Hinter den Spiegeln so kalt - Liza Grimm - E-Book

Hinter den Spiegeln so kalt E-Book

Liza Grimm

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Beschreibung

Magisch, geheimnisvoll, unheimlich: Willkommen im frostigen Reich der Schneekönigin!   Das düstere Fantasy-Märchen »Hinter den Spiegeln so kalt« von Liza Grimm erzählt von einer verschwundenen Tochter, eisigen Träumen und dunklen Geheimnissen. Als ihre geliebte Tochter Hannah spurlos verschwindet, stürzt Finja in ein tiefes Loch. Ihr einziger Hinweis auf Hannahs Verbleib ist eine Spur aus Eis im Badezimmer, aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! In ihrer Verzweiflung sucht Finja schließlich Hilfe bei einer angeblichen Hexe – und stößt auf Ungeheuerliches: Schneetreiben und Schreie wirbeln durch ihre Erinnerungen, und ein fremdes Gesicht, das ihr seltsam vertraut erscheint. Die Antworten auf Finjas Fragen warten hinter den Spiegeln, in einem Reich aus Eis und Schnee. Aber will sie die Wahrheit wirklich wissen? Mit ihrer düsteren Neuinterpretation des Märchens »Die Schneekönigin« hat Bestsellerautorin Liza Grimm einen Fantasy-Roman voller Magie und Geheimnisse geschaffen, der um die Frage kreist, was real ist und was nicht. Von Liza Grimm sind außerdem die folgenden Fantasy-Romane erschienen: Die Götter von Asgard Die Helden von Midgard   Talus  Talus - Die Magie des Würfels

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Seitenzahl: 436

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Liza Grimm

Hinter den Spiegeln so kalt

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Triggerwarnung – Hinweis

Widmung

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Epilog

Nachwort

Danksagung

Triggerwarnung

Liebe Leser*innen,

 

bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen euch gute Unterhaltung mit Hinter den Spiegeln so kalt.

 

Liza und der Knaur Verlag

Für jene, die sich nicht gesehen fühlen.

»Siehst du das eisige Schimmern im Spiegel? Diesen blauen Funken, nicht mehr als ein kurzes Blinken?

Dort wohnt die Eiskönigin, heißt es, mit einem Herz, so kalt und leer wie die Unendlichkeit.

Sie lebt in ihrem Glaspalast hinter den Spiegeln und holt sich jene Kinder, die Angst im Herzen tragen. Also hab keine Angst, wenn du deinem Spiegelbild in die Augen schaust.

Sonst wird sie kommen und dich holen, und deine Seele wird ihr neuer Begleiter sein.«

1

Was von mir blieb, 8. August

Heute

Finger aus Eis. Finja sah auf ihre Hände hinab. Blaue Haut, überzogen mit Eisblumen. Wunderschöne Muster.

Kälte, Schmerz, Leere. Verlust.

Der Schrei ihrer Tochter.

Neben ihr.

Hinter ihr.

In weiter Ferne.

Drei Schreie, dann Stille. Schneegestöber, diesige Sicht. Hannah war fort. Finja wollte ebenfalls schreien, aber ihre Lippen waren zugefroren, ihr blieb nur eiskaltes Nichts, keine kleinen Finger, die sich in ihre schoben, keine weichen Haare, die sie zu einem Zopf flocht, kein Lachen in ihren Ohren. Nie wieder geflüsterte Bitten nach einer Gutenachtgeschichte. Nie wieder über die kleine Narbe knapp neben dem rechten Auge streicheln, nie wieder den Scheitel küssen, der so wunderbar nach zu Hause roch.

Alles war Vergangenheit, ebenso wie Hannah, die kleine, süße Hannah. Verloren.

Finjas Herz war Eis, wie ihre Finger, kalt und tot und wunderschön. Der Schmerz wurde zu stark, war nicht mehr Eis, sondern Feuer. Das Eis knirschte, zerbrach. Finja schrie. Tränen liefen über ihre Wangen.

»Holen sie tief Luft, Frau Dahl.«

Luft in ihrer lebendigen Lunge. Zitternd strich sie über die warme Haut ihres Daumens. Das Eis ist nicht echt, sagte sie sich wie so oft, aber die Stimme in ihrem Kopf war zu leise, um in ihr Innerstes vorzudringen. Egal, wie oft sie sich einredete, dass das Eis in der Realität keine Macht hatte, sobald die Träume sie überfielen, kam es zurück und mit ihm der Tod.

Finja hob den Kopf, erkannte das Gesicht ihrer Therapeutin, blinzelte. Es war ein nettes Gesicht, mit runden Wangen und Verständnis im Blick.

Finja räusperte sich, erwartete, kein Wort hervorzubringen, aber die Luft kam ihr warm über die Lippen: »Da war wieder das Eis.«

Frau Halla nickte, als würde sie verstehen, dabei bezweifelte Finja, dass ihre Worte für Außenstehende irgendeinen Sinn ergaben. Ganz gleich, wie viele Therapiesitzungen sie besuchte, nichts wurde besser. Weder ihre Albträume noch der Verlust.

»Erzählen Sie mir davon, Frau Dahl.«

Es irritierte sie, wie die Therapeutin immer wieder ihren Namen wiederholte. Als wäre er ein Anker, der sie an diese Welt band. An ihren Körper. Der Gedanke verstörte Finja, und kurz fragte sie sich, ob sie nicht einfach ihren Namen ablegen und zu einem anderen Menschen werden konnte.

Zu einer Frau, die ihre Tochter nicht verloren hatte. Zu einer Frau, die noch wusste, wie man lächelte.

2

Altes Glück, 7. Dezember

Vier Jahre zuvor

Hab dich, Käferchen!« Mika packte seine kleine Tochter und wirbelte sie so schnell durch die Luft, dass Finja bei dem Anblick schlecht wurde. Sie rechnete damit, dass er das Kind jeden Moment losließ und Hannah mit dem Kopf voraus auf dem Parkettboden landete. Stattdessen lag sie plötzlich auf Mikas Schulter und quietschte vor Freude.

Sie breitete die Arme aus, als wäre sie ein Flugzeug, während Mika lachend ein kleines Stück rannte, abrupt bremste und Hannah in einem Purzelbaum nach unten bugsierte.

»Noch mal!«, rief sie und streckte die Arme nach oben.

»Später.« Mika schnaufte und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. »Das ist ganz schön anstrengend, weißt du?«

»NOCH MAL!«

Ein leichtes Lächeln zupfte an Finjas Mundwinkel. Es machte sie jedes Mal nervös, wenn Mika so mit ihrer gemeinsamen Tochter tollte, aber Hannahs glitzernde Augen und ihre Begeisterung milderten ihre Sorge ein wenig.

»Jetzt nicht«, schritt Finja ein und hob Hannah hoch. Mittlerweile war sie deutlich zu schwer, um ständig getragen zu werden, aber noch ließ Finja sich dieses Privileg nicht nehmen. Die Zeit, in der Hannah überhaupt nicht mehr getragen werden wollte, würde kommen – und bis dahin würde sie ihre kleine Tochter sooft hochheben und an ihre Brust drücken wie möglich. »Papi ist müde.«

Tatsächlich lagen tiefe Ringe unter Mikas Augen, und Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Sein Hemd war zerknittert, und Finja fragte sich, wie lange die Haare an seinen Schläfen eigentlich schon farblos waren. Mika und sie waren seit acht Jahren zusammen, seit drei Jahren bereicherte Hannah ihr gemeinsames Leben. Auch wenn es Tage gab, an denen sie Mika nicht sehen wollte, und Nächte, in denen sie lieber auf dem Sofa schlief, war sie doch glücklich mit ihm. Er war ein guter Vater, ein liebevoller Ehemann.

»Pass auf«, schlug Finja ihrer Tochter vor. »Wir gehen in die Küche und backen ein paar Kekse für Papi, damit er wieder stark genug ist, um mit dir zu spielen.«

Das Wort Backen in Kombination mit Kekse erweckte sofort Hannahs Aufmerksamkeit. Sie runzelte die Stirn, als müsste sie sehr angestrengt darüber nachdenken.

»Das fände ich toll!«, schaltete sich Mika ein, woraufhin Hannah strahlte und nickte. Mit den Lippen formte er ein lautloses Danke in Finjas Richtung, während diese mit dem Kind auf dem Arm in die Küche trat. Der Raum war recht groß, denn genug Platz für einen Esstisch war Mika beim Hauskauf wichtig gewesen. Das Fenster auf der Rückseite führte zum Garten, der von einer weißen Schneeschicht bedeckt war. Kleine Flocken rieselten herab, tanzten unter der grauen Wolkendecke.

Finja setzte Hannah an den Tisch und begann, aus den Schränken die benötigten Schüsseln und Zutaten zusammenzusammeln. Bald war Weihnachten, Mikas liebste Zeit des Jahres, und Plätzchen gehörten zum Winter wie Marshmallows in heißen Kakao. Zumindest wenn es nach Finja ging.

Sie brachte die Zutaten zum Tisch, stellte den Messbecher vor Hannah ab und half ihr beim Abmessen. Dann durfte Hannah Eier, Mehl, Zucker und die Butter mit den Fingern durchkneten. Der Teil machte ihr am meisten Spaß, was zur Folge hatte, dass mehr als ein Mehlklecks auf dem weißen Fliesenboden landete.

Hannah bearbeitete den Teig, als wäre er Knete. Sie formte Figuren, brabbelte Geschichten, von denen Finja kein Wort verstand. Als der Teig die richtige Konsistenz hatte, rollten sie ihn gemeinsam mit einem Nudelholz aus, wobei Finja die meiste Arbeit machte und Hannah das Ding festhielt und lachte.

Erst zum Ausstechen der Plätzchen kam Mika in die Küche. Er hatte das Hemd gegen ein T-Shirt ausgetauscht, aber die Augenringe ließen sich nicht so einfach abstreifen. Er lächelte Finja an, hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel und wuschelte dann Hannah durch die Haare, die gerade mit einer Sternform Plätzchen ausstach.

»Die sehen aber toll aus! Als wären sie direkt vom Himmel gefallen.«

Hannah lächelte stolz und legte einen Stern aufs Backblech, wobei die Zacken alle nach hinten klappten. Vorsichtig griff Mika danach und löste die Spitzen von der Mitte, damit er wieder seine Ursprungsform bekam. »So.«

Als Hannah den nächsten Stern auf das Backblech bugsierte, konzentrierte sie sich so stark, dass ihre Zunge zwischen den Zähnen hervorlugte. Mika trat hinter Finja und zog sie an seine Brust, woraufhin sie leise lachte.

»Geht’s dir besser?«, fragte sie und drehte sich leicht um, betrachtete sein Profil. Er wirkte nicht mehr ganz so angespannt, aber noch immer trübte Kummer seinen Blick.

»Ein wenig.« Seine Mundwinkel hoben sich sanft, aber die Falten auf seiner Stirn blieben tief.

»Möchtest du dich nicht noch etwas ausruhen?« Vorsichtig strich Finja ihm über den Unterarm. Seine Haut war warm und roch nach Heimat.

»Ich muss doch aufpassen, dass ihr ordentliche Sterne backt.« Seine Lippen streiften ihre Stirn. Dann löste er sich von ihr, griff ebenfalls nach einem Ausstecher und fing an, den Teig zu bearbeiten.

Am liebsten hätte Finja ihn in eine heiße Badewanne gesteckt, aber sie wusste, dass sie damit bei Mika keinen Erfolg haben würde. Deshalb machte sie sich ebenfalls wieder an die Kekse, sammelte die von den beiden ausgestanzten Reste, knetete sie und rollte sie erneut aus, während sie aus dem Augenwinkel beobachtete, wie Mika und Hannah in Eintracht Plätzchen ausstachen.

Draußen war es bereits dunkel geworden, die Küchenlampe verbreitete ein angenehm warmes Licht, und Finja wünschte sich, dass dieser Moment für immer andauerte. Sie lächelte, und auch Jahre später würde dieser kurze Augenblick besonnener Dankbarkeit sie daran erinnern, was sie alles verloren hatte.

3

15. Juni

Vor Hannahs Verschwinden

Ich will aber nicht, Mama!«

Hannah stapfte fest auf den Teppichboden, verschränkte die Arme vor der Brust und schob eine Lippe nach vorne. Ein Teil ihrer dunklen Haare war zu einem losen Zopf geflochten, der andere hing ihr wild ins Gesicht. Sie blies eine Strähne weg und kickte in die Luft, als wäre dort ein Ball, an dem sie ihre Wut abließ.

»Bitte.« Finja seufzte, ging in die Hocke und warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte keine Zeit für solche Spielchen. »Max wartet schon im Zoo auf uns.«

»Max ist doof«, entgegnete Hannah und drehte sich energisch weg, sodass Finja auf ihren Hinterkopf starrte. »Was will der denn mit uns im Zoo? Wenn die Giraffen ihn sehen, haben sie bestimmt Angst und laufen weg.«

»Dann würde ich auch endlich mal eine rennende Giraffe sehen«, erwiderte Finja. »Wäre das nicht spannend? Bisher kenne ich sie nur stehend und Blätter mampfend.«

»Können wir nicht allein gehen?« Jetzt drehte sich Hannah wieder zu ihr um. Der Anblick ihres verzweifelten Gesichts brach Finja das Herz. Sie trat auf ihre Tochter zu und zog sie an sich. Hannah drückte sich an sie, ihr Kopf reichte ihr bis knapp unter die Brust. Der kleine Körper fühlte sich so zerbrechlich an, sanft strich Finja ihr über die Haare.

»Ich mag Max, weißt du«, flüsterte Finja. »Sehr gern sogar.«

»So gern wie Papa?«

Die Frage kam nicht unerwartet, ebenso wenig wie der Schmerz, der Finjas Herz zerriss. Aber dennoch schluckte sie, wägte jedes Wort ab. Sie hatte sie schon oft gemurmelt, nachts, wenn Hannah schlief, aber jetzt erschienen sie ihr falsch.

Erneut ging Finja in die Hocke, nahm Hannahs zarte Finger in ihre. Sie sah ihr in die Augen, in diese pechschwarzen Augen, die Finja jeden Tag an Mika erinnerten. Ihr geliebter Mika.

»Anders«, erwiderte Finja, presste das Wort mühevoll durch ihre trockene Kehle. »Dein Papa wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, und den wird ihm niemand wegnehmen.« Sie drückte sanft die Hände ihrer Tochter. »Niemals, verstehst du? Wir werden immer eine Familie sein.«

Sie hielt die Tränen zurück. Für Hannah. Das kleine Mädchen hingegen ließ ihnen freien Lauf. Sie schluchzte, presste sich enger an ihre Mutter, weinte hemmungslos.

Ihre Tochter so zu sehen, zerriss Finja erneut das Herz. Alles in ihr zog sich zusammen, ihre Kehle und ihre Augen brannten, aber sie atmete weiter, einfach weiter. Eine ganze Weile standen sie so da, eng umschlungen, bis Hannah irgendwann ruhiger atmete, nur noch hin und wieder unterbrochen von einem Schluchzen. Mittlerweile war es Finja egal, ob sie zu spät kamen. Max würde das verstehen.

Sie strich Hannah noch einmal über den Kopf, dann trat das Mädchen zurück, wischte sich mit dem Ärmel ihrer gelben Strickjacke die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich möchte wirklich lieber allein mit dir in den Zoo«, versuchte Hannah es erneut. Ihre Augen waren gerötet, und sie klang so erschöpft, dass Finja kurz versucht war, nachzugeben.

»Ein andermal«, antwortete sie und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. »Pass auf: Wir gehen mit Max in den Zoo, und dafür schauen wir heute Abend Frozen, okay?«

»Nur du und ich?«

»Nur du und ich.«

Hannah legte die Stirn angestrengt in Falten und sagte schließlich: »Kleiner-Finger-Schwur?«

»Kleiner-Finger-Schwur.« Sie verhakten die Finger ineinander.

»Danke.« Jetzt war Finjas Lächeln echt. Sie streckte Hannah die Hand entgegen. »Komm, ich flechte dir die Haare.«

»Das kann ich doch schon allein.« Hannah flitzte Richtung Badezimmer davon und ließ Finja in dem schmalen Flur zurück. Er war zu eng für Möbel, dafür hingen umso mehr Bilder an den orange gestrichenen Wänden. Fotos aus besseren Zeiten. Von Mika, der stolz eine Hand auf Finjas leicht gewölbten Bauch legte, während sie beide vor dem Weihnachtsbaum posierten. Mika hatte diese Jahreszeit geliebt und immer zu etwas Besonderem gemacht. Nicht selten war Finja von den ganzen Blinklichtern und vom Lametta genervt gewesen, hatte ihn gebeten, Weihnachten nicht wie in Amerika zu feiern, aber Mika hatte nur gelacht und eine weitere Lichterkette an die Mehrfachsteckdose angeschlossen.

Neben dem Foto hing ein Bild, auf dem Mika die neugeborene Hannah hielt. In seinen muskulösen Armen sah sie noch kleiner aus, als sie eigentlich gewesen war, seine rechte Hand umschloss Hannahs Kopf nahezu komplett. Mika lächelte, als wäre er der glücklichste Mensch der Welt. Vermutlich war er das zu diesem Zeitpunkt vor sieben Jahren auch gewesen.

Wieder einmal spielte Finja mit dem Gedanken, die Fotos abzuhängen. Sie erinnerten sie jeden Tag an das, was sie unwiderruflich verloren hatte. Aber Hannah liebte die Bilder, zeigte sie jedem Besucher, erzählte stolz von den wenigen Erinnerungen, die sie an ihren Vater hatte, und von jenen, die Finja ihr so oft als Gutenachtgeschichten erzählt hatte, dass sie für Hannah ebenfalls zu echten Erinnerungen geworden waren. Vier lange Jahre war Mika nun schon tot, und in einsamen Momenten erschien es Finja, als wäre die Zeit mit ihm nichts als ein wunderschöner Traum gewesen.

4

Die Suche nach mehr, 8. August

Heute

Mit einem leisen Klirren ließ Finja den Schlüsselbund in die Schale auf dem Sideboard fallen. Es war eine kleine, schiefe Tonschale mit bunten aufgemalten Herzen. In der Mitte erinnerten mehrere Klebestellen an den Tag, als Hannah vom Kindergarten zurückgekommen war, stolz den Reißverschluss des Rucksacks beiseitegezogen hatte, um ihren Eltern das selbst getöpferte Stück zu zeigen, und dann stattdessen Scherben zutage gefördert hatte.

Hannah hatte bitterlich geweint, aber dank Mikas ruhigen Fingern und viel Sekundenkleber war die Schale schnell wieder ganz gewesen.

»Auch wenn wir etwas reparieren, sieht es danach anders aus«, hatte Mika Hannah erklärt. Finja liebte es, wie Mika ihr immer wieder neue Blickwinkel auf die Welt eröffnete. »Aber das heißt nicht, dass es schlechter ist. Es ist jetzt einfach eine neue Erinnerung. Wenn du die Schale ansiehst, wirst du ab jetzt immer wissen, dass man Dinge mit ganz viel Geduld reparieren kann.«

»Und mit Sekundenkleber!«, hatte Hannahs Antwort gelautet, bevor die beiden in Gelächter ausgebrochen waren. Auch Hannahs Sicht auf die Dinge entlockte Finja immer häufiger ein Lachen.

Die glücklichen Erinnerungen verschwanden, und zurück blieben der leere Hausflur und die Risse in der Schüssel, die Finja nur noch daran erinnerten, dass manche Dinge nicht mit Sekundenkleber repariert werden konnten.

Sie schlüpfte aus den Sneakern, hängte die Jeansjacke an die Garderobe und steuerte direkt zum Kühlschrank. Dort griff sie nach dem Fertig-Smoothie und leerte ihn mit wenigen Schlucken. Erdbeer-Banane. In den letzten vier Wochen seit Hannahs Verschwinden hatte sie schon deutlich ungesündere Abendmahlzeiten zu sich genommen.

Sie schlurfte zum Küchentisch, nahm die Kaffeetasse, die seit dem Frühstück dort stand, und räumte sie in die Spülmaschine. Anschließend ging sie dem restlichen Haushalt nach: Wäsche, Aufräumen, Staubsaugen.

Jede Aufgabe war jahrelang eingeübte Routine. Jede Aufgabe erinnerte sie an Hannah. Daran, dass ihre kleinen Socken fehlten. Daran, dass sie ihr nicht mehr dabei half, das Bett aufzuschütteln. Daran, dass Hannah früher so gern den Tab in das Spülmaschinenfach gesteckt hatte.

Daran, dass sie nichts davon je wieder tun würde.

Trotzdem machte Finja weiter, bis sie schließlich mit einem Wasserglas in der Hand aufs Sofa glitt. Draußen senkte sich die Nacht über den kleinen Ort, aber Finja war zu müde, um aufzustehen und das Licht anzuschalten. Sie saß einfach in der Dunkelheit und nippte an ihrem Wasserglas, während das Ticken der Wanduhr der einzige Hinweis darauf war, dass die Zeit voranschritt.

Finja zählte nicht mehr. Kurz nach Hannahs Verschwinden war das ihr einziger Halt gewesen: Sekunden zählen. Zählen, wie viele Sekunden sie es bereits geschafft hatte, ohne Hannah weiterzuatmen. Irgendwann hatte sie damit aufgehört und sich dann nicht mehr getraut, wieder anzufangen. Sie wollte nicht wissen, wie lange sie schon in dieser Hölle gefangen war.

Das Telefon klingelte. Sie ging nicht dran, saß einfach nur da, nippte an ihrem Wasserglas.

Irgendwann später klopfte es an der Tür. Energisch. Panisch. »FINJA!«

Elisas Stimme. Routiniert stand Finja auf, trat in den Hausflur und öffnete die Tür. Ein Wirbelwind stürmte herein und begrub Finja in einer Umarmung.

»Das kannst du doch nicht machen.« Elisa redete schneller, als Finja denken konnte. »Ich hatte ’ne Scheißangst um dich. Wieso bist du nicht ans Telefon gegangen? Und ans Handy? Ich hab dir geschrieben. Und angerufen. Boah, ich hab mir so Sorgen um dich gemacht, und du stehst hier einfach in deinem schicken Kleid und tust so, als wäre nichts gewesen, aber Finja, wenn du das noch einmal tust … Wir hatten doch gesagt, dass du Bescheid gibst, wenn du nicht erreichbar bist.« Der Wortschwall stoppte, und Elisa entließ Finja kurz aus der Umarmung, um sie zu mustern.

Elisa selbst trug einen Flanellschlafanzug mit Flamingos darauf. An ihrem Arm hing ein riesiger prall gefüllter Stoffbeutel, ihre Füße steckten in abgenutzten Sandalen.

»Sag mir nicht, dass du mit denen Auto gefahren bist.« Finja deutete auf ihr Schuhwerk. »Das ist gefährlich.«

»Ich hatte eine Scheißangst, okay?« Energisch schüttelte Elisa den Kopf, dann zog sie Finja wieder an sich. Obwohl Elisa deutlich kleiner war als sie, war sie stärker. Und das nicht nur, weil Finja in letzter Zeit sehr unregelmäßig aß. Alles an Elisa war Energie: ihre laute Stimme, ihr kräftiger Körper, ihre Sicht aufs Leben.

»Tut mir leid«, murmelte Finja, während eine von Elisas dunklen Haarsträhnen ihre Nase kitzelte. »Wirklich. Ich hab einfach nur auf dem Sofa gesessen.«

Früher hätte diese Erklärung nicht gereicht, aber seit Hannahs Verschwinden vor knapp einem Monat war alles anders. Elisa trat einen Schritt zurück, die Hände noch immer an Finjas Oberarmen, und nickte verständnisvoll.

»Da gehst du jetzt auch wieder hin.« Sie schlüpfte aus den Sandalen und bugsierte Finja zurück ins Wohnzimmer. »Hast du heute schon was gegessen?«

»Einen Smoothie.«

»Das ist alles?«

Nachdem Finja genickt hatte, dauerte es nicht lange, bis in der Küche die Töpfe klapperten. Still saß Finja auf dem Sofa und fühlte sich leer. Nicht einmal der Geruch von frisch gebratenen Eiern löste etwas in ihr aus. Hunger war für sie nicht mehr als eine Erinnerung.

Elisa brachte ihr einen Teller mit zwei Spiegeleiern und drei frischen Scheiben Brot. »Zum Glück war ich vorbereitet«, erzählte sie, während sie das Essen auf den Couchtisch stellte und Finja Besteck in die Hand drückte. Dann eilte sie erneut in die Küche und kehrte mit ihrem Stoffbeutel zurück, aus dem sie drei große Tafeln Schokolade hervorholte. »Nachtisch ist auch da.«

Finja brachte es nicht über sich, ihr zu sagen, dass nicht einmal die Aussicht auf Haselnussschokolade ihrem Magen eine Reaktion entlockte. Unter Elisas Aufsicht schob sie sich eine Gabel Ei nach der nächsten in den Mund. Es machte für sie keinen Unterschied, aber sie hatte nicht die Kraft, sich Elisa zu widersetzen, und ein winziger Teil in ihr war ihrer Freundin sogar dankbar. Der kleine Teil, der das Leben noch nicht aufgegeben hatte.

Schließlich war der Teller leer und Finja noch müder als zuvor. »Danke«, sagte sie, und Elisa machte sich sofort daran, aufzuräumen. Als die summenden Geräusche der Spülmaschine erklangen, kehrte sie zurück und setzte sich wieder neben Finja auf das Sofa. Die Lampe neben ihr spendete trübes Licht, das auf Finja vor wenigen Wochen noch heimelig gewirkt hatte. Jetzt schien es ihr, als hätte die Glühbirne zu wenig Kraft, um die Dunkelheit zu vertreiben.

Elisa lehnte sich zurück und seufzte. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen. »Mein Tag war suuuuuperanstrengend. So langsam hab ich echt keine Lust mehr auf diesen Job. Ständig will jemand was von mir, und erinnerst du dich noch an Carola, die Kollegin aus dem Kundenservice? Du kannst dir nicht vorstellen, was sie heute wieder …«

Während Elisa sich über Carola ausließ, fixierte Finja die große Uhr an der Wand, beobachtete den Sekundenzeiger, der sich quälend langsam über das Zifferblatt schob. Elisa tat genau das, was Frau Halla empfohlen hatte: Finja Normalität bieten, damit sie zurück in einen Alltag fand. Einen Alltag ohne Hannah. Zurück in die Marketingfirma, in ihr altes Leben, allerdings ohne ihre Tochter. Für Finja schien das gerade kein erstrebenswertes Ziel zu sein, aber ihr Umfeld sprach ständig davon, vor allem ihre Eltern.

Ihre Eltern, zu denen sie nicht erst seit Hannahs Verschwinden wenig Kontakt hatte.

Ihre Eltern, die sie seitdem gerade ein Mal angerufen hatten.

Doch Finja brauchte sie nicht, hatte sie immerhin Elisa, die sich darum kümmerte, dass Finja regelmäßig aß. Zwei Mal am Tag machte sie einen Kontrollanruf, um zu erfahren, wie es ihr ging. Diese Kontrolle und Fürsorge wirkten auf Finja gar nicht wie normaler Alltag, aber die Wahrheit war, dass sie sich dank Elisa nicht ganz so allein fühlte. Nicht ganz so hilflos.

»Wie geht es dir?«, endete Elisa und sah Finja einfühlsam an. Waren die Falten in ihrem Gesicht schon immer so tief gewesen?

»Ich möchte morgen Max anrufen«, erwiderte Finja.

Nach Hannahs Verschwinden hatte Max sich bemüht, für Finja da zu sein, aber sie hatte ihn weggeschickt. Wieder und wieder, bis seine Anrufe und Besuche eines Tages endlich aufgehört hatten.

»Max?«, wiederholte Elisa und zog die Augenbrauen so hoch, dass sie unter ihrem kurzen Pony verschwanden. »Wieso willst du den denn anrufen? Habt ihr euch nicht getrennt?«

»Ja, aber …« Es war schwierig zu erklären. »Vielleicht erinnert er sich noch an etwas, das mir dabei hilft, Hannah zu finden, weißt du?«

Der Sekundenzeiger tickte unbarmherzig voran.

»Finja …« Elisas Stimme war erschreckend leise, sie griff nach Finjas Hand. »Die Polizei hat Max schon befragt. Uns alle. Sie suchen nach Hannah, aber … weißt du … vielleicht …« Sie verstummte.

Vielleicht wird sie nie wiederkommen.

Vielleicht ist sie schon lange tot.

Nicht einmal diese Gedanken lösten irgendetwas in Finja aus. Sie war leer, einfach leer, und sie wusste, dass diese Leere nur von ihrer Tochter gefüllt werden konnte. »Ich muss es wenigstens versuchen«, sagte sie deshalb und entzog sich Elisas Berührung. »Vielleicht übersieht die Polizei etwas. Sie suchen nach so vielen Kindern und haben so viel zu tun, und sie kennen Hannah nicht so, wie ich sie kenne.«

»Sie tun, was sie können«, erwiderte Elisa, und irgendwie veränderte das etwas in Finja. Die Leere verschwand, und stattdessen war dort plötzlich Wut. Klein, zurückhaltend, aber im Vakuum ihres Herzens brannte diese kleine Flamme erschreckend hell.

»Tun sie nicht«, schleuderte Finja ihr entgegen und sprang auf. Energisch lief sie im Wohnzimmer auf und ab. »Sie haben uns alle befragt, und das war es. Sogar die Steckbriefe musste ich allein aufhängen. Und was ist seitdem passiert? Nichts. Kein Anruf der Beamten, keine weiteren Ermittlungen. Sie haben Hannah schon aufgegeben. Ihr alle habt das. Aber sie ist nicht tot, sie kann nicht tot sein. Ich würde es spüren, und das tue ich nicht, also muss sie noch da sein. Sie ist verschwunden, nicht gestorben, also hört endlich alle damit auf, so zu tun, als würde sie nie wieder zurückkehren, denn das wird sie.«

Ihr Hals war kratzig. So viel hatte sie schon seit Tagen nicht mehr am Stück gesprochen. Sie griff nach dem Wasserglas und leerte es in einem Zug. Plötzlich lag ihr das Essen schwer im Magen.

Elisa stand ebenfalls auf und kam so umsichtig auf sie zu, als wäre Finja ein wildes Tier. Irgendwie machte sie das noch wütender. Normalerweise war Elisa weder leise noch vorsichtig, und Finja wollte nicht behandelt werden, als wäre sie aus Porzellan.

»Du hältst mich für wahnsinnig«, stellte Finja fest und schnaubte. »Ihr alle tut das. Natürlich. Ich halte mich ja selbst für wahnsinnig!« Sie griff sich in die Haare, die vor Mikas Tod einmal zu einem Bob geschnitten waren und jetzt sämtliche Form verloren hatten. »Ich war heute bei der Therapie und habe von dem Traum erzählt.«

»Mit dem Eis?«

Finja nickte. Seit Hannahs Verschwinden träumte sie davon, und immer wieder war es, als würde ihr das wichtigste Detail sofort beim Aufwachen entgleiten. »Hannah war da. Obwohl in diesen Träumen alles kalt und einsam ist, so tröstet mich doch die Gewissheit, dass sie lebt. Auch wenn sie mir entgleitet und im Eis verschwindet, spüre ich doch, dass sie noch lebt.«

»Was sagt denn Frau Halla dazu?«

»Nicht viel«, erwiderte Finja hilflos.

»Aber Frau Halla ist eine gute Therapeutin«, wagte Elisa sich vor, »und sie wird schon wissen …«

»Sie versteht mich nicht«, fuhr Finja dazwischen. Der Zorn kehrte zurück, brannte heller, je mehr Elisa ihrer Therapeutin zustimmte. Dieser Frau, die seit Mikas Tod in Finjas Verstand wühlte, ohne irgendetwas besser zu machen. »Genauso wenig wie du.«

Die Worte standen zwischen ihnen wie eine Mauer. Die beiden Freundinnen sahen einander an, die eine hilflos vor Schmerz, die andere hilflos vor Wut. Tränen schimmerten in Elisas Augenwinkeln, Finja presste die Lippen fest zusammen.

»Ich verstehe dich nicht«, flüsterte Elisa schließlich. »Natürlich nicht. Wie könnte ich auch? Ich habe keine Kinder, und selbst wenn ich welche hätte, könnte ich mir niemals ausmalen, was du gerade durchmachst. Aber ich bin für dich da, Finja. Immer. So gut ich eben kann. Ich will nur das Beste für dich, und ich hoffe, du weißt das.«

Die Wut brannte noch immer in ihrem Herzen, aber trotzdem nickte Finja, entspannte ein wenig die Schultern, stieß einen Schwall Luft aus. »Ich wünschte einfach, jemand würde mich und diesen Traum endlich ernst nehmen.« Sie hielt kurz inne. »Oder wenigstens dafür sorgen, dass ich es nicht mehr tue.«

»Ich …« Elisas Zurückhaltung stellte Finjas Geduld auf die Probe. Ihre sonst so forsche Freundin derart vorsichtig zu sehen, erinnerte sie daran, dass ihr Leben gerade aus den Fugen geraten war. Wenigstens in diesem Punkt hatte Frau Halla also recht, wie Finja sich widerwillig eingestand.

»Spuck’s schon aus«, forderte Finja Elisa auf. »Und behandle mich nicht so, als könnte ich jeden Moment zerbrechen. Das hilft mir nicht weiter.«

Bedürfnisse klar kommunizieren. Check, dachte Finja und war jetzt schon zufrieden, dass sie wenigstens diesen Fortschritt in der nächsten Sitzung vorzuweisen hatte.

»Also. Du musst wirklich sagen, wenn du es für eine schlechte Idee hältst. Ist es wahrscheinlich auch. Ich glaube ja selbst nicht mal dran.« Elisa nahm an Fahrt auf, wurde immer schneller, bestätigt von Finjas Wunsch. »Aber es gibt da jemanden in der Nähe meines Büros. Eine ältere Frau, und sie … also … wie sag ich das am besten? Sie sagt von sich selbst, sie sei eine Hexe und könne Verbindungen zwischen Geistern herstellen. Und ich dachte, vielleicht, also … vielleicht könnte sie dir sagen, ob Hannah noch … Weil du ja Frau Halla nicht glaubst und … Ich weiß, Hexen und Magie sind so gar nicht dein Ding, aber meine Arbeitskollegin Teresa schwört total drauf. Ich selbst denk mir da ja: okay, vielleicht mal ausprobieren, weil mehr verlieren können wir ja nicht.« Schnell hob sie die Hände. »Okay, das war unsensibel. Tut mir leid. Na ja. Jedenfalls wäre das mein Vorschlag. Ein letzter Strohhalm oder so.«

»Eine Hexe?« Finja wusste nicht, ob sie hysterisch lachen oder losheulen sollte, weil sie mittlerweile so am Ende schien, dass ihre beste Freundin so etwas vorschlug. Immer wenn Magie erwähnt wurde, kribbelte ihre Stirn, und es fühlte sich an, als würden kleine Insekten an ihrem Gehirn nagen. So auch jetzt. Finja schüttelte sich leicht, um dieses Gefühl loszuwerden. Vergebens.

Elisa redete einfach weiter: »Ja. Also. Die scheint wirklich vernünftig zu sein und macht einem keine falschen Hoffnungen, weißt du? Meine Kollegin war in so ein Arschloch verliebt, und superviele Wahrsagerinnen haben ihr immer wieder gesagt, dass das wird und alles toll ist, aber die in der Nähe meiner Arbeit, also die hat eben was anderes gesagt und natürlich recht behalten und deswegen …«

Der Rest des Redeschwalls ging in Finjas Gedanken unter. Elisa schlug diese Frau also vor, weil sie glaubte, dass sie Finja sagen würde, dass Hannah tot war. Weil sie hoffte, dass Finja, die sich gerade so irrational an einen wiederkehrenden Traum klammerte, von so etwas Irrationalem wie einer Hexe davon befreit wurde. Dabei wollte sie diese Hoffnung gar nicht loslassen.

»… ich würde die Session auch bezahlen«, schloss Elisa schließlich, aber Finja schüttelte energisch den Kopf, was das Kribbeln hinter ihrer Stirn nur verstärkte.

»Das klingt nach Abzocke und Hokuspokus. Es ist lieb, dass du das vorschlägst und für mich tun würdest, aber ich möchte nicht, dass du dein Geld für eine Betrügerin ausgibst.«

»Aber …«

»Nichts aber.« Finja ließ gar nicht erst zu, dass Elisa sich in einen neuen Redefluss stürzte. »Ich glaube nicht an diesen ganzen Mist. Danke für das Essen heute. Das war ein echter Lebensretter.«

Unmissverständlicher konnte sie Elisa nicht zu verstehen geben, dass sie wütend auf sie war.

»Ich wollte …«, setzte Elisa an.

»Ich weiß«, unterbrach Finja sie erneut. »Du wolltest, dass diese Hexe mir sagt, dass Hannah tot ist, damit ich endlich Ruhe finde. Aber so einfach ist das nicht. So einfach will ich das auch gar nicht haben. Du hast es lieb gemeint, aber eine Hexe, Elisa?« Sie drehte sich leicht von ihr weg, sah erneut zur Uhr. »Es ist schon spät.«

»Ich lasse dir Frühstück da«, lautete Elisas Antwort. Sie deutete auf den Stoffbeutel, der halb umgestürzt auf dem Sofa lag. »Frische Brötchen. Der Käse ist im Kühlschrank. Ich rufe morgen an.«

Dann wandte sie sich ab und stolperte in ihrem rosafarbenen Flanellschlafanzug zum Ausgang. Finja hörte, wie sie in ihre Sandalen schlüpfte und die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Das Ticken des Sekundenzeigers hämmerte durch die Stille.

5

Mein Glück, 9. Dezember

Vier Jahre zuvor

Es war einer dieser Tage, an denen sich Finja wünschte, das Haus nie verlassen zu haben. Sie hätte im Bett liegen bleiben können, eng an Mika geschmiegt, während Hannah in ihrem Kinderzimmer spielte.

Finja war so dankbar dafür, dass Hannah kein Kind war, das schon um 6 Uhr morgens bespaßt werden wollte. Sie schaffte es hervorragend, sich selbst zu beschäftigen, dachte sich gern Geschichten aus, brabbelte vor sich hin, während sie Welten aus Bausteinen schuf oder dabei zusah, wie ihre bunten Glasmurmeln durch die Murmelbahn rasten.

Stattdessen hatte der Wecker Finja früh aus dem Schlaf gerissen und ihre Arbeit sie dazu gezwungen, sich eine kalte Dusche und einen großen Becher Kaffee zu verabreichen. Die Hälfte des Kaffees war auf ihrer Bluse gelandet, weshalb sie auf halbem Weg zur Arbeit noch einmal umgekehrt war, um sich umzuziehen.

Viel zu spät war sie dann in den Aufzug zu den Büroräumen gestürmt und wenige Minuten nach Meetingbeginn in den Konferenzsaal gestolpert, in dem bereits drei Menschen auf ihre Ankunft gewartet hatten.

Ihre Chefin Aina Kanerva hob missbilligend eine Augenbraue, und Finja wusste, dass sie sich im Anschluss eine Standpauke anhören durfte. Die Firma, der sie heute ihre Kampagne pitchte, gehörte zu den erfolgreichsten Möbelherstellern der Welt. Dieser Auftrag war wichtig für Finjas Firma, und sie hatte ihre Chefin darum angefleht, die Marketingstrategie entwickeln zu dürfen.

Doch statt mit kühlem Kopf eine einwandfreie Präsentation abzuhalten, stand sie mit hochrotem Gesicht vor dem Firmenchef. Direkt neben Aina, die wie immer aussah, als käme sie direkt vom Stylisten. Ihre weiße Bluse steckte sauber in einer eng anliegenden schwarzen Hose, goldene Ketten lagen auf ihrer dunklen Haut.

Finja musste kein Marketingprofi sein, um zu wissen, dass der erste Eindruck zählte und nicht rückgängig gemacht werden konnte. Es ärgerte sie, dass sie sich vor der Tür nicht einen kurzen Moment der Ruhe genommen hatte, um durchzuatmen, aber dieser Gedanke kam ihr – wie die meisten rettenden Einfälle – erst, als sie bereits schnaufend vor dem Vertreter der Firma stand.

»Guten Morgen«, brachte sie hervor und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, während sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr strich, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. »Ich freue mich sehr, Ihnen heute unsere Idee für die neue Imageausrichtung Ihres Unternehmens präsentieren zu dürfen.«

Glücklicherweise hatte Finja diese Präsentation in den letzten Wochen so oft geübt, dass sie ihr nahezu fehlerlos über die Lippen kam. Dabei sah sie die ganze Zeit fest dem Mann ins Gesicht, der darüber entscheiden würde, ob diese Firma den Zuschlag bekam. Gerade Nase, schmaler Mund, eine dunkle Krawatte, die seine helle Haut noch blasser erscheinen ließen.

Je länger sie redete und je häufiger Herr Sikanes Blick in ihr Dekolleté wanderte, desto mehr verabscheute sie ihn.

Hör mir zu, wollte sie sagen. Starr nicht auf meine Brüste, sondern auf die Präsentation, in die ich Stunden meines Lebens investiert habe.

»Und so würden wir Ihre Firma von dem ›Möbel für enorm preissensible Kunden‹-Image lösen, um langfristig kaufkräftigere Kundschaft in Ihre Möbelhäuser zu locken«, endete Finja.

Verhaltenes Klatschen setzte ein.

»Sehe ich richtig?«, fasste der Mann zusammen und sah ihr zum ersten Mal wirklich ins Gesicht. »Dass Sie unser Möbelhaus als Ramschladen betrachten?«

Die Frage traf Finja vollkommen unvorbereitet. Sein kalter Blick ruhte auf ihr, er faltete die Hände vor dem Kinn. An seinem Daumen glänzte ein schwerer Metallring, in dem Finja ihre verzerrte Spiegelung sah. Sie schluckte, warf ihrer Chefin einen verzweifelten Blick zu, aber die war ebenso blass und sah so sprachlos aus, wie Finja sich fühlte.

»War das nicht die … Aufgabenstellung?«, wagte Finja vorsichtig. »Es hieß, Sie wollen das Image Ihrer Firma verbessern und …«

»Verbessern ja«, unterbrach er sie, den Blick nun wieder auf ihren Ausschnitt geheftet. »Mir wäre neu, dass Verbessern bedeutet, unsere Zielkundschaft, die uns in den letzten Jahrzehnten nach oben gebracht hat, komplett zu verändern. Oder wollen Sie mir sagen, dass arme Menschen«, er runzelte die Stirn, betrachtete ihre Kleidung, die ganz offensichtlich nicht aus einem Designerladen stammte, »mit einem schlechten Image gleichzusetzen sind?«

»Das …«, setzte Finja an, verstummte aber gleich wieder, als der Mann sie unterbrach: »Sehr gut. Ich sehe also, Sie haben die Aufgabenstellung verstanden. Mir gefällt Ihr Vorschlag. Sie haben den Job.«

Damit erhob er sich, schüttelte Finjas Chefin die Hände, die strahlte, als hätte sie soeben den Weltfrieden ermöglicht.

Als Herr Sikane Finja die Hand hinhielt, wollte sie am liebsten zurückweichen, aber ihr blieb keine Wahl, also griff sie danach, spürte seine warme Haut auf ihrer. Er sah ihr tief in die Augen und zwinkerte. »Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit.«

Sobald er außer Sichtweite war, wankte Finja zu einem Stuhl und ließ sich darauf nieder. Sie spürte die Wärme des Holzes durch ihre dünne Stoffhose. »Es tut mir leid.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Aina und überraschte damit Finja, die mit einer Standpauke gerechnet hatte.

»Bitte?«

»Du siehst sehr müde aus.« Aina strich mit ihren manikürten Fingern über ihre makellose weiße Bluse. Kurz kniff sie die Augen zusammen, und Finja fürchtete, dass der Ärger nun doch über sie hereinbrach. Stattdessen fuhr Aina fort: »Was für ein Arschloch.«

Der Satz traf Finja so unvorbereitet, dass sie kurz und laut auflachte. »Ja.«

Aina stieß ebenfalls ein freudloses Lachen aus. »Unfassbar, wie der über ihre Kunden denkt. Sitzen selbst auf Luxusmöbeln und verkaufen billigstes Pressholz in schlechten Designs, und dann beschweren sie sich auch noch darüber, dass sie so ein schlechtes Image haben?« Sie hob den Kopf. »Manchmal wünschte ich, wir könnten den Leuten einfach sagen, dass Scheißprodukte durch keine Imagekampagne der Welt gerettet werden können.«

»Entspricht nur nicht der Wahrheit«, rutschte es Finja sofort heraus. Sie hatte dieses Gespräch schon so oft mit Mika geführt. »Leider.«

Seufzend ließ sich Aina auf den anderen freien Stuhl fallen, streckte die langen Beine aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Ich werde gehen.«

Es dauerte einige Atemzüge, bis Finja die Tragweite dieser Nachricht verstand. Sie arbeiteten in einer angesagten Marketingfirma mit verschiedenen Abteilungen, Aina war ihre direkte Vorgesetzte und leitete das vierköpfige Team, das sich auf Imageverbesserung durch Social-Media-Kampagnen spezialisiert hatte.

»Freiwillig?«, lautete Finjas erste Frage. Wenn Aina gekündigt worden war, stand ihr eigener Job ebenfalls auf der Kippe.

Ainas Nicken erleichterte sie. Sie richtete sich etwas auf. »Ich habe einfach keine Lust mehr auf reiche Menschen, die sich mit ihrem Geld eine gute öffentliche Meinung erkaufen wollen. Als ich den Job angenommen habe, dachte ich, dass ich coolen Firmen helfen könnte, ihre genialen Produkte richtig an den Mann zu bringen. In meinem Umfeld gab es so viele Start-ups mit tollen Ideen, die einfach keine Ahnung von Marketing hatten.« Mit einem Seufzen verschränkte Aina die Arme. »Diese Start-ups gibt es in meinem Umfeld immer noch. Aber weißt du, was ihnen fehlt, um erfolgreich zu werden?«

»Geld, um uns zu engagieren?«, scherzte Finja.

Aina nickte ernst. »Ich werde mich selbstständig machen. Das wird anstrengend, und ich werde weniger verdienen, aber dafür kann ich endlich das tun, was ich wollte: Projekte, die ich gut finde, unterstützen.«

Ainas Gedankengänge erinnerten Finja so sehr an Mika, dass ihr eine Idee kam, und obwohl Finja nicht verstand, warum Aina sich gerade ihr anvertraute, war sie ihr dankbar.

»Du weißt, dass das verdammt mutig ist, oder?«, fragte Finja und lächelte ihr aufmunternd zu. »Das bewundere ich sehr.«

»Bist du denn hier glücklich?«, lautete Ainas Gegenfrage, auf die Finja keine Antwort wusste.

6

15. Juni

Vor Hannahs Verschwinden

Es roch nach Tierdung und Zuckerwatte. Finja hielt Hannahs klebrige Hand, während sie gemeinsam zwischen den Gehegen umherliefen.

»Wollen wir uns die Affen ansehen?«, fragte Max, und Finja entging die Verzweiflung in seiner Stimme nicht. Seit sie angekommen waren, versuchte er, das Eis zwischen Hannah und ihm zu brechen. Vergebens.

»Affen sind gruselig«, lautete Hannahs Antwort. »Die sind voll schlau, und eines Tages werden sie sicher ausbrechen und uns alle töten.«

Finja kniff die Lippen zusammen. »Wo hast du das denn her?«

»Lisa hat das gesagt«, antwortete Hannah und zuckte mit den Schultern.

»Da hat wohl jemand Planet der Affen gesehen«, murmelte Max. »Unverantwortlich.«

»Ich glaube nicht, dass verantwortungsbewusste Eltern ihrer neunjährigen Tochter so einen Film freiwillig zeigen«, antwortete Finja. »Du weißt doch, wie das ist: Da sieht man einen Film, das Kind kommt rein, sieht eine Szene, und BUM – wochenlang Albträume.«

»Ich hab gar keine Affen-Albträume!«, empörte sich Hannah.

»Gehen wir einfach zu den Elefanten.« Finja griff Hannah in die rosa Zuckerwatte und zupfte sich ein Stück ab. Klebrig-süß. Zur Antwort biss Hannah ebenfalls hinein, woraufhin ihr ein wenig Rosa an der Nase klebte. Lachend wischte Finja es weg und zwinkerte ihrer Tochter zu.

»Elefanten sind toll.« Hannah nickte ernst und sah sich suchend um. Am Rand des Kieswegs stand ein Wegweiser mit Tiersymbolen darauf. »Da lang!«

Hannah stürmte voran, und Finja schnappte im letzten Moment die Kapuze ihrer Jacke, sodass ihre Tochter abrupt innehalten musste. »Nicht so schnell.«

Sie zog das Mädchen zurück und schloss es in die Arme. Der Zoo war heute gut besucht, es war nicht allzu heiß, und die Familien suchten nach Ablenkung im Freien, um ein wenig Sonne zu tanken und frische Luft zu atmen. Dünne Wolken zogen über den blauen Himmel, und es roch bereits nach Sommer.

»Aber Mama.« Finja erstickte Hannahs Protest mit einem wütenden Blick.

»Hier sind viele Menschen. Ich möchte nicht, dass du verloren gehst.«

»Ich bin schon groß.«

»Wenn du verloren gehst«, schaltete Max sich ein und zeigte zu einer nahezu lebensgroßen Tigerskulptur aus Plastik, die für eine Raubkatze ein erstaunlich freundliches Gesicht hatte, »treffen wir uns hier wieder, okay?«

Er ging in die Hocke, strich über ihre Haare, legte den geflochtenen Zopf über die rechte Schulter. Sofort schmiss Hannah mit einer energischen Kopfbewegung den Zopf zurück und legte ihn auf die linke Seite.

»Er muss links sein«, erklärte sie. »Wie bei Elsa.«

»Oh, entschuldige.« Max richtete sich wieder auf. »Also, wenn du uns suchst, treffen wir uns beim Tiger, ja?«

Hannah nickte ernst, aber sie vermied es weiterhin, Max anzusehen. Es schmerzte Finja, dass ihre Tochter den neuen Mann an ihrer Seite nicht akzeptierte, aber umso rührender fand sie, dass Max alles versuchte, damit Hannah ihn mochte.

»Und wenn sie den Tiger nicht findet?«, gab Finja zu bedenken.

»Aber sie ist doch schon groß, kleines Mäuschen.« Max zwinkerte ihr zu, und obwohl Finja ahnte, dass er sich durch diesen Satz mit Hannah solidarisieren wollte, wusste sie, dass ihre Tochter es als Hohn auffassen würde. Ganz zu schweigen davon, dass Finja es nicht mochte, wenn jemand anderes so tat, als wüsste er, was das Beste für ihr Kind sei.

Sie atmete kurz durch und schluckte ihren Stolz herunter. Das würde sie heute Abend in Ruhe mit ihm besprechen, wenn Hannah nichts davon mitbekam. Jetzt auch noch vor dem Kind mit ihm zu streiten, würde die beiden sicher nicht näher zusammenbringen. Außerdem meinte er es nur gut.

»Gehen wir jetzt zu den Elefanten?«, fragte Hannah und tippelte ungeduldig auf der Stelle. Die Zuckerwatte hatte sie mittlerweile fast komplett gegessen, sodass sie nur noch einen klebrigen Stab mit wenigen rosa Resten in der Hand hielt.

»Erst Händewaschen.« Mit spitzen Fingern nahm Finja ihr den Stab ab, beförderte ihn in einen krokodilförmigen Mülleimer und bugsierte Hannah dann zu einem Waschraum.

Er stank nach Desinfektionsmittel, und der Boden war nass, als wären sie in einem Schwimmbad. Finja dachte lieber nicht darüber nach, woher diese Flüssigkeit kam, während sie Hannah hochhob, damit sie sich die Hände waschen konnte. Dabei vermied sie es, in den viel zu großen Spiegel zu sehen, der die ganze Wand einnahm.

In den Spiegeln lauert der Tod.

Dieser Satz schoss ihr immer durch den Kopf, sobald sie einen Spiegel sah. Rasch schüttelte sie ihre Kindheitsängste ab.

»Ich mag ihn nicht«, sagte Hannah so unvermittelt, dass Finja aus ihren Gedanken gerissen wurde. »So gar nicht. Er ist ein Klugscheißer und voll gemein.«

Darauf wusste Finja nichts zu sagen. Eine Frau kam mit ihrem Sohn aus einer der Toilettenkabinen und senkte peinlich berührt den Kopf, während sie ihrem Kleinkind die Hände wusch.

»Ich mag ihn sehr gern«, antwortete Finja zum gefühlt tausendsten Mal. »Bitte, Hannah.« Sie ließ das Mädchen herunter und ging vor ihr in die Knie, aber Hannah wich ihrem Blick aus und fixierte stattdessen die Wand hinter ihr. »Er versucht doch nur, nett zu dir zu sein.«

Die Frau und ihr Kind verließen den Waschraum, und Stille senkte sich über sie, nur unterbrochen vom stetigen Tropfen des Wasserhahns. »Hannah …« Vorsichtig hob Finja eine Hand, um ihrem Kind eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen, aber Hannah wich zurück, stieß dabei mit dem Kopf gegen das Waschbecken. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie sagte noch immer kein Wort. Wut stieg in Finja hoch. Wut auf ihr eigenes Kind, das nur sich selbst sah, und Wut auf sich, weil sie wütend auf ihr kleines Mädchen war, das doch nur seinen Vater zurückwollte. Wut auf Mika, der gestorben war. Sie brannte heiß in ihrer Kehle, und sie biss sich auf die Unterlippe. Sie musste die Kontrolle über die Situation zurückerlangen. Sich daran erinnern, dass ihre Gefühle legitim und verständlich waren, deshalb aber noch lange nicht über ihr Handeln bestimmten. Sie war die Herrin über ihr Leben und ihre Reaktionen.

Finja atmete einmal tief ein, dann sagte sie: »Wenn du dich nicht benimmst, schauen wir heute kein Frozen.«

Sofort reckte Hannah trotzig das Kinn in die Höhe. »Aber du hast es versprochen!«

»Und du hast versprochen, nett zu Max zu sein«, erwiderte Finja kühl, auch wenn es ihr im Herzen wehtat. Sie wollte nicht mit Hannah streiten, aber noch viel weniger wollte sie sich von ihrem Trotz das Leben bestimmen lassen.

Als sie die Tränen in Hannahs dunklen Augen sah, wurde sie sofort weich. »Nur heute, ja? Wir gehen direkt zu den Elefanten. Er meint es doch nur gut und will, dass du ihn magst.«

»Er mag nur dich«, antwortete Hannah, aber sie klang schon viel weniger sauer. Eher ein wenig traurig. Der Riss in Finjas Herz wurde größer.

»Er mag dich auch«, sagte sie und lächelte ihr aufmunternd zu. »Immerhin war der Zoo seine Idee.«

»Ehrlich?« Erstaunen lag in Hannahs Stimme. »Max hat das vorgeschlagen?«

»Ja.« Bei der Erinnerung daran lächelte Finja. Ganz vorsichtig hatte Max sie gefragt, ob sie nicht einen Ausflug planen könnten. Zu dritt. Mit Hannah. Zuvor hatte Finja solche Vorschläge meist mit fadenscheinigen Gründen abgesagt. Hannah hatte Max zwar gesehen, wenn er Finja zu einem Date abholte, und ihn sogar schon bei einem gemeinsamen Abendessen kennengelernt, aber ganze Ausflüge hatte sich Finja bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen können. An diesem Morgen war es anders gewesen, und jetzt standen sie hier im Zoo.

»Das war schon eine gute Idee«, gab Hannah zu und runzelte die Stirn.

»Als er zum Abendessen da war, hast du erzählt, dass du Tiere magst«, erklärte Finja. »Deshalb dachte er an den Zoo.« Sie wusste nicht, warum sie das ausführte und ob Hannah überhaupt den Wert dieses aufmerksamen Zuhörens verstand, aber zumindest nickte das Mädchen erneut.

»Ich geb ihm eine Chance«, sagte sie schließlich betont großmütig. »Eine einzige.«

Finja kam nicht umhin, zu lächeln. »Das ist sehr lieb von dir. Dann mal los!«

Gemeinsam traten sie nach draußen, und Hannah stürmte sofort auf Max zu, packte seine Hand und zog ihn in Richtung der Elefanten. Max riss verblüfft die Augen auf und warf Finja einen ratlosen Blick zu, den sie mit einem Lächeln beantwortete. Die beiden Hand in Hand zu sehen, brachte eine neue Saite in Finja zum Schwingen. Ein Gefühl, das sie lange verloren geglaubt hatte. Ein Anflug von Glück.

Sie schlenderte den beiden hinterher, direkt zum Elefantengehege, einer großen offenen Fläche mit sandigem Boden. Direkt vor dem niedrigen Zaun befand sich ein tiefer Wassergraben, einer der Dickhäuter stapfte durch den Schlamm. Finja hörte Hannahs begeistertes Quietschen sogar über die große Entfernung.

Wehmütig erinnerte sie sich an ihre Zeit im Schulpraktikum zurück. Zwei Wochen lang hatte sie den ganzen Tag Tiergehege gefegt und Souvenirs verkauft. Natürlich erinnerte sich niemand hier an sie; sie war eine Praktikantin von vielen gewesen, und obwohl es nur vierzehn Tage gewesen waren, verband Finja eine merkwürdige Vertrautheit mit dem Zoo. An sehr melancholischen Tagen erschien ihr die Rückkehr in den Zoo wie eine unerfüllte Liebe. Sie wäre gern Tierpflegerin geworden, aber irgendwie hatte sie sich dann doch für Marketing entschieden. Manchmal fragte sie sich, ob das die richtige Entscheidung gewesen war und warum sie überhaupt so gewählt hatte.

Der Geruch nach Tierdung, das fröhliche Lachen der Kinder, die eindrucksvollen Tiere – all das machte Finja glücklich. Im Kontrast dazu stand ihr Alltag in Meetings voller Flipcharts und Zahlenanalysen, die ihr vor allem seit Mikas Tod vollkommen bedeutungslos erschienen. Was brachten schon 100000 Instagram-Abonnenten, wenn man dafür das Leben verpasste?

Aber für einen Jobwechsel hatte sie aktuell nicht die Kraft, sie brauchte ihre Energie, um jeden Morgen aufzustehen und den Tag zu überstehen. Ihre Therapeutin sagte, dass das in Ordnung wäre, aber Finja fühlte sich nicht so.

Sie war hilflos, hatte die Kontrolle über ihr Leben verloren. Ihr Puls beschleunigte sich, das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. Aber sie kannte dieses Gefühl, kannte die Panikattacken mittlerweile viel zu gut.

Sie hielt inne, atmete tief ein, wie sie es in der Therapie gelernt hatte. Sie konzentrierte sich auf drei Dinge, die sie sah: eine Frau in einem wunderschönen bodenlangen Batikrock. Eine Wolke am blauen Himmel. Ein Ballon, der nach oben schwebte. Sie schloss die Augen.

Drei Dinge, die sie hörte: Kinderlachen. Vogelzwitschern. Blätterrascheln. Drei Dinge, die sie fühlte: ihren Stand auf dem sandigen Boden. Die Sonnenstrahlen in ihrem Gesicht. Verlust. Ein Brennen, schmerzhaft tief in ihrem Herzen.

Schnell drängte sie den Gedanken beiseite, konzentrierte sich stattdessen auf das Gefühl des Jeansstoffs an ihren Beinen. Sie öffnete die Augen. Drei Dinge, die sie sah: einen Kieselstein vor ihren Füßen. Eine Zahnlücke in einem Kinderlächeln. Einen braunen Pappbecher in der Hand eines Mannes. Ihr Puls beruhigte sich.

Das Brüllen einer Raubkatze. Stimmengewirr. Schritte. Es ging ihr gut. Sie war in Sicherheit. Ihr Blick irrte zu Hannah, die Max zu den Elefanten zerrte. Auch sie war in Sicherheit. Die Luft strömte wieder leichter in ihre Lunge, und Finja schaffte es, sich zu bewegen. Mit zitternden Knien lief sie ebenfalls zum Elefantengehege, froh, einer Panikattacke in der Öffentlichkeit entkommen zu sein. Froh, dass Hannah sie nicht erneut so sehen musste. Für Finja waren das die schlimmsten Momente. Wenn sie vor ihrer Tochter derart die Kontrolle verlor, fiel sie in einen Abgrund, aus dem sie allein nicht mehr herauskam. Wenn sie vor Hannah weinte, fühlte sie sich wie die größte Versagerin der Erde, denn immerhin war es ihre Aufgabe, ihrer Tochter Sicherheit zu vermitteln. Eine Panikattacke vor Hannah bedeutete kompletter Kontrollverlust, eine absolute Niederlage.

Sie waren jetzt hier. Im Zoo. In Sicherheit.

Max winkte ihr zu, und ein stolzes Lächeln lag auf seinem Gesicht, während er noch immer Hannahs Hand hielt. Der Anblick löste ein merkwürdiges Gefühl in ihrer Magengegend aus. Nicht zum ersten Mal, seit sie Max traf, bekam sie Mika gegenüber ein schlechtes Gewissen.

Das Elefantengehege war von niedrigen Holzzäunen umgeben. Astlose Baumstämme ragten aus dem Sandboden in die Höhe. Dazwischen bewegten sich die Dickhäuter in gewohnter Gelassenheit. Der Elefant, der gerade noch durch den Schlamm am Gehegerand gestapft war, zog sich nun zurück, ganz zu Hannahs Unmut, die schmollend die Unterlippe nach vorne schob.

»Sind das nicht tolle Tiere?«, fragte Finja und strich Hannah liebevoll über den Kopf. »So groß und doch so sanft und ungefährlich.«

»Warum geht er weg, wenn wir kommen?«, fragte Hannah und ließ Max’ Hand los. Ihr wütender Blick in seine Richtung signalisierte Finja deutlich, dass sie ihm die Schuld daran gab. »Ich wollte den Elefanten aus der Nähe sehen!«

»Vielleicht hat er Hunger?«, sprang Finja ein und deutete auf eine Tür, die gerade im hinteren Teil des Geheges aufschwang. Hervor trat eine junge Pflegerin, in der Finja sich für einen kurzen Augenblick selbst erkannte. Sie trug die dunkelbraune Uniform der Tierpfleger, ihre hellen Haare waren zu einem strengen Zopf gebunden, und sie lächelte so, wie Finja damals gelächelt hatte. Der Moment verstrich, und die Pflegerin steckte den Tieren kleine Leckereien zu, die Finja aus der Entfernung nicht erkannte. Sie vermutete, dass es sich um Äpfel handelte.

Gemächlich durchquerte die Pflegerin das Gehege und lief zum Zaun, vor dem sich eine beachtliche Menschenmenge angesammelt hatte. Mehrere Kinder saßen auf den Schultern ihrer Eltern, um besser zu sehen.

»Es ist wohl Vorstellungszeit«, erklärte Max und deutete auf ein weißes Plastikschild, auf dem die Uhrzeiten vermerkt waren. 14 Uhr.

»Wir haben aber Glück, oder, Hannah?« Sie hielt ihrer Tochter die Arme entgegen, um sie hochzuheben, aber Hannah wandte sich ab und trat näher an den Zaun heran, kletterte auf die unterste Holzsprosse und klammerte sich daran fest. Schnell trat Finja hinter sie und drückte sich eng an den kleinen Körper, um sie zu halten, falls sie abrutschte.

»Kommen sie jetzt her?« Die Begeisterung in Hannahs Stimme ließ Finja lächeln, und sie warf Max einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war. Er betrachtete Hannah, und die Fürsorge in seinem Blick ließ ihr Herz hüpfen.

»Ja, die Tierpflegerin lockt sie jetzt mit den Äpfeln zu uns«, erklärte Max und ging neben Hannah in die Hocke. »Schau!«

Tatsächlich bewegte sich die Elefantenherde gemächlich auf sie zu, und wieder einmal bewunderte Finja, mit welcher Ruhe die Pflegerin sich zwischen so gigantischen Tieren bewegte. Elefanten waren friedlich und umsichtig, aber sie waren eben auch riesig, und je näher sie kamen, desto Furcht einflößender wirkten sie. Ihre Bewegungen erinnerten Finja absurderweise an die animierten Dinosaurier aus den Filmen, die sie früher so gern gesehen hatte.

Auch dieser bizarre Gedankengang verstrich, und es blieben drei Dickhäuter, die geduldig auf ihre Äpfel warteten.