Talus - Die Magie des Würfels - Liza Grimm - E-Book
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Talus - Die Magie des Würfels E-Book

Liza Grimm

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Beschreibung

Der zweite und abschließende Teil von Liza Grimms gefeierter Urban Fantasy Bedenke, was du dir wünschst, denn es könnte in Erfüllung gehen... Für den Edinburgher Zirkel junger Hexen und Hexer scheint plötzlich alles möglich zu sein, als das mysteriöse Artefakt »Talus« auftaucht, denn der magische Würfel ist in der Lage, jeden Wunsch zu erfüllen. Doch ein derart machtvoller Gegenstand zieht finstere Mächte an wie ein Magnet – und ein Herzenswunsch kann eine äußerst gefährliche Angelegenheit sein. Das muss auch die Studentin Erin am eigenen Leib erfahren, die Hals über Kopf in den Hexenzirkel und die Geheimnisse um Talus hineingezogen wurde. Denn plötzlich steht nicht nur das Leben der Magiebegabten auf dem Spiel, sondern auch das Schicksal der Hexen-Welt … Liza Grimms Urban-Fantasy-Dilogie »Die Hexen von Edinburgh« besteht aus den beiden Fantasy-Romanen »Talus – Die Hexen von Edinburgh« und »Talus – Die Magie des Würfels«. Von Liza Grimm sind außerdem die folgenden Fantasy-Romane erschienen: • Die Götter von Asgard • Die Helden von Midgard

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Liza Grimm

Talus

Die Magie des Würfels

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Bedenke, was du dir wünschst, denn es könnte in Erfüllung gehen...Für den Edinburgher Zirkel junger Hexen und Hexer scheint plötzlich alles möglich zu sein, als das mysteriöse Artefakt »Talus« auftaucht, denn der magische Würfel ist in der Lage, jeden Wunsch zu erfüllen. Doch ein derart machtvoller Gegenstand zieht finstere Mächte an wie ein Magnet – und ein Herzenswunsch kann eine äußerst gefährliche Angelegenheit sein. Das muss auch die Studentin Erin am eigenen Leib erfahren, die Hals über Kopf in den Hexenzirkel und die Geheimnisse um Talus hineingezogen wurde. Denn plötzlich steht nicht nur das Leben der Magiebegabten auf dem Spiel, sondern auch das Schicksal der Hexen-Welt …

Inhaltsübersicht

Widmung

Auszug aus den Talus-Chroniken

1 Schöne neue Welt

2 We will rock you

3 Die Großmeisterin

4 Die Lüge des Rates

5 Kindheitserinnerungen

6 Die Beerdigung

7 Die Wahrheit

8 Die neue Zellennachbarin

9 Harriettes Herzenswunsch

10 Frittierte Schokoladenriegel

11 Der Ausbruch

12 Schwindende Magie

13 Der verpasste Abschied

14 Freiheit

Auszug aus den Talus-Chroniken

15 Zu Hause

16 Eine große Überraschung

17 Pizza

18 Das Mädchen auf dem Dachboden

19 Das Vermächtnis

20 Wechselkleidung

21 Der Drache in der Höhle

22 Runenmagie

23 Drachenblut

24 Der Ursprung der Magie

25 Die Vortexlegung

26 Sorleys Abschied

27 Im Gefängnis

28 Die neue Runenhexe

29 Verwobene Schicksalsfäden

30 Die Zuflucht

31 Der Plan

32 Fast ein Urlaub

33 Beim Rat

34 Jessicas Hoffnung

35 Die Übergabe

36 Ein Verrat

37 Das Versteck

38 In den Katakomben

39 Unsere Bestimmung

40 Im Labyrinth

41 Im Inneren

42 Angst

43 Talus

44 Die Vergangenheit in mir

45 Die Macht der Freundschaft

46 Der zweite Drache

47 Ein Friedensangebot

48 Die Schattenleser

49 Der Geruch nach Blut

50 Zurück im Herrenhaus

Auszug aus den Talus-Chroniken

51 Eine alte Bekannte

52 Feuerhexer

53 Tante Charly

54 Wir sind keine Mörder

55 Abaigeal

56 Ein letzter Abschied

57 Ein neuer Wunsch

Epilog

Danksagung

Leseprobe »Hinter den Spiegeln so kalt«

Für Natalja, deren Magie am hellsten leuchtet.

Als sie zum ersten Mal vollkommenes Glück spürte, kannte sie plötzlich auch die Angst, alles zu verlieren.

 

Auszug aus den Talus-Chroniken

1 Schöne neue Welt

Das zurückhaltende Klopfen ordnete Noah sofort einer bestimmten Person zu. Er hob den Blick von dem Schriftstück, das vor ihm lag, und rief: »Herein!«

Und tatsächlich betrat Emily das Arbeitszimmer und schloss die Tür mit der ihr eigenen Vorsicht. Emily war keine Schattenleserin, aber sie gehörte zum inneren Kreis, und durch die gemeinsamen Ermittlungen der letzten Wochen war sie zu einer Art Vertrauten für Noah geworden.

Ihre roten Haare glänzten im warmen Licht, das durch das einzige Fenster in Noahs Büro fiel. In dem mit wuchtigen Möbeln eingerichteten Raum wirkte die zarte Gestalt in dem knielangen dunklen Kleid und der durchscheinenden Kimonojacke mit floralen Mustern seltsam fehl am Platz. Um ihren Hals trug sie einen dünnen weißen Schal, der sie als Kräuterhexe auswies.

Mit einer Handbewegung, die jeder Meister als schlampig bezeichnet hätte, entzog Noah der Tinte die Restflüssigkeit und legte das so getrocknete Pergament zur Seite, ehe er Emily begrüßte, die fragend die Augenbrauen hob.

»Bereit für den täglichen Bericht?« Selbst ihre Stimme war weich.

Noah nickte und runzelte die Stirn. »Du siehst blass aus.« Ihre weiße Haut wirkte noch heller als sonst, die Sommersprossen traten so dunkel hervor wie Ascheflocken auf Schnee.

»Ich habe schlecht geschlafen.«

Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, der vor seinem Schreibtisch stand, bevor Noah sie dazu aufforderte. Und das, obwohl er ihr Vorgesetzter war. Bei jedem anderen hätte er entsprechend laut reagiert, aber bei Emily quittierte er diese Unhöflichkeit lediglich mit einem Seufzen und griff dann nach den Drachenhandschuhen, die er zum Schreiben ausgezogen hatte. Das warme Leder schmiegte sich angenehm an seine Finger.

»Wieso eigentlich Drachenleder?«, fragte Emily und legte den Kopf leicht schief.

»Es ist ein Andenken«, sagte er. »An meine erste erfolgreiche Jagd. Mein Glücksbringer.«

Noah verschwieg, dass er die Handschuhe aus Angst vor der dunklen Seuche trug. Die dunkle Seuche befiel und tötete all jene Hexen, die mit ihrer Macht andere verletzten. Zumindest war das die offizielle Version der Geschichte, die der Rat seit Jahrhunderten verbreitete. Aber Sir Craig, das ehemalige Ratsoberhaupt, das sich als größenwahnsinnig und abtrünnig entpuppt hatte, hatte Noah die Wahrheit enthüllt: Es reichte ein schlechtes Gewissen, um die dunkle Seuche in sein Herz zu lassen. Seit Noah das wusste, war er noch paranoider. Es gab viele Hexen, die dieses Schlupfloch ausnutzten. So hatte Sir Craig einst Feuerhexer ein Haus anzünden lassen und ihnen erzählt, dass es leer sei, obwohl sich die Bewohner noch darin befanden. Solange das schlechte Gewissen besagte Feuerhexer nicht heimsuchte, waren sie sicher. Einen von ihnen hatte es dennoch erwischt, als die Schuld die dunkle Seuche in sein Herz rief.

Als Schattenleser war es Noahs Aufgabe, von der dunklen Seuche befallene Hexen zu befragen. Wenn sich diese einem Schattenleser offenbarten, konnte man erlöst werden, hieß es. Deshalb war Noah den Schattenlesern beigetreten. Um sich selbst vor seiner größten Angst retten zu können. Aber seit er selbst dieser Elite der Unterwelt angehörte, wusste er, dass auch das nichts weiter als eine Lüge war. Eine Lüge, um straffällige Hexen geständig zu machen. Es gab keine Möglichkeit, die dunkle Seuche aufzuhalten.

Weder die Handschuhe noch die Runenkette um seinen Hals vermochten es, ihn vor der dunklen Seuche zu schützen, das wusste er. Aber Ängste waren nicht rational, weshalb sollten es also ihre Gegenmaßnahmen sein?

»Ich wusste gar nicht, dass du so sentimental bist.« Nichts, was Emily sagte, klang jemals spöttisch, aber Noah kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es so gemeint war. Ihr Blick haftete an dem leeren Fleck hinter ihm, an dem einst das Gemälde seines Vaters gehangen hatte. Vor dem Fall des Würfels.

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, dabei war es gerade einmal zwei Wochen her, seit Lu in seinen Armen gestorben war. Vierzehn Tage.

»Dinge sind, wie sie sind«, wich Noah Emily aus und lehnte sich in seinem alten Ledersessel zurück. »Gibt es Neuigkeiten?«

»Auch heute nichts von Interesse.« Emily ließ eine Haarsträhne durch ihre schlanken Finger gleiten. »Der Rat ist noch zu keiner Einigung gekommen. Sir Craig sitzt im Gefängnis und verweigert die Kooperation.« Ein netter Ausdruck dafür, dass er gefoltert wurde, um Informationen über die Caradain auszuspucken. Jene abtrünnige Gruppe, die lange nur als Mythos gegolten, sich aber bei der Jagd nach Talus als reale Bedrohung entpuppt hatte.

»Äußerst bedauerlich.« Mit einem Seufzen massierte Noah sich die Schläfen. Das warme Leder der Handschuhe glitt geräuschlos über seine Haut. »Und Talus?«

»Noch immer sicher unter Verschluss.« Emily hob einen Mundwinkel. »Wie gewünscht war ich zum vierten Mal im Gefängnis, aber auch die heutigen Wachen sagten nur, Talus sei in Sicherheit und das wäre alles, was wir wissen müssten. Und wenn du mich fragst, haben sie vollkommen recht. Ich kann nicht länger jeden Tag umherlaufen und Fragen stellen, auf die wir sowieso keine Antworten erhalten. Dein und mein Interesse an dem Würfel wird uns noch als Gier ausgelegt werden. Ich weiß, dass du unbedingt wissen möchtest, wo der Würfel ist, aber denkst du wirklich, dass meine Undercover-Befragungen irgendetwas zutage bringen? Wenn der Rat schweigen will, schweigt er.«

Noah brummte. »Es macht mich nervös, dass ich nicht weiß, wo sie ihn lagern. Wenn ich wenigstens sein Versteck kennen würde, wäre ich viel aufmerksamer und könnte dort entsprechend Wache halten, oder …« Er hielt kurz inne, denn sein Plan war noch nicht ausgereift. Genau genommen wusste er nicht, was er tun sollte, sobald er vom Versteck des Artefakts erfuhr. Aber es nicht zu kennen, war für ihn unerträglich. Es fühlte sich an, als lauerte in den Tiefen der Unterwelt ein Ungeheuer, und er wüsste nicht einmal, in welche Richtung er blicken musste, um ihm im Kampf gegenüberzutreten. »Nach allem, was Talus angerichtet hat, sollte er nicht irgendwo lange rumliegen, sondern schnellstmöglich zerstört werden.«

»Wenn der Rat dies so entscheidet, wird es geschehen.« Emily lehnte sich leicht nach vorne, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das spitze Kinn auf den Händen gebettet. »Wegen Sir Stewart … deinem Vater … Auch hier gibt es nichts Neues. Er bleibt verschwunden.«

Noah drehte den Kopf zur Seite, um ihrem Blick auszuweichen, denn er hasste es, dass die Hexen ihn seit dem Fall des Würfels so ansahen. So … mitleidig.

Als Schattenleser war er Teil der mächtigsten Eliteeinheit der Unterwelt. Er war Ehrfurcht gewohnt. Respekt. Angst. Aber er brauchte kein Mitleid. Von niemandem. Was er brauchte, konnte ihm niemand geben: die Erlösung von seinem schlechten Gewissen. Und die Antwort darauf, wohin sein Vater verschwunden war. Weshalb er sie einfach verlassen hatte.

»Verstehe«, antwortete er, als die Stille zwischen ihnen unerträglich wurde.

Emily hob leicht die Augenbrauen. »Willst du heute endlich darüber reden, was du wirklich denkst?«

Noah kniff die Lippen zusammen. Ein Teil von ihm wollte Emily alles erzählen. Wollte ihr sagen, wie der Fall des Würfels seine Familie zerstört hatte. Aber sein Stolz stand ihm im Weg und verhinderte, dass er seine Gefühle in Worte fasste. Stattdessen sagte er: »Ich werde mich der Entscheidung des Rates beugen.«

2 We will rock you

Mit rhythmischen Bewegungen klopfte Erin den Metalllöffel gegen den harten Stein. Wieder und wieder. Es war die einzige Beschäftigung, die sie in den letzten zwei Wochen von ihren Gedanken ablenkte.

Klack. Klack. Klack.

Sie hatte versucht, sich neue Geistergeschichten auszudenken. Stundenlang war sie in ihre Erinnerungen abgetaucht. Doch als sie dort nichts als Schmerz gefunden hatte, war sie wieder zum Klopfen zurückgekehrt.

Klack. Klack. Klack.

Die Langeweile war ihr kleinstes Problem. Das massive Gitter und der griesgrämig dreinschauende Hexer vor ihrer Zelle rangierten dicht davor auf Platz zwei. Platz eins war eindeutig die Tatsache, dass ihr Schicksal in der Hand eines gesichtslosen Rates lag, dessen Mitglieder sie seit ihrer Gefangennahme kein einziges Mal besucht hatten.

Klack. Klack. Klack.

Zwei Mal gegen den Boden, ein Mal gegen die Wand.

We will. We will. Rock you.

Gerade fühlte es sich nicht so an, als würde sie irgendetwas rocken können – oder als hätte sie das jemals getan. Erin seufzte, legte den Löffel auf den Boden und lehnte den Hinterkopf gegen die Steinwand in ihrem Rücken.

Ihr Zellennachbar klatschte. Dann rief er: »Zugabe!«, was dazu führte, dass ihm der Wächter einen genervten Blick zuwarf und demonstrativ das Buch höher hob, in dem er las. Sieben Wege, um Kräuter effektiver zu nutzen.

Sein Vorgänger hatte Gespräche zwischen den Insassen komplett unterbunden, aber dieser Wärter schwieg seit seiner Ankunft vor zwei Tagen eisern. Die weiße Kordel um die Hüfte wies den Hexer als Anhänger des Kräuterzirkels aus, wie Erin mittlerweile wusste. Nicht, dass er es ihr verraten hätte, aber Kaito hatte die Schweigsamkeit des neuen Wärters genutzt, um ihr möglichst viel über die Unterwelt zu erzählen. »Wenn du jetzt eh schon hier bist …«

Nun kannte Erin nicht nur die acht Zirkel – den Runenzirkel, die vier Elementzirkel, den Gebräu- und Kräuterzirkel sowie die Tarotleger – und deren Fähigkeiten, sondern auch die Namen der Ratsmitglieder, die über ihr Schicksal entscheiden würden. Kaito hatte ihr auch verraten, was diese Hexen und Hexer am liebsten aßen und wen sie verabscheuten. Nichts von alldem half ihr freizukommen.

»Danke, danke«, erwiderte Erin gespielt enthusiastisch. »Es war mir eine Freude, für dieses Publikum zu spielen.«

Ein sarkastisches Lächeln hob ihre Mundwinkel. Sie hatte vergessen, wie sich Freude anfühlte. Der Tod steckte ihr noch in den Knochen. Die Erinnerung an Lus warmes Blut auf edlem Parkett, ihr leerer Blick, die immer blasser werdende Haut. Die Diskussion, die Kaito, Erin und Noah über Talus führten, darüber, was sie mit dem Artefakt tun sollten. Verschwendeter Atem, denn als der Würfel gefallen war, waren ihre Überlegungen mit einem Schlag wertlos gewesen.

»Du wirst besser.« Etwas raschelte, und Erin vermutete, dass Kaito aufstand.

Ihre Zellen waren durch eine Steinwand getrennt, die so dick war, dass sie nicht einmal die Arme durch die Gitter strecken und einander die Hand geben konnten. Geschweige denn, sich umarmen. Erin sehnte sich so sehr danach, jemanden zu berühren. Auch nach einer heißen Dusche, einem weichen Bett, Kaffee. Nach Ablenkung von ihren düsteren Gedanken und der Trauer um eine Freundschaft, die sie niemals führen würde. Gerade, als Lu und sie sich angenähert hatten, war sie dem Leben entrissen worden. Erins Puls beschleunigte sich wie so oft in den letzten zwei Wochen, die sie in dieser mittelalterlichen Zelle mit Strohmatte und Toiletteneimer, der wenigstens täglich geleert wurde, verbracht hatte.

Laut Kaito war das Gefängnis vor Jahrhunderten erbaut und niemals modernisiert worden. Es erfüllte immerhin noch seinen Zweck, und keiner kannte einen Grund, Verbrechern das Leben zu erleichtern. »Wer in dieses Gefängnis gesteckt wird, kommt meistens nicht mehr heraus«, hatte Kaito leise geflüstert. Gefolgt von einem überzeugten: »Aber wir werden es schaffen. Sie haben keinen Grund, uns hierzubehalten. Das tun sie nur, bis Sir Craigs Verhandlung abgeschlossen ist. Damit keine Informationen nach draußen gelangen, weißt du?«

Tagsüber saß Erin also in diesem Albtraum aus einem anderen Jahrhundert und floh vor ihren Schuldgefühlen, nachts kehrte sie in ihren Träumen ins Mitternachtscafé zurück, erlebte die Erbrache wieder und wieder. Doch in ihren Träumen war es kein Mann, der dort gefoltert wurde, sondern Lu. Die junge Hexe wurde in der Mitte des Kreises auf die Knie gezwungen, weinte, schrie, schlug um sich. Immer wenn die Messer auf Lu niederfuhren, sah Erin zuerst in Lus flehendes Gesicht und dann in ihr eigenes. Sie tauschten so nahtlos die Plätze, wie es nur in einem Traum möglich war, und Erin spürte, wie Finger ihre Handgelenke zerquetschten und Hexen höhnisch lachend ihren Tod feierten, während die Messer in ihr Fleisch schnitten und Lu der Geist aus den Vaults wurde, mit erhobenem Zeigefinger anklagend vor ihr stehend.

Jedes Mal erwachte Erin schreiend.

»Sobald wir hier raus sind, setzen wir dich an ein Schlagzeug.« Kaitos Stimme klang näher und bestätigte damit Erins Vermutung, dass er aufgestanden und zu ihr gekommen war. Zumindest so nah, wie die Zellen es zuließen. Sie erhob sich und tat es ihm gleich, lehnte die Wange gegen die kalte Steinmauer.

»Musik ist nicht mein Ding.«

»Dann ist es eine Herausforderung, hat doch auch was.«

»Ich denke, ich habe mich genügend Herausforderungen gestellt.«

Ein schüchternes Räuspern. »Erin, wir kommen hier raus. Versprochen.«

Der Wächter schnaubte, blätterte um und schüttelte dabei den Kopf.

»Oh, ich zweifle nicht daran, dass wir hier rauskommen«, murmelte Erin. »Ich zweifle nur daran, dass wir das lebend tun.«

3 Die Großmeisterin

Mit einer einzigen Handbewegung brachte Jessica alle fünf Holzstücke dazu, parallel nebeneinanderzuliegen, ohne die Runenstäbe zu berühren. Ihre Großmeisterin nickte anerkennend.

»Sehr gut«, sagte sie und legte die grazilen Zeigefinger an die vollen Lippen.

Großmeisterin Michelle verkörperte alles, was Jessica sein wollte. Sie war hochgewachsen und schlank. Die langen goldenen Haare schienen achtlos in einen lockeren Knoten geschlungen, und trotzdem saß jede einzelne Strähne perfekt, betonte ihr fein geschnittenes Gesicht. Unter hohen Augenbrauen lagen grün glitzernde Augen. Michelle war wunderschön, fürsorglich, intelligent, stilvoll. Aber vor allem war sie eines: mächtig.

Der opulent eingerichtete Raum duftete nach Harz und Holz. Der Geruch stieg von mehreren kleinen Räucherschalen auf und legte sich auf die Möbelstücke. Ein golden gerahmter Spiegel buhlte ebenso um Jessicas Aufmerksamkeit wie der massive Holzschrank mit Elfenbeingriffen und die gerahmten Gemälde, die in verschiedenen Stilen eine einzige Person zeigten: Großmeisterin Michelle selbst. Ein Künstler hatte ihre markanten Gesichtszüge mit wenigen Kohlestrichen eingefangen, ein anderer hatte über dreißig Grüntöne verwendet, um ihrem Blick Tiefe zu verleihen. Am beeindruckendsten fand Jessica ein lebensgroßes Gemälde, auf dem Michelle einen bodenlangen dunkelgrünen Mantel mit goldenen Stickereien trug. Auf ihre ausgestreckte Hand waren mehrere Runen gezeichnet, die sich über ihr Handgelenk nach oben wanden und unter dem weichen Stoff verschwanden.

Es wirkte so echt, dass Jessica jedes Mal, wenn sie es betrachtete, damit rechnete, es blinzeln zu sehen. Mehr als einmal hatte sie Michelle gefragt, ob die Zeichnung mit Ölfarbe oder durch Magie entstanden war. Die Antwort war stets Lächeln und Schweigen gewesen.

Bei ihren Übungen saß Jessica auf einem bestickten Kissen auf dem Boden, Michelle thronte ihr gegenüber auf dem roten Sessel und überwachte jede ihrer Bewegungen mit akribischer Genauigkeit.

»Und was sagen sie dir?«, fragte Michelle mit ihrer sanften Stimme.

Jessica sah auf die Legung und unterdrückte ein Frösteln. Die Runen standen auf dem Kopf und zeigten damit dasselbe Bild wie jeden Tag in den letzten zwei Wochen. Eigentlich wollte sie wissen, wie Lu ums Leben gekommen war, aber die Runen weigerten sich, ihr eine klare Antwort zu geben. Lus Tod umgab ein Geheimnis, und Jessicas Schmerz verhinderte, dass sie es mithilfe ihrer Magie erforschte. Alles, was sie wusste, war, dass Lu ehrenhaft gestorben war. Was auch immer das bedeutete. Nicht einmal darauf gaben die Runen ihr eine Antwort.

In solch enttäuschenden Situationen fiel es Jessica noch immer schwer, ihre Gefühle zu verbergen. Dabei war das die oberste Regel ihrer Zunft: Eine Runenhexe offenbarte nie ihr Innerstes. Eine Regel, die sie in den letzten zwei Wochen häufiger gebrochen hatte. Vor Menschen, die ihr nahestanden, bröckelte Jessicas Fassade schon immer, und seit Lus Tod gelang es ihr noch viel seltener, vor der Welt ihren Kummer zu verbergen.

»Nichts Neues«, murmelte sie schließlich, atmete tief ein und fügte dann klarer hinzu: »Raidho steht auf dem Kopf. Meine Intuition ist fehlgeleitet, mein Egoismus hindert mich daran, das große Ganze zu sehen. Ich befinde mich auf dem falschen Weg.«

Sie schwieg, und Michelle lehnte sich interessiert nach vorne: »Weißt du denn mittlerweile, was die Runen dir damit sagen wollen?«

»Soll ich den nächsten Schritt …?«

Michelle nickte.

Mit einem tiefen Seufzer schloss Jessica die Augen, schob die Angst beiseite, hob die Hand und rief den Vortex – Daumen und Ringfinger aneinandergelegt, die Gedanken auf den mächtigen Strudel aus Magie gerichtet. Er gehorchte ihr sofort. Jessica öffnete die Augen, und orangefarbene Funken tanzten zwischen den Runenstäben und ihrer Hand umher. Mit aller Macht konzentrierte sie sich auf das, was Michelle ihr vor einer Woche beigebracht hatte: auf die Bilder, die der Vortex mit den Runen verknüpfte, wenn man nur tief genug in ihn eintauchte und sie nach oben zog. Schweiß tropfte ihren Rücken hinab. Die Magie in ihr brannte. Lus Tod. Sie musste wissen, was geschehen war.

Jessica tauchte tiefer in den Strudel, erkannte flimmernde Farben, undeutliches Rauschen. Sie atmete die Magie ein, spürte die Hitze in ihrer Lunge, ihrem Arm, ihren Fingern. In ihrem gebrochenen Herzen. Schmerz. Die Trauer packte sie mit kalten Klauen, vernebelte die Bilder, färbte den Vortex grau und verschloss den Zugang zu der tiefsten Ebene.

Jessica ließ die Hand sinken, die Magie erlosch.

»Die gesammelte Macht der Runen offenbart sich erst, wenn du diese Technik beherrscht«, erklärte Michelle. »Vielleicht bist du noch nicht so weit.«

»Vielleicht werde ich das niemals sein.«

Michelles Stimme wurde noch weicher: »Vielleicht ist heute einfach nicht der richtige Tag dafür.« Sie lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere. »Ich wünsche dir viel Kraft.«

»Vielen Dank«, sagte Jessica und wedelte mit ihrer Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. Die Runen klackerten über den hellen Holzboden und sammelten sich in einem speckigen Lederbeutel. Jessica stand auf und nahm ihn an sich. Er war ungefähr halb so groß wie ihre Hand und an einem schwarzen Lederband befestigt, das sie sich um den Hals legte. Dann versteckte sie den Runenbeutel unter ihrer schwarzen Tunika, deren V-Ausschnitt mit Spitze versehen war.

Er schmiegte sich gewohnt warm an ihre Haut. Jessica verbeugte sich vor ihrer Großmeisterin, die diese Geste mit einem leichten Nicken erwiderte, und schritt auf die mit feinen Schnitzereien verzierte Tür zu. Es würde noch lange dauern, bis sie alle Zauber, die in das Holz eingelassen waren, identifizieren konnte.

Sobald sie in den Tunnel der Unterwelt trat, wo es merklich kühler als in Michelles Domizil war, traf die Welle der Enttäuschung sie mit voller Härte. Wieso gelang es ihr nicht, die Vortexlegung zu erlernen?

Eigentlich sollte diese Art des Runenlesens gar nicht Teil ihrer Ausbildung sein. Sie galt als besonders schwierig und deshalb den mächtigsten Runenhexen vorbehalten: Denn mit ihr war es möglich, die von den Runen gezeigte Zukunft zu konkretisieren, abstrakte Metaphern zu echten Bildern zu machen. Bei einer normalen Runenlegung gab es viel Spekulation, aber durch die Vortexlegung wurden sämtliche Spielräume ausgeräumt. Als würde man einen Film über die Zukunft abspielen. Bewegte Bilder, mit Magie in die Luft gemalt.

Kaum eine Runenhexe beherrschte diese Technik, nicht einmal Michelle konnte den Vortex dazu bringen, akkurate Bilder zu zeigen.

Für Hexen war es gefährlich, ihre Magie zu überanstrengen, denn es bestand die Gefahr, dass sie dadurch den Zugang zum Vortex verloren. Magie war ein Muskel, der Training erforderte – und ein Muskel konnte irreparabel geschädigt werden, wenn man ihn zu stark beanspruchte. Die Vortexlegung war enorm anstrengend, dennoch forderte Michelle Jessica seit neun Wochen dazu auf, an ihre Grenzen zu gehen. Darüber hinaus. So, wie auch Lu es immer von ihr gefordert hatte.

Lu. Bilder blitzten vor Jessica auf. Lus hoffnungsvoller Blick, ihre ineinander verschränkten Hände. Dein Herzenswunsch wird sich nur erfüllen, wenn du opferst, was du liebst. Die letzten Worte, die sie Lu wie ein Urteil entgegengeschmettert hatte.

Sie wünschte, sie hätte sich verabschiedet, aber der Runenwurf hatte sie damals verunsichert, ja sogar wütend gemacht. Sie hatte nicht fassen können, dass Lu – ihre kämpferische, selbstlose Lu – wirklich alles opfern würde, um ihren Herzenswunsch zu erreichen. Vor allem hatte es Jessica verletzt, dass sie Lus wahren Herzenswunsch nicht kannte und dass Lu ihr in diesem – ihrem letzten – Gespräch Dinge verschwiegen hatte. Zwischen ihnen hatte es in all den Jahren nie Geheimnisse gegeben, und sie waren verdammt stolz auf ihre Offenheit gewesen. Aber dann war diese Unterhaltung voller Schweigen und Misstrauen gekommen, und jetzt war Lu tot, sodass Jessica niemals die ganze Wahrheit erfahren würde. Der Schmerz saß tief, und gleichzeitig hasste Jessica sich dafür, dass sie wütend auf ihre tote Freundin war. Lu verdiente keine Wut, und trotzdem brannte der Verrat heiß in Jessicas Herz und vergrößerte den Schmerz über den Verlust.

Gleichzeitig war sie froh, wieder etwas zu fühlen. Als sie von Lus Tod erfahren hatte, war tagelang nichts als eisige Leere in ihr gewesen. Kälte und die Weigerung, Lus Tod mit der Realität in Einklang zu bringen. Bis es sie vor etwa einer Woche auf dem Weg zu Großmeisterin Michelle mit voller Wucht getroffen hatte und sie weinend mitten in der Unterwelt zu Boden gesunken war. Schmerz. Heißkalt brennend in ihrem ganzen Sein.

Energisch verbannte Jessica ihre dunklen Gedanken und lief los, vorbei an den unzähligen Türen, die den Gang säumten. Jede von ihnen führte in eine eigene kleine Welt. Als Runenhexe konnte sie einige der magischen Symbole zuordnen, die in hölzerne Türen geschnitzt und in steinerne Bögen gemeißelt waren. Mit ihnen hatte der Runenzirkel einst die Unterwelt erschaffen, doch dieses Wissen war schon lange verloren. Heute wirkten sie Schutzzauber und Zukunftsweisungen. Sie waren Schöpfer magischer Artefakte, hoch angesehen, aber bei Weitem nicht mehr so mächtig wie noch vor vielen Hundert Jahren.

Früher einmal hatte sich Jessica nichts mehr gewünscht, als diese alten Geheimnisse wieder zu entdecken und der Unterwelt zurückzugeben, was sie verloren hatte. Aber das hatte sich geändert. Auch wenn die neuen Umstände diesen Wunsch eigentlich mehr rechtfertigten als je zuvor, wusste Jessica, dass sie sogar die Vormachtstellung der Runenhexen aufgeben würde, um ihren wahren Herzenswunsch zu erfüllen.

Sie straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zur Beerdigung.

4 Die Lüge des Rates

Als Noah das Haus betrat, wusste er, dass sich nichts verändert hatte. Er hängte seine Lederjacke an die Garderobe und durchquerte den Flur, die Schritte gedämpft vom weichen Teppich, vorbei an dem überdimensionalen Familienporträt, von dem aus ihm der kalte Blick seines Vaters folgte, bis er ins Speisezimmer trat.

Isobel saß mit zusammengekniffenen Lippen am Esstisch, die ineinandergefalteten Hände lagen reglos vor ihr. Sie trug dasselbe Kleid wie gestern. Es war gefertigt aus schweren schwarzen Samt, auf dem sich helle Staubflecken abhoben.

»Mutter?«

Sie zuckte so heftig zusammen, dass eine goldene Haarnadel aus ihrer ohnehin achtlos zusammengesteckten Frisur klappernd auf dem Boden landete und eine der tiefroten Strähnen ihr in das blasse Gesicht fiel.

»Das Essen ist gleich fertig«, sagte sie.

Noah nickte und ließ sich mit geradem Rücken und erhobenem Kinn auf seinem Platz nieder, dann legte er sich eine Stoffserviette über den Schoß.

»Wie war dein Tag?«, fragte er. Stille antwortete ihm. Isobel zuckte nicht einmal mit der Wimper, und nur das Ticken der Uhr verriet, dass überhaupt Zeit verstrich. Der Raum war kalt. Die Feuerkugeln, die früher in jedem Zimmer wärmendes Licht gespendet hatten, waren erloschen, Staub lag auf den teuren Möbeln. Noah räusperte sich, und dieses Mal erwachte Isobel aus ihrer Starre.

»Hast du etwas gesagt?«

»Ich fragte, wie dein Tag war.«

Sie nickte, als wäre das eine Antwort auf seine Frage. Noah seufzte und trommelte mit seinen behandschuhten Fingern in einem gleichmäßigen Rhythmus auf die Tischplatte. »Der Rat schweigt sich weiter aus.«

Früher hätte dieser Satz augenblicklich Isobels Aufmerksamkeit erregt, heute bekam Noah dafür lediglich ein weiteres abwesendes Nicken. Der Duft von Essen wehte herein, und kurz darauf kam eine junge Frau, die zwei Tabletts balancierte. Mit einer energischen Bewegung knallte sie diese vor Isobel und Noah auf den Tisch. In ihren Augen loderte ein Feuer, das Noah in all den Jahren, in denen er Dienerschaft gewohnt war, nicht gesehen hatte. An ihrem schlichten schwarzen Kleid war eine purpurfarbene Stecknadel befestigt. Eine Tarotlegerin. Sein Vater hatte sie vor vier Jahren angestellt, aber Noah kannte weder ihren Namen noch ihre Geschichte. Es interessierte ihn auch nicht.

Sie erwiderte Noahs schockierten Blick mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Alles zu Eurer Zufriedenheit, Sir Stewart?«

Die Worte waren höflich, aber ihre Stimme klang schneidend und herausfordernd. Noah verzog den Mund zu einem süffisanten Lächeln. »Mit mir ist alles in bester Ordnung, aber ich weiß nicht, ob das für mein Essen gilt, das sehr wahrscheinlich ein Schleudertrauma erlitten hat.« Er hob die silberne Abdeckung. Tatsächlich rollte eine Erbse davon, das Fleisch lag so nah am Tellerrand, dass die braune Soße auf das teure Tablett tropfte. Er rümpfte die Nase.

»Sieht in Ordnung aus«, erwiderte die Tarotlegerin und verschränkte die Arme vor der Brust.

Noah blinzelte. »Ich bitte um Verzeihung?«

»Sieht in Ordnung aus«, wiederholte sie und grinste breit. »Kann man doch essen.« Sie nickte mit dem Kopf zu Isobel, die schweigend mit dem Abendessen begonnen hatte.

Noah legte die Stirn in Falten. »Mir geht es nicht darum, ob das Essen genießbar ist, sondern um …«

Als die Tarotlegerin sich zu ihm herunterbeugte, wich er unwillkürlich zurück. Ihre Augen funkelten, und er ärgerte sich über seine gezeigte Schwäche, aber das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite.

»Sir Stewart.« Sie sagte seinen Namen so abschätzig, dass er erneut zusammenzuckte. Mit ihrem manikürten Fingernagel tippte sie auf das Zeichen ihres Zirkels, den kleinen purpurfarbenen Stecknadelkopf. »Ihr wissen, was das heißt, nicht wahr? Ich werde nicht mehr lange Teil Eurer Dienerschaft sein. Also verschont mich mit Euren Maßregelungen.«

»Ihr seid entlassen.« Seine Worte waren so kalt wie die Luft im Zimmer. Die Tarotlegerin blinzelte. »Fristlos. Packt Eure Koffer und geht.«

»Aber ich wohne hier.«

»Nicht mehr.«

»Ihr könnt nicht …«

»Ich kann.« Er griff nach dem Besteck und stach mit dem Messer in das saftige Fleisch. »Eine solche Unverschämtheit muss ich mir nicht bieten lassen.« Er hielt seine Stimme unter Kontrolle, obwohl er innerlich tobte.

Er hatte schon von Kollegen gehört, dass einige ihrer Diener sich so verhielten, vor allem die jüngeren Hexen. Sie glaubten, dass jetzt endlich eine neue Zeit angebrochen war. Seit dem Fall des Würfels hatten die Tarotleger an Macht gewonnen – angeblich. Immer mehr Fälle wurden dokumentiert, in denen sie plötzlich ihnen bisher Unmögliches schafften: Nicht nur erhielten sie detaillierte Zukunftsvisionen, es gelang ihnen sogar, den Ausgang von Glücksspielen vorherzusagen. Immer mehr Menschen strömten zu diesen stärker gewordenen Tarotlegern, und sie zu befragen, war in vielen Kreisen nicht mehr so verpönt wie früher. Talus hatte alles verändert.

Noah beunruhigte diese neue Dynamik und die immer lauter werdenden Rufe nach einer Reformierung des Rates. Die Tarotleger wollten mehr Macht. Jahrelang waren sie der unterste Zirkel gewesen. Auch wenn laut Gesetz alle gleich waren, waren es die Tarotleger, auf den alle anderen hinabsahen. In den letzten zwei Wochen war nach außen hin nicht viel geschehen: Der Rat hielt offiziell die Zügel in der Hand, der Hexenadel gab weiterhin Cocktailpartys, und die Schattenleser gingen ihrer Arbeit nach. Aber in ihrem Kern war die Unterwelt erschüttert, und dieses Beben würde sie eines Tages alle in den Abgrund reißen, wenn niemand etwas dagegen unternahm.

Für Noah war deshalb klar, dass ein derartiges Verhalten hart bestraft werden musste, damit sich der Rest der Dienerschaft nicht ebenfalls solche Dinge herausnahm. Er musste die Unterwelt beschützen.

»Ich werde eine neue Anstellung finden«, fauchte die Tarotlegerin. »Eine bessere. Eine, die meiner Begabung würdig ist.«

»Viel Erfolg dabei.« Noah steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund. Zart. Saftig. Köstlich. Doch der bittere Beigeschmack der Unterhaltung verschandelte das tadellose Essen. Langsam kaute er, hielt dem bohrenden Blick der Tarotlegerin stand, dann schluckte er den Bissen hinunter und fügte hinzu: »Ich werde das Arbeitszeugnis schnellstmöglich nachsenden. Alles Gute für Eure Zukunft.«

Die Tarotlegerin rauschte aus dem Raum, und Noah suchte den Blick seiner Mutter, die sich mit langsamen Bewegungen Essen in den Mund schob.

»Mutter?« Er legte das Besteck zur Seite, lehnte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte ab. »Wir müssen reden. Du lässt der Dienerschaft zu viel durchgehen. Wir sind dafür verantwortlich, die Hierarchie der Unterwelt zu wahren. Oder möchtest du künftig dein Geld mit Luftspielertricks in der Gosse verdienen? Denkst du, dass Vater das gewollt hätte?«

Als Noah Richard erwähnte, kehrte Leben in Isobel zurück. Sie blinzelte, schüttelte leicht den Kopf und richtete sich dann ein kleines Stück auf. »Hast du Neuigkeiten von deinem Vater?«

Noah legte die Fingerspitzen an sein Kinn. Mit dem Fall des Würfels war Sir Stewart von der Bildfläche verschwunden. Wortlos. Es gab Tage, an denen Noah sich um Richard sorgte. Aber jene, an denen er wütend darauf war, dass sein Vater einfach abgehauen war und sie mit diesen Problemen allein gelassen hatte, überwogen. Er fragte sich, was Richard verbrochen haben mochte, dass er so plötzlich die Flucht ergriffen hatte. Oder war er womöglich entführt worden? Aber von wem? Zu gerne hätte er Runenleger dazu befragt, aber der Rat hatte es ihm verboten. Sobald jemand mitbekam, dass Sir Richard verschwunden war, gäbe es Gerüchte, hieß es. Als ob nicht auch so bereits aufgefallen wäre, dass ihn seit zwei Wochen niemand mehr gesehen hatte.

»Keine Neuigkeiten. Der Rat hüllt sich in Schweigen«, war alles, was er seiner Mutter sagte.

»Talus erfüllt Herzenswünsche, nicht wahr?«

Überrascht hob Noah die Augenbrauen. Es war das erste Mal, dass Isobel seit dem Fall des Würfels den Namen des Artefakts in den Mund nahm. »Ja. Das sagen die Legenden«, antwortete er abweisend und fragte sich, worauf seine Mutter hinauswollte.

Als einer von wenigen wusste Noah, dass Talus nicht nur den größten Wunsch, sondern auch die größte Angst erfüllte, wenn man ihn benutzte. Der Rat hatte Noah damit beauftragt, verschiedene merkwürdige Fälle zu untersuchen, und alle Spuren hatten ihn letztendlich zu Talus geführt. Er hatte eine Frau gefunden, die gestorben war, weil sie sich ewige Jugend gewünscht und den Tod gefürchtet hatte. Einen Mann, der sein Gedächtnis verloren hatte, nachdem sein erbittertster Rivale gestorben war. Und dann war da noch die Frau, die hatte sterben müssen, weil ihr Mann sich nichts mehr als eine erfolgreiche Karriere gewünscht und gleichzeitig gefürchtet hatte, dass seine Frau durch die dunkle Seuche sterben und so Schande über seine Familie bringen würde. Talus hatte eine ganze Höhle zum Einsturz gebracht.

Ja, Noah hatte gesehen, wozu der Würfel in der Lage war, und er fürchtete sich davor, was noch auf sie zukommen würde. Denn das Artefakt war benutzt worden, und der erfüllte Wunsch, die Stärkung des Tarotzirkels, war offensichtlich eingetreten. Nach einem erfüllten Wunsch kam jedoch immer die wahr gewordene Angst.

Als Noah dem Rat davon berichtet hatte, hatte dieser ihm Stillschweigen befohlen. Nicht einmal seiner Mutter gegenüber hatte er diesen Schwur gebrochen, denn sie war eine Frau der aufgebauschten Lästereien, und geheime Informationen waren bei ihr schon unter normalen Umständen nicht gut aufgehoben. Isobel verwahrte ein Geheimnis nur so lange, wie es ihr von Nutzen war. In ihrem aktuellen Zustand würde Noah niemals die Hand für sie ins Feuer legen. Er fragte sich, welche Hirngespinste sie um die Legende des Würfels gesponnen hatte.

Jetzt nickte Isobel abwesend. »Der Rat hätte den Fall des Würfels verheimlichen sollen. Das war nicht klug.«

»Der Rat hatte keine Wahl«, entgegnete Noah in seiner Funktion als Schattenleser. Er war es gewohnt, die Entscheidungen des Rates zu verteidigen. Und er hoffte noch immer, bald ein Teil von ihm zu sein. »Die seltsamen Machtausbrüche der Tarotleger häufen sich. Panik wäre ausgebrochen, wenn der Rat keine zufriedenstellende Erklärung abgegeben hätte. Es war klug, die Wahrheit zu sagen.«

Es war besser so. Die Bewohner der Unterwelt wussten nur, dass der Würfel aufgetaucht und benutzt worden war und Dalgiencrieffs Einsturz sowie Sir Gleans Tod verantwortet hatte. Die Details dazu sowie die Wahrheit darüber, wer den Würfel genutzt hatte, hatten das Ratshaus allerdings nie verlassen.

»Er hätte sich etwas ausdenken können!« Isobel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und richtete sich auf. Sie zitterte, Tränen standen in ihren Augen. »Sonst findet der Rat doch auch immer eine Möglichkeit, uns zu schützen. Wieso jetzt nicht? Jetzt, wo es ein Mal wichtig ist?« Noah blieb nichts weiter, als den Kopf zu schütteln, während seine Mutter fortfuhr, jeder Satz lauter als der vorherige: »Seit alle von Talus wissen, fürchten sich die anderen Hexen vor dem Rat. Ich höre ihr Flüstern, wenn ich das Haus verlasse. Es ist keine Ehrfurcht mehr zu spüren, sondern Angst. Ehrfurcht sichert unsere Position. Angst ist gefährlich. Wer Angst hat, sucht einen Ausweg. Wer Angst hat, wehrt sich. Und nicht nur das: Sie haben auch Hoffnung. Hoffnung, dass sie Talus an sich reißen und ihre Träume erfüllen können.«

Sie deutete auf die Tür. »So wie unsere Dienerschaft. Ich höre, wenn sie untereinander flüstern, dass Talus bald in die Hände der Caradain fallen und sich alles verändern wird. Nachts, wenn sie denken, dass ich schon lange schlafe, treffen sie sich in der Küche, trinken unseren teuren Wein und lachen. Angst gepaart mit Hoffnung. Das ist unser Untergang, Noah. Und der Rat trägt die Schuld daran. Vor allem dein Vater.«

5 Kindheitserinnerungen

Mittagessen!« Die harsche Stimme des Kräuterhexers schreckte Erin aus dem Halbschlaf, in den sie an der Wand lehnend gesunken war. Sie drehte den Kopf zu den Gitterstäben, durch die im selben Moment zwei Scheiben Brot flogen und im Staub vor ihren Füßen landeten.

Mit einem Ächzen lehnte sie sich vor, griff danach und biss hinein. Es war hart, aber nicht ungenießbar.

Der Wächter ließ sich, ohne einen Blick auf sie zu werfen, wieder auf seinem Stuhl nieder und blätterte weiter in seinem Buch, während Erin auf dem Brot herumkaute und ins Leere starrte. In diesem Moment überfielen sie wieder die Gedanken hinterrücks und heimtückisch, die am dritten Tag ihrer Gefangenschaft gekommen waren und sich in ihr festgesetzt hatten. Seither quälten sie Erin, und es gab keinen Ausweg. Wenn sie kamen, raubten sie ihr die Luft zum Atmen.

Mama.

Ihre Mutter hatte seit zwei Wochen kein Wort von ihr gehört und machte sich sicherlich große Sorgen. Eine so lange Funkstille war für Erin ganz und gar ungewöhnlich. Die letzten Worte, die sie gewechselt hatten, hatten sich um Tante Charly und darum gedreht, dass Erin doch nicht nach Hause kommen musste, weil ihr kritischer Zustand sich schlagartig verbessert hatte. Was, wenn …?

… wenn Tante Charly gestorben ist?

Ihre geliebte Tante. Ihr verdankte Erin so vieles im Leben. Früher einmal hatte Erin an Magie geglaubt, beflügelt von ihrer liebevollen Tante, die ihr Kristallketten und Fantasy-Bücher geschenkt hatte. Stundenlang hatte sie ihr Narnia vorgelesen, sie hatten über die Figuren geredet und sich vorgestellt, gemeinsam durch einen Kleiderschrank in eine andere Welt zu reisen. Dann kam der Tumor, mit ihm die Schwäche, das Koma. Der Tumor raubte Tante Charly das Leben und Erin den Glauben an Magie.

Jetzt hatte Erin endlich das gefunden, wonach Charly ihr Leben lang gesucht hatte: Magie. Eine ganze magische Welt unter Edinburgh, der Lieblingsstadt ihrer Tante. Erin hatte sich auf all das hier eingelassen, weil sie gehofft hatte, Tante Charly mithilfe von Magie retten zu können. Weil sie sich ihr gegenüber schuldig gefühlt und sich nichts mehr gewünscht hatte, als sie einmal echte Magie erleben zu lassen. Aber jetzt saß sie in diesem Gefängnis, und vielleicht war Charly schon längst tot, und ihre Mutter versuchte verzweifelt, sie zu erreichen, um ihr die traurige Nachricht mitzuteilen.

Erin ballte die Hände zu Fäusten. Der letzte Bissen Brot blieb ihr im Hals stecken. Sie hustete.Ihr Körper krampfte sich unter dem Hustenanfall zusammen, heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Schließlich spuckte sie das halb zerkaute Brot aus, rang gierig nach Luft und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass der Wärter sie nach wie vor ignorierte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Kaito besorgt. An der Lautstärke seiner Stimme erkannte sie, dass er wieder an der Wand zu ihrem Kerker lehnte. Mit ganzer Kraft verdrängte sie die Gedanken an die kranke Tante Charly, wie sie es in den letzten Jahren so oft getan hatte. Mittlerweile war sie enorm gut darin.

»Ja.« Sie räusperte sich, nahm einen Schluck Wasser und wiederholte das Wort noch einmal kräftiger: »Ja. Alles okay.«

»Erin?« Er klang tastend, zögernd.

»Ja?«

»Es gibt da etwas … na ja, wir … also du und ich … haben …«, Stille, »uns geküsst.«

Sie erinnerte sich, und ihr Gesicht glühte. Kaitos warme Lippen auf ihren. Sein »Du bist mir wichtig, Erin« in ihrem Ohr. Ihr ganzer Körper wurde heiß. Sie schloss die Augen, lauschte auf ihren rasenden Herzschlag, dann sagte sie mit fester Stimme: »Haben wir.«

Der Moment erschien ihr unendlich weit entfernt, wie aus einem anderen Leben oder aus einem vor langer Zeit gesehenen Film. Damals, als sie sich in Karens Büro getroffen hatten. Karen. Die Wärme, die die Erinnerung an den Kuss ausgelöst hatte, verschwand und hinterließ eisige Kälte.

»Seitdem haben wir nicht darüber geredet«, stellte er fest.

»Dazu gab es auch nicht viele Gelegenheiten«, sagte Erin und klang dabei kälter, als sie beabsichtigt hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Der Wärter vor diesem hier hatte es ihnen nicht erlaubt, miteinander zu sprechen, und als es ihnen endlich möglich gewesen war, hatte Erin so viele Fragen zur Unterwelt gehabt, dass ihr Kuss in den Hintergrund gerückt war. Sie fragte sich, warum Kaito gerade jetzt damit anfing.

»Ich dachte nur, dass wir das vielleicht mal tun sollten.«

Erin runzelte die Stirn. »Findest du nicht, dass wir gerade … Wichtigeres zu tun haben?«

»Abgesehen von hier sitzen und auf unser Schicksal warten?«

»Punkt für dich.« Sie seufzte. Ihr Magen zog sich zusammen. »Ich bereue es nicht, wenn es das ist, was du hören willst.«

Kaito atmete hörbar aus. Der Kräuterhexer räusperte sich, aber in den letzten zwei Tagen hatten sie sich an seine Anwesenheit gewöhnt und dass er immer zuhörte. Zu Beginn hatte es sie gehemmt, aber schließlich hatte die Einsamkeit gesiegt und sie dazu gebracht, ihre Privatsphäre anders zu definieren. Immerhin mussten sie auch in einer Ecke des Raumes in einen Eimer pinkeln und waren darauf angewiesen, dass die Wache genug Anstand besaß, währenddessen keinen Augenkontakt herzustellen.

»Ich bereue den Kuss auch nicht«, sagte Kaito mit so fester Stimme, als hätte er den Satz zuvor hundertfach in seinen Gedanken geübt. Die Wache blätterte eine Seite um und schüttelte dabei den Kopf. »Es ist nur … Du wachst nachts weinend auf. Ich höre auch jetzt, dass es dir schlecht geht. Ich hatte gehofft, dich ein wenig besser kennenlernen zu dürfen.«

Dürfen. Diese Formulierung bewegte etwas in ihr und erinnerte sie daran, weshalb Kaito sie von Anfang an fasziniert hatte. Damals, als sie ihn unter dem Namen Leo gekannt hatte. Sein mysteriöses Auftreten, die höfliche und zuvorkommende Art, das wissende Lächeln. Wie er sie vor ihrer alten Klassenkameradin Isabella beschützt und ihr das erste Mal die Wahrheit über sich erzählt hatte. Seine kahl eingerichtete Wohnung.

Im Grunde wusste sie ebenfalls kaum etwas über ihn, außer, dass er verdammt nett zu ihr gewesen war und sein Leben für sie riskiert hatte. Die aktuelle Situation bestätigte das: Kaito saß in dieser Zelle, weil er Erin – eine Nichtmagische, eine Radan – in die Unterwelt gebracht hatte. Als Dank für seine Hilfe stand nun sein Leben auf dem Spiel. Und Erins gleich dazu.

Wenigstens hatte sie Abaigeal Dubhs Tagebuch gefunden und damit etwas Licht in Talus und ihre eigene Vergangenheit gebracht. Abaigeal hatte Talus erschaffen und den Prozess in ihrem Tagebuch festgehalten, aber das Buch war von den Caradain gestohlen worden. Damit war es außerhalb ihrer Reichweite, ebenso wie Talus, der irgendwo sicher unter Verschluss war. Erin wusste jedoch dank ihrer Recherchen vor der Gefangennahme, dass sie von der mächtigen Hexe Abaigeal Dubh abstammte. Diese Information hatte sie wohlweislich für sich behalten. Nur Kaito kannte die Wahrheit.

Erin besaß zwar keine magischen Kräfte, aber Abaigeal Dubh war in der Unterwelt so gefürchtet, dass sie nicht daran zweifelte, sofort hingerichtet zu werden, wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass sie die mächtige Hexe aus dem Reich des Todes zurückholen könnte.

In ihr floss Abaigeals Blut, und Blut besaß Macht, das hatte Kaito ihr zugeflüstert, bevor sie von Wachen auseinandergerissen und in diesem Verlies eingesperrt worden waren.

»Was möchtest du denn wissen?« Erin schlang die Arme um ihre Beine, zog sie eng an ihren Körper und legte ihre Wange darauf ab, den Kopf vom Wärter abgewandt, sodass sie auf die Rückwand ihrer Zelle blickte. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, mit Kaito zu telefonieren. Der Druck auf ihrer Brust wurde leichter.

»Erzähl mir von Tante Charly.«

Seine Worte waren wie ein Guss aus eiskaltem Wasser. Sie setzte sich kerzengerade auf, stieß sich dabei den Hinterkopf am harten Stein und fluchte leise.

»Geht es dir gut?« Kaito klang besorgt.

Erin rieb sich die schmerzende Stelle und nickte, dann erinnerte sie sich daran, dass er das nicht sehen konnte.

»Ja«, sagte sie und wusste, dass er auf eine Erklärung für ihren Fluch wartete. Stattdessen rang sie nach Worten. »Tante Charly …« Sie brach ab, überlegte, wie viel sie offenbaren wollte und wie viel sie erzählen konnte, ohne dass es sie innerlich zerriss. »Als ich klein war, war sie meine Heldin. Sie war die Tante, die einem Märchen erzählt und glauben macht, dass im Wald Feen wohnen. Mit ganz viel Räucherwerk im Wohnzimmer und Heilkräutern im Garten.«

»Ihr hattet Feen im Wald?«, hakte Kaito nach.

Da wurde Erin klar, dass er nicht wusste, was es bedeutete, jemanden zu kennen, der in einer anderen Realität lebte. Wenn sie ihren nichtmagischen Freunden – anderen Radain – von ihrer Tante mit den Edelsteinen und dem Räucherwerk erzählte, hatten die alle sofort ein klares Bild vor Augen.

Für Kaito war der Glaube an Magie nie etwas Außergewöhnliches gewesen, er war in dem Wissen aufgewachsen, dass es sie wahrhaftig gab. Für ihn war sie kein Teil eines Wunsches nach mehr, sondern Alltag.

Es war das erste Mal, dass Erin ihn bemitleidete. Sie hatte ihre Kindheit geliebt, in der sie Träume hatte. Hoffnungen, manifestiert in dem Glauben an magische Wesen und ihr innewohnende Zauberkräfte, die sie nur noch entdecken musste.

»Magie existiert in meiner Welt nicht«, erinnerte Erin ihn. »Nur wenn wir Kinder sind, dürfen wir davon träumen. Aber sobald wir erwachsen werden, ist Magie nicht mehr als ein Hirngespinst der Hoffnungslosen, die Zuflucht suchen.«

»Deshalb die abfälligen Kommentare deiner ehemaligen Klassenkameradin bei unserer gemeinsamen Führung.«

»Genau.«

»Bei mir war es ganz anders«, sagte Kaito, und Erin lehnte sich nach vorne, begierig darauf, mehr von ihm zu erfahren und ihn endlich besser kennenzulernen. »Als Kind wartete ich darauf, dass sich meine Kräfte entwickelten.«

»Zu welchem Zirkel wolltest du?« Eine Frage, die Erin umtrieb, seit sie von Lus Unzufriedenheit mit ihrer Begabung wusste. Lu. Erin schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der bei dem Gedanken an ihre tote Freundin auf ihrer Zunge lag.

Kaito lachte leise, rau. »Das änderte sich nahezu täglich. Ich malte mir alle möglichen Zukunftsvarianten aus. Als großer Feuerhexer und Teil der Schattenleser. Als Kräuterhexer mit einem eigenen Garten, in dem ich morgens meinen Tee trinke und am Nachmittag mächtige Pflanzen züchte. Als Tarotleger …« Er hielt inne, und Erin spürte, dass ihn der nächste Satz Überwindung kostete, so leise und gepresst, wie er fortfuhr: »… der einer einfachen Arbeit nachgeht und seine Ruhe hat.«

Die auf diese Worte folgende Stille hielt Erin nicht lange aus. »Ist dein Job jetzt nicht ruhig?« Sie erinnerte sich an das erste Gespräch, das sie über Magie geführt hatten. Was hatte Kaito ihr damals erzählt? Dass er eine Art Wächter war, der die Vaults beschützte? Als Kaito nicht antwortete, plapperte sie weiter: »Ich muss zugeben, dass ich damals nicht so ganz verstanden habe, was du eigentlich tust. Die ganzen Infos über Magie und Hexen waren ein wenig viel auf einmal.«

»Ich habe dir vom Vortex erzählt.«

»Dem Ort, von dem die Magie kommt«, warf Erin ein, um zu zeigen, dass sie wusste, wovon er sprach. »Jeder Hexenzirkel kann auf einen Strom der Magie zugreifen, und deshalb wirken ihre Kräfte unterschiedlich.«

»Der Vortex ist durch den Schleier von unserer Welt getrennt. Wenn an einer Stelle der Vortex oft genutzt wird, wird der Schleier dünner, durchlässiger. In den Vaults ist der Schleier sehr schwach, deshalb sickert dort häufiger die Kraft des Vortex’ hindurch und kreiert so für Radain unerklärliche Phänomene. Ich bin dort, um diese Phänomene aufzuspüren und sie zu beseitigen, bevor ein Radan sie findet.«

Die Vaults.

Wenn Kaito so von ihnen sprach, waren sie nicht mehr die schaurigen Katakomben unter der South Bridge, in denen Geistertouren für Touristen angeboten wurden. Sie waren nicht mehr Erins ehemaliger Arbeitsplatz, bei dem sie als Touristenführerin Kaito kennengelernt hatte, nicht mehr der Ort, an dem sie sich eine berufliche Zukunft ausgemalt hatte. Eigene Geistertouren schienen ihr mittlerweile ziemlich absurd und wie ein Wunsch aus einem anderen Leben.

Wenn Kaito so von den Vaults sprach, waren sie eine reale Bedrohung. Der Ort, an dem Erin zum ersten Mal dem Geist von Abaigeals Tochter begegnet war. Der Ort, an dem sie beinahe gestorben wäre.

»Und was, wenn sie doch jemand bemerkt?«

»Dann sorge ich dafür, dass die Magie verschwunden ist, bevor sie irgendwie wissenschaftlich aufgezeichnet wird.« Etwas raschelte. Der Wächter brummte. »Die Radain glauben erst an Dinge, wenn sie aufgezeichnet sind. Bis dahin gelten sie als Wahnsinn.«

Erin erinnerte sich daran, wie ihre Klassenkameraden auf ihren festen Glauben an Magie reagiert hatten, und nickte. »Ja, das klingt nach uns.« Die nächste Frage kam ihr nicht so leicht über die Lippen: »Passieren denn in den Vaults oft … Dinge?«

Sie erinnerte sich an den Geist, der ihr beinahe die Kehle zerquetscht hätte. Die milchigen Augen und die zerschnittene Haut hatten sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.

»Nein«, kam Kaitos Antwort sofort, die nächsten Worte sagte er jedoch mit Bedacht: »Also, ja, mein Job ist sehr ruhig. Ich mache ihn allerdings nicht ganz … freiwillig.« Erin wusste nicht, ob Nachfragen angebracht waren oder sie es besser dabei belassen sollte, also schwieg sie dieses Mal, bis er fortfuhr: »Eigentlich wollte ich ein Schattenleser werden, aber Tarotleger dürfen nicht Teil dieser elitären Einheit werden. Offiziell ist jeder Zirkel gleichgestellt, aber inoffiziell … ist das nicht so.«

»Das wird nicht mehr lange so bleiben.« Die tiefe Stimme des Wärters ließ Erin zusammenzucken. Sie wandte sich ihm zu und legte fragend den Kopf schief. Der Kräuterhexer sah abwechselnd in ihre und dann in Richtung von Kaitos Zelle und schien selbst überrascht darüber, dass er sich in das Gespräch eingemischt hatte.

»Wie meint Ihr das?« Kaito klang alarmiert, und auch Erin beschlich ein ungutes Gefühl, als sie das hinterhältige Glitzern in den Augen des Kräuterhexers erkannte.

Er hob sein Buch etwas höher und flüsterte: »Das werdet ihr schon noch sehen. Das Machtgefüge ändert sich, und auch wir Kräuterhexer werden davon profitieren. Ganz sicher.«

6 Die Beerdigung

Als Jessica die herbstliche Höhle betrat, wäre sie am liebsten sofort wieder umgekehrt. Die farbenfrohen Blätter und die warmen Sonnenstrahlen passten nicht zu der grauen Kälte in ihrem Inneren. Sie wünschte, der Himmel würde mit ihr weinen, um ihre Tränen zu verdecken.

Es hatten sich schon einige Hexen direkt neben dem Eingang zusammengefunden, allesamt in prächtig bunten Farben gekleidet, einen der wenigen Anlässe nutzend, in denen sie sich nicht den Kleidungsregeln der Unterwelt beugen mussten. Normalerweise war ihnen nur Schwarz in Kombination mit ihrer Zirkelfarbe erlaubt, aber zu bestimmten Anlässen oder wenn sie die Unterwelt verließen, durften sie tragen, was sie wollten. Jessica strich über ihre weiße Tunika, dem Kleidungsstück, das sie bei ihrem letzten Treffen mit Lu getragen hatte. Sie war sich sicher, dass Lu diese Geste zu schätzen gewusst hätte.

»Jess!« Ihre Mitbewohnerin Emily kam auf sie zu und nahm Jessicas Hände in ihre. Die warme, weiche Haut fühlte sich einerseits beruhigend an, erinnerte Jessica aber gleichzeitig daran, dass sie nie wieder Lus Berührung spüren würde. Sie zog ihre Hand zurück, und ein kurzer Ausdruck des Schmerzes und des Verstehens huschte über Emilys sommersprossiges Gesicht. »Sie sind alle gekommen.« Mit einer ausladenden Bewegung deutete sie auf die Ansammlung von Hexen, und Jessica versteifte, als sie einige Ratsmitglieder erkannte. »Der Rat ist auch hier.«

»Die Ratsmitglieder sehen schuldbewusst aus«, fügte sie dann flüsternd hinzu und biss sich auf die Unterlippe, als hätte sie etwas Dämliches gesagt, aber Jessica konnte ihr nur zustimmen.

Den Ratsmitgliedern haftete ein fast demütiger Ausdruck an. Lady Bissett trug ihre blonden Haare in einer Lockenmähne, Diamanten funkelten um ihren Hals, aber das sonst hochmütig gereckte Kinn hielt sie gesenkt. Der Feuerhexer Sir Duncan war wie immer in Rotgold gekleidet und seine dicken Finger mit Ringen übersät, doch sein Blick war nicht abschätzig auf seinen Gesprächspartner, einen jungen Hexer in Samtblau, sondern in weite Ferne gerichtet. Sir McEwen hielt sein altersloses Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne, die Holzperlen um seinen Hals lagen im starken Kontrast zu den goldenen Fäden auf seinem grünen Umhang.

»Ihnen stehen harte Entscheidungen bevor«, sagte Jessica, aber sie spürte, dass das nicht der Grund für die offensichtlichen Schuldgefühle der Ratsmitglieder war. Irgendetwas lag in der Luft. Sie beugte sich zu Emily, sodass sie ihre roten Haare an der Wange kitzeln spürte, und wisperte: »Sir Craig ist nicht hier.«

»Sir Stewart ebenfalls nicht.« Emilys Stimme war nicht mehr als ein Hauch. »Seit dem Fall des Würfels hat die beiden niemand mehr …«

»Still«, zischte Jessica, als sich ihnen ein älteres Paar näherte. Die Frau ging gebückt, die Last eines langen Lebens auf den Schultern, eine Hand auf den Arm des Mannes neben ihr gelegt. Beide trugen Sonnenblumengelb.

»Jessica Bain!« Die Stimme war ein Donnern. Es war Jahre her, seit Jessica sie zuletzt gehört hatte, aber sie erkannte sie sofort.

»Sir und Lady Baxter.« Sie trat auf Lus Eltern zu und verbeugte sich leicht, wie es der Anlass forderte. »Euer Verlust schmerzt mich.« Am liebsten wollte Jessica sie nach den Umständen zu Lus ehrenhaftem Tod befragen, aber wie auch in den letzten Wochen traute sie sich nicht. Es erschien ihr pietätlos. Unangebracht. Die Verzweiflung im Gesicht der Eltern zeigte ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber sie hatte einen anderen Plan, den sie heute endlich in die Tat umsetzen wollte. Heute würde sie erfahren, wie Lu gestorben war.

»Es war zu früh«, sagte Lus Mutter, die einstmals dunklen Augen waren milchig und blind. »Zu früh.«

»Ich weiß, es ist überraschend, aber … würdest du eine kurze Rede halten?«

Sir Baxter sah Jessica flehentlich an, während seine Frau weiterbrabbelte: »Zu früh … es war zu früh …«

»Ich? Aber …«

»Deine Anwesenheit erinnerte mich daran, wie sehr dich unsere Lu verehrte.« Sein Blick fiel auf die Lederschnur um ihren Hals, nur kurz, aber er strafte seine nächsten Worte Lügen: »Es würde ihr viel bedeuten.«

Emily neben ihr versteifte sich, und Jessica wusste, warum, denn sie hatte denselben Gedanken: Es war für Sir Baxter nicht wichtig, in welcher Beziehung Jessica zu seiner Tochter gestanden hatte. Jessica war eine Runenhexe, und der anwesende Rat sollte sehen, dass ihre Tochter mächtige Freunde gehabt hatte. Ein Prahlen auf Kosten ihrer toten Tochter. Jessica wurde schlecht, aber sie lächelte, denn eine Ablehnung käme für die Familie Baxter einem gesellschaftlichen Todesstoß gleich, vor allem, da einige Umstehende die kleine Gruppe bereits beäugten.

»Natürlich«, erwiderte sie lauter als nötig, damit jedes neugierige Ohr sie bestens verstand. »Lu war wie eine Schwester für mich. Eine großartige Hexe. Es ehrt mich, dass ich Eurer Familie diesen Dienst erweisen darf.«

Dann verbeugte sie sich einmal mehr, tiefer dieses Mal. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Emily die Hände zu Fäusten ballte. Als die Eltern außer Hörweite waren, beugte sie sich zu ihr und wisperte: »Was war das denn?«

»Ich bin es Lu schuldig.«

»Sie wollen das nur, weil …«

»Ich weiß«, unterbrach Jessica sie etwas zu barsch. »Aber es ist okay. Für Lu.«

Dabei wusste Jessica nicht einmal, ob Lu das gewollt hätte. Ihre Freundin hatte nie viel über ihre Eltern gesprochen. Dennoch: Jessicas Pflichtgefühl hatte sie zu einer Zusage gezwungen, und erst jetzt dämmerte es ihr, was das bedeutete: Sie musste eine Rede halten, vor allen Leuten. Sie schluckte.

Ein Windstoß fuhr über die Trauergemeinde, wirbelte Herbstlaub auf. Jessicas Vater hob die Hand, und alle setzten sich langsam in Bewegung, liefen einen kleinen Hügel hinauf. Emily blieb an Jessicas Seite, und alle schwiegen. Das Einzige, was zu hören war, war das Gemurmel von Lus Mutter: »Zu früh … viel zu früh …«

Niemand weinte. Jessica linste zu den anderen Gästen, bemerkte das verkrampfte Gesicht von Lus Großmeisterin, die erschöpften Ratsmitglieder, die teilnahmslosen und gelangweilt dreinschauenden Gebräuhexen, die nur hier waren, weil der Anstand es gebot. Dafür, dass Lu ein Teil des riesigen Gebräuzirkels gewesen war, war die Anzahl der Gäste sehr gering.

Emily strich ihr flüchtig über die Hand, und Jessica rang sich ein Lächeln ab, um sie zu beruhigen. Das Herbstlaub unter ihren Füßen raschelte. Jessicas Blick fiel auf Noah Stewart, der sich erstaunlich weit entfernt vom Rat bewegte. Er schritt mit geradem Rücken und erhobenem Kinn über das Gras. Ihr Plan, geboren aus Emilys Erzählungen, festigte sich.

Schließlich blieb die Trauergemeinde in gebührendem Abstand zu einer kleinen hölzernen Kiste stehen. Sie war rechteckig, nicht einmal kniehoch. Jessica schluckte, straffte die Schultern und atmete tief durch.

Lus Vater trat nach vorne, ließ seine brabbelnde Frau zurück und griff nach dem Deckel. Lautlos glitt er zur Seite, landete auf dem Boden, zerbrach dabei knackend einen Zweig. Die Urne, die Sir Baxter herausholte und an seine Brust drückte, war aus Gold und überraschend prunkvoll.

Leises Gemurmel erhob sich.

»Wie konnten sie sich das leisten?«

»Gold?!«

»Sieht du die Runen?«

»Das Ding muss ein Vermögen gekostet haben!«

Die neidischen Blicke zupften an Sir Baxters Mundwinkeln und zogen sie nach oben.

Jessica war gleichermaßen überrascht, denn Lus Familie war nicht einflussreich oder mächtig, aber die Urne, die Lus Asche aufbewahrte, wäre eines Ratsmitglieds würdig gewesen. Edelsteine glänzten im Licht der magischen Herbstsonne. In diesem Moment wünschte Jessica sich die alten Bräuche zurück. Wünschte, es würde einen Baum geben, den sie in Lus Andenken besuchen konnte. Aber diese Art der Bestattung war veraltet.

Lady Bissett hustete und kassierte dafür einen tadelnden Blick von Sir Duncan. Jessica kniff die Augen zusammen. Der anwesende Rat, die teure Urne – das Geheimnis um Lus Tod wurde immer größer.

Lus Vater erhob die Stimme: »Es ist uns eine Ehre, euch alle zu diesem traurigen Anlass empfangen zu dürfen. Unsere Luzia war eine einmalige junge Hexe, deren Tod uns viel zu früh ereilte.«

Seine Unterlippe bebte, und Jessica zweifelte keine Sekunde daran, dass der Ausdruck der Trauer ehrlich war. Lus Mutter schluchzte und verbarg das faltige Gesicht in einem Taschentuch. Jessica spürte heiße Tränen in sich aufsteigen. Die Familie Baxter mochte sich den Tod ihrer Tochter gesellschaftlich zunutze machen, aber sie betrauerte ihn von Herzen.

Mit zitternden Händen hob er die Urne in die Luft. »Luzia, wir halten dein Vermächtnis in Ehren.«

»Wir halten dein Vermächtnis in Ehren«, wiederholten die anwesenden Trauergäste.

Jessica brachte kein Wort über die Lippen.

Dann drückte Sir Baxter die Urne wieder an sich. »Bevor wir Luzia den Elementen übergeben, möchte eine ihrer besten Freundinnen noch ein paar Worte sagen. Jessica Bain aus dem Runenzirkel.« Er trat zur Seite, und Jessica schritt steif nach vorne.

Emily sagte etwas zu ihr, das jedoch im Rauschen des Bluts in ihren Ohren unterging. Ihr Herz pochte, ihr Blick haftete auf der goldenen Urne, die alles war, was von Lu geblieben war. Jessica erinnerte sich an heißen Tee und Gespräche voller Gelächter mit Lu an ihrem Küchentisch. An Lus bewundernde Blicke, wann immer Jessica gedankenverloren ihren Runenbeutel berührte. An ihren unbändigen Wissensdrang, ihren Mut und ihre Freundschaft.

Jessica wandte den Blick von der Urne ab, als ihr klar wurde, dass diese Asche nicht alles war, was Lu hinterlassen hatte. Es gab Erinnerungen, die ihr niemand jemals nehmen konnte.

Mit einem zaghaften Räuspern begann sie ihre Rede: »Lu … Luzia war eine wahrlich besondere Hexe. Seit ich sie das erste Mal traf, wusste ich, dass ich sie für immer an meiner Seite haben wollte. Ihr Scharfsinn, ihr Mut und ihre Freundschaft haben mein Leben und mich geprägt.« Sie sah kurz zu Sir Baxter, über dessen Wangen Tränen liefen, während er mit jedem Wort das Kinn stolzer in die Höhe reckte. »Es schmerzt, sie verloren zu haben.« Ein Stich in ihr Herz. »Aber Luzia würde nicht wollen, dass ich über den Verlust und die Trauer rede. Sie sprach nie über das, was verloren war, sondern nur über das, was sie noch gewinnen konnte.«

Sie überbrückte den Abstand zu Sir Baxter, legte eine Hand auf die kühle Urne. Die Tränen strömten nun ungehindert über ihr Gesicht.

»In diesem Sinne möchte ich dir einfach danken, Lu. Für alles, was ich dank dir in den letzten Jahren gewonnen habe. Du hast immer an mich geglaubt, und ich glaube an dich. Ganz egal, wohin der Wind dich trägt, mein Herz wird er ebenfalls mitnehmen.«

Dann senkte sie den Kopf und lief zu Emily. Verwirrte Blicke lagen auf Jessica, während sie sich die Tränen abwischte. Emily strich ihr beruhigend über den Rücken, und dieses Mal ließ Jessica die Nähe zu.

»Danke, Jessica Bain«, ergriff Sir Baxter erneut das Wort, die Stimme bebend vor Schmerz. »Nun wollen wir Luzia die letzte Ehre erweisen.«

In einer ungelenken Bewegung öffnete er die Urne, und eine Windhexe trat nach vorne. Sie hob die Hand, Ringfinger und Daumen aneinandergelegt, und gelbe Funken flimmerten in die Luft und setzten sich dann in Bewegung. Ein kräftiger Windstoß fuhr in die Urne, wirbelte die Asche nach oben, weit hinauf in den wolkenlosen Himmel. Dann ließ die Windhexe die Hand sinken, und Lu war fort. Nur die teure Urne blieb als ewiges Andenken. Sie war jetzt so leer wie die Herzen derer, die Lu verloren hatten.

7 Die Wahrheit

Noah verfolgte die Zeremonie mit stoischer Ruhe. Er hatte früh gelernt, keine Regung zu zeigen, um seinem Vater keine Angriffsfläche zu bieten. Richard Stewart war nicht anwesend, natürlich nicht, aber Noah wollte Lu die letzte Ehre erweisen, nicht zuletzt wegen seiner Schuldgefühle.

Diese gediehen auf fruchtbarem Boden, immerhin war die junge Hexe seinetwegen gestorben. Ganz gleich, wie oft er sich vor Augen führte, dass sie aus eigenen Stücken nach Talus und damit ihrem Verderben gesucht hatte: Ihre letzten Atemzüge in seinen Armen würde er nie vergessen.

Jessicas Rede perlte an ihm ebenso wenig ab wie früher die Beleidigungen seines Vaters. Äußerlich blieb er gelassen, innerlich schnitt jedes Wort wie eine Spiegelscherbe.