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Kinder lernen in Beziehungen zu Menschen, die ihnen wichtig sind. Sie ziehen sie hinein in ein gemeinsames Spielen und entwickeln sich über das feinfühlige Antworten Ihrer Mitmenschen. Ein Verstehen von subjektivem Sinn und spielerischer Interaktion fördert Kinder in ihren Beziehungskompetenzen, ihrer sinnlichen Wahrnehmung, der Selbstregulation ihres Verhaltens und im nachhaltigen Erwerben kognitiver Leistungen. Hermann Staats beschreibt, wie Beziehungen zu Kindern in Krippe, Kita, Hort und Schule umfassender verstanden und entwicklungsfördernd gestaltet werden können. Das trägt dazu bei, eine verstehens- und beziehungsorientierte professionelle Haltung zu entwickeln und im beruflichen Alltag aufrechtzuerhalten. Zahlreiche Praxisbeispiele, auch zu den verschiedenen Herausforderungen, ermöglichen den Transfer in den eigenen Berufsalltag. Jetzt in der 2., veränderten Auflage!
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Hermann Staats
Feinfühlig arbeiten mit Kindern
Psychoanalytische Konzepte für die Praxis in Kita und Grundschule
Mit 3 Abbildungen
2., aktualisierte und erweiterte Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2021, 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: candy1812 – Adobe Stock
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-99979-1
Einführung
1 Feinfühligkeit: Überblick und etwas Verwirrung
2 Warum psychoanalytische Konzepte in der Pädagogik?
3 Unbewusste Beziehungen und eigenes Entscheiden
4 Konflikte und Strukturen
4.1 Konflikte verstehen
4.2 Mit Strukturen arbeiten
4.3 Selbst- und Fremdwahrnehmung unterscheiden lernen
4.4 Konflikt, Struktur und Lernentwicklung
4.5 Dyadische Beziehungen und triadische Beziehungsmuster
4.6 Äußere Realitäten: Familienmodelle, Ein-Eltern-Familien, Patchwork-Familien
5 Biografisches Verstehen oder biologisches Verständnis?
5.1 Sinn entwickeln in Geschichten
5.2 Unsicherheit schätzen lernen – die Entwicklung von Offenheit und Ambiguitätstoleranz
6 Entwicklungspsychologische Grundlagen
6.1 Gefühle als Organisatoren von Entwicklung
6.2 Die fünf Psychologien der Psychoanalyse im Überblick
6.3 Regression – die Vergangenheit in der Gegenwart
6.4 Lernen und Epistemisches Vertrauen
6.5 Kindliche Sexualität, Gender und Geschlecht
7 Schmerz und Unlust vermeiden: Abwehr und Widerstand
8 Geschichten laden ein und gestalten Beziehungen
8.1 Erzählungen, Geschichten, Narrative
8.2 Übertragungen – Neues vor dem Hintergrund alter Erfahrungen
8.3 Gegenübertragung
9 Spielend Lernen
9.1 Regression und Spiel
9.2 Spielen lernen – professionelle Selbsterfahrung
10 Pädagogisches Handeln
10.1 Interesse, Neugier, Nicht-schon-Wissen
10.2 Präsenz und Akzeptanz
10.3 Wahrnehmen und Differenzieren von Gefühlen
10.4 Anerkennen, Grenzen setzen und antworten
10.5 Eigene Wünsche von Pädagogen: Abstinenz und Neutralität
10.6 Eingewöhnung
10.7 Abschiede, Trennungen und Übergänge
11 Beratung von Eltern und Familie
11.1 Vorgehen in einem ersten Beratungsgespräch
11.2 »Inszenierungen« – die innere Welt und ihre Wirkungen auf andere
11.3 Wenn Beratung nicht ausreicht: Ziele und Risiken von Psychotherapien
Zitierte Literatur
Register
Die zweite Auflage dieses Buches bietet eine Aktualisierung, Überarbeitung und Erweiterung des Themas »Feinfühlig Arbeiten mit Kindern«. Das bindungstheoretisch begründete Konzept des »Epistemischen Vertrauens« hat eine neue Sicht auf differenzierte Lernprozesse ermöglicht. Das Umgehen mit eigener Unsicherheit wird als wichtiger Bestandteil der Entwicklung von Feinfühligkeit stärker herausgearbeitet. In die Weiterbildung von Pädagoginnen und Pädagogen werden zunehmend Module aufgenommen, die eine spezifisch auf das Arbeitsfeld mit Kindern ausgerichtete professionelle Selbsterfahrung bieten. Die eigene subjektive Haltung wird hier reflektiert und um neue Möglichkeiten erweitert. Vielfältige Familienmodelle sind Alltag in Kitas und Schulen; Konflikte um Sexualität, Gender und Geschlecht werden offener erkundet. Das Buch greift diese Entwicklungen auf.
Viele Aufgaben bleiben zentral: Feinfühlig zu sein, sich auf einen anderen Menschen einzustellen, nicht genau zu wissen, wie und was der andere denkt und fühlt, sich aber dafür zu interessieren und ihn »im Sinn« zu haben – dies ist als eine zentrale Kompetenz in der pädagogischen Arbeit in den letzten Jahren noch deutlicher sichtbar geworden. Feinfühligkeit hilft, Beziehungen förderlich zu gestalten – eine Grundlage für emotionales und kognitives Lernen. Gerade kleinere Kinder, die nicht in klaren Worten ausdrücken können, was sie möchten und wie es ihnen gerade geht, sind auf feinfühliges Handeln der Menschen in ihrem Umfeld angewiesen.
Kinder lernen in Beziehungen zu Menschen, die ihnen wichtig sind. Sie tun dies von Geburt an auf unterschiedliche Art. Eltern und Pädagogen stellen sich auf die Individualität eines Kindes feinfühlig ein – es beginnt ein interaktioneller Austausch, zu dem beide Partner beitragen und der plastisch als ein gemeinsamer »Tanz« beschrieben werden kann. Beide Partner stimmen sich in diesem Tanz aus Bewegung, musikalisch anmutenden Lauten, Blicken und den mit ihnen verbundenen Affekten aufeinander ein und entwickeln sich.
Unser Wissen zum Einfluss von Feinfühligkeit auf die Entwicklung von Kindern stammt aus vielen Quellen. Untersuchungen zur Mutter-Kind-Interaktion, die Bindungstheorie, psychoanalytische Konzepte, Forschung zu Emotionen, entwicklungspsychologische und neurobiologische Ergebnisse weisen auf die hohe Bedeutung feinfühliger Interaktionen für die Entwicklung von Kindern hin. Vor allem zur Bedeutung gelingender Beziehungen in den ersten Lebensjahren hat sich hier ein reicher Wissensstand entwickelt, der sich auf pädagogische und therapeutische Konzepte auswirkt.
Zur Umsetzung dieses Wissens in eine frühpädagogische und pädagogische Praxis gibt es viele ermutigende Beispiele – und sehr viele anstehende Herausforderungen. Dieses Buch zeigt die Aufgaben, stellt Theorien zu ihrem Verstehen vor und verdeutlicht beides anhand vieler Beispiele aus der Praxis von Krippe, Kindergarten und Grundschule. Es ist entstanden in Vorlesungen und Seminaren an einem der ersten frühpädagogischen Studiengänge in Deutschland, in Praxisbegegnungen und Fortbildungen mit Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern und in Diskussionen mit wissenschaftlich arbeitenden Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Forschungsfeldern. Wenn in diesem Buch im Interesse einer flüssigen Lesbarkeit nicht immer weibliche und männliche Form parallel benutzt werden, sind doch stets beide Geschlechter angesprochen.
Eine Ausbildung zur Frühpädagogin oder Grundschullehrerin vermittelt vielfältige Kompetenzen in der Wahrnehmung, dem Verstehen und dem pädagogischen Handeln mit Kindern. Die Fähigkeit, Beziehungen zu Kindern gut zu gestalten, steht als eine die Fachdisziplinen verbindende pädagogische Kompetenz an zentraler Stelle. Sie wird in diesem Buch aus einer entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Perspektive dargestellt. Ziel ist es, ein Verstehen der subjektiven inneren Welt von Kindern zu erweitern. In der Praxis der Arbeit in Krippe, Kindergarten, Schule und Hort zeigt sich dies an einem starkes Interesse am Verstehen des Kindes, einer möglichst offenen Wahrnehmung des Kindes in seinen aktuellen Beziehungen (auch der zum Pädagogen), in Wissen um bewusste und nicht bewusste Wünsche und Regulationsmechanismen von Kindern, Respekt vor der Autonomie des Kindes und einer hohen Aufmerksamkeit für Momente individuellen Unglücks und Glücks mit den sich daraus ergebenden Entwicklungs- und Reifungsmöglichkeiten.
Auf die Praxis von Krippe, Kindergarten und Grundschule wird in diesem Buch aus vielfältigen Perspektiven eingegangen. Einige Herausforderungen des pädagogischen Alltags kommen dabei auch wiederholt vor. Sie werden dann unter verschiedenen Aspekten und mit unterschiedlichen Theorien angesehen. So bietet das Buch einen begündeten Weg durch die vielfach sich überlappenden Themen und Konzepte. Die einzelnen Kapitel können aber auch je für sich gelesen werden.
Viele Menschen haben zum Entstehen dieses Buches beigetragen, nur einige können hier genannt werden. Studierenden des Studiengangs Bildung undErziehung in der Kindheit an der Fachhochschule Potsdam verdanke ich einen großen Teil der Praxisbeispiele und viele Anmerkungen, die in den Text eingegangen sind. Ihre Diskussionen über Theorien und erlebte Praxis in Seminaren und ihre Offenheit, professionelle Erlebnisse auch vor den Hintergrund persönlicher Erfahrungen zu betrachten, haben mich begeistert und angeregt. Als eine von vielen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich zu Themen dieses Buches zusammengearbeitet und diskutiert habe, möchte ich Christiane Ludwig-Körner hervorheben, die in vielfältigen Zusammenhängen auf Feinfühligkeit in elterlichen, pädagogischen und therapeutischen Interaktionen hingewiesen hat. Etwas von den offenen Diskussionen bei der Entstehung dieses Buches und den engen Verbindungen zwischen Praxiserfahrungen und Theorie hoffe ich den Leserinnen und Lesern dieses Buches weiterzugeben.
Potsdam und Göttingen
Hermann Staats
Ist es möglich, Feinfühligkeit im Ungang mit Kindern zu lehren oder zu fördern? Manche erfahrene Pädagoginnen und Pädagogen antworten hier mit einem entschiedenen »Nein«: Da sei nicht viel zu fördern. Feinfühligkeit sei einem Menschen in die Wiege gelegt – oder zumindest in den ersten Monaten und Jahren dort mehr oder weniger gut entwickelt worden. Wenn wir daher feinfühlige Pädagoginnen und Pädagogen – oder feinfühlige Therapeutinnen und Therapeuten – wollen, müssen wir sie vor allem gut auswählen. Und tatsächlich gibt es aktuelle Befunde, die diese Position unterstützen.
Sarina Rodrigues, eine amerikanische Neurobiologin, empfiehlt: Erhöhe deinen Oxytocin-Spiegel! Oxytocin ist ein natürliches, die Wehen anregendes Hormon. Es hat nicht nur eine Wirkung auf die Muskulatur der Gebärmutter, es wirkt auch auf das Gehirn. Dort verstärkt es die Bindung zum Kind – und unspezifisch auch Bindungen zu anderen Menschen. Es ist kein Zufall, dass viele Frauen Freundschaften entwickeln zu den Frauen, die mit ihnen geboren haben, mit denen sie um die Zeit der Geburt und der maximalen Ausschüttung von Oxytocin in einem Zimmer gelegen haben. Oxytocin erhöht auch die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, ihre Gefühle zu verstehen und ihnen gegenüber großzügig zu sein.
Sarina Rodrigues und andere haben zeigen können, dass es genetische Unterschiede zwischen den Menschen in Hinsicht auf die Empfindlichkeit für Oxytocin gibt – die Rezeptoren für Oxytocin sind individuell unterschiedlich. Ein Rezeptor besteht aus zwei Teilen. Je einer dieser Teile wird von der Mutter und vom Vater geerbt. Pädagoginnen und Pädagogen – und die Kinder, mit denen sie arbeiten – haben entweder einen wenig empfindlichen Rezeptor (Mutter wenig empfindlich und Vater wenig empfindlich, AA), einen für Oxytocin ziemlich empfindlichen Rezeptor (einer der Elternteile bringt einen empfindlichen, einer einen weniger empfindlichen Teil mit, GA oder AG) oder einen für Oxytocin sehr empfindlichen Rezeptor mit zwei empfindlichen Teilen (je einen von der Mutter und vom Vater, GG).
Ein interessanter Punkt dieser Unterscheidung ist folgender: Menschen mit GG-Rezeptoren sind im Durchschnitt deutlich einfühlsamer und widerstandsfähiger gegen Stress als Menschen mit AA- oder GA-Rezeptoren. Oxytocin schützt also vor Stress – Bindungen schützen vor Stress und seinen krank machenden Folgen. Hier haben wir einen Hinweis auf die biologische Vermittlung dieses Effekts (Rodrigues et al. 2009).
Für Feinfühligkeit und Stressresistenz – und das sind wichtige Kriterien für ein Arbeiten mit Kindern – gibt es also biologische Grundlagen und angeborene Unterschiede.
Um ein solches Ergebnis über Fachzeitschriften hinaus auch populärwisssenschaftlich bekannt zu machen, braucht es noch eine persönliche Anekdote, eine »Erzählung« – zur Bedeutung solcher »Erzählungen siehe Kapitel 8. Und diese Erzählung finden wir auch: Die Leiterin dieses Forschungsprojekts war selbst nicht in der Gruppe derer, die genetisch als feinfühlig bestimmt wurden. Sie betrachtet sich aber als feinfühlig – und weist darauf hin, dass auch die ersten Lebensjahre eines Kindes Einfluss auf die Feinfühligkeit und die Stressresistenz haben – eine ausreichend feinfühlige Bemutterung also.
Es scheint also so, als werde Feinfühligkeit – wie möglicherweise andere Persönlichkeitsvariablen auch – einem Menschen teilweise »in die Wiege gelegt« und zu einem weiteren Teil in den ersten Lebensjahren durch die wichtigen Betreuungspersonen vermittelt. Dieser Teil der Entwicklung von Feinfühligkeit ist uns am stärksten vertraut. Mary Ainsworth, eine wichtige Vertreterin der Bindungstheorie, hat den Begriff der Feinfühligkeit vor allem als »mütterliche Feinfühligkeit« bekannt gemacht (z. B. Ainsworth 2003). Sie steht in einer psychoanalytischen Forschungstradititon, in der die feinfühlige Verschränkung von Mutter und ihrem kleinen Kind früh beobachtet und beschrieben wurde. Der Kinderarzt und Psychoanalytiker Winnicott beschrieb diese besondere feinfühlige Einstellung von Müttern gegenüber ihren kleinen Kindern 1952 humorvoll als eine Art »Krankheit«, von der sich die Mutter glücklicherweise mit dem Älterwerden ihres Kindes auch wieder erhole (Winnicott 1974). Daniel Stern prägte dazu den Begriff der »Mutterschaftskonstellation« – einer besonderen Einstellung der Mutter gegenüber ihrem Kind, die Feinfühligkeit fördert, und von der auch Väter kleiner Kinder betroffen sind. Feinfühlig werden bedeutet dann, als Bindungsperson Signale des Kindes richtig interpetieren zu lernen und prompt und angemessen auf sie zu reagieren. Wenn das glückt, entstehen veränderungswirksame Begegnungen, »now-moments« oder moments of Meeting« (Stern, 2007). Aus evolutionsbiologischer Sicht beschreibt Sarah Blaffer Hrdy (2010) in ihrem Buch Mütter und Andere, wie notwendig für die kulturelle menschliche Entwicklung die Erweiterung »mütterlich« feinfühligen Verhaltens über die Beziehung zwischen biologischer Mutter und ihrem Kind hinaus gewesen ist. Sie spricht von stellvertretenden »Müttern« und Vätern, die für die Entwicklung eines Kindes notwendig sind. Einfühlungsvermögen und Empathie sind nicht auf den engen Bereich der Familie beschränkt. Als soziale Kompetenzen weisen sie viele Verbindungen zum Begriff der Feinfühligkeit auf, beziehen sich aber stärker auf andere Handlungs- und Forschungsfelder.
In diesem Buch werden zunächst die Grundlagen für eine Entwicklung feinfühliger Beziehungen in den ersten Lebensjahren eines Kindes aufgegriffen (Kapitel 2 bis 7). Hier wird beschrieben, wie sich eine ausreichend feinfühlige Beziehung zwischen Eltern und Kind in der weiteren Entwicklung bemerkbar macht. Unser Wissen über Beziehungen ist uns zum weit überwiegenden Teil nicht bewusst – wir »können das«, ohne es erklärend zu verstehen (Kapitel 2 und 3). In der Bindungstheorie und der Kinderbeobachtung wird als Folge ausreichend feinfühligen elterlichen Verhaltens die Entwicklung einer sicheren Bindungsbeziehung beschrieben, eines nicht bewussten Musters des in Beziehung seins. Dieses Muster erleichtert das Erlernen der Fähigkeit zu »mentalisieren« oder zu »triangulieren« (Kapitel 4 und 6).
Was ist damit gemeint? Mentalisierung ist die Fähigkeit, implizit und explizit eigene Handlungen und die anderer Menschen als sinnhaft auf der Basis von individuellen Wünschen, Bedürfnissen, Gefühlen und Überzeugungen zu verstehen – sich selbst »von außen« und andere aus deren Perspektive »von innen« zu sehen, damit »Missverstehen zu verstehen« und einen dritten, beiden verbundenen Standpunkt einzunehmen. Die Fähigkeit, gut mentalisieren zu können, wird mit Feinfühligkeit der Eltern in einen Zusammenhang gebracht.
Sir Peter Fonagy, der heute bekannteste und von der englischen Königin in den Adelsstand erhobene Bindungsforscher und Psychoanalytiker, beschreibt die Fähigkeit von Eltern, ihr Erleben in einer bestimmten Weise reflektieren zu können, als eine zentrale Ressource der Entwicklung von Kindern (z. B. Fonagy/Gergely/Jurist/Target 2002). Eine sichere Bindung (Kapitel 6) unterstützt Kinder dabei, diese Art der Reflexion angstfrei zu lernen. Innerhalb einer sicheren Bindung macht es Spaß, den anderen und sein Denken spielerisch und intensiv zu erkunden. Dieses Sicherheitsgefühl färbt die Umwelt eines Kindes so ein, dass es sich in Beziehung mit Mutter, Vater und Erzieherin aufmerksam betrachten kann. Eine sichere Bindung hilft beim Erwerben einer Triangulierungskompetenz, oder, wie Fonagy sagen würde, der Fähigkeit, über sich selbst in Beziehung zu anderen nachzudenken, zu »mentalisieren«. Diese Fähigkeit ist für die spätere Bewältigung von Konflikten von entscheidender Bedeutung. Sie wird idealtypisch bereits im ersten Lebensjahr durch die triadische Kompetenz von Eltern gefördert.
In Ein-Eltern-Familien werden bei der Förderung der Triangulierungsfähigkeit besondere Anforderungen an Mutter und Kind gestellt. Es braucht hier einen wichtigen Dritten, der zu Mutter und Kind eine Beziehung hat, so dass die Mutter sagen kann: »Ich würde dir das ja nicht erlauben, weil ich das zu gefährlich finde. Aber ich weiß, wenn Vater (oder Tante oder die Erzieherin aus der Kita) jetzt da wäre, die würde das erlauben. Also, Kind: ich bin einverstanden, Du darfst das machen. Sei vorsichtig!«
Triangulierungskompetenz und Mentalisierung bleiben in der Regel störanfällig. Die Fähigkeit, feinfühlig zu reagieren, ist kein feststehendes Persönlichkeitsmerkmal. Sie hängt von inneren emotionalen Zuständen und von äußeren Faktoren ab (Kapitel 7 und 8), und sie kann verloren gehen. Ein Verlust eigentlich vorhandener Fähigkeiten – etwa in einem Streit – ist ein häufiges Phänomen. Kinder und Erwachsene sind dann darauf angewiesen, dass ihr Gegenüber diese Einschränkung feinfühlig wahrnimmt und in seinem Verhalten berücksichtigt. Für Psychotherapeuten stehen hier eigene entwicklungspsychologisch begründete Methoden zur Verfügung, mit denen Triangulierung und Mentalisierung wieder gefördert werden können: die Psychoanalytisch-interaktionelle Methode PIM, die qua Konzept eine elterlich-entwicklungsfördernde Beziehung anbietet (Heigl-Evers/Heigl 1994, Staats 2009, Streeck/Leichsenring 2009), und die Mentalisierungsgestützte Therapie MBT (Bateman/Fonagy 2004, Schultz-Venrath, 2013, Taubner 2015). Einige dieser Konzepte sind im pädagogischen Bereich umgesetzt worden, zum Beispiel in den Erziehungsratgebern von Jesper Juul, Programmen zur Arbeit mit alleinerziehenden Eltern in Kitas (WIR 2) oder zur Arbeit mit jugendlichen Straftätern (DENKZEIT).
Für die Entwicklung in den ersten Lebensmonaten und Jahren wird zusammenfassend angenommen, dass biologische Grundlagen (die »richtigen« Rezeptoren), eine sichere Bindung, feinfühlige Eltern und eine mit Mutter und Vater gelingende Triangulation positive Merkmale für Feinfühligkeit sind – und dass sie sich gut auf die Beziehungsfähigkeit zu Kindern auswirkt. Ist also die anfängliche Aussage, Feinfühligkeit sei »in die Wiege gelegt oder doch dort in den ersten Monaten geprägt« so zu verstehen, dass Pädagoginnen und Pädagogen eine gute Kindheit haben sollten? Ist dieses Merkmal für eine Auswahl von zukünftigen Pädagoginnen und Pädagogen wichtig?
Glücklicherweise ist das nicht so determiniert. Untersuchungen an Psychotherapeuten zeigen, dass sich der eigene Bindungsstil wenig oder sehr unterschiedlich auf die therapeutischen Fähigkeiten auswirkt. Auch für Pädagoginnen und Pädagogen scheint sich eher die Fähigkeit, in der professionellen Arbeit mentalisieren zu können, auf ein feinfühliges Verhalten auszuwirken. Diese Fähigkeit kann gelernt und erarbeitet werden. Sie ist damit verbunden, sich einen Teil des bisher selbstverständlichen und nicht hinterfragten Wissen zu Beziehungen bewusst zu machen – und damit freier von dem eigenen früher Erlebten zu werden, zumindest im Bereich der professionellen Arbeit.
Spielt also das Lernen professioneller Kompetenzen im Leben, das Studium und die Ausbildung doch eine Rolle? Nutzt der Erwerb von Wissen, auch wenn wir sehen, dass Biologie und Mentalisierungsfähigkeit/Triangulierung so viel zur Feinfühligkeit beitragen? Wie theoretisch Gelerntes in eine überdauernde Einstellung und »professionelle Haltung« übergeht und sich dann in der Praxis vermittelt und dort umgesetzt werden kann, wird in den Kapiteln 8 bis 11 dargestellt. Auch zu dieser Frage soll zunächst ein provokativ wirkendes Forschungsergebnis beschrieben werden.
»Die Ausbildung von Vorschullehrern hat anscheinend nur wenig Einfluss darauf, wie viel ihre Schützlinge lernen. … Selbst wenn sich die Lehrer während des Studiums mit der frühkindlichen Entwicklung befasst hatten, änderte das nichts am Lernerfolg der Kinder.«
Diese kurze Notiz fasst eine Metaanalyse (Early u. a., 2007) zusammen, die Ergebnisse aus sieben verschiedenen Programmen zur Förderung von Kindern vor Eintritt in den Kindergarten sammelt, alle aus den USA. Die in die Analyse einbezogenen sieben Studien sind mit zusammen annähernd 7500 untersuchten Kindern umfangreich. Verglichen wurden die mathematischen und sprachlichen Leistungen der Kinder und die Qualität der Gruppenarbeit. Untersucht wurden Betreuerinnen ohne Abschluss, mit einem Fachschulabschluss und mit einem Hochschulabschluss als Bachelor oder Master – dieser allerdings unabhängig von der Art des Fachs.
Die Ergebnisse gaben keinen klaren Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung von Erzieherinnen und dem Lernerfolg der Kinder oder der Qualität des Lernens in der Gruppe. Zwei Studien zeigten, dass die Arbeitsatmosphäre und die Leistungen der Kinder besser waren, wenn die Erzieherinnen einen Bachelor- oder Masterabschluss hatten; eine Studie zeigte, dass gerade dann die Ergebnisse schlechter waren. Vier Studien zeigten keine Zusammenhänge. Der schnelle und vermutlich falsche Schluss könnte sein, dass es nicht viel ausmacht, was jemand gelernt hat. Kann »jeder« kleine Kinder betreuen?
Die Autoren kommen zu dem Schluss, ihr Ergebnis zeige etwas von der derzeitigen Realität des Arbeitsfeldes Frühpädagogik. Sie diskutieren die folgenden Überlegungen:
– Die Inhalte der Ausbildung von Frühpädagoginnen könnten unangemessen sein. Wird in der Ausbildung in den USA zu sehr auf die Fachdidaktik und zu wenig auf Kompetenzen in der Gestaltung von Beziehungen geachtet? Fehlen Seminare, in denen theoretisches Wissen mit eigenen Erfahrungen von Pädagoginnen und Pädagogen verknüpft wird?
– Die Unterstützung der Pädagoginnen könnte unzureichend sein. Feinfühligkeit von Eltern ist abhängig von der Unterstützung, die sie erfahren. Das wird auch bei Pädagoginnen so sein. Sie brauchen Unterstützung bei der Umsetzung dessen, was sie an der Hochschule und in der Ausbildung gelernt haben.
Zu den Auswirkungen eines Studiums der Frühpädagogik auf die Feinfühligkeit in Interaktionen mit Kindern gibt es Ergebnisse aus einer kleinen Studie, der Bachelorarbeit einer Frühpädagogin (Badock 2008). Sie verglich die Feinfühligkeit von Studierenden eines auf Feinfühligkeit Wert legenden Studiengangs Bildung und Erziehung in der Kindheit an einer Fachhochschule mit der von Erzieherinnen in Ausbildung an einer Fachschule. Hat ein umfangreicheres Studium der kindlichen Entwicklung und der Bedeutung von Feinfühligkeit und Einfühlungsvermögen Auswirkungen auf die Feinfühligkeit der Studierenden?
Untersucht wurden zunächst die Selbstbeurteilungen der eigenen Feinfühligkeit: Hier beurteilten sich die Studierenden an der Fachhochschule als deutlich weniger feinfühlig als dies die Fachschülerinnen für sich taten. Umgekehrt war das Ergebnis der Beurteilung einer experimentellen Prüfungssituation von Feinfühligkeit durch Beobachter. In diesem Test zeigten sich die Studierenden feinfühliger als die Fachschülerinnen.
Zunehmendes Wissen über Feinfühligkeit scheint also zunächst selbstkritischer zu machen: Die Studierenden wissen oder haben ein Gespür für das, was sie nicht wissen oder was ihnen nicht gut gelingt. Das ist eine wichtige Grundlage für Feinfühligkeit in Interaktionen: nicht schon zu wissen, wie der andere denkt und fühlt oder wie etwas »richtig« ist, sondern »unsicher« sein zu können. Kann man Feinfühligkeit fördern durch ein Verstehen der Entwicklung des Kindes? Wissen um alterspezifische Fähigkeiten, Entwicklungsaufgaben und Konflikte hilft. Es öffnet die Augen für das, was wir zu dem Erleben eines individuellen Kindes noch nicht wissen. Dieses Wissen kann aber erst dann gut für eine feine Einfühlung genutzt werden, wenn Erfahrungen mit dem eigenen Erleben als Kind dazu kommen, um Kinder aus deren Perspektive verstehen zu lernen. Hierzu gibt es spezifische Seminare, die kindliches Erleben erfahr- und spürbar machen (Paulina Kernberg u. a. 1975, Sarrar/Staats 2012). Wir sind uns nicht sicher, ob wir mit diesen Seminaren Feinfühligkeit tatsächlich fördern – oder ob es uns nur gelingt, die Feinfühligkeit von Teilnehmerinnen und Teilnehmern in einem professionellen Kontext möglichst gut zur Geltung zu bringen und dabei zu helfen, diese auch in belastenden Situationen aufrechtzuerhalten. Das ist schon viel.
Entwicklungspsychologisches implizites und explizites Wissen, eine im guten Sinne professionelle Haltung, die Fähigkeit zu mentalisieren, Unterstützung durch andere, die Abwesenheit von Angst: All dies fördert – über Oxytocin und andere Mechanismen – Feinfühligkeit. Es ist gut möglich, dass Ihnen beim Lesen dieses Buches eigene Erfahrungen aus der Praxis oder der eigenen Lebensgeschichte in den Sinn kommen. Für die Entwicklung von Feinfühligkeit ist das wünschenswert. Die Verbindung des theoretisch Gelernten mit einer Reflexion eigener Erfahrungen und der Praxis beim Lesen ist hilfreich – diskutieren Sie eigene Einfälle und Gedanken auch mit anderen und versuchen Sie, sich möglichst gute Bedingungen für ein feinfühliges und verstehendes Handeln zu schaffen.
Warum sind Konzepte der psychoanalytisch orientierten Entwicklungspsychologie über den Bereich der Therapie und Beratung hinaus in der Pädagogik von Interesse? In beiden Gebieten gibt es Versuche, neutral und objektiv aus einer distanzierten Position heraus andere Menschen zu beschreiben und zu beurteilen. Zugleich besteht der Anspruch, empathisch deren Sichtweise nachzuvollziehen und zu verstehen. Die Kluft zwischen einem beschreibend kategorisierenden und bewertenden sowie einem verstehenden Ansatz durchzieht die pädagogische und sozialpädagogische Arbeit. Sie ist auch in Medizin und Psychotherapie von Bedeutung.
Psychoanalytische Konzepte – das Unbewusste, Konflikte und Strukturen, Übertragungen, Abwehrmechanismen, u. a. – tragen zu einem Überwinden dieser Kluft bei. Sie werden im Folgenden an Alltagsphänomenen und Beispielen aus der pädagogischen Praxis eingeführt und auf die besonderen Bedingungen dieser Arbeit bezogen. Die verschiedenen psychologischen Modelle, die in der Psychoanalyse verwendet werden – Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie und Bindungstheorie – sollen ihre jeweiligen Vorzüge ins Spiel bringen können und zu einem Verständnis professioneller Beziehungen in der Pädagogik beitragen. Sie können dabei helfen, feinfühlig zu handeln – im pädagogischen Alltag und im Umgang mit »schwierigen« Kindern und Eltern, mit Ämtern, Therapeutinnen und Therapeuten.
»… vielleicht gelingt es im einfachen Gespräche« (Sigmund Freud, 1895)
Ein Mann wird auf einer Berghütte in den Alpen von einer jungen Frau angesprochen, die dort bedient. Sie hat im Gästebuch gelesen, dass es sich bei dem Besucher um einen Arzt handelt. Mit der Hoffnung, von ihm Hilfe zu bekommen, schildert sie ihm ihre Angst und deren körperliche Ausdrucksformen. Der junge Arzt, Sigmund Freud, spricht mit ihr. Detektivisch löst er ihren Fall und veröffentlicht die aus dieser Begegnung entstehende Fallgeschichte später unter dem Titel Katharina.
Die kurze Geschichte dieser Begegnung wird oft genutzt, um erste theoretische Grundlagen eines psychoanalytisch orientierten (kurz: »psychodynamischen«)Verstehens plastisch zu beschreiben:
– die Annahme von Kausalität in den Erzählungen eines Menschen;
– die Hypothese, dass aktuelle Verhaltensweisen und Symptome mit der Verarbeitung vergangener Erfahrungen zusammenhängen – wenn ein Mensch in seiner Kindheit keine feste Bezugsperson hatte, sondern stets in seinen Bindungswünschen enttäuscht wurde, wird er gefährdeter sein, auch im Erwachsenenalter unter Beziehungs- und Verlustängsten zu leiden;
– das Konzept des Unbewussten – eines Wissens, auf das Menschen nicht aktiv zugreifen können und das ihr Erleben und Verhalten beeinflusst;
– das Erleben von Widerstand gegen ein Erinnern schmerzhafter oder schambesetzter Erfahrungen. Ein Erzieher, der ungerecht ist, dies aber nicht wahrhaben will, wird sich unwohl fühlen und möglicherweise für andere unangenehm reagieren, wenn ihm Ungerechtigkeit vorgeworfen wird;
– die Unterscheidung von primärem und sekundärem »Krankheitsgewinn«. Der primäre Gewinn eines Symptoms besteht in dem Vermeiden schmerzhafter oder unlustvoller Erfahrungen; er ist in aller Regel nicht bewusst: Eine Erzieherin »übersieht« das Leid eines Kindes, das sie an eigene Erfahrungen erinnert. Dies ist aber in der Regel anstrengend. Der »sekundäre Krankheitsgewinn« eines Verhaltens besteht dagegen in den äußeren Vorteilen, die ein Mensch aus bestehenden Symptomen ziehen kann: etwa einem Zugewinn an Aufmerksamkeit und Beachtung durch andere oder der Möglichkeit, wegen beruflicher Überlastung und Erkrankung im Bett bleiben zu können oder eine Rente zu erhalten;
– die Idee, dass Menschen in einem »freien Assoziieren«, einem Erzählen ohne äußere Vorgaben, gerade das einfallen wird, was zur Aufklärung der sie aktuell beschäftigenden Situation notwendig ist. Diese Entdeckung ermöglicht gemeinsam mit dem Konzept des Unbewussten ein erstes Umgehen mit Widerstand; und – noch nicht explizit – mit Übertragungen und der Reinszenierung von Erfahrungen in therapeutisch wirksamen Begegnungen.
Als theoretische Grundlagen psychodynamischer (mit Konzepten der Psychoanalyse arbeitenden) Therapien sind diese Konzepte wiederholt überarbeitet und erweitert worden. Sie sind vielfach in das Allgemeinwissen eingegangen und nicht mehr auf therapeutisches Fachwissen beschränkt. Die Fallgeschichte Katharina hat neben ihrem didaktischen und literarischen Wert aber noch einen weiteren interessanten Aspekt – Freuds Hoffnung, »vielleicht gelingt es im einfachen Gespräche«. Einfaches Gespräch und therapeutische Intervention gehen hier ineinander über. Die große äußere Ähnlichkeit zwischen einem guten Gespräch und einer gelungenen beratenden, pädagogischen oder therapeutischen Intervention macht psychodynamisches Denken vielseitig und flexibel einsetzbar. Beratung, Therapie und Pädagogik unterscheiden sich in ihren Zielen und Vorgehensweisen. Sie alle teilen aber als wesentliches Merkmal eine reflektierte und konzeptuell begründete Umgehensweise mit dem Wort – und mit der Beziehung. So können sie voneinander lernen.
Die Haltung eines Pädagogen oder Therapeuten (die Art und Weise, wie er oder sie andere Menschen aus seiner professionellen Rolle heraus wahrnimmt, beurteilt und mit seinem Verhalten auf sie reagiert) spielt bei der Interaktion eine wichtige Rolle. Idealtypisch gehört zu dieser Haltung ein kognitives und emotionales Wissen um die Kraft unbewusster Verhaltensmuster; aus einem solchen Wissen folgt eine Toleranz gegenüber dem eigenen »Nichtwissen«, eine weniger schnelle Bewertung im Sinne eines Richtig oder Falsch und eine neugierige Suche nach den – ehemals oder noch immer – sinnvollen Elementen eines solchen Musters. Eine solche Haltung, bei der die Pädagogin es nicht schon (besser) weiß, sondern sich für den individuellen Menschen mit seiner Geschichte interessiert, hält die Arbeit interessant und befriedigend. Sie steht zugleich im Gegensatz zu einer nur beschreibenden, Abweichungen vom idealtypisch Normalen etwa nur unter Leistungs- oder Störungsgesichtspunkten klassifizierenden Sichtweise.
Etwas nicht schon zu wissen, sich aber zu interessieren, erfordert die Fähigkeit, mit eigener Unsicherheit gut umgehen zu können – eine Kompetenz, die als Ambiguitätstoleranz beschrieben wird. Ambiguitätstoleranz erleichtert es, feinfühlig zu reagieren – und auch, die eigene Reaktion dann später zu überprüfen und zu verändern. So können Missverständnisse gemeinsam »repariert« und ein für das Lernen wichtiges Vertrauen in den anderen (Epistemischen Vertrauen, siehe Kapitel 6.6) gefördert werden.
▶ BEISPIEL
In der Weihnachtszeit übt eine Erzieherin mit den Kindern Lieder und Gedichte ein. Ilhan und Jusuf, Zwillinge und beide drei Jahre alt, sitzen mit den anderen Kindern im Kreis, singen jedoch nicht mit, sondern unterhalten sich angeregt auf Türkisch miteinander. Die Erzieherin reagiert wütend und schickt die beiden ohne große Vorwarnung in ein anderes Zimmer. Sie begründet ihr Verhalten einer Praktikantin gegenüber damit, dass die beiden ja nie mitmachen würden und nur stören wollten.
Die Praktikantin beobachtet die Situation in den folgenden Wochen und stellt fest, dass die Bemühungen der beiden Jungen häufig übergangen werden. So sitzen die beiden Jungen neben ihr und versuchen mitzusingen. Jusuf wird dabei von einem anderen Jungen geärgert und versucht sich zu wehren. Die Erzieherin sieht aber, dass Jusuf »stört«, setzt ihn weg von den anderen Kindern und bestraft ihn damit, dass er nicht mitsingen darf.
Im Erleben der Erzieherin stecken die beiden Jungen »immer unter einer Decke« und »wollen nie an Angeboten teilnehmen«. Sie gibt sich mit der Zuschreibung des Motivs »nicht wollen« zufrieden und überfordert damit die Kinder. Die Praktikantin vermutet, dass es den beiden noch schwerfällt mitzusingen, weil sie Probleme haben, die deutsche Sprache zu verstehen. Innerhalb ihrer Familie sprechen sie nur Türkisch; sie sind daher auch im Kindergarten meist nur unter sich.
▶ BEISPIEL
»Im Schwimmunterricht kam vor einigen Wochen eine Mutter zu mir und fragte mich, ob es denn immer so sei, dass ich mit den Kindern allein im Wasser bin und die Kinder keine Schwimmflügel tragen. Am Anfang wusste ich nicht so recht, was ich sagen sollte. So etwas hatte mich noch keine Mutter gefragt. Ich war kurz davor zu sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss und ihre Tochter hier gut aufgehoben sei, aber das tat ich nicht. Ich merkte, dass sie sehr ängstlich war und sich Sorgen machte. Genau das habe ich ihr dann auch gesagt. Ich erklärte ihr unser Konzept genauer und meinte, dass ich sie gut verstehen kann. Ich war überrascht, wie gut sie das Gesagte angenommen hat, und merkte, wie sich ihre Sorgen etwas verringerten.«
FRAGE
Wie können Sie vermeiden, ein Kind oder seine Eltern rasch in eine Kategorie einzuordnen wie beispielsweise »der stört eh immer, der ist unser Störenfried«?
»Das Bewusstsein ist eine ganz kleine Funktionsinsel im riesigen Ozean des Unbewussten.« (Gerhard Roth, Hirnforscher)
Die Annahme, dass unbewusste Vorstellungen das Erleben und Verhalten eines Menschen bestimmen, ist vielfach und für ein großes Spektrum von Bereichen belegt. Das Bild eines Eisbergs, bei dem der sichtbare Teil dem bewussten, der große, unter Wassser liegende Teil dem unbewussten Erleben und Verhalten zugeordnet wird, hat sich durch aktuelle neurobiologische Befunde bestätigt. Dennoch erscheint eine solche Vorstellung den meisten Menschen zunächst wenig plausibel. Wir gehen davon aus, dass unsere Handlungen in der Regel auf mehr oder weniger vernünftigen Überlegungen beruhen, dass sie zielgerichtet und rational sind. Erst mit Nachdenken sind wir bereit, in bestimmten Bereichen unseres Lebens oder im Leben anderer Menschen unbewusste Motive zu akzeptieren. Verhalten und Erleben wirken dann zunächst irrational; aus einer Perspektive der Fremdbeobachtung, aus der heraus nicht bewusste Motive angenommen werden, wirkt das Verhalten dann wieder schlüssig. Die Annahme, selbst nicht »Herr im eigenen Haus« zu sein, hat etwas Kränkendes und vielleicht sogar Beängstigendes. Sie bleibt ein Stein des Anstoßes.
▶ BEISPIEL
Herr P. möchte seine Bachelor-Arbeit schreiben. Nach dem mehrwöchig durchgeführten Experiment, auf das er sich bei seiner Arbeit beziehen möchte, beginnt er in einem Nebenjob zu arbeiten, der bald seine volle Zeit in Anspruch nimmt. Auf die Frage, warum er so viel arbeite, antwortet er, er brauche Geld, um sich sein Studium zu finanzieren. Nach einem Jahr arbeitet Herr P. immer noch »nebenbei«, statt sich seiner Bachelor-Arbeit zu widmen. Seine Freundin stellt ihn zur Rede, denn sie kann nicht verstehen, warum er die Arbeit immer weiter aufschiebt. Geld habe er in der Zwischenzeit mehr als genug verdient. In einem langen Gespräch finden sie gemeinsam heraus, dass er die Bachelor-Arbeit bis jetzt nicht zu Ende geschrieben hat, weil er Angst hat, keine Anstellung in dem gewünschten Berufsbereich zu bekommen. Nach diesem Gespräch sucht Herr P. das Gespräch mit einigen seiner Dozenten und nimmt die Arbeit an der Bachelor-Arbeit wieder auf. Der jetzt bewussten Angst (»keine Arbeit zu bekommen« und den relativ sicheren Status als Student zu verlieren) kann er bewusst gegensteuern. Die Tatsache, dass er aus ihm damals nicht klaren (»bewussten«) Motiven seine Arbeit aufgeschoben hat – und dass ein Gegenüber aus der Außenperspektive dies zunächst erkennen musste – ist ihm ein wenig peinlich.
Die Idee eines Unbewussten ist zunächst in der Philosophie konzeptualisiert worden. Mit der Entwicklung der Hypnose als Mittel der Behandlung Kranker wurden unbewusste psychische Vorgänge beobachtbar und Objekt psychologischer und medizinischer Theorie.
Anfangs noch im Zusammenhang mit Störungsbildern wurde die Bedeutung unbewusster Prozesse bald im Alltagsleben gesunder Menschen deutlich. Provokativ formulieren einige Neurowissenschaftler heute, dass die Vorstellung eines auf freiem Willen beruhenden rationalen Handelns eine Illusion sei: Der Beginn eines Handlungsimpulses lässt sich im Gehirn als Veränderung eines elektrischen Potenzials beobachten, bevor er die Großhirnrinde erreicht und als aktives Wollen wahrgenommen wird. Eine Handlung wird, so zeigen diese Versuche und weitere Experimente, in Teilen des Gehirns eingeleitet, die einem bewusstem Denken nicht zugänglich sind. Sie wird dann nachträglich, schon »im Vollzug«, in der Großhirnrinde wahrgenommen und als »gewollt« kategorisiert.
Ist es also nur eine Illusion, sein Leben selbst mit freiem Willen bewusst gestalten zu können? Der größte Teil (Schätzungen gehen von 90 % aus) der Informationen, die wir aufnehmen, werden nicht bewusst und beeinflussen doch unser Erleben und Verhalten (Beispiel: Wir lernen die Regeln unserer Muttersprache nebenbei und unbewusst und setzen sie später richtig zur Verständigung ein – ohne dass wir komplexere Regeln der Grammatik erklären können). Freud verglich vor diesem Hintergrund das menschliche Bewusstsein mit einem im Wasser treibenden Eisberg. 10–20 % sind über Wasser, d. h. bewusst, und 80–90 % unter der Wasseroberfläche, also unbewusst (z. B. implizite Beziehungserfahrungen mit Wünschen, Ängsten und Konflikten).