Feuerlilie. Asche spendet Leben - Liza Grimm - E-Book

Feuerlilie. Asche spendet Leben E-Book

Liza Grimm

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Beschreibung

Es geht weiter: Bestsellerautorin Liza Grimm nimmt uns in »Feuerlilie. Asche spendet Leben« erneut mit in die mächtige Welt der Elementarmagie! Freut euch auf die epische High Fantasy-Fortsetzung von »Eislotus. Wasser findet seinen Weg« mit tödlichen Wettkämpfen, politischen Intrigen und magischen Seelenbüchern. »Die Tribute von Panem« trifft auf »Avatar – Der Herr der Elemente« in einem Wirbel aus Elementen. In Naras Welt wirken Menschen Elementarmagie, indem sie ihre Seelen an Bücher binden. Doch diese geheimnisvolle Technik beherrschen lediglich die Buchbinder. Um den Frieden zu wahren, gibt es jeden Zyklus einen großen Wettkampf, der entscheidet, wer die Buchbinder für einen Zyklus sein Eigen nennen darf. Nara möchte ihre Heimat im ewigen Eis retten und stellt sich deshalb dem Auswahlverfahren der Akademie als Elementgesandte des Wassers. Doch je länger Nara dort ist, desto stärker werden ihre Zweifel. Der Verrat ihrer einstigen Freundin hat sie zutiefst erschüttert. Wie soll sie den Menschen vertrauen, die von sich behaupten, die Guten zu sein? Bald gerät Nara in einen Sog aus verdrehten Geschichten und es fällt ihr immer schwerer, Wahrheit und Lügen zu unterscheiden. Während sie an allem zweifelt, nimmt die Jagd auf ihr Seelenbuch kein Ende. Irgendjemand möchte ausgerechnet Naras Buch in seine Gewalt bringen und geht dafür bis zum Äußersten. Gefangen in einem Netz aus Lügen, Intrigen und Verrat muss Nara entscheiden, wem sie noch vertrauen kann. Doch die wahre Gefahr lauert wie ein Schatten in der Vergangenheit und droht, ihre Zukunft für immer zu vernichten ...  Mitreißende High Fantasy um magische Bücher und die Macht von Wasser, Feuer, Erde und Luft Entdecke auch Liza Grimms Fantasy-Bestseller »Talus« und ihre anderen magischen Geschichten: - Eislotus. Wasser findet seinen Weg - Die Bücher der Macht 1 - Feuerlilie. Asche spendet Leben - Die Bücher der Macht 2 - Talus – Die Hexen von Edinburgh - Talus – Die Magie des Würfels - Talus – Die Runen der Macht - Talus – Pen & Paper in der magischen Welt von Talus - Die Götter von Asgard (Romantasy mit nordischer Mythologie) - Die Helden von Midgard (Romantasy mit nordischer Mythologie) - Hinter den Spiegeln so kalt (schauriges Fantasy-Märchen, inspiriert von »Die Schneekönigin«) - Unfollow me. Vom Fluch gezeichnet, von Liebe verfolgt (romantische Fantasy meets Manga)

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Seitenzahl: 508

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Liza Grimm

Feuerlilie

Asche spendet Leben

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

In Naras Welt wirken Menschen Elementarmagie, indem sie ihre Seelen an Bücher binden. Doch diese geheimnisvolle Technik beherrschen lediglich die Buchbinder. Um den Frieden zu wahren, gibt es jeden Zyklus einen großen Wettkampf, der entscheidet, wer die Buchbinder für einen Zyklus sein Eigen nennen darf. Nara möchte ihre Heimat im ewigen Eis retten und stellt sich deshalb dem Auswahlverfahren der Akademie als Elementgesandte des Wassers.

Doch je länger Nara dort ist, desto stärker werden ihre Zweifel. Bald gerät sie in einen Sog aus Verrat und Lügen. Während sie nach der Wahrheit sucht, nimmt die Jagd auf ihr Seelenbuch kein Ende. Irgendjemand möchte ausgerechnet Naras Buch in seine Gewalt bringen und geht dafür bis zum Äußersten – und sogar darüber hinaus ...

Band 2 der mitreißenden High Fantasy um magische Bücher und die Macht von Wasser, Feuer, Erde und Luft

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

Danksagung

1. Kapitel

Verrat war die schärfste Klinge. Nara spürte sie in ihrem Herzen, ein kalter Stich direkt in ihrer Brust. Ein Eiszapfen, der ihre Hoffnung in tausend Teile zersplitterte. Aufgereiht standen die Elementgesandten vor der Akademie, der Wind sang in den Blättern des großen Baumes, wirbelte die bunten Bänder umher. Die Sonne thronte noch immer hoch am Himmel, ein wachsames Auge am Firmament.

Nara war sich Zerdayas Präsenz allzu bewusst, spürte ihre Nähe wie die eines Raubtieres. Ihr Verstand war ein Schneesturm, die richtigen Worte wurden hinfortgerissen, ehe sie danach greifen konnte. Auch Zerdaya schwieg, ihr Gesicht eine ausdruckslose Maske.

Vor ihnen breitete Lusanna die Arme aus, ihre bunte Kleidung wurde von einem Luftzug aufgebauscht, und für einen Moment glich der Stoff den farbenprächtigen Flügeln eines Schillervogels.

»Einige von euch haben ihre Zeit in Lort sicher schon genutzt und die Arena besucht«, begann Lusanna und maß die Elementgesandten mit abschätzenden Blicken. Dabei hoffte Nara, dass ihr Katsos Abwesenheit auffallen würde. Dass sie nach ihm fragte und Nara so die Gelegenheit bekäme, mit ihr unter vier Augen zu sprechen. Nur einen Moment, mehr brauchte sie nicht, um Lusanna zu erklären, wie gefährlich Zerdaya war.

Stattdessen schüttelte Lusanna den Kopf. »Es ist sehr schade, dass es nicht alle pünktlich hierhergeschafft haben. Wer fehlt, wird von der großen Auswahl ausgeschlossen und muss Lort beim nächsten Sonnenaufgang verlassen.«

»Aber …« Es war Pulta, die aufbegehrte. Pulta mit der perfekt sitzenden Frisur und dem kerzengeraden Rücken. Pulta mit dem unnachgiebigen Blick, mit dem sie jetzt Lusanna fixierte, obgleich alle anderen Elementgesandten die gehobene Augenbraue als Zeichen erkannt hätten, zu schweigen. Pulta sprach weiter: »Katso ist nicht hier. Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?«

Gemurmel erhob sich, und immer mehr Gesichter wandten sich Nara zu. Sie verübelte es ihnen nicht. Blut und Dreck klebten auf ihrer Haut und in ihrem Gewand, und es war offensichtlich, dass sie etwas Furchtbares erlebt hatte. Maestra kniff die Lippen zusammen, Mitleid zeichnete tiefe Falten auf ihre Stirn. Wie immer trug sie eng anliegende Kampfkleidung, das Schwert hing zuverlässig an ihrer Seite, und Nara wünschte sich, sie wäre dort gewesen, als sie angegriffen worden war.

Vielleicht wäre sie dann nicht so feige gewesen. Scham brannte in ihrem Nacken und färbte ihr Gesicht rot. Sie hatte Katso zurückgelassen, um sich selbst zu retten. War geflohen, statt nach ihm zu suchen. Es war die vernünftige Entscheidung, sagte sie sich selbst, um ihr Gewissen zu beruhigen. Wenn du dort geblieben wärst, wärst du nun tot. Oder Schlimmeres.

Die mit Bronzemasken getarnten Menschen, die sie entführt hatten, waren in ihren Absichten relativ deutlich gewesen, immerhin hatten sie Naras Seelenbuch gestohlen. Unter ihnen war auch Zerdaya gewesen, die Mondgebundene, die Nara bis zu diesem Zeitpunkt als ihre engste Freundin an der Akademie bezeichnet hatte. Der Verrat schmerzte, aber noch unerträglicher war die Angst um Katso und was sie nun ihm und seinem Seelenbuch antun würden. Nara hatte die erste Gelegenheit zur Flucht genutzt, hatte sich eingeredet, dass Katso vielleicht selbst entkommen war, um sich nicht so feige zu fühlen.

So kannst du ihm wenigstens helfen.

»Ich werde nach ihm suchen.« Maestra schritt auf die Akademie zu, den Blick starr geradeaus gerichtet. Nara widerstand dem Drang, ihr hinterherzurufen, dass sie Katso dort nicht finden würde, denn insgeheim hoffte sie noch immer, dass sie sich irrte.

Vielleicht lag er in einer Zimmerecke. Verletzt, aber lebendig. Die Zeit verstrich, und das Gemurmel der anderen Elementgesandten wurde immer aufgeregter, während Nara krampfhaft versuchte, die geflüsterten Anschuldigungen zu überhören.

»Nara.« Zerdaya beugte sich zu ihr herüber. Sofort versteifte sich Naras Körper, sie ballte die Hände zu Fäusten, ignorierte den Impuls, sie fortzustoßen. »Lass uns darüber reden.«

Mit größter Mühe zwang Nara sich dazu, ruhig zu bleiben. Sie atmete tief ein, konzentrierte sich auf die flatternden Bänder im Baum und das Gefühl ihrer Fingernägel, die sich in ihre Haut gruben, als sie die Hand zur Faust ballte.

»Nein«, erwiderte sie und erschrak insgeheim selbst darüber, wie kalt ihre Stimme klang. Nara fühlte sich wie eine Glimmerlibelle, die dem Eislotus ins Netz gegangen war. Zerdaya hatte sich ihr gegenüber so freundlich verhalten. Sich schwach gegeben. Hatte den Plan, den Nara erst vor Kurzem gefasst hatte, von Anfang an perfekt ausgeführt.

»Wie lange schon?« Etwas in Nara raunte, dass sie sich irrte und Zerdaya möglicherweise selbst Opfer einer Intrige war. Dabei blickte sie in die eisgrauen Augen, die ihr mittlerweile so vertraut waren, dass es schmerzte. Doch Zerdayas Blick hatte sich verändert, zeigte nicht mehr das liebevolle Verständnis, sondern einen Ausdruck, den Nara in diesem Gesicht nicht kannte. Eine Maske der Gleichgültigkeit.

»Von Anfang an.« Zerdayas Antwort zertrümmerte den letzten Rest Hoffnung, der sich hartnäckig in Naras Herz gekrallt hatte und eine schmerzhafte Wunde hinterließ, als er herausgerissen wurde. Zerdaya lehnte sich so nah heran, dass ihr Atem Naras Ohr kitzelte, und dennoch sprach sie so leise, dass Nara sie kaum verstand. »Du hättest an meiner Stelle dasselbe getan.«

Nara fröstelte, leichte Übelkeit stieg in ihr empor. »Niemals.«

Daraufhin bemerkte Nara aus dem Augenwinkel, wie Zerdaya leicht lächelte. »Doch, das hättest du. Ich kenne dich, Nara. Besser als du dich selbst.«

Zerdayas Überheblichkeit befeuerte Naras Wut. Niemals würde sie jemanden verraten, geschweige denn ein Seelenbuch stehlen oder jemanden entführen. Das waren grauenhafte Taten, die Nara aufs Schärfste verurteilte. Für nichts und niemanden auf der Welt würde sie ihre Prinzipien derart verraten.

»Katso ist nicht aufzufinden.« Maestras Stimme übertönte das aufgeregte Gemurmel der anderen Elementgesandten, und sofort senkte sich Stille über den Platz. Alle Blicke wandten sich Lusanna zu, selbst Zerdaya richtete sich wieder auf, und Nara war dankbar um die Distanz, die sie so zwischen sie brachte.

»Wie unerfreulich«, begann Lusanna und schüttelte den Kopf, als hätte sie gerade erfahren, dass ihre Leibspeise nicht mehr im Vorratsraum war. Es verwunderte Nara nicht, dass Lusanna sich derart eisern an den Ablauf hielt, und doch verletzte es sie, dass sie sich keine Sorgen um Katso zu machen schien. »Dennoch muss die große Auswahl stattfinden. Die Menschen Lorts warten bereits, und wir sollten es nicht länger hinauszögern.«

»Aber …« Dieses Mal wurde Pultas Ausruf ignoriert. Lusanna wandte sich um, und die Elementgesandten setzten sich in Bewegung. Manche zögerlich, doch die meisten eilten hörig hinter Lusanna her. Einzig Pulta und Nara verharrten auf dem Platz, und als die anderen bereits ein Stück voraus waren, traten sie aufeinander zu. Die Stadtwachen beäugten ihr Zögern misstrauisch. Sie umringten die Gruppe der Elementgesandten wie ein Schutzschild, ihre Speere glänzten in der Sonne.

»Los jetzt«, sagte einer von ihnen, und sofort setzten Nara und Pulta sich in Bewegung, wobei Pulta sich verschwörerisch zu ihr beugte.

»Was ist passiert?«, fragte sie. In diesem Moment wandte Zerdaya sich zu ihnen um. Sie konnte ihre Worte unmöglich gehört haben, und dennoch reichte ihr kurzer Blick, um Naras Gedankensturm zu entfachen. Wenn sie Pulta einweihte, war sie in Gefahr. Doch war sie das nicht sowieso bereits, und jede Information, die Nara ihr gab, konnte ihr Leben retten?

»Katso steckt in Schwierigkeiten«, wagte Nara sich vor. Die Prozession bog um eine Straßenecke, und die Stadtwachen hinter ihnen forderten sie auf, schneller zu laufen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.

»Wie meinst du das?«, hakte Pulta nach.

Der Puls dröhnte in Naras Ohren, und sie fixierte die bunten Gewänder der Elementgesandten, die sich durch Lorts Gassen schoben, konzentrierte sich auf die Erinnerungsfetzen, die durch ihren Geist waberten. In jedem Bild suchte sie nach einer verräterischen Bewegung, und da begriff sie, was sie zurückhielt: Misstrauen.

Sie hatte niemals gedacht, dass Zerdaya sie derart verraten würde, und jetzt wusste sie nicht, wer auf ihrer Seite stand. So aufrichtig Pulta sich auch gab … Es konnte eine Falle sein.

»Nara?«, raunte Pulta eindringlich. »Wo ist er?«

Die schnellen Schritte verhinderten, dass Nara ausführlich Pultas Gesicht studieren konnte. Sie musste eine Entscheidung treffen, sich auf ihr Bauchgefühl verlassen, das sie gerade so sehr enttäuscht hatte. Doch Katso hatte Pulta vertraut, und Nara rief sich ins Gedächtnis, dass die Begegnung mit einem einzigen Krakenhai sie nicht vom Ozean fernhalten würde. Dafür gab es dort zu viel zu entdecken. Zu viel Schönes.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Nara schnell. »Aber er ist definitiv in Gefahr. Wir wurden angegriffen. Mein Seelenbuch ist gestohlen worden.«

»Was?« Obgleich Pultas Stimme sich vor Panik überschlug, blieb sie nicht stehen, sondern lief weiter, rollte unaufhaltsam wie ein Fels hinter den Elementgesandten her. Nara wünschte, sie wäre so stark wie sie.

»Katso und ich wollten es zurückholen. Das ist uns gelungen, allerdings wurden wir dabei getrennt. Ich bin entkommen, aber …« Ihr versagte die Stimme. Sie hatten den Abstand verringert, waren wieder näher an den anderen Elementgesandten dran. Nara glaubte, Zerdayas Aufmerksamkeit auf sich zu spüren, obwohl diese den Blick nach vorne gerichtet hielt.

»Du hast ihn zurückgelassen.« Pultas Worte klangen wie ein Vorwurf, und Nara verübelte es ihr nicht. Sie spürte die Schuld auch ohne Pultas Zutun. Ihr Hals war wie zugeschnürt, ihre Kehle fühlte sich kratzig an, und sie räusperte sich, atmete gegen den Druck auf ihrer Brust an.

»Ich hatte keine Wahl«, erwiderte sie.

»Wie willst du ihn retten?« Ihre Stimme klang wieder fest und war voll mit der ihr eigenen Entschlossenheit.

Nara hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie sie dieses Ziel erreichen sollte, aber es gab einen wichtigen Schritt, um ihm näher zu kommen: Pulta nicht nur einweihen, sondern auch warnen. Ihr die ganze Wahrheit erzählen.

»Es war Zerdaya.« Der Satz schmeckte wie Brackwasser.

»Wovon redest du?« Es war das erste Mal, dass Pultas feste Stimme stockte.

»Sie war dort«, fuhr Nara fort. »Ich habe sie erkannt und … verletzt. Die Wunde an ihrer Hand stammt von mir. Sie … wollte mein Seelenbuch …« Zu viele Worte strömten durch ihren Kopf, und es fiel ihr schwer, eines davon zu greifen. Da blieb die Prozession stehen, und sie näherten sich unaufhaltsam den anderen. Wenn sie etwas loswerden wollte, musste sie es jetzt tun.

»Ich weiß nicht, wem wir vertrauen können«, stieß sie hervor, da erklang schon Lusannas Stimme: »Beeilung.«

Hinter ihr ragte ein sandfarbener Bogengang empor, der kühlen Schatten versprach. Er führte auf ein rundes Gebäude zu, das aus dem gleichen Material gebaut und deutlich höher war.

»Dies ist die Arena«, begann Lusanna, und Nara gab sich Mühe, ihr zuzuhören und sich nicht von Zerdayas Anwesenheit ablenken zu lassen. Allein dass sie hier war, bereitete ihr Übelkeit. Zugleich wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Katso, aber ihm konnte sie einzig helfen, indem sie einen kühlen Kopf bewahrte. Panik und Angst würden ihn nicht befreien.

»Dort findet heute die große Auswahl statt.« Stille lag über den Elementgesandten, und es wunderte Nara, dass außer den Stadtwachen niemand hier war. Bisher waren die meisten ihrer Schritte von den Menschen Lorts beobachtet worden, doch kurz vor diesem wichtigen Ereignis waren sie allein. »Maestra und ich werden euch hineingeleiten. Ab dann seid ihr auf euch allein gestellt.«

»Was ist die Aufgabe?«, fragte Pulta direkt und erhielt dafür dankbare Blicke. Derart unvorbereitet in die große Auswahl geschickt zu werden, fühlte sich falsch an. Lusanna hob einen Mundwinkel.

»Das werdet ihr dort herausfinden.« Weder ihre ruhige Stimme noch ihr freundlicher Blick vermochten es, die Aufregung der Gruppe zu entkräften. Nara vermied es, Lusanna direkt anzusehen. Dafür erinnerte sie sich noch allzu gut an den Ausdruck der Enttäuschung, den sie in ihrem Gesicht gesehen zu haben glaubte, als Nara ihr zurückerlangtes Seelenbuch präsentierte. Es fiel Nara schwer, diesen kurzen Moment einzuordnen, und insgeheim fragte sie sich, ob sie sich nicht geirrt hatte. Nach der Entführung und dem Kampf war es durchaus möglich, dass ihre Sinne ihr einen Streich gespielt hatten. Aber zunächst musste sie das für sich sortieren, und bis dahin wollte sie Lusanna aus dem Weg gehen.

Also studierte Nara den hellen Stein und die kunstvollen Gänge, fragte sich, was hinter dem Bogengang auf sie wartete. So wie sie die Akademie kannte, war die Ungewissheit bereits Teil einer Prüfung, und Nara war fest entschlossen, sie zu bestehen. Also drückte sie den Rücken durch und versuchte sich an einer entschlossenen Miene, während um sie herum ungläubige Blicke ausgetauscht wurden. Einige sahen hoffnungsvoll zu Pulta, die zu einem Widerspruch ansetzte. »Aber …«

Mit einer einzigen Geste brachte Lusanna sie zum Schweigen. »Folgt uns.«

Pulta ballte die Hände zu Fäusten und schnaubte, aber sie alle leisteten Lusanna Folge. Ihre Schritte hallten in dem Bogengang wider, sangen ein Lied der Unsicherheit. Tatsächlich war es hier deutlich kühler, und Nara fröstelte leicht. Ein seltsames Gefühl, war die Kälte doch ein Leben lang ihr Begleiter gewesen. In diesem Moment wurde ihr schmerzhaft bewusst, wie sehr sie sich seit ihrer Ankunft verändert hatte. Sie sehnte sich nach ihrer Heimat, nach den Menschen Koris, sogar nach ihrem Bruder. Beinahe glaubte sie, ihn in der Menge der Elementgesandten zu sehen. Er ignorierte die Blicke der anderen, drückte sich durch die Menge zu Nara hindurch. Eine Strähne seines schneeweißen Haares fiel ihm ins Gesicht, auf dem ein ernster Ausdruck lag. Hinter ihm verschwand Zerdaya zwischen bunten Gewändern, und Nara war froh, sie für einen Augenblick los zu sein.

»Was ist dir zugestoßen?« Nicht Airell, sondern Pal trat auf sie zu, senkte verschwörerisch die Stimme, und dennoch erschien sie Nara viel zu laut. Sie war sich der lauschenden Ohren um sie herum allzu bewusst.

»Später«, erwiderte sie deshalb, woraufhin Pulta die Augenbrauen hob.

»Aber …«, setzte Pal an, da öffnete sich der Bogengang zu einem weiten Tor und spuckte die Elementgesandten zurück in die Mittagshitze. Die Sonne blendete, sodass Nara die Augen zusammenkniff. Applaus brandete auf, stürmte ihr entgegen wie ein Insektenschwarm.

Angestrengt blinzelte sie gegen das gleißende Licht und erkannte, dass sie auf einem runden Platz standen. Um sie herum erhoben sich Tribünen, die von farbenfrohen Leibern nur so wimmelten. Das erklärte, weshalb sie niemand draußen empfangen hatte. Die Menschen saßen bereits im Inneren der Arena und warteten begierig auf das Schauspiel.

Also lenkte Nara ihr Augenmerk auf den Platz. Große Steinblöcke umgaben einen See mit kristallklarem Wasser, das im Sonnenlicht herrlich funkelte. Vereinzelte Bäume spendeten etwas Schatten.

»Mögen die Gestirne über euch wachen«, erklang Lusannas Stimme. Sie war in dem Bogengang zurückgeblieben. An ihrer Seite stand Maestra, ihr Blick ruhte sorgenvoll auf Nara, aber es blieb keine Zeit, miteinander zu sprechen.

»Und im Gleichgewicht verharren«, erwiderten einige der Elementgesandten, doch die meisten blickten sich wie Nara verwirrt um.

»Was … sollen wir tun?«, wiederholte Pulta ihre Frage, die vorhin unbeantwortet geblieben war.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Nara. Das Grölen der Menschen mischte sich mit den wispernden Stimmen der Elementgesandten, die immer weiter auseinanderdrifteten, sich in Gruppen aufteilten oder allein blieben. Abstand voneinander nahmen, als erwarteten sie jederzeit einen Schlag. Dabei warfen sie vor allem Nara ängstliche Blicke zu. Als sie zu der Menschenmenge emporsah, bemerkte sie, wie einige miteinander tuschelten und auf Nara zeigten. Natürlich. Sie war voller Blut und Dreck, und die anderen Elementgesandten wichen ihr aus.

Auch Pal zog sich zurück, einen entschuldigenden Ausdruck auf dem Gesicht. Er stellte sich an Zuras Seite, und die beiden vertieften sich in ein angeregtes Gespräch, bei dem Zura immer wieder zu ihnen herübersah.

Nara biss sich auf die Unterlippe, konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe. Sie war die Beschützerin Koris, war hier, um die Buchbinder nach Hause zu holen. Ihr Seelenbuch war wieder bei ihr, und Katso brauchte zwar ihre Hilfe, aber ihr waren die Hände gebunden. Es sei denn … Ihr Blick wanderte zu dem Bogengang. Offen und schutzlos lag er da. Ein Ausgang, den sie jederzeit erreichen konnte.

»Nein.« Pulta stellte sich ihr in den Weg, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Wenn du gehst, verlierst du deinen Platz als Elementgesandte. Das würde Katso dir nicht verzeihen.«

Sie sagte diese Worte mit der Selbstsicherheit, die ihr zu eigen war.

»Aber er würde das Gleiche für mich tun«, antwortete Nara und hielt Pultas Blick gefangen. In ihm erkannte sie, dass sie recht hatte.

Pulta nickte leicht. »Natürlich würde er das.«

Die Erinnerungen an Kori kämpften sich an die Oberfläche. Die leeren Häuser, die verzweifelten Wünsche der Menschen. Die Sehnsucht nach dem alten Glanz.

Doch da war auch Katso, der ihr selbstlos gefolgt war, um ihr Seelenbuch zurückzuholen. Katso, der ihr vertraut hatte.

Nara hob das Kinn und ging auf den Bogengang zu. Alles in ihr rebellierte, aber sie lief immer weiter, weg von dem kleinen See und der unausgesprochenen Aufgabe, die dort auf sie wartete. Hin zu dem Ausgang. Zu Katso.

Von der Tribüne her begannen Menschen, ihren Namen zu rufen. Sie blendete das aus, konzentrierte sich ganz auf den dunklen Bogengang.

Da trat Maestra aus dem Schatten. Eine hochgewachsene Gestalt mit ernster Miene, die eine eindrückliche Botschaft vermittelte. Sie wollte nicht, dass Nara ging. Ihre Lippen formten drei Worte: »Ich kümmere mich.«

Damit wollte sie Nara unmissverständlich dazu bewegen, bei der großen Auswahl zu bleiben.

Dennoch lief Nara weiter auf sie zu.

2. Kapitel

Katso schmeckte das Blut, bevor er den Schmerz spürte. Metallisch lag es auf seiner Zunge, und er hustete, woraufhin seine Rippen schmerzhaft pochten. Er hob den Blick, sah dunklen Stein, auf den ganz leicht das hellblaue Licht der Glimmerlibellen fiel.

Als er sprechen wollte, kam ein raues Kratzen aus seiner Kehle, und er keuchte, spuckte Blut. Ganz langsam realisierte er seine Körperhaltung. Die Arme hinter dem Rücken verdreht und gefesselt, die Beine nach vorne ausgestreckt. Er lehnte in einer Ecke, die rechte Schulter gegen harten Stein gepresst. Direkt über ihm hing eine Laterne, sodass alles außerhalb des blauen Schimmers in Dunkelheit lag.

Er fühlte sich auf seltsame Weise beobachtet und wusste nicht, ob jemand in der Finsternis lauerte. Sich amüsierte. Ganz langsam krochen die Erinnerungen zurück in seine Gedanken. Die Bronzefratzen. Nara. Sie brauchte seine Hilfe.

Vorsichtig zog Katso die Beine an, versuchte, aufzustehen. Als Kind hatte er häufiger geübt, ohne Hände aufzuspringen. Es war ein Wettbewerb zwischen Kaya und ihm gewesen, ein albernes Kräftemessen, das ihm jedoch jetzt vielleicht das Leben rettete. Wenn nur endlich der Schwindel verschwinden würde, der die Welt wanken ließ, als wäre er erneut auf hoher See. Allein die Erinnerung an das Meer holte die Übelkeit zurück, und er beugte sich zur Seite, übergab sich. Sein Magen schmerzte, seine Kehle brannte von der Säure. Er spuckte nach, um den üblen Geschmack wenigstens etwas loszuwerden, dann atmete er tief ein, konzentrierte sich auf seine verkrampften Muskeln.

Es musste einfach klappen. Ein weiterer tiefer Atemzug, dann zog er die Beine an, schob sie unter sich. Jede Bewegung war steif und ungelenk, aber das hielt ihn nicht auf. Mit aller Kraft drückte er sich nach oben, versuchte, auf den Füßen zu landen und das Gleichgewicht zu halten. Für einen kurzen, triumphalen Moment saß er aufrecht in der Hocke, dann drehte die Welt sich, und er fiel, knallte mit der Schulter schmerzhaft hart auf den Boden. Die Luft wurde aus seiner Lunge gepresst, aber er gab keinen Laut von sich, ertrug die Schmerzen mit der Fassung eines Kriegers. Niemand durfte ihn hören.

Sich aus der liegenden Position mit gefesselten Händen aufzurichten, war etwas schwieriger, aber es gelang ihm, obwohl seine Schulter pochte und ihm noch immer schwindelig war. Als er wieder saß, atmete er tief ein und hielt sich vor Augen, dass er den schlimmsten Teil soeben überstanden hatte.

Nun musste er nur noch aufstehen. Ein Kinderspiel.

Katso versetzte sich zurück in die Zeit, als er mit Kaya in den staubigen Gassen saß und mit Leichtigkeit auf die Füße kam. Eine schnelle, gezielte Bewegung. Erst in die Hocke, dann stand er auf, kreiste die verletzte Schulter und biss die Zähne zusammen.

»Das hat länger gedauert als gedacht.« Eine raue Stimme. Alt und tief.

Sofort hielt Katso inne und ballte die Fäuste, obwohl seine Hände gefesselt und damit nutzlos waren. »Mit etwas Hilfe wäre es schneller gegangen.«

Als Antwort erklang ein Lachen.

»Ah, du bist also nicht hier, um mir zu helfen.« Katso spuckte etwas von dem Blut aus, das er noch immer schmeckte. »Was für eine Überraschung.«

»In gewisser Weise bin ich das«, erwiderte der Fremde, und Katso kniff die Augen zusammen, blinzelte in die Dunkelheit. »Auch, wenn du das anders sehen wirst.«

Daraufhin schnaubte Katso. »Wo ist sie?«

»Natürlich gilt deine erste Frage ihr. Wie rührend.«

»Antworte.« Er presste die Silben drohend hervor, aber die gefesselten Hände raubten ihnen die Macht. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«

Schwere Schritte auf Stein. Wer auch immer dort sprach, war groß, vermutlich größer als Katso. »Du möchtest gar nicht wissen, wer ich bin?«

»Irgendwie hatte ich so ein Gefühl, dass du mir das schon erzählen würdest.«

»Du bist wütend. Das kann ich verstehen.«

»Was hat mich verraten?« Es kostete Katso viel Mühe, seine Stimme ruhig zu halten. Ohne Fesseln würde er sein Gegenüber angreifen, denn in ihm brannte eine unbändige Wut, die allzu gern alles verschlingen würde. Aber er war gefangen und machtlos und wusste nicht einmal, wer ihm gegenüberstand.

»Das Lodern in deinen Augen«, erklang die Antwort. »Aber um ehrlich zu sein, könnte es sich auch um Angst handeln. Die beiden Gefühle liegen sehr nah beieinander, und du hast viele Gründe, dich zu fürchten.«

Da trat die Gestalt in das Licht der Glimmerlibellen. Der blaue Schein tanzte über eine bronzefarbene Fratze. Der Fremde trug eine der Masken und war darüber hinaus in einen dunklen Umhang gehüllt. In seinen behandschuhten Händen hielt er ein tiefschwarzes Buch mit blutroten und orangefarbenen Flammenlinien. Die goldenen Beschläge in den Ecken glänzten vertraut.

Katsos Seelenbuch.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, und er sprang nach vorne, wollte danach greifen, aber das Metall der Ketten schnitt in sein Fleisch, und er fluchte, zerrte daran. Erneut erklang dieses Lachen. Leise, rau. Hämisch.

»So langsam begreifst du also, wie ernst die Lage ist. Erfreulich. Aber keine Sorge: Ich habe keinen Grund, dir oder …« Er wedelte mit dem Buch. Ein Anblick, der Feuer durch Katsos Adern trieb. »… diesem Schmuckstück etwas anzutun. Es würde mich sehr freuen, wenn es dabei bleibt. Dich nicht auch?«

3. Kapitel

Geh zurück, Nara.« Instinktiv blieb Nara stehen. Die vielen Einheiten hatten sie gelehrt, Maestra zu gehorchen. Ihre hochgewachsene Gestalt in dem dunklen Kampfanzug tat ihr Übriges. Im Halbschatten des Bogengangs wirkte sie wie eine Meuchelmörderin. Schnell bestätigte Nara mit einem Blick in die Dunkelheit, dass Maestra allein war.

»Aber …« Nara suchte nach den richtigen Argumenten, die Maestra dazu bewegen würden, sie vorbeizulassen, doch ihr Verstand kreiste allein um Katso.

Als Maestra weitersprach, klang sie weicher. Beinahe verständnisvoll. Sie trat einen kleinen Schritt nach vorne, sodass sie weiterhin im Schatten blieb. Nara begriff, dass sie von den Menschen Lorts nicht gesehen werden wollte, und spürte die Blicke der Menge in ihrem Rücken. Alles, was sie tat, wurde von ihnen beurteilt. »Wenn du jetzt gehst, verlierst du alles, wofür du so hart gekämpft hast. Deine Heimat braucht dich.«

»Katso braucht mich auch.« Es überraschte Nara, wie leicht ihr diese Worte über die Lippen kamen. Die Wahrheit war wie das Wasser. Sie fand immer ihren Weg1.

Energisch trat Nara einen Schritt nach vorne, berührte mit der Fußspitze beinahe den gepflasterten Boden, der die Arena vom Gang trennte und somit den Ausgang markierte.

Da zog Maestra ihr Schwert, und allein der Klang des Metalls, das aus der Scheide glitt, ließ Nara innehalten. Mit großen Augen starrte sie ihre Lehrerin an, die ihrerseits den Blick entschlossen erwiderte.

»Ich bin auf deiner Seite«, erklärte Maestra.

»Warum richtest du dann eine Waffe gegen mich?«

Als Antwort steckte Maestra das Schwert weg. Ein entschuldigendes Lächeln teilte ihre Lippen. »Ich wollte dich nur davon abhalten, einen riesengroßen Fehler zu machen.«

»Woher weißt du, dass es ein Fehler wäre?«

Kurz starrten sie einander an, und etwas veränderte sich. Maestras Schultern sanken ein Stück nach unten, sie senkte das Kinn, und aus der stolzen Kriegerin wurde eine einfache Frau in einer viel zu großen Lederrüstung.

»Ich werde dir helfen«, flüsterte Maestra. »Weil ich es Tris schuldig bin. Und mir selbst.«

In Nara regte sich das Bedürfnis, ihr tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen, aber die Blicke der Zuschauenden hielten sie davon ab. Aus ihrer Perspektive musste es gerade wirken, als diskutierte Nara mit jemandem, den sie aus dieser Entfernung unmöglich erkannten. Vor allem nicht, solange Maestra sich im Schatten aufhielt.

»Bitte.«

Nara hatte viel von Maestra erwartet, doch der flehende Tonfall, mit dem sie diese Silben ausstieß, gehörte nicht dazu. Vollkommen überrascht blinzelte sie und wiederholte den ersten Gedanken, der ihr in den Sinn kam. »Er hat sich meinetwegen in Gefahr begeben. Um mir zu helfen.« Scham brannte in Naras Gesicht, gemischt mit dem unbändigen Drang, Wiedergutmachung zu leisten. »Wie könnte ich ihn jetzt im Stich lassen?«

Maestra nickte. »So etwas habe ich mir schon gedacht. Mir ist nicht entgangen, wie sehr er auf dich achtet.«

Daraufhin wusste Nara nichts zu sagen. Sie war nicht sicher, was sie mehr verblüffte: die Tatsache, dass Katso sich ihr gegenüber anders verhalten hatte, oder dass dies Maestra aufgefallen war. Ihr Gesicht brannte vor Scham und Wut.

»Du würdest ihn enttäuschen, wenn du die große Auswahl verlässt. Das würde er dir ganz sicher übel nehmen.«

Der Gedanke, wie Katso sie wütend anherrschte, weil sie ihre Zukunft für ihn riskiert hatte, ließ Nara lächeln. »Das stimmt wohl.«

»Ich werde mich darum kümmern«, wiederholte Maestra eindringlich.

Nara warf einen Blick über ihre Schulter und bemerkte, wie die anderen sich in Bewegung setzten. Die Gruppen drifteten auseinander, zogen sich in verschiedene Teile der Arena zurück. Die Menschen auf den Rängen grölten, riefen nach Taten.

Kurz schloss sie die Augen, dachte an Katso, an seine forsche Art, den eindringlichen Blick.

Am liebsten wollte Nara die Arena verlassen, stattdessen erzählte sie Maestra alles. Von den Fratzen, von dem Raum, den Gesprächen. Von Zerdaya. Die Sätze sprudelten schnell und präzise aus ihr heraus, und als sie endete, war sämtliche Farbe aus Maestras Gesicht gewichen. Sie schluckte.

»Halte dich von Zerdaya während der großen Auswahl fern. Und nun geh.« Damit drehte sie sich um, und schon nach wenigen Schritten verschmolz ihre in dunkles Leder gehüllte Gestalt mit den Schatten. Nara sah ihr noch einen Moment länger nach, dann atmete sie tief durch, drehte sich um und schob die Schuldgefühle zur Seite. Maestra war eine Meisterin des Kampfes. Sie würde Katso finden und retten. Es gab schlicht nichts, was sie für ihn tun konnte, ohne sich erneut selbst in Gefahr zu begeben.

Also konzentrierte sie sich auf das, was vor ihr lag. Die große Auswahl. Einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zum Ritual des Lichts. Es rankten sich viele Mythen um diesen Teil des Prozesses, doch sie alle hatten eines gemeinsam: Die große Auswahl war jeden Zyklus anders. Am Ende blieben vier Elementgesandte übrig, die sich dieser großen Aufgabe stellten. Da Katso fehlte, waren fünfzehn Elementgesandte in der Arena, doch Lusanna hatte ihnen deutlich gemacht, dass lediglich vier von ihnen die große Auswahl bestehen würden. Jene vier, die sich am Ende dem Ritual des Lichts stellen würden.

Die Gruppen, die sich gebildet hatten, schienen die logische Konsequenz aus ihrem Verhalten der letzten Tage. Pal stand neben Zura, und die beiden sahen sich sehr aufmerksam um. Zerdaya hielt sich abseits. Der Anblick versetzte Nara einen leichten Stich, denn als sie heute Morgen aufgestanden war, hatte sie noch daran geglaubt, dass sie mit Zerdaya die große Auswahl bestreiten würde. Nun war alles anders.

Katsos Kindheitsfreund Kaya wartete unter einem Baum, den breiten Rücken an den Stamm gelehnt. Sein Blick ruhte auf Nara, und sie ahnte, dass er die nächste Gelegenheit nutzen würde, um sie zur Rede zu stellen. Die Sonnengebundene Luisi, die Pulta angegriffen hatte, drückte sich mit dem Rücken an die Wand der Arena. Die Erdgebundenen umkreisten den Felsen, während die Sterngebundenen in die Menge winkten.

Pulta kam auf Nara zu, den Kopf stolz erhoben, einen strengen Ausdruck auf dem Gesicht.

»Mein Plan war es stets, die große Auswahl allein zu bestreiten.« Sie klang nicht so hart wie sonst, sondern vielmehr, als hätte sie sich diese Ansprache während Naras Unterredung mit Maestra zurechtgelegt. »Ich kam nicht mit dem Ziel hierher, Freundschaften zu knüpfen. Das hat sich nicht geändert. Doch wenn die anderen sich zusammenschließen, könnte es für uns ebenfalls von Vorteil zu sein, einander den Rücken zu stärken. Ich weiß, dass du keinen Grund hast, mir zu vertrauen, nachdem du von deiner engsten Verbündeten derart verraten wurdest. Lass mich dir jedoch versichern, dass ich stets ehrlich zu dir sein werde. Diese Verbindung ist keine Freundschaft, sondern reiner Selbstzweck. Sobald wir wissen, was zu tun ist, und sich herausstellt, dass nur einer von uns gewinnen kann, werde ich stets zu meinem Vorteil handeln.«

»Danke«, erwiderte Nara aufrichtig. »Es tut gut, so direkte Worte zu hören.«

Kaum merklich wanderte Pultas rechter Mundwinkel ein Stück nach oben. »Das kann ich mir vorstellen. Also: Wie lautet unser Plan?«

»Nur eine Person je Element wird diese Auswahl bestehen«, wiederholte Nara und warf einen Blick zu den voll besetzten Rängen. »Da die Menschen Lorts hier sind, bin ich mir sicher, dass sie eine wichtige Rolle bei dieser Auswahl spielen.«

»Nicht unbedingt. Erinnere dich an die Glasscheiben vor unseren Schlafstätten. Wir sind für sie Unterhaltung.«

»Es waren besonders viele dort, als sie selbst Einfluss nehmen konnten«, gab Nara zu bedenken. »Nicht reines Interesse lockt sie aus ihren Häusern, sondern die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen.«

»Das kurze Gefühl von Macht«, murmelte Pulta. »Darum geht es hier. Die Menschen Lorts sollen sich mächtig fühlen.«

»Vielleicht.« Der Gedanke drückte schwer auf Naras Brust. »Irgendwie muss die Auswahl getroffen werden, also …«

Lauter Jubel erklang von der Menge, und sofort wandte sich Nara um, suchte nach dem Auslöser. Auri, die Sterngebundene mit der sanften Stimme, rannte auf den Felsen in der Mitte der Arena zu. Ihr gelber Umhang flatterte hinter ihr her.

»Was hat sie vor?« Pultas Frage wurde von dem Geschrei der Menschen übertönt, als Auri die Hände hob und ein Zeichen in die Luft schrieb. Nara kannte es nicht, die Schrift der Sterngebundenen war ihr fremd, doch kurz darauf wirbelte Auri in die Höhe, setzte ihre Füße in die Luft, als wären dort Stufen. Immer weiter stieg sie empor, Sprung für Sprung, und das Jubeln der Menge wurde zu begeisterten Ausrufen des Staunens.

»Sie will die Menschen beeindrucken«, flüsterte Nara, doch ihre Worte gingen im Geschrei der Menge unter. Da streckte Auri erneut die Hände aus und schrieb ein weiteres Zeichen in die Luft. Wind zog auf, zerrte an Naras Haaren und Kleidung. Staub wirbelte vom Boden nach oben, formte elegante Linien. Auri tanzte wie ein Blatt im Herbst, schwang sich zu immer neuen Höhen auf, fiel, fing sich und stieg wieder empor.

Jede ihrer Bewegungen saß perfekt.

Schließlich sank sie wieder hinab. Dann legte sie die Handflächen aneinander und verbeugte sich vor der tosenden Menge.

»Das hatte ich nicht von ihr erwartet«, raunte Nara und beobachtete, wie Auri mit tänzelnden Schritten am Rand der Arena entlanglief, um allen Zuschauenden einen guten Blick auf sich zu bieten.

Pulta verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie hat sich die ganze Zeit zurückgehalten.«

»Und sie war nicht die Einzige«, fügte Nara mit einem Gedanken an Zerdaya hinzu, und obwohl die Sonne noch immer hoch am Himmel stand, erschien ihr die Welt plötzlich dunkler. Die anderen Elementgesandten trugen ausdruckslose Mienen zur Schau. Pal reckte wie immer stolz das Kinn, während Luisi Auri wütend anfunkelte. »Wir wissen nicht, wer seine wahren Fähigkeiten offenbart hat und in wem noch ungeahnte Kräfte schlummern.«

»Wir sollten uns in Acht nehmen. Immerhin hat Luisi bereits einmal versucht …« Nara erinnerte sich daran, dass Luisi nicht nur Pulta angegriffen, sondern es sogar auf ihr Seelenbuch abgesehen hatte. Diese Sonnengebundene handelte skrupellos.

»Das würde sie vor so vielen Leuten nicht wagen.« Der Gedanke, dass sie sich irren könnte, erschreckte Nara zutiefst.

»Wir wissen nicht, wozu die anderen in der Lage sind«, korrigierte Pulta. »Aber ich bin mir sehr sicher, dass sie alle die große Auswahl nutzen werden, um endlich zu zeigen, was in ihnen steckt. Ich hoffe, dass auch du noch einige Geheimnisse auf Lager hast. Sonst sind wir verloren.«

4. Kapitel

Warum bin ich hier?« Wenn er schon nicht körperlich angreifen konnte, so wollte Katso doch wenigstens verbal nach vorne preschen. Ganz gleich, wie aussichtslos die Situation schien, er würde nicht zeigen, wie stark die Angst in ihm brannte.

»Du bist selbst in unser Versteck gekommen«, erinnerte der Mann ihn, woraufhin Katso schnaubte.

»Du weißt genau, dass ich von etwas anderem spreche.« Katso kniff die Augen zusammen, studierte die bronzefarbene Fratze und suchte in den dunklen Höhlen nach menschlichen Augen. »Warum bin ich noch am Leben? Wenn ihr mich hättet umbringen wollen, hättet ihr das längst getan.« Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er auf sein Seelenbuch, das er sich so sehr zurück an seinen Gürtel wünschte. Es in den Händen dieses Fremden zu sehen, fühlte sich grotesk an. Dann kam ihm ein Gedanke, der seine Mundwinkel zu einem hämischen Grinsen nach oben zog. »Nara ist euch entwischt. Deshalb haltet ihr mich als Geisel.«

»Entgegen unserer Erwartungen brennt das Feuer also nicht nur in deinem Herzen, sondern auch in deinem Verstand. Welch schöne Überraschung.«

Katso ertrug die Beleidigung mit einem stoischen Blick, denn sie verriet ihm zwei wichtige Informationen. Erstens: Sie verfolgten ihn schon länger. Er prägte sich diesen Umstand genau ein, legte ihn zu den anderen Beobachtungen, die er gemacht hatte, seit sie den Bronzemasken begegnet waren. Doch die zweite Information war weitaus wertvoller: Nara war ihnen in der Tat entkommen. Es erleichterte ihn, dass sie sich in Sicherheit gebracht hatte. Einerseits, weil das hieß, dass es ihr gut ging; andererseits, weil er sich sicher war, dass sie ihn retten würde. Sie hatte wie die intelligente Beschützerin gehandelt, die sie war.

Also lachte Katso erleichtert auf, doch es verklang in einem Schmerzenslaut, als sein Gegenüber ausholte und ihm mit der Faust gegen die verletzte Schulter schlug.

Keuchend stolperte Katso zurück, und die Wut in ihm wurde zu einem Inferno, trieb ihn voran. Er machte einen Satz auf den Feind zu, stieß ihm die gesunde Schulter gegen die Brust, brachte ihn zum Taumeln. Das Seelenbuch stürzte mit ihm außer Reichweite, und Katso zögerte, doch seine Hände waren gefesselt, und er hatte keine Möglichkeit, seinen wertvollsten Besitz zurückzuholen. Sie würden dem Buch nichts antun, solange sie ihn brauchten. An diesem Gedanken hielt er sich fest, dann drängte Katso an dem Feind vorbei, hinein in die Dunkelheit, an die seine Augen sich langsam gewöhnten.

Kahle Steinwände. Darin eine Tür.

Katso preschte weiter, drehte sich mit dem Rücken zur Tür und versuchte, mit seinen gefesselten Händen die Klinke zu greifen. Sein Gegner hatte sich indes bereits von dem Überraschungsmoment erholt und stürmte auf Katso zu, die Maske ein unbewegter Ausdruck des Hohns.

»Das war ein Fehler«, sagte er, als er vor Katso zum Stehen kam.

Da spürte Katso, wie die Klinke unter seinem Druck nachgab und die Tür hinter ihm aufschwang. Er stolperte rückwärts hinaus, wirbelte herum, lief weiter. Auch hier hingen Lampen voller Glimmerlibellen an den Wänden. Ein enger Flur, direkt in den Stein gehauen, der leicht nach oben führte. Hoffnung regte sich in Katso, vermischte sich mit dem Zorn zu einer unbändigen Energie, und er lief weiter, während er die Schritte seines Verfolgers hinter sich hörte.

Er konnte es schaffen, konnte entkommen.

Sein Herz hämmerte schmerzhaft schnell gegen seinen Brustkorb, seine Beine fühlten sich schwach an, und doch setzte er einen Fuß vor den anderen, strebte weiter nach oben, während sein rasselnder Atem alles andere übertönte. Der Boden war ebenso uneben wie die Wände, aber irgendwie schaffte er es trotzdem, das Gleichgewicht zu halten.

Hellgelbes Licht mischte sich in das Blau der Laternen. Sonne. Allein der Anblick ließ ihn erfreut aufkeuchen. Das Ende des Gangs kam immer näher. Eine Biegung, und er wäre frei. Katso glaubte, die frische Luft auf seiner Haut zu spüren, schmeckte die Freiheit auf der Zunge.

Dementsprechend überrascht war er, als er einen festen Griff an seinen gefesselten Händen spürte. Er stolperte, fiel auf die verletzte Schulter. Schmerz, heiß und bohrend, raste durch seinen Körper, und vor seinen Augen tanzten blutrote Sterne.

»Ich …« Sein Verfolger keuchte, war hörbar außer Atem. Der Gedanke bereitete Katso grimmige Genugtuung. »Das … Du bist schnell.«

Katso blieb liegen, wartete auf den Schmerz eines Tritts oder eines weiteren Schlags. Erfahrungsgemäß gaben sich Sieger selten mit dem puren Genuss des Gewinns zufrieden. Sie wollten ihn auskosten, verlängern.

Die Bronzefratze stand über ihm und lachte. Laut und kehlig. Dann beugte sie sich nach unten und zog Katso auf die Beine. Die Bewegung war so abrupt, dass Katso leicht schwindelig wurde, aber der Fremde stützte ihn, woraufhin Katso sich noch mehr anspannte.

Er wartete auf den Angriff, auf die Rache. Stattdessen setzte der Mann sich in Bewegung und zog Katso sanft mit sich, führte ihn zurück zu seinem Gefängnis, als wären sie Freunde auf dem Weg zu einem kühlen Getränk. Katso kämpfte den Schmerz nieder, war zu schwach, um erneut anzugreifen – zumindest im Moment.

Das Lachen seines Feindes war nun gedämpfter, mehr ein fröhliches Glucksen, unterbrochen von gelegentlichem Husten. Das Sonnenlicht blieb hinter ihnen zurück, die Glimmerlibellen leuchteten ihnen den Weg, und schließlich fiel die Tür wieder hinter ihnen ins Schloss.

Erst da gab der Fremde ihn frei.

Sofort stolperte Katso von ihm weg, drehte sich um und musterte ihn genau. Unter der Maske und dem weiten schwarzen Umhang war es ihm unmöglich, seinen Feind zu verstehen. Da waren weder Mimik noch Gestik, die ihm Anzeichen auf die wahren Beweggründe des Fremden gaben.

Erneut lachte der auf, als hätte Katso einen wunderbaren Witz erzählt.

»Was soll das?«, fragte Katso geradeheraus. »Was ist so witzig?«

Das letzte Worte wurde von lautem Gelächter übertönt. Der Fremde beugte sich etwas nach vorne, als bekäme er kaum Luft. »Genug«, stieß er hervor. »Bitte.«

Vorsichtig ging Katso einen weiteren Schritt zurück, damit er bei einem potenziellen Angriff mehr Zeit hatte, zu reagieren. Dieses Mal sagte er nichts, sondern wartete ab, bis der Mann sich beruhigt hatte. Schließlich atmete er tief ein und schüttelte leicht den Kopf.

»Sie hatten mich gewarnt«, sagte er, und der Schalk haftete noch immer an seiner Stimme. »Aber ich habe sie nicht ernst genommen. Er ist gefesselt, habe ich gesagt. Was soll er mir schon anhaben? Wie soll er da entkommen?« Er stieß einen Schwall Luft aus. »Sieh mich nicht so irritiert an. Ich freue mich einfach.«

»Du … freust dich?« Katso sah keinen Sinn darin, seine Überraschung zu verbergen, denn sie stand ihm sowieso ins Gesicht geschrieben.

»Natürlich.« Schlagartig wurde sein Gegenüber ernst. »Ich dachte, sie hätten mich hier unten abgestellt, weil ich etwas falsch gemacht habe. Weil sie mich für inkompetent halten. Für ungenügend.« Er richtete sich auf, reckte das Kinn. »Dabei haben sie mich mit einer wichtigen Aufgabe betraut. Mit einer schwierigen Aufgabe.« Seine nächsten Worte waren leiser, beinahe ehrfürchtig. »Sie glauben also doch an mich.«

Ein kaltes Frösteln durchlief Katso, dennoch wagte er sich weiter nach vorne. »Wer? Von wem redest du?«

Sein Gegenüber legte den Kopf schief. Das Licht der Glimmerlibellen tanzte über die Bronzefratze und erweckte sie zum Leben. Ein groteskes Monster, mehr Ungeheuer als Mensch. »Das wirst du schon bald herausfinden.«

5. Kapitel

Was nun?« Nara sah sich um, suchte nach einer Veränderung, die Auris Vorstellung ausgelöst hatte. Die anderen Elementgesandten standen noch immer an ihren Plätzen. Kaya lehnte am Baum, Pal und Zura steckten die Köpfe zusammen und redeten aufgeregt miteinander. Luisi drängte sich an den Rand der Arena, die Erdgebundenen umkreisten nervös den Felsen. Da geriet Bewegung in die anderen Sterngebundenen. Sie taten es Auri gleich, schrieben Zeichen in die Luft, wirbelten in die Höhe. Wind und Staub fegten über den Platz, die Menge grölte, und Nara hielt eine Hand vor die Augen, um sich vor dem umherfliegenden Schmutz zu schützen. Die Sterngebundenen erhoben sich an unterschiedlichen Stellen, begeisterten die Menge, als hätten sie gemeinsam eine Vorführung einstudiert.

»Sie wollen alle beeindrucken«, rief Pulta über den Lärm hinweg. »Ob das eine gute Strategie ist?«

Naras Gedanken rasten. Seit ihrer Ankunft in Lort hatte sie viel gelernt. Über das Kämpfen, ihr Seelenbuch, die anderen Elementgesandten. Sie waren Konkurrenz, wetteiferten um die wichtigste Ressource der Welt und schreckten nicht vor Gewalt zurück.

»Wir sind in einer Arena«, sagte Nara schließlich. »Das hier ist ein Wettstreit. Wir müssen uns irgendwie beweisen. Ich weiß nur nicht, ob eine Vorführung der richtige Weg ist.«

»Aber was, wenn irgendwann die Zeit endet und die Menschen Lorts dann wählen? Was, wenn wir sie bis dahin nicht beeindruckt haben?« Selbst diese zweifelnden Fragen klangen aus Pultas Mund wie unerschütterliche Wahrheiten. Der Wind um sie herum wurde stärker, als die Sterngebundenen erbitterter um Aufmerksamkeit kämpften.

Wo sie sich zu Beginn noch Platz überließen, drängten sie nun in den Mittelpunkt. Ein Sterngebundener sprang mit großen Sätzen durch die Luft, direkt auf Auri zu. Erst im letzten Moment drehte er ab, aber die Wucht des Windes traf Auri dennoch, brachte sie aus dem Gleichgewicht.

Für einen kurzen Moment schwebte sie in der Luft, ein in der Zeit gefangener Körper, dann begann der Fall. Auri raste auf die Erde zu, und Nara stand dort, beobachtete, wie sie sich dem harten Boden näherte. Sie fiel schnell, ihr Gewand umflatterte sie wie gebrochene Flügel eines Vogels. Da hob Auri eine Hand, schrieb ein Zeichen in die Luft, und sie wurde langsamer, als der Wind versuchte, sie aufzufangen. Doch der Boden kam immer näher, und Nara erkannte, dass der Sturz schmerzhaft enden würde. Wenn nicht sogar tödlich. Sie musste irgendetwas tun, um das zu verhindern. Instinktiv griff sie auf die Macht des Mondes zu, hob die Hände, beschrieb eine ausladende Bewegung und konzentrierte sich dabei auf den See.

Flut.

Es war das erste Wort, das ihr einfiel, und garantiert nicht das eleganteste, doch es sorgte dafür, dass das Wasser über die Ufer trat und zu Auri strömte. Das Geschrei der Menge schlug von Begeisterung in Angst um, als sie erkannten, was mit Auri geschah. Zunächst waren es nur einzelne Rufe, doch schon bald erhob sich eine Kakofonie aus Panik in der Arena.

Auri hatte den Boden beinahe erreicht, und das Wasser, das über die Ufer getreten war, war viel zu wenig. Ein dünnes Rinnsal, kaum höher als eine Pfütze nach einem kurzen Regenschauer. Dafür war Auri schlicht zu weit weg von dem See, und alles geschah viel zu schnell. Nara wusste nicht, was sie tun sollte, fixierte weiterhin die stürzende Auri, suchte nach einer Möglichkeit, sie zu retten.

Die Beine brachen zuerst. Selbst aus der Distanz erkannte Nara den schiefen Winkel, mit dem Auri aufkam. Ihr rechtes Bein knickte weg, Wasser spritzte empor, und da wandte Nara den Blick ab, sah zu Pulta, die ihrerseits mit weit aufgerissenen Augen das Unglück beobachtete. In ihren glasigen Augen spiegelten sich bizarre Schatten.

Immer lauter wurden die Schreie, und Naras Beine begannen zu zittern. Instinktiv griff sie nach Pulta, klammerte sich an ihr fest. Dann zog die Neugier ihre Aufmerksamkeit zu den anderen Sterngebundenen, die noch immer in der Luft schwebten. Sie waren so weit oben, dass Nara den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht erkannte.

Hinter ihr erklangen Schritte, und Nara wandte sich um, sah Menschen in hellen Gewändern mit gesenkten Köpfen vorbeieilen. Kurz darauf trugen sie Auri an ihr vorbei, und sie reagierte nicht schnell genug.

Der Anblick des zertrümmerten Körpers brannte sich in ihr Gedächtnis ein. Ihre Beine waren unnatürlich abgewinkelt, Blut breitete sich schnell auf ihrer Robe aus. Der rechte Arm hing schlaff nach unten, und Nara erkannte einen weißen Knochen, der sich durch Auris Fleisch bohrte. Doch auch etwas anderes bemerkte Nara. Auri atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich, ihre Augenlider flatterten, öffneten sich. Für einen kurzen Moment verhakten sich ihre Blicke, und Nara wollte sich entschuldigen. Wollte ihr sagen, dass sie alles versucht hatte.

»Nein!« Auri stieß das Wort mit einer überraschenden Härte und Deutlichkeit hervor. Sie versuchte, sich aufzurichten, hustete, spuckte Blut. Wie erstarrt beobachtete Nara, wie Auri erneut zusammenbrach, während sie zeitgleich versuchte, die Liege zu verlassen. Doch die Personen in der hellen Kleidung drückten sie immer wieder zurück, redeten unaufhörlich auf sie ein.

»Nein!« Ihre Stimme war erschreckend laut, und sie schmiss sich abrupt herum, fiel von der Trage, knallte auf den staubigen Boden, direkt auf den gebrochenen Arm. Auri schrie, und Nara zuckte zusammen, ein erschrockenes Stöhnen ging durch die Ränge2.

Tränen zogen helle Spuren über Auris blutverschmiertes Gesicht, während die Menschen in hellen Roben sie erneut hochhoben und davontrugen. Ihre Schreie wurden immer lauter und verzweifelter. Unerträglicher Schmerz gemischt mit der Erkenntnis des Versagens. Schon bald verschluckte die Finsternis des Bogengangs den zerschundenen Körper, aber Auris Stimme blieb, hallte in der Arena nach wie ein Echo, klingelte in Naras Ohren, sodass sie irgendwann nicht mehr wusste, ob sie Auri wirklich noch hörte oder die Schreie sich schlicht für immer in diesem Ort eingenistet hatten.

»Das war Mord.« Pulta knirschte mit den Zähnen.

»Sie lebt doch noch«, erwiderte Nara. Ihre Stimme klang so leise und gebrochen wie Auris Knochen.

»Noch«, erklang Pultas Antwort. »Solch einen Sturz überlebt niemand. Nicht einmal eine Sterngebundene.«

Langsam kehrten die anderen Sterngebundenen auf den Boden zurück, ihre gelben Gewänder umflatterten sie wie Blütenblätter. Betretenes Schweigen breitete sich aus. Selbst die Menge über ihnen blieb stumm, und Nara begriff, dass der nächste Schritt enorm wichtig war. Jetzt war der Moment, in dem jemand alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sie in Liebe oder Hass verwandeln konnte.

Es war Pal, der nach vorne trat. Mit angehaltenem Atem beobachtete Nara jeden seiner Schritte. Geschmeidig und zielgerichtet steuerte er auf den Sterngebundenen zu, der Auri den Stoß versetzt hatte. Ein hochgewachsener Mann in gelben Roben, der Schädel glatt rasiert. Aufrecht stand er da, und aus der Entfernung war es Nara unmöglich, seinen Gesichtsausdruck zu deuten.

Noch während Pal lief, schrieb er ein Zeichen in die Luft. Dunkelblau glühend.

Eis.

Das Wasser, das nach Naras kläglichem Rettungsversuch übrig war, gefror zu den Füßen des Sterngebundenen, und Pal schrieb ein weiteres Zeichen in die Luft.

Wachstum.

Sofort breitete sich das Eis weiter aus, kroch über die Beine des Sterngebundenen nach oben, hin zu seiner Hüfte. Er wehrte sich nicht, starrte stattdessen überrascht auf Pal, der jetzt nur noch wenige Schritte entfernt war.

»Was tut er da?«, fragte Pulta leise, und auch in der Menschenmenge über ihnen erhob sich Gemurmel.

»Ich weiß es nicht.« Tatsächlich traute Nara ihm gleichsam furchtbare wie auch versöhnliche Dinge zu. Sie wäre weder überrascht, wenn er den Sterngebundenen tröstend in den Arm nahm, noch wenn er ihn komplett zu Eis erstarren ließ.

Als Pal bei ihm ankam, lehnte er sich nach vorne, flüsterte ihm Dinge ins Ohr.

Die anderen Elementgebundenen beobachteten die beiden, waren ganz gebannt, und Nara prüfte schnell, ob jemand nah genug dran war, um Pal zu belauschen. Doch die beiden standen abseits, und somit waren ihre Geheimnisse gut geschützt.

»Meinst du, er droht ihm?« Pulta trat näher an sie heran, hielt die Stimme gesenkt.

»Vielleicht.« Abwägend lehnte Nara den Kopf zur Seite. Auch sie war neugierig, was dort vor sich ging. »Das würde zumindest zu Pal passen und das Eis erklären.« Sie studierte seine Körpersprache. Den nach vorne gelehnten Oberkörper. Das emporgereckte Kinn. Die hinter dem Rücken gefalteten Hände als Zeichen der Selbstsicherheit. Der Sterngebundene indes blieb ganz ruhig und starr. »Vielleicht gewinnt er ihn aber auch gerade als Verbündeten und möchte nur, dass es so aussieht, als wären sie Feinde, damit die Menschen Lorts ihm wohlgesinnt bleiben. Ich traue ihm alles zu.«

Eine bittere Erkenntnis. Doch das Schlimmste daran war, dass sie Pal nicht einmal dafür verurteilte.

Da drehte Pal sich in einer eleganten Bewegung um und lief zurück zu Zura, die unter dem Baum gewartet hatte. Der Sterngebundene stolperte aus dem Eis, und das Gemurmel auf den Rängen wurde zu einem lauten Stimmgewirr.

»Fanden sie das gut?« Nara sah nach oben, erkannte irritierte Blicke in den vorderen Rängen.

»Schwer zu sagen.«

Ein sanfter Windzug kam auf, erinnerte an die Vorstellung der Sterngebundenen, die mit Auris Fall geendet hatte. Die vollkommene Orientierungslosigkeit war für Nara schwer zu ertragen. Sie war es gewohnt, das Ruder in der Hand zu halten und den Kurs zu bestimmen. Als Beschützerin Koris kamen die Menschen ihres Heimatdorfes zu ihr, um Rat und Hilfe zu erbitten. Die verbrannten Seelenbücher, Murts Tod, die Entführung und Katsos Verschwinden hatten ihr stark zugesetzt, aber sie musste zu ihrer alten Stärke zurückkehren, um eine Lösung zu finden, die ihnen allen half.

Ihr Problem war schlichtweg, dass es diese Lösung hier nicht gab. Ihr ganzes Leben lang hatte sie darauf geachtet, allen Beteiligten zu helfen. Ein schweres, meist unmöglich scheinendes Unterfangen, das sie zu Hause dank der Unterstützung der Menschen Koris oft erreicht hatte. Wann immer dennoch jemand unzufrieden gewesen war, hatte Nara diese Schuld auf sich genommen und trug sie bis heute.

Hier war die Lage anders. Ihre Taten führten unweigerlich zu negativen Konsequenzen für die anderen Mondgebundenen. Nur einer von ihnen durfte bleiben, und dieser Umstand war unverrückbar. Jene Menschen, die früher an ihrer Seite gestanden hätten, waren jetzt ihre Feinde.

Noch ganz in ihren Überlegungen versunken, bemerkte Nara, wie Pulta sich neben ihr versteifte und einen Wimpernschlag später eine Kampfposition einnahm. Die Beine hüftbreit aufgestellt, die Arme leicht angewinkelt.

»Was willst du?« Noch nie hatte Nara sie derart feindselig erlebt.

Eine Sonnengebundene in dunkelroter Kleidung kam auf sie zu. Nara erkannte sie sofort. Es war Luisi mit den kurz geschorenen Haaren, die Pulta bei einer Einheit angegriffen hatte.

»Reden«, erklang die beschwichtigende Antwort, und Luisi hob verteidigend beide Hände.

»Such dir dafür jemand anderen.« Pulta trat energisch einen Schritt nach vorne, und ihre Hand zuckte kurz zu der Stelle, an der normalerweise ein Schwert hing. »Wir sind nicht interessiert.«

»Darf Nara nicht für sich selbst sprechen?«, entgegnete Luisi und hob die buschigen Augenbrauen.

»Natürlich darf ich das.« Mit erhobenem Kopf trat Nara nach vorne, vorbei an Pulta, die ihr einen wütenden Blick zuwarf. »Dennoch hat meine Freundin recht. Ich möchte nicht mit dir reden.«

Es war schwer zu sagen, wer von beiden irritierter dreinblickte, als Nara Pulta als Freundin bezeichnete. Luisi riss die Augen auf, und Pultas Kopf ruckte energisch zu Nara herum. Dann lachte Luisi freudlos auf.

»Freundin?« Schlagartig wurde sie wieder ernst und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ich dachte, du wärst schlau, Nara aus Kori. Aber wenn du dir hier Freundinnen gesucht hast, habe ich mich wohl in dir geirrt.«

Aufbrandender Applaus unterbrach ihr Gespräch, und als Nara sich nach der Ursache umsah, erkannte sie einen steinernen Vorsprung, der auf der untersten Ebene der Zuschauertribüne nach vorne ragte. Dort stand Lusanna und breitete in ihrer gewohnt gebieterischen Art die Arme aus.

Die Menschenmenge verstummte.

»Der Sonnengebundene Katso ist nicht angetreten.« Von ihrer Position aus trug der Wind jedes Wort in alle Winkel der Arena. Sie sah nicht auf die Elementgebundenen herunter, sondern zu den Menschen Lorts hinauf. »Die Sterngebundene Auri hat die Arena aufgrund eines unglücklichen Unfalls verlassen. Nun ist es an der Zeit, dass auch Erde und Mond jemanden aus der Arena verweisen. Ihr habt Zeit bis zum nächsten Sonnenaufgang.«

Unglücklicher Unfall. Nara ballte die Hände zu Fäusten. Auri war aus der Luft gedrängt worden und tief gestürzt. Ihre Knochen zerschmettert, ihr hilfloser Blick gen Himmel gewandt. Niemand konnte garantieren, dass es keine Absicht gewesen war. Nicht einmal Lusanna. Ihr negativer Eindruck von ihr verstärkte sich, und Nara fragte sich, weshalb sie sich plötzlich so unempathisch verhielt.

Nara erinnerte sich allzu gut an ihre ersten Tage an der Akademie, als Lusanna sich ihr gegenüber stets verständnisvoll verhalten und ihr so eine dringend benötigte Sicherheit gegeben hatte.

Doch ihre unvorhergesehenen Reaktionen verunsicherten Nara und ließen dieses Vertrauen langsam bröckeln.

»Und was ist, wenn wir niemanden wählen?«, rief Pulta zu Lusanna empor.

Auf ihre Frage hin erklang empörtes Gemurmel aus den Zuschauerrängen. Lusanna faltete die Hände vor ihrem Schoß. »Dann wird niemand zum Ritual des Lichts antreten, und die Buchbinder verbleiben für einen Zyklus in Lort.«

6. Kapitel

Die Ungewissheit setzte Katso stärker zu als seine verletzte Schulter oder die gefesselten Hände. Von seinem Seelenbuch getrennt zu sein, schmerzte. Es war, als würde ein Teil seines Körpers fehlen.

Der Fremde stand in der Dunkelheit, den Oberkörper an die Wand hinter ihm gelehnt, die Bronzemaske ein kaum wahrnehmbares Schimmern.

Katso hatte versucht, ihn wieder zum Reden zu bringen, aber der Mann schwieg beharrlich, und irgendwann hatte Katso aufgegeben. Ihm blieb nichts anderes übrig, als in dieser steinernen Zelle zu warten und die Zeit zu nutzen, um Fluchtpläne zu schmieden. Nun wusste er, was hinter der Tür wartete, und er glaubte fest daran, dass er eine weitere Gelegenheit erhalten würde. Sein Seelenbuch musste er wahrscheinlich schweren Herzens zurücklassen, doch er würde wiederkommen, es zurückholen und den ganzen Ort niederbrennen. Mit Nara an seiner Seite.

Wenn sie nicht schneller war. Er traute ihr durchaus zu, ihn zu finden, und gleichzeitig beunruhigte ihn die Vorstellung. Denn es wirkte, als wäre Naras Rettungsaktion das Ziel ihrer Feinde. Sie stellten der Mondgebundenen eine Falle, und Katso war der Köder.

Wäre die Situation nicht so aussichtslos, würde er sich beinahe geschmeichelt fühlen.

Aber er saß mit auf den Rücken gefesselten Händen auf dem Boden, sein Körper schmerzte, und sein Mund war unangenehm trocken.

Als die Tür aufschwang, hoffte er, dass jemand kam, um ihm Essen zu bringen, doch die verhüllte Gestalt kam mit leeren Händen. »Wir müssen reden.«

Eine angenehm helle Stimme.

Der Mann, der zu Katsos Überwachung abgestellt wurde, schnaubte genervt, dann stieß er sich von der Wand ab und folgte der anderen Person nach draußen. Dieses Mal verharrte Katso auf dem Boden, denn selbst wenn es ihm gelänge, sich aufzurichten, so warteten vor der Tür zwei Feinde. Mit gefesselten Händen war es unmöglich, an ihnen vorbeizukommen.

Als die Tür erneut aufschwang, betrat eine Person den Raum.

»Gab es Ärger für meinen Ausbruchsversuch?«

»Wovon redest du?« Zu Katsos Überraschung war es nicht sein Wachmann, der antwortete, was ihm ganz neue Möglichkeiten bot.

»Ah, er hat es also nicht erzählt.« Den Kerl zu verraten, bereitete Katso eine seltsame Genugtuung. »Klar, wie auch, er war die ganze Zeit hier. Aber ich bin fast entkommen. So richtig gut hat er seine Aufgabe nicht erfüllt.«

Katso grinste triumphierend, und sein Gegenüber kam näher, ging in die Hocke. »Du bist fast entkommen?« Ein belustigtes Glucksen. »Das glaube ich nicht. Wie hättest du das bitte anstellen sollen?«

»Soll ich es dir zeigen?« Die Herausforderung kochte in seinen Adern.

Die verhüllte Gestalt verharrte reglos, und Katso überlegte bereits, mit voller Wucht gegen sie zu springen. Schlichtweg, um ihr einen Schock einzujagen. Doch da verstrich der Moment, die Person erhob sich und ging rückwärts zur Tür.

»Ich verzichte«, sagte sie tonlos und lehnte sich dann mit dem Rücken an das Holz. »Mir ist heute nicht nach Peinlichkeiten.«

»Oh, blamieren würde dich das auf jeden Fall.«

Daraufhin lachte sie auf. »Eigentlich sprach ich davon, dass ich dir nicht beim Scheitern zusehen möchte. Aber man hat mich schon davor gewarnt, dass du viel Selbstvertrauen besitzt.«

Die Scham brannte in Katsos Wangen, und er knirschte mit den Zähnen. Mit jedem Wort wuchs in ihm der Wunsch, aufzuspringen und einen weiteren Versuch zu wagen. Vielleicht gelang es ihm, diese Person zu überrumpeln. Allerdings stand sie zu weit entfernt für einen Überraschungsangriff, also musste er sie zunächst näher heranlocken.

»Also wird über mich geredet? Das ehrt mich.«

»Bilde dir nicht zu viel darauf ein. Das wenigste davon waren Schmeicheleien.« Sie griff in den Umhang und holte Katsos Seelenbuch hervor. Eine deutliche Drohung. »Stimmt es, dass es nicht mit dir redet?«

Das traf ihn vollkommen unvorbereitet, und Katso kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Was für eine seltsame Frage.«

»Denkst du wirklich, dass wir euch in der Akademie nicht alle beobachtet haben? Wir wissen so viel über euch.« Belustigung schwang in der Stimme mit, und Katso stellte zufrieden fest, dass seine Vermutung zutraf. Sie hatten sie also wahrhaftig schon lange im Blick. »Wobei diese Information über dich nicht einmal zu den brisanten gehört.«

Katso lachte leise auf. »Nun bin ich interessiert.«

»Ich bin nicht so naiv, Geheimnisse auszuplaudern.« Die Person stieß sich von der Tür ab und rückte erneut näher an Katso heran. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er spannte die Muskeln an, wartete auf den perfekten Moment. »Nicht vor dir. Man hat mich gewarnt.«

»Es ehrt mich, dass ihr alle solch eine hohe Meinung von mir habt.« Katso knirschte mit den Zähnen und hielt den Blick starr auf die schwarzen Augenhöhlen der Bronzefratze gerichtet. Es fiel ihm schwer, sein Gegenüber als Menschen zu begreifen. Generell wirkte diese Gruppe auf ihn wie ein unübersichtlicher Insektenschwarm, der sich in der Erde unter Lort einen Bau errichtet hatte. Sie hatten ihn beobachtet und überfallen. Offensichtlich waren sie viele, und dieser Gedanke beunruhigte ihn mehr, als er zugeben wollte.

Die Person ging in die Hocke, sodass die Maske knapp vor Katsos Gesicht schwebte. Poliertes Metall, zu einer grotesken Miene verzerrt. Ein hämisches Grinsen, kalt und tot. Doch darunter steckte definitiv ein Mensch, der Katsos Schätzung nach in seinem Alter war. Es waren Kleinigkeiten, die das verrieten, wie der Klang der Stimme, die geschmeidigen Bewegungen, die übermäßige Neugier.

»Also, Katso Sano. Dein Seelenbuch spricht nicht mit dir. Wieso?«

Leugnen war zwecklos, und so nutzte Katso die Neugier seines Gegenübers, um selbst an Informationen zu gelangen. »Was interessiert es dich?«

»Sagen wir …« Ein leises Schnalzen mit der Zunge, kaum hörbar unter der Maske. »Ich habe meine Gründe.«

»Oh, die haben wir doch alle. Es gibt sicher auch gute Gründe, weshalb ihr mich mit gefesselten Händen in eine Kammer tief unter der Erde sperrt. Ich bin gespannt darauf, mehr darüber zu erfahren.«

»Du bist der Köder«, kam sofort eine Antwort, was Katso erneut aus dem Konzept brachte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit Ehrlichkeit. Vor allem nicht, da sie betont hatte, keine Geheimnisse zu verraten. Verwirrt runzelte er die Stirn. »Ach, das hast du dir doch selbst schon zusammengereimt. Das ist also kein Geheimnis, und ich habe keinen Grund, dich anzulügen. Wir sind auf der Suche nach deiner Freundin Nara, die uns dank dir leider entwischt ist.«

»Warum gerade sie?«, hakte Katso nach. »Warum nehmt ihr nicht einfach mich? Ihr habt mein Seelenbuch. Lasst sie gehen.«

Ein Seufzen. »So einfach ist das nicht.« Das sanfte, blaue Licht tanzte über die Maske, warf bizarre Schatten, die das Metall zum Leben erweckten. »Abgesehen davon ist dein Seelenbuch nutzlos, wenn es nicht einmal mit dir redet.«