mehr gesehen hab?“

Ela lächelte Fee mitleidig an. Fee kam aus einem kleinen Dorf in der Altmark und sie wusste, wie unglücklich es sie machte, in der Stadt zu wohnen.

„Hör mal, Fee, du kannst gerne öfter vorbeikommen. Ich weiß ja, dass du lieber auf dem Land wohnen würdest und dann hab ich ein bisschen Gesellschaft, das würde mich auch freuen.“

„Danke, Ela, das ist echt lieb.“ Fee nahm einen Schluck Kakao. „Ich hab das Gefühl, das wird ein interessantes Semester.“

„Was?“ fragte Ela ungläubig, „Du willst echt wieder studieren?“

„Klar. Ich will mein Studium eigentlich nicht abbrechen. Ich hab zwar keine große Lust, aber jetzt nachdem ich das Jahr Auszeit genommen hab, muss ich mich schon wieder mehr auf die Uni konzentrieren. Ich denke, ich bin soweit. Im letzten Sommer ging gar nichts, aber letztes Semester war ich motiviert und kreativ!“

„Ja“, sagte Ela spöttisch, „nur nicht in deinem Studium.“

Fee zog eine Grimasse. „Is ja richtig. Das Studium, Ela, macht mich einfach nicht glücklich. Deswegen habe ich mich ja auch die ganze Zeit so leer gefühlt.“ Sie lächelte. „Das letzte Jahr war schön, zu singen und zu töpfern, das hatte ich mit dem Horrorstudium total vernachlässigt. Ich hab mir zwischendurch wirklich überlegt, alles hinzuschmeißen, ich war ganz kurz davor. Aber jetzt mit diesem neuen Professor und seinem Bronzezeitkurs probier’ ich’s noch mal. Dann kann ich zwar weniger arbeiten, wenn ich wieder regelmäßig in die Uni muss, aber das ist eigentlich auch nur gut. Wenn ich weiterhin fünf Tage die Woche auf Grabung muss, krieg ich eine Macke!“

Sie trank ihre Tasse aus und strahlte Ela an.

„Mir geht’s jetzt echt wieder besser und ich glaub, dieser Bronzezeitkurs könnte wirklich interessant werden. Ich freu mich direkt aufs nächste Semester.“

Ela, die an ihre Prüfungen und den Stoff, den sie noch vor sich hatte, dachte, seufzte.

Am Montagmorgen saß Ela wieder im Arbeitsraum des Instituts, vergraben in eine weitere Monographie über wikingerzeitliche Handelsplätze. Wieder war es ein sonniger Tag, aber Ela war so daran gewöhnt, über ihren Büchern zu brüten, während sich draußen das Leben ohne sie abspielte, dass sie nicht darauf achtete. Sie saß noch nicht lange da, als die Tür aufging und Tom hereinkam.

„Hallo“, sagte Ela und lächelte ihm zu. Tom blieb in der Tür stehen. Er trug heute eine dunkelblaue, etwas verwaschene Jeans und dazu einen schwarzen Wollpullover. Über der Schulter trug er eine Umhängetasche. Wie er da stand, kam er Ela sehr groß und schlank, beinahe zu schlank, vor. Gleichzeitig zeichnete sich unter dem Pulli sein kräftiger Oberkörper ab, was eine merkwürdige Mischung war. Tom sah sie nur an, ohne zu reagieren, und Ela hoffte, dass sie ihn nicht allzu sehr angestarrt hatte. Aber dann erinnerte sie sich, dass Tom irgendwo einfach ein bisschen merkwürdig war. Und dann überraschte er sie, indem er mit einem Mal lächelte.

„Hallo Michaela“, sagte er und betrat den Arbeitsraum. Er legte seine Tasche auf einen Tisch und sah sich um. „Es ist immer so leer hier, studiert hier keiner?“

„Naja“, Ela strich sich die Haare aus dem Gesicht, „das Semester beginnt erst nächste Woche. In den Ferien ist so gut wie nie jemand in der Institutsbibliothek. Im Laufe der Woche trudeln sie so langsam wieder ein.“

„Um so besser. Dann kann man sich besser konzentrieren.“

Er ging an den Regalen entlang und überflog die Titel, die auf den Buchrücken standen. Ela wandte sich wieder ihren Handelsplätzen zu.

Als sie hungrig wurde, fiel es Ela schwerer, sich zu konzentrieren. Sie hob den Kopf und sah sich um. Tom saß eine Reihe vor ihr, über seinen Block gebeugt und machte sich Notizen. Sie waren noch immer die einzigen Studenten in der Bibliothek. Es war halb eins, keiner von beiden hatte in den vergangenen zwei Stunden ein Wort gesagt.

„Du, Tom?“

Er drehte sich um.

„Ich geh kurz zum Bäcker. Bist du noch was hier? Dann würde ich meinen Kram hier einfach liegenlassen, wenn du ein Auge drauf hättest.“

Er nickte.

„Danke. Soll ich dir was mitbringen?“

Tom überlegte kurz.

„Einen Becher Kaffee. Schwarz, kein Zucker.“

Als Ela zurückkehrte, setzte sie sich Tom gegenüber. Er gab ihr das Geld für den Kaffee zurück und nahm einen Schluck.

„Ich wundere mich trotzdem, dass wirklich überhaupt niemand kommt außer dir“, sagte Tom. Ela wiederholte, was sie vorher schon gesagt hatte. „Es sind Semesterferien.“

Tom hob abfällig eine Augenbraue.

„Kein Grund, nicht zu arbeiten, wenn du mich fragst.“

„Bald ist ja wieder Semesterbeginn“, sagte Ela achselzuckend, „dann werden schon wieder Studenten kommen. Wenn ihnen einfällt, dass sie noch Hausarbeiten abgeben müssen.“

„Wenn es ihnen einfällt?“

„Naja“, lästerte Ela, „die Abgabefristen sind immer am letzten Semesterferientag. Der kommt dann immer ziemlich überraschend.“

Durch die offene Tür drang der Lärm der Bauarbeiter herein, die das Büro renovierten, das der Bronzezeitler bekommen sollte, der neu am Institut war. Tom warf einen genervten Blick zur Tür, erhob sich und schloss sie.

„Haben die Studenten alle keine Lust?“, nahm er das Thema wieder auf, als er zurückgekehrt war, „Sind die alle so unmotiviert?“

Ela dachte an Fee.

„Teilweise schon. Aber der größte Teil ist, glaub ich, einfach nur faul.“

Tom nickte, als hätte Ela nur bestätigt, was er sowieso schon gedacht hatte.

„Wieso interessiert dich das so?“, fragte Ela, „Kann dir das nicht egal sein?“

Tom schnaubte nur abfällig. Ela beschloss, nicht nachzufragen. Gerade als sie sich wieder um ihre Wikinger kümmern wollte, sagte Tom: „Naja, immerhin gibt es ja fleißige Studentinnen.“

Ela begriff, dass das ein Kompliment war. Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, dass sie sich über die Anerkennung des gutaussehenden Mannes freute und sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Als Schlotte am Abend die Wohnungstür aufschloss, hörte sie die Fee in der Küche einen Within Temptation Song singen und grinste. Fee konnte ganz gut singen und sie sang aus vollem Halse und mit tiefster Inbrunst. Sie warf sich völlig in den Text hinein, immer, und sehr oft weckte sie Schlotte am Wochenende damit auf.

„Hallo“, rief Schlotte und blieb in der Küchentür stehen. Fee stand am Spülbecken, aus dem der Schaum quoll und rief lächelnd, „Hallo.“

„Ich hab eine gute Nachricht für dich… wieso riecht’s hier so fruchtig?“

Fee stellte einen Teller ins Abtropfsieb. Schlotte warf einen Blick auf die Plastikflasche neben dem Spülbecken.

„Du wäscht unser Geschirr mit Shampoo ab?!?“

„Ist auch nur Chemie“, antworte Fee achselzuckend.

„Spinnst du?“

Fee sah sie verständnislos an.

„Wieso denn? Krieg dich mal wieder ein. Spülmittel war alle.“ Sie stellte einen weiteren Teller ins Sieb und wandte sich mit einem amüsierten Blitzen in den Augen wieder an Schlotte. „Außerdem haben unsere Teller jetzt einen ganz seidigen Glanz.“

Schlotte sortierte sich einen Moment lang und schüttelte kurz den Kopf.

„Wie du meinst. Jedenfalls“, sie zog ihre Jacke aus und hängte sie neben der Wohnungstür an die Garderobe, „hab ich eine gute Nachricht für dich.“

„Ja? Was denn?“

„Sie suchen ’ne Aushilfe in dem kleinen Schokoladen in der Brüdergasse. Ab sofort.“

Fee sah Schlotte verständnislos an.

„Du bräuchtest nicht mehr zu graben!“

„Oh! Fantastisch!“

Am nächsten Tag ging Fee bei dem Schokoladen vorbei und blieb direkt für einen Probetag da. Die Besitzerin war sehr nett und obwohl Fee noch nie in einem Laden gejobbt hatte und sie Angst hatte, dass ihr alles über den Kopf wachsen könnte, lief alles gut. Sie bekam den Job und fing am nächsten Tag an. Das Dixieklo, die dummen Sprüche der anderen Studenten und das Chaos der de facto nicht existenten Organisation der Grabung fehlten ihr überhaupt nicht.

Da sie das letzte Jahr eine Auszeit genommen hatte, ging Fee pünktlich zur Einführungsveranstaltung des Instituts. Normalerweise wurde auf der „Muppet Show“, wie die Studenten, und auch die meisten der Dozenten, diese Veranstaltung nannten, jedes Semester das selbe erzählt, und die höheren Semester sparten sie sich meist. Aber Fee dachte sich, dass es gut möglich war, dass sie etwas verpasst hatte. Sie wunderte sich allerdings, dass Ela auch gekommen war.

„Was machst du hier?“ fragte sie und ließ sich neben ihr in die Bank fallen.

„Naja, ich kam gerade aus der UB und dachte mir, man kann ja mal 'reinschauen.“

„Und wie geht’s dir?“

„Beschissen. Ich hab überhaupt keine Zeit mehr für irgendwas, ich bin total überarbeitet und überanstrengt…“

Fee nickte mitleidig und sah sich unauffällig um. Es tat ihr leid, dass Ela so überarbeitet war, aber war das normal? Ging das jedem so, der in der Magisterprüfung steckte? Andere Freundinnen, die schon fertig waren, hatten nicht so darunter gelitten und wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, dann hatte sie Ela schon zu oft zugehört… Sie sah sich im Hörsaal um, der sich langsam füllte und nickte nur ab und zu, wenn sie das Gefühl hatte, dass die Pausen in Elas Gejammer sie dazu aufforderten.

„Ich kenn kaum mehr jemanden“, murmelte sie, „die sind alle so jung… wo sind denn die ganzen Leute, mit denen ich angefangen hab… Ah, da ist Herr Richter.“

Ela warf einen Blick auf den großgewachsenen jungen Mann, der eben hereingekommen war. Herr Richter hatte ein Semester vor Fee angefangen und hieß mit vollem Namen Marcus Richter. Fee, die ihn konsequent immer nur „Herr Richter“ genannt hatte, war nicht ganz unschuldig daran, dass ihn niemand Marcus nannte.

„Du hattest mal was mit ihm, oder?“

„Elaaaaaaaaa!“, Fee verdrehte die Augen, „Du nervst.“

„Wieso“, sagte Ela beleidigt, „es stimmt doch, oder etwa nicht?“

Fee sah Ela an.

„Du weißt doch genau, dass es stimmt!“, zischte sie, „wieso fragst du mich jedes Mal danach? Du hast das doch mitgekriegt!“ Und wieso, zur Hölle, musste Ela sie jetzt danach fragen, mitten in einem brechend vollen Hörsaal, wo jeder zuhören konnte? Ela hatte nicht mal leiser gesprochen. Manchmal war sie echt trampelig.

„Ich hab aber nicht mitgekriegt, wieso ihr euch getrennt habt.“

„Wir haben uns getrennt, weil er ein Spongo ist. Du weißt doch, dass er drei Jahre lang mein bester Freund war, und als ich das mit Sedat beendet hab, haben wir halt diese Affaire angefangen. Er war verliebt, ich war es nicht, er sagte er kann damit umgehen, konnte es aber nicht, hat sich super kindisch benommen und mich ziemlich unmöglich behandelt, ich hab ihn in die Wüste geschickt. Fertig. Zufrieden?“

„Ach, Fee, das tut mir so leid“, sagte Ela voller Anteilnahme und Fee atmete tief durch.

„Wieso, das ist doch über ein Jahr her“, sagte sie beherrscht, „und ich hab doch gerade gesagt, dass ich keine Gefühle für ihn hatte.“

Ela begann, ihr auf die Nerven zu gehen. Gespräche wie dieses hier waren typisch. Ela schaffte es immer, alles furchtbar dramatisch zu sehen und Fee weigerte sich, diese Sichtweise zu teilen. Es war nicht alles einfach im Leben und angenehm, aber Ela hatte eine Tendenz, sich immer als Opfer zu sehen und sie, Fee, hatte einfach keine Lust, sich auch diesen Schuh anzuziehen. Oder sich ewig dasselbe Lied anzuhören.

„Aber dass die Männer immer so unreif sein müssen. Und jetzt hast du deinen besten Freund verloren. Ach Fee, warum müssen die Männer alle so ätzend sein? Ich hab das ja auch schon oft genug erlebt.“

„So schade ist es auch nicht drum. Außerdem reden wir ja wieder miteinander“, sagte Fee und winkte Herrn Richter zu. Sie wurde langsam sehr ungeduldig. Fing die Muppet Show nicht bald an? Ela war ein lieber Mensch, aber manchmal war sie zuviel für Fee. Ela wollte immer alles wissen und über alles reden, und Fee lag das einfach nicht. Sie machte immer alles zuerst einmal mit sich selbst aus, bevor sie mit irgend jemandem über ihre Gefühle redete. Deswegen würde sie sich auch hüten, Ela von der Affaire mit Christoph, der auch im Schokoladen arbeitete, zu erzählen. Die Geschichte lief jetzt seit etwas mehr als einer Woche und sie wusste selbst noch nicht, was sie davon hielt. Herr Richter begrüßte Fee und setzte sich neben sie.

Herr Duhler, der Institutsdirektor, erhob sich und trat ans Rednerpult. Die Muppet Show begann, aber Fee hörte nicht zu. Christoph war charmant und sah sehr gut aus, aber Fee war ziemlich sicher, dass sie sich nicht in ihn verlieben würde. Er war zu selbstsicher und mochte die Frauen zu sehr, schon als sie nur eine kurze Zeit mit ihm zusammengearbeitet hatte, hatte sie das gesehen. Es war die Art und Weise, wie er mit den Kundinnen flirtete. Er wusste, wie er auf Frauen wirkte, und sie war nicht blöd genug, sich in jemanden zu verlieben, der sie zwangsläufig verletzen würde.

Fee stützte das Kinn in die Hand und beobachtete Herrn Duhler, der immer noch sprach, ohne aufzunehmen, worum es ging.

Vielleicht war sie aber auch einfach nur beziehungsgestört. Schließlich konnte sie nicht von vornherein wissen, was Christoph tun würde oder nicht. Sie selbst war es, die sich nicht einlassen wollte. Manuel war das beste Beispiel. Er lebte im selben Haus wie Schlotte und Fee, war sehr attraktiv und der freundlichste Mensch gewesen, den man sich nur vorstellen konnte. Fee hatte die Sache beendet, weil sie sich eingeredet hatte, Manuel sei ihr zu bieder und langweilig. Von dem hatte sie Ela auch nichts erzählt. Wieso auch? Es war nicht notwendig, weil die Geschichten nicht wichtig waren. Ela hatte gesagt, sie könne sich nicht einlassen. Stimmte das? Fee hatte gedacht, wenn sie sich verliebte, dann verliebte sie sich. Aber es passierte nicht. Vielleicht verliebte sie sich nicht, weil sie sich verabschiedete, bevor es ernst werden konnte? Vielleicht hatte sie tatsächlich einfach nur Angst. Nachdenklich warf sie Herrn Richter von der Seite einen Blick zu. Ach Quatsch. Ela brachte sie mit ihrem Gerede völlig durcheinander. Irgendwann würde sie sich wieder verlieben, und bis dahin... warum sich nicht die Zeit vertreiben mit einem Schokoladenverkäufer, der ein spitzbübiges Blitzen in den blauen Augen hatte, dem man überhaupt nicht widerstehen wollte?

Fee fiel wieder ein, weshalb sie hergekommen war und wandte ihre Aufmerksamkeit Herrn Duhler zu, der gerade den neuen Dozenten willkommen hieß: „…Herrn Thomas Maler, der auf die vorrömischen Metallzeiten mit dem Schwerpunkt Bronzezeit spezialisiert ist, und der von jetzt an an unserem Institut tätig sein wird.“

Ela riss die Augen auf. Aus der ersten Reihe erhob sich Tom, trat zum Rednerpult und begann einige Sätze zum Seminar zu sagen, das er im Sommersemester halten wollte. Tom war Dozent am Institut!

Fee grinste.

„Schlotte lacht sich tot, wenn ich ihr das erzähle“, murmelte sie, „ich hoffe, sie hat kein Problem mit älteren Männern.“

Nachts in der Bibliothek

Wie Ela es vorausgesagt hatte, waren, da das Semester wieder begonnen hatte, wieder mehr Studenten im Institut. Fee sah sich genervt um. „Was ist denn hier passiert?“, fragte sie und setzte sich neben Lea, eine Nebenfächlerin, auf die Treppenstufen vor dem Institut. Lea war klein, lief immer in Schwarz gekleidet herum, trug ihr Haar schwarz gefärbt und sah aus, als ob sie am liebsten jedem den Kopf abreißen würde. Fee fand sie lustig. Sie erinnerte sie an den Schwarzen Schlumpf.

„Was meinst du?“, fragte der Schwarze Schlumpf.

Fee zündete sich eine Zigarette an.

„Die ganzen Tussis!“, antwortete sie verhalten und deutete mit dem Kinn auf drei Mädchen, die sich in der Nähe unterhielten. „Ich seh hier nur noch Blondinen mit Stilettos und Perlenketten und Achselschweißtäschchen. Und rosa. Was wollen die denn alle hier?“

Der Schwarze Schlumpf lachte.

„Das sind die ganzen Bacherlorstudentinnen. Das sind eigentlich Kunstgeschichtlerinnen.“

Richtig, dachte Fee, sie führten ja jetzt den Bachelor in Deutschland ein… das hatte sie irgendwie verpasst. Sie selber studierte Archäologie noch auf Magister, inzwischen gehörte die Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Bonner Uni aber zur Kunstgeschichte, und Fee war sicher, dass diese Studentinnen hier nur Pflichtmodule absaßen. Archäologinnen sahen anders aus. Den Blick auf die Blondinen gerichtet legte sie den Kopf schief und dachte nach. Die drei da waren mittlerweile sicher auch schon in ihrem dritten, vierten Semester.

„Ich hab in den Semesterferien schnell mein Latinum gemacht“, verkündete die eine Kunstgeschichtlerin, „das war so einfach! Lächerlicher Kurs.“

„Ich hab mein Latinum damals gleich in meinem ersten Semester gemacht“, antwortete die andere und warf die Haare aus dem Gesicht, „und jetzt hab ich auch mein Graecum.“

„Und“, fragte der Schwarze Schlumpf ernsthaft, den Tonfall der Kunstgeschichtlerinnen so gut imitierend, dass nicht auffiel, dass sie sich lustig machte, „was hast du in den Semesterferien gemacht?“

„Ich hab mir die Brüste machen lassen“, erklärte Fee genauso ernsthaft. Der Schwarze Schlumpf lachte hell auf. Die drei Kunstgeschichtlerinnen starrten Fee entgeistert an und hinter sich hörte Fee jemanden stolpern.

„Kleiner!“, fügte sie hinzu und drehte sich neugierig um. Herr Maler stand in der Tür hinter ihr und sah sie böse an. Fee kümmerte sich nicht darum. „Ach Herr Maler“, sagte sie fröhlich, „zu Ihrem Seminar wollte ich! Ich hatte schon Angst, ich bin zu spät.“

„So groß kann die ja nicht gewesen sein, wenn Sie hier noch in aller Ruhe sitzen und eine Zigarette rauchen.“

„Naja“, sagte Fee entschuldigend und stand auf, „Sie kommen ja auch eben erst.“ Sie warf die Zigarette weg und stellte fest, dass der Dozent sie noch immer böse anstarrte. Fee fragte sich, ob sie ihn verärgert hatte, oder ob er einfach nur gehört hatte, was sie gesagt hatte, und nun angestrengt versuchte, nicht auf ihre Brüste zu starren.

„Sind Sie denn angemeldet?“

Er betrat das Institut und Fee beeilte sich, ihm zu folgen.

„Angemeldet?“, fragte sie verwirrt. Sie hatte sich in der Archäologie noch nie zu irgendeinem Seminar angemeldet. Man tauchte einfach in der ersten oder zweiten Sitzung auf und schrieb sich auf die Anwesenheitsliste.

„Natürlich angemeldet. Seit zwei Wochen liegen die Anmeldelisten im Sekretariat aus!“

„Oh“, machte Fee traurig, „das habe ich nicht gewusst. Darf ich trotzdem teilnehmen?“

„Wollen Sie einen Leistungsschein machen?“

„Ja.“

„Naja, sehen wir mal, ob wir Sie noch unterkriegen!“

Fee bekam ein Referatsthema für die übernächste Woche, die Cucuteni-Tripolje Kultur in Rumänien und Moldawien. Zu ihrem großen Verdruss bedeutete das, dass sie sich nun tatsächlich ernsthaft einarbeiten musste, und das neben ihrer Arbeit im Schokoladen. Sie war das überhaupt nicht mehr gewohnt, sie hatte so lange nicht mehr wissenschaftlich gearbeitet… Fee hatte noch nie von der Cucuteni-Tripolje-Kultur gehört, und nachdem sie sich die Literatur besorgt hatte, fand sie ziemlich schnell heraus, dass sie es eher mit einer äneolithischen denn mit einer wirklich bronzezeitlichen Kultur zu tun hatte, und noch dazu einer mit außergewöhnlich schöner Keramik. Wer hätte gedacht, dass es so etwas gab.

Währenddessen näherte sich Elas Klausurtermin und Ela verfiel in Panik. Sie war sich ziemlich sicher, welches Thema sie zu erwarten hatte, und hatte in den letzten Tagen ihren Text ausformuliert und immer wieder abgeschrieben, bis sie sicher war, dass sie keinen wichtigen Punkt vergessen hatte. Dann schrieb sie ihn noch einige Male mehr ab, um sicher zu gehen, dass sie in vier Stunden fertig werden würde. Nun tat ihr die Hand weh, aber Ela ignorierte das. Wichtig war, dass sie diese Klausur bestand, danach konnte sie ihretwegen ruhig Sehnenscheidentzündung bekommen, das interessierte sie im Moment nicht.

Was sie tun sollte, falls sie die Klausur nicht bestand, daran wollte sie lieber nicht denken. Im Grunde wusste Ela genau, dass solche Gedanken völlig unnötig waren. Sie war gut vorbereitet, der Duhler bewertete immer fair und in ihrem gesamten Studium war ihre schlechteste Note eine Zwei minus gewesen. Aber Ela war so in ihrem Prüfungsstress und ihrer Angst gefangen, dass sie nicht mehr rational denken konnte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon heulend aus dem Hörsaal laufen, vorbei an Duhler, der sie gehörig auslachte und, schlimmer noch, an Tom, der fassungslos, dass er sich hatte täuschen lassen und sie tatsächlich für intelligent gehalten hatte, den Kopf schüttelte, direkt unter die Kennedybrücke, unter der sie den Rest ihres Lebens verbringen würde, falls sie nicht den Mut aufbrachte, hinaufzusteigen, über das Geländer zu klettern und sich in den Rhein zu stürzen.

Vor der nächsten Sitzung des Bronzezeitseminars saß Fee mit Raphael, einem Kommilitonen, mit dem sie vor ein paar Tagen zum ersten Mal ins Gespräch gekommen war, vor dem Institut in der Sonne. Raphael war nett, sie hatte ihn im Arbeitsraum kennengelernt, und er hielt am selben Tag wie sie, also heute in einer Woche, sein Referat. Sein Thema waren die Hajdusámsón-Schwerter und die Bezüge zur skandinavischen Bronzezeitornamentik. Fee hatte ihn um Rat gefragt, was sie mit ihrem Schokoladenverkäufer machen sollte, denn sie wusste definitiv, dass Christoph noch mit mindestens einer anderen Frau schlief. Er hatte es ihr selbst erzählt, und Fee, die das nicht überraschte, hatte gerade darüber nachgegrübelt, warum sie sich noch nicht einmal ärgerte, als sie mit Raphael ins Gespräch kam. Also hatte sie die Gelegenheit genutzt, einen Mann zu fragen, was er von der Situation hielt und ihn direkt nach seiner Meinung gefragt. Sie musste sich wohl eingestehen, dass Christoph sie einfach nicht wirklich interessierte. Raphael hatte ihr geraten, die Geschichte zu beenden, was Fee auch getan hatte. Und nun langweilte sie sich furchtbar in ihrem Leben, fragte sich, ob sie Raphael eigentlich attraktiv fand und versuchte, ohne dass er es bemerkte, herauszufinden, ob er sie wohl für promiskuitiv hielt. Sie unterhielten sich gerade darüber, wie sie über One-Night-Stands dachten, als Herr Maler zum Institut kam. Er schloss sein Fahrrad ab und blieb dann vor Fee stehen.

„Frau Maiwald.“

„Hallo, Herr Maler.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sind wir schon wieder zu spät?“ Sie erinnerte ihn absichtlich daran, dass er letzte Woche ebenfalls erst kurz vor knapp angekommen war und war überrascht zu sehen, dass tatsächlich ein Lächeln um seine Mundwinkel zuckte, bevor es erfolgreich niedergerungen wurde.

„Nein, bis jetzt noch nicht“, antwortete er, „Sie waren noch nicht in meiner Sprechstunde.“

„Wegen des Referates?“

Fee hatte nicht vorgehabt, in seine Sprechstunde zu gehen, aber offenbar legte er da Wert drauf.

„Natürlich wegen des Referates“, antwortete er und nun verzog sich sein Mund eindeutig zu einem spöttischen Lächeln, „was denken Sie denn, was ich mit Ihnen besprechen will?“

Fee hätte niemals damit gerechnet, dass dieser korrekte Mann, der ihrer Meinung nach viel zu verkniffen für sein Alter war, ihr eine Antwort geben würde, die man ohne viel Anstrengung zweideutig interpretieren konnte, und wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

„Ja, dann komm ich diese Woche mal vorbei“, sagte sie und Herr Maler schaffte es nicht, sein selbstgefälliges Grinsen zu verstecken. Vielleicht wollte er es auch nicht. Fee erkannte, dass er es genoss, sie in Verlegenheit gebracht zu haben, und nahm sich zwei Dinge vor. Erstens: beim nächsten Wortgefecht würde der Punkt wieder an sie gehen und zweitens: Sie würde ihn zum Lachen bringen. Sie wusste noch nicht wie, aber sie würde ihn dazu bringen, fröhlich und aus vollem Halse zu lachen. Es würde ihm so peinlich sein! Sie fragte sich, ob er das überhaupt konnte. Und dachte sich, dass sie das wirklich gern sehen würde, denn eigentlich war Tom Maler wirklich verdammt gutaussehend.

Aus Gewohnheit und um sich von ihrer Panik abzulenken, ging Ela am Freitag vor ihrer Klausur zum Doktoranden- und Magistrandenkolloquium. Vor dem Institut traf sie Fee, die vor Wut kochte.

„Ich war gerade beim Maler in der Sprechstunde“, erwiderte sie auf Elas Frage. „Arroganter Penner. Der glaubt, ich hätt’ nichts anderes zu tun, als Archäologie. Dass ich arbeiten muss, ist dem völlig egal! Was ich noch alles in mein Referat mit ’rein nehmen soll, bis nächsten Mittwoch!“

„Naja“, sagte Ela, „so abwegig ist das doch nicht, davon auszugehen, dass Archäologie das wichtigste ist im Leben von jemandem, der Archäologie studiert. Und Archäologe werden will.“

„Ich will überhaupt keine Archäologin werden“, entgegnete Fee, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.

„Das hast du ihm aber hoffentlich nicht gesagt, oder?“

„Doch, natürlich. Glaubst du, ich lass mich von dem einschüchtern? Ich hab gesehen, wie er die arme Katalog Rosenheim fertiggemacht hat, nach ihrem Referat. Gut, ihr Referat war Müll, aber du hättest den Tonfall hören sollen, in dem er sie rundgemacht hat, das ging gar nicht. Ich dachte, die fängt gleich an zu heulen, und du weißt ja, wie Katalog Rosenheim sonst ist!“

„Nein“, sagte Ela verwirrt, „ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, wovon du redest. Ist das ein Mensch?“

„Ja. Katalog Rosenheim! Groß, blond und unheimlich arrogant.“

Ela hätte gern gefragt, wie dieses Mädchen richtig hieß und warum Fee sie „Katalog Rosenheim“ nannte, aber Fee sprach, ohne Pause zu machen, weiter.