Unfollow me. Vom Fluch gezeichnet, von Liebe verfolgt - Liza Grimm - E-Book

Unfollow me. Vom Fluch gezeichnet, von Liebe verfolgt E-Book

Liza Grimm

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Beschreibung

Er ist ein talentierter Manga-Zeichner auf der Überholspur. Sie seine schärfste Kritikerin. In ihrem romantischen Fantasy-Roman verbindet die Bestseller-Autorin Liza Grimm Urban Fantasy mit Manga – ein wunderbar emotionales und von Megumi Maria Loy aufwendig illustriertes Leseerlebnis! Als die erfolgreiche Manga-Influencerin Toni eines Tages in New York von einer seltsamen Kreatur angegriffen wird, kommt ihr der charmante Hikaru zu Hilfe. Toni ahnt nicht, dass ihr Retter einer der erfolgreichsten Mangaka weltweit ist, denn Hikaru meidet die Öffentlichkeit. Was sie ebenfalls nicht weiß: Hikaru verdankt seinen Erfolg einer besonderen Gabe. Er kann seine Gefühle als Zeichnungen auf Papier bannen – doch dabei erschafft er auch Monster, die zum Leben erwachen. Über ihre gemeinsame Liebe zu Manga kommen Toni und Hikaru sich bald näher, ohne zu ahnen, wer der jeweils andere wirklich ist – denn seit Toni vor Jahren nur knapp einem Stalker entkommen ist, hält auch sie ihre Identität geheim. Als Hikaru dann jedoch etwas herausfindet, das ihn tief verletzt, fließen seine Zweifel und Ängste direkt in seine nächste Zeichnung … Romantische Fantasy um eine Manga-Influencerin auf der Flucht und ein Mangaka, dessen Monster Realität werden! Liza Grimms spannende und einfühlsame Liebesgeschichte wird von Megumi Loys großartigen Illustrationen auf besondere Weise zum Leben erweckt. Der romantische Urban-Fantasy-Roman ist ein Fest für alle Fans von Manga und Fantasy Romance. Entdecke auch Liza Grimms magische Fantasy-Bücher: - Talus – Die Hexen von Edinburgh - Talus – Die Magie des Würfels - Talus – Die Runen der Macht - Talus – Pen & Paper in der magischen Welt von Talus - Die Götter von Asgard - Die Helden von Midgard - Hinter den Spiegeln so kalt

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Liza Grimm

Unfollow me

Vom Fluch gezeichnet, von Liebe verfolgt

Roman

Illustriert von Megumi Maria Loy

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Er ist ein talentierter Manga-Zeichner auf der Überholspur. Sie seine schärfste Kritikerin.

Seit sie nur knapp einem Stalker entkommen ist, hält die erfolgreiche Influencerin Toni ihre wahre Identität geheim. Als sie in New York von einer seltsamen Kreatur angegriffen wird, kommt ihr der charmante Hikaru zu Hilfe. Toni ahnt nicht, dass ihr unnahbarer Retter einer der erfolgreichsten Mangaka weltweit ist. Was Toni ebenfalls nicht weiß:

Hikaru verdankt seinen Erfolg einer besonderen Gabe. Er kann seine Gefühle als Zeichnungen auf Papier bannen – doch dabei erschafft er auch Monster, die zum Leben erwachen.

Über ihre gemeinsame Liebe zu Manga kommen Toni und Hikaru sich bald näher, ohne zu ahnen, wer der jeweils andere wirklich ist. Aber Liebe ist nicht immer einfach und bald fließen Hikarus Zweifel und Ängste direkt in seine nächste Zeichnung und erwachen zum Leben …

Romantische Fantasy um eine Manga-Influencerin auf der Flucht und ein Mangaka, dessen Monster Realität werden!Mit über 100 hochwertigen Illustrationen von Megumi Maria Loy

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Hikaru

Toni

Danksagung

Toni

Es gab zwei Dinge, die ich nicht leiden konnte: Pizza Hawaii und schlechte Geschichten. Glücklicherweise war die Geschichte von Henry und mir alles andere als schlecht. Genau genommen fand ich sie sogar ziemlich gut.

Gerade standen wir auf der Dachterrasse eines angesagten Restaurants und überblickten die New Yorker Skyline. Der Wind wirbelte meine Haare durcheinander, und als ich sie zum wiederholten Mal aus meinem Gesicht strich, stellte Henry sich hinter mich, sodass sein warmer Körper mich abschirmte.

Das sanfte Gemurmel der anderen Gäste rückte ebenso in den Hintergrund wie die Klaviermusik der Pianistin, die sicher andere Pläne in ihrem Leben gehabt hatte, als an einem Freitagabend für Menschen zu spielen, die der Speisekarte mehr Aufmerksamkeit widmeten als ihr.

»Die Zeit mit dir ist wie ein Traum«, flüsterte Henry, und sein Atem kitzelte mein Ohr. Es waren Sätze wie diese, die mich hatten schwach werden lassen. Henry war ein Schriftsteller, einige seiner Freunde bezeichneten ihn als aufstrebenden Newcomer, andere als die Sensation des kommenden Herbsts. Weder die New York Times noch andere Zeitungen hatten bisher über seinen Roman berichtet, der nächste Woche erscheinen sollte, aber das musste nichts heißen. In der heutigen Zeit gab es auch andere Wege, um Bücher groß zu machen.

»Du bist kitschig«, erwiderte ich und lachte leise.

»Und du liebst das«, hauchte er mir ins Ohr.

Ich liebe dich, hätte ich fast geantwortet, aber es war zu früh für diese Worte. Obwohl wir uns schon seit vier Monaten trafen, waren wir nicht exklusiv, und es war auch nicht so, als brannte tief in mir die ewig lodernde Flamme der unsterblichen Liebe. Doch in einem guten Liebesfilm wäre genau das meine Antwort gewesen, und es machte mich ein wenig traurig, dass wir noch nicht weit genug waren, um diese Vorlage zu nutzen. Aber ich würde diese Worte erst sagen, wenn ich sie so meinte, und nicht dann, wenn sie ein perfekter Teil einer romantischen Erzählung wären.

»Wollen wir noch Nachtisch bestellen?«, fragte ich stattdessen und wirbelte zu Henry herum. Er verzog seinen schmalen Mund zu einem Lächeln. Generell war alles an Henry ziemlich dünn. Er war hochgewachsen, schlaksig, seine Augen waren ebenso klein wie seine Nase und seine Ohren. Außerdem war er deutlich größer als ich. Er trug einen ziemlich teuren Anzug, seine hellen Haare waren fein säuberlich zurückgegelt.

»Schokoladenkuchen?« Er nahm meine Hand und führte mich zurück zu unserem Platz. Die Tische waren mit weißen Decken und roten Rosen in goldenen Vasen dekoriert. Die Teller unseres Hauptgangs waren bereits abgeräumt, die Weingläser noch halb gefüllt.

»Eis mit Himbeeren«, erwiderte ich. »Passt besser zum Wein.«

»Natürlich.« Er lachte, als würde meine Antwort keinen Sinn ergeben, und zog den Stuhl für mich zurück. Mit einem dankbaren Lächeln ließ ich mich nieder, und als er saß, nahmen wir die Gläser und prosteten einander zu.

Nachdem Henry an dem Wein genippt hatte, stellte er ihn wieder hin und stützte sich anschließend mit dem Ellbogen auf den Tisch, lehnte sich nach vorn.

»Nächste Woche«, sagte er. »Ich hoffe, die Kritiker zerreißen mich nicht.«

»Es wird gut.« Meine Stimme klang fest. Entschlossen. »Ich mochte deinen Text sehr gern.«

Repeat – Again and again war kein schlechtes Buch. Handwerklich solide. Gut recherchiert. Persönlich. Es würde Fans finden, da war ich mir sicher. Nicht viele, aber die würden den Text umso mehr lieben.

»Das klingt eher wie ein nett verpacktes Okay und nicht wie Dein Buch ist großartig, Henry!« Er seufzte, lehnte sich zurück, schloss die Augen. »Entschuldige. Ich sollte dich nicht so unter Druck setzen. Du bist nicht hier, um mir Komplimente zu machen. Ich mag an dir ja, dass du so ehrlich und unverblümt bist, aber gerade diese Woche … Es ist hart.«

»Das verstehe ich.« Ich legte meine Hand auf den Tisch, bot sie ihm an. Es erschien mir unmöglich, auf den ersten Teil seiner Antwort einzugehen. Tatsächlich fand ich sein Buch nämlich eher Okay. Henry war ein wundervoller Mensch, aber sein Text hatte mich weder überrascht noch zum Nachdenken angeregt. Ich hatte ihn gern gelesen, aber mehr auch nicht.

Für mich war das vollkommen in Ordnung. Ein Künstler war mehr als seine Kunstwerke, aber ich hatte schon zu oft erlebt, dass sie das anders sahen. »Viele Leute werden dein Buch lieben«, wich ich aus. »Da bin ich mir sicher.«

»Aber liebst du es auch?« Er griff nach meiner Hand. Eindringlich starrte er mich an, studierte mein Gesicht, und ich hoffte, dass es mich nicht verriet.

Ich liebe dich, hätte ich in einem kitschigen Film erneut geantwortet. Stattdessen fragte ich: »Hat Logan sich schon gemeldet?«

Sein Agent Logan war der einzige Mensch, der ihn in den letzten Wochen halbwegs aufbauen konnte. Henry zog seine Hand zurück, vor Enttäuschung sanken seine Mundwinkel hinab. Er griff erneut nach dem Glas und nahm einen großen Schluck. »Hat er«, sagte er schließlich und wich meinem Blick aus.

»Und?«

»Er glaubt, dass ich noch bessere Ideen habe.« Henry schnalzte mit der Zunge. »Der nette Weg, um mir zu sagen, dass die aktuelle Scheiße ist.«

»Oder dass er an dich glaubt«, versuchte ich ihn aufzubauen. »Die erste Idee ist doch selten die beste, oder? Wie viele Entwürfe hast du für Repeat geschrieben?«

Die Frage zauberte ein grimmiges Lächeln auf sein Gesicht. »Sieben.« Langsam strich er mit dem Zeigefinger über den Rand des Weinglases. »In dreizehn höllischen Monaten.«

»Siehst du«, antwortete ich und machte mir nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass er bei unserem ersten Treffen von zwei Jahren geredet hatte. Manche Künstler hatten eine Art, die Wahrheit auszuschmücken und so das echte Leben in pointierte Geschichten zu verpacken. Es war eine Lüge, aber keine, die mich verletzte, deshalb ließ ich sie unkommentiert. »Und wie lange hast du jetzt an der neuen Idee gearbeitet? Zwei Wochen?«

»16 Tage.« Henrys Hand hielt in der Bewegung inne. »Du hast ja recht. Ich mache mir zu viele Gedanken. Die anstehende Veröffentlichung macht mich einfach nervös, und ich hätte gern vorher schon einen neuen Vertrag. Was ist, wenn Repeat ein Flop wird und mich deshalb kein Verlag mehr will? Dann ist mein Schriftstellerleben vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat! Lange halte ich das nicht mehr aus.« Eine tiefe Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. »Ich finde kaum Schlaf, und die Unsicherheit macht mich fertig, aber alles ist besser als das, was davor war.«

»Weißt du …«, setzte ich an, aber Henry sprach einfach weiter.

»Es ist so schwer, als Autor sein Leben zu finanzieren. Ich liebe die Kunst, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass das eine einseitige Beziehung ist.«

»Du hast ein Buch beendet«, warf ich ein. »Das ist mehr, als die meisten …«

»Ja, das ist vielleicht mehr, als viele andere schaffen, aber nichtsdestotrotz gibt es deutlich mehr, die erfolgreicher sind als ich. Toni, ich kann doch nicht zurück!«

»Das musst du auch nicht«, beruhigte ich ihn.

»Ich kann nicht ewig in diesem Klub arbeiten.« Henry rieb sich den Nacken, als hätte er Schmerzen. »Am Anfang klang es noch so gut. Nachts als Barkeeper hübsche Frauen bedienen und dann im Morgengrauen die gehörten Geschichten niederschreiben. Oder auf Servietten Ideen notieren. Die Wahrheit ist, dass Stifte darauf quasi nicht verwendbar sind. Da muss ich jeden Strich doppelt ziehen. Für Handynummern ist das okay, aber wie soll ich so den rasenden Ideen in meinem Hirn gerecht werden?« Jeden Satz sagte er schneller als den vorangegangenen. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie hörte, und es tat mir leid, dass er diese Zweifel schon so lange mit sich herumtrug. Ich wünschte, ich könnte ihm dabei helfen, aber nur er hatte die Macht, sich aus dieser Gedankenspirale zu befreien. Mir blieb nichts anderes übrig, als geduldig seine Hand zu halten.

»Aber immer noch besser als dein alter Job«, erinnerte ich ihn, obwohl ich seine Arbeit als Informatiker lediglich aus Erzählungen kannte. Unregelmäßige Arbeitszeiten, kein Menschenkontakt, nur Zahlen.

»Ich kann nicht zurück in diese Inspirationssackgasse«, stimmte er zu. »Am Anfang dachte ich noch, dass Computer der perfekte Ausgleich zu meiner kreativen Ader sind, aber … Diese Datensätze bauten ein Grab für meine Muse.« Er überprüfte mit vorsichtigen Bewegungen den Sitz seiner Haare. »Die Wahrheit ist, dass meine Ersparnisse fast aufgebraucht sind, Toni.«

Das war neu. Ich runzelte die Stirn. »Aber du hast doch einen Job.«

»Mit dem verdiene ich gerade mal genug für die Miete«, erwiderte er. Dann deutete er auf das kostspielige Ambiente. Kellner mit Silbertabletts. Leise Klaviermusik hoch über der New Yorker Skyline. »Das alles hier wird von meinen Rücklagen bezahlt. Ich bin nicht bereit, meinen Lebensstandard einzuschränken. Als Informatiker verdient man deutlich mehr als hinter der Bar eines Nachtklubs. Egal, wie angesagt er auch sein mag. Ich habe mein Budget geplant, klar. Aber ich habe auch damit gerechnet, dass Repeat ein großer Erfolg wird. Wenn das ausbleibt …« Er ließ den Satz unvollendet und senkte den Kopf.

»Mit wie viel Geld hast du denn gerechnet?«, fragte ich. Als ich ihn damals im Hidden World kennenlernte und von seiner Geschichte hörte, hatte mich sein Mut angezogen. Menschen, die ihre sicheren Jobs für die Kunst aufgaben, waren selten, denn die meisten Künstler trauten sich nicht, von großen Erfolgen zu träumen. Zumindest war ich bisher keinem begegnet. Sie alle lebten günstige Leben, und selbst wenn sie plötzlich finanziell erfolgreich waren, gaben sie weiterhin wenig Geld aus. Die Angst, das nächste Werk nicht verkaufen zu können, war allgegenwärtig. Jeder verdiente Dollar eine Absicherung für die Zukunft, keine Belohnung für erfolgreiche Arbeit.

»Mit viel mehr, als ich hätte tun sollen«, antwortete Henry, und ich ärgerte mich, dass ich in der ganzen Zeit, die wir einander nun schon dateten, niemals hinterfragt hatte, wie er all die luxuriösen Abendessen und prunkvollen Theaterbesuche hatte bezahlen können.

Natürlich hatte ich mehr als einmal versucht, Henry einzuladen oder zumindest meinen Anteil selbst zu zahlen. Vergebens.

»Buchveröffentlichungen sind immer ein Glücksspiel«, sagte ich. Seine Naivität machte mich hilflos und meine Ignoranz der letzten Monate wütend. Andererseits war er ein erwachsener Mann Mitte zwanzig, und es lag nicht an mir, seinen Finanzhaushalt im Griff zu haben. Ich atmete tief ein. »Du wirst eine Lösung finden, da bin ich mir sicher. So wie immer.« Die Panik in seinen Augen brachte mich zu einer Lüge. »Außerdem bin ich mir sehr sicher, dass Repeat ein Erfolg wird. Die Leute werden es genauso sehr lieben wie ich.« Die Worte schmeckten falsch, und ich schickte ein ebenso unechtes Lächeln hinterher, um ihnen den Anschein der Wahrheit zu verleihen.

Henry fiel darauf herein, und ich bereute es sofort, aber es war zu spät. Lügen brachten stets Probleme mit sich und boten nie eine Lösung, und obwohl ich das wusste, griff ich viel zu oft nach kleinen Ausreden, damit Menschen sich besser fühlten. So wie jetzt. Eine Angewohnheit, die ich mir dringend abtrainieren wollte.

»Danke.« Er seufzte erleichtert. »Ich glaube, das war genau das, was ich hören musste. Entschuldige, dass ich diesen schönen Abend ruiniert habe. Dabei wollte ich dich doch heute zu mir nach Hause einladen.«

Ich setzte mich ein Stück aufrechter hin, und er lachte. »Zu dir nach Hause?«

»Ja.« Dieses Mal war er es, der über den Tisch nach meiner Hand griff. »Wir zwei treffen uns jetzt schon so lange, und ich fände es schön, die Nacht mal nicht in einem Hotelzimmer zu verbringen.« Er zwinkerte, und mir war klar, dass diese Geste nicht romantischer Natur war, auch wenn er sie so aussehen lassen wollte. Die Hotelzimmer mit ihren bestickten Bademänteln und dem ausgiebigen Frühstück vom Roomservice mussten ihn in den letzten Monaten mehr gekostet haben als seine Miete. »Aber natürlich nur, wenn du möchtest.«

Ich nickte sofort. Die Wohnung eines anderen zum ersten Mal zu betreten, hatte immer etwas Offenbarendes. Man konnte sich bei Dates von der besten Seite zeigen und in Hotelzimmern sorgenfrei im Bett frühstücken, aber in den eigenen vier Wänden waren viele Leute nicht bereit, Krümel zwischen ihren Laken zu riskieren. Ich gehörte zu ihnen.

»Ich mache auch hervorragende Pancakes«, versprach er. In seinen Worten schwang die Verheißung mit, die ganze Nacht dort zu verbringen und gemeinsam aufzuwachen.

Der Kellner kam und nahm unsere Bestellung auf. Schokokuchen für Henry, Eis mit Himbeeren für mich. Wir lachten viel, aber die Anspannung wich nie ganz aus Henrys Gesicht. Als uns die Rechnung auf einem Tablett serviert wurde, zog ich schnell meine Karte aus dem Portemonnaie. Es war das erste Mal, dass Henry nicht protestierte, aber auf dem Weg nach unten wich er meinem Blick aus, starrte aus dem gläsernen Aufzug hinaus auf die immer näher kommende, belebte Straße.

»Du hättest das nicht tun müssen«, sagte er, als gerade die ersten Reklametafeln in mein Sichtfeld rückten.

»Aber ich wollte«, erklärte ich. »Ich durfte dich noch nie einladen, und ich freue mich sehr, dass ich jetzt die Gelegenheit dazu hatte.«

»Das Taxi übernehme ich.« Der Aufzug erreichte das Erdgeschoss, und Henry ließ mir den Vortritt.

Die Geräuschkulisse New Yorks empfing mich wie ein altes Lieblingslied. Sofort blickte ich mich um, betrachtete die Menschen, die in rauen Mengen zwischen den Hochhäusern umherliefen, während Henry mich über den Bürgersteig zur Straße manövrierte und ein Taxi herbeiwinkte. Im Inneren des Autos roch es nach Leder und Apfel. Henry nannte die Adresse. Ich drehte schnell das Gesicht zum Fenster, damit er meine Überraschung nicht sah. Die Straße lag in SoHo.

»Wohnst du schon lange dort?«, fragte ich.

»Seit fünf Jahren.« Er grinste stolz. Offensichtlich war ihm bewusst, dass ich die horrenden Mietpreise dieser Ecke kannte. Die Gebäude im Stadtteil Manhattans zeichneten sich durch Gusseisenfassaden und Designerboutiquen aus. Die Straßen waren gepflastert, und es gab enorm viele Galerien, die auch zu später Stunde Besucher in ihre Ausstellungen lockten.

Das Taxi hielt an einer Straßenecke, und Henry führte mich zu einem Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich ein bereits geschlossener Weinladen befand. Direkt neben dem Schaufenster führte eine Tür in das Treppenhaus, in dem sofort die großen Lampen ansprangen. Henry brachte mich in den dritten Stock.

»Willkommen in meinem Reich.« In einer eleganten Bewegung stieß er die Tür auf und ließ mich eintreten.

»Wow.« Ich meinte es ernst. Henry lebte in einem hochmodernen Loft. Das Bett stand direkt neben dem bogenförmigen Fenster, eine Theke trennte die Küche von einem bequemen Sofa mit riesigem Bildschirm. »Das Bad«, erklärte er mit einem Nicken in Richtung der einzigen anderen Tür, während er mir den Mantel abnahm.

Natürlich hatte Henry aufgeräumt, aber manche Dinge konnten nicht verborgen werden und verrieten so viel mehr über eine Person, als zehn Dates es vermochten. Das große Schuhregal erzählte mir, dass er wirklich so großen Wert auf sein Äußeres legte, wie ich bereits vermutet hatte. Neben der Spüle hing ein noch unbenutztes Geschirrhandtuch, was darauf schließen ließ, dass er lieber die teure Spülmaschine verwendete, als selbst einen Teller abzuwaschen. Falls er überhaupt zu Hause aß, denn bei unseren Dates hatte er häufig von Restaurantbesuchen erzählt. Die akkurat zurechtgerückten Hocker an der Theke neben dem Kochbereich bestätigten diesen Eindruck. Der Tisch war aus blitzblank poliertem Glas. Wenn das meine Wohnung wäre, würde niemand darauf essen.

Neben dem Fernseher stand ein Plattenspieler auf einem Regal voller Vinylscheiben, daneben ein deckenhohes Regal mit Leiter, in dem sich die Bücher stapelten. Ich ging ohne große Umschweife zu dem bequem aussehenden Ohrensessel und ließ mich darauf nieder. Die abgewetzten Stellen des Stoffes zeigten mir, dass Henry hier viel Zeit verbrachte, was die ausgeblichenen Zeichen auf dem Leselampenknopf bestätigten.

»Bequem.« Ich kuschelte mich noch tiefer in den Sessel und griff nach dem Buch, das auf dem Beistelltisch lag. Henry schnappte es mir aus der Hand, bevor ich einen Blick auf den Titel werfen konnte. Bei jedem anderen wäre mir das unhöflich erschienen, aber Henry verzieh ich es, denn er lächelte so liebevoll.

»Du bist doch nicht zum Lesen hergekommen, oder?« Henry beugte sich über mich, die Hände auf den Lehnen abgestützt, den Mund zu einem leichten Lächeln verzogen.

Natürlich war ich das nicht. Ich wollte seine Wohnung sehen, ihn besser kennenlernen und … Als Antwort beugte ich mich vor und küsste ihn.

Hikaru

 

Es gab zwei Dinge, die ich wirklich liebte: einen ruhigen Abend zu Hause und einen aufgeräumten Arbeitstisch. Heute hatte ich beides. Ich saß auf meinem Sofa, aß frische Trauben und lauschte der Musik, die aus den Boxen kam. Sanfte Geigentöne. Sie hallten durch die leeren Räume mit den viel zu hohen Decken. Meine Wohnung sah aus wie eine Tuschezeichnung. Schwarz und weiß mit eleganten Linien.

An den meisten Tagen fühlte ich mich hier wohl und stellte mir vor, selbst Teil eines Mangas zu sein. Die Realität war leichter zu ertragen, wenn man daran glaubte, dass das Schicksal sich an die Regeln des Storytellings hielt. Wenn man mich nach meiner größten Angst fragen würde, würde ich die Unvorhersehbarkeit des Lebens nennen. Nicht zu wissen, was als Nächstes geschah, machte mich nervös. Unruhig. In Geschichten wusste ich immer, was mich auf der nächsten Seite erwartete, deshalb liebte ich sie so sehr.

Es klopfte an der Tür, und vor Schreck fiel mir eine Traube aus der Hand. Ich starrte zum Flur, der im Dunkeln lag. Ein zweites Klopfen. Ich griff nach meinem Handy und schaltete über die Apps zuerst das Licht und dann die Musikanlage aus. Dann schloss ich die Augen und kniff die Lippen zusammen, als ich meinen Fehler erkannte. Damit hatte ich bestätigt, dass jemand zu Hause war.

Zwang mich das dazu, den Besuch in Empfang zu nehmen?

»Ich weiß, dass du da bist!« Eine tiefe Männerstimme beantwortete meine Frage. »Mach die Scheißtür auf, Hikaru!«

Widerwillig erhob ich mich vom Sofa und kam dem Befehl nach.

Matthew stürmte an mir vorbei ins Wohnzimmer und stieß dabei einen Fluch nach dem anderen aus.

»Was ist passiert?«, fragte ich und sah meinen ruhigen Abend verschwinden.

»Sie hat mich verarscht, Mann.« Matthew drehte sich zu mir um. Er war ein weißer Mann, sogar einen Kopf größer als ich, hatte breite Schultern, einen mächtigen Bart – und Tränen in den Augen.

»Wie meinst du das?« Ich trat auf ihn zu und bedeutete ihm, auf dem Sofa Platz zu nehmen. »Wer hat dich verarscht?«

Wir setzten uns zeitgleich hin, und er verbarg das Gesicht in seinen Händen. »Sarah.« Er schluchzte den Namen seiner Freundin, die ich nur einmal flüchtig gesehen hatte. Ich wusste nicht genau, was ich darauf antworten sollte, also blieb ich stumm, bis Matthew weiterredete: »Sie hat mir ernsthaft ’ne Nachricht geschickt, um mit mir Schluss zu machen. Auf Instagram!«

»Oh«, brachte ich heraus. »Wie lange seid ihr noch mal miteinander ausgegangen?«

»Zwei Monate!« Matthew sagte die Worte, als handle es sich um ein ganzes Leben. »Ich dachte, wir wären ein Paar, aber …« Er zog sein Handy heraus, tippte darauf herum und hielt mir Sarahs Instagram-Profil unter die Nase.

Travel. Sport. Madly in love with @itsjustsam.

»Sam?«, fragte ich.

»Offensichtlich waren wir nie ein Paar«, erklärte Matthew. »Sie hat mehrere Leute – wer weiß, wie viele! – parallel gedatet und sich dann für Sam entschieden.« Er schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, wir wären seit einem Monat exklusiv.«

Am liebsten hätte ich ihn gefragt, wie er zu dieser Schlussfolgerung gelangt war, aber es erschien mir fehl am Platz, also sagte ich: »Das tut mir leid.«

»Mir auch, Mann. Mir auch.« Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Und ich hatte überlegt, sie meinen Eltern vorzustellen. Wie naiv von mir! Wieso glaube ich denn dermaßen an die Liebe?« Frustriert stopfte er sich eine Weintraube in den Mund. »Die Frauen sagen immer, dass sie Romantiker wollen, aber wenn sie dann einen haben, entscheiden sie sich für Sam.«

An seiner Äußerung war so vieles falsch, dass ich nicht einmal wusste, wo ich anfangen sollte. Also beschloss ich, meine Frage doch zu stellen: »Habt ihr ausgesprochen, dass ihr exklusiv seid?«

»Ich dachte, das wäre klar. Immerhin habe ich ihr eine Schublade freigeräumt.«

»Und hat sie Dinge dort gelagert?« Ich hob die Augenbrauen, und Matthew wich meinem Blick aus. »Aha. Nur weil du nett zu einer Frau bist, schuldet sie dir gar nichts, weißt du?«

Matthew kniff die Lippen zusammen. »Du solltest dir endlich einen ordentlichen Job suchen«, sagte er unvermittelt, und ich befürchtete, dass er in absehbarer Zeit mit mir nicht mehr über Frauen reden würde. Ich hoffte nur, dass meine Botschaft trotzdem angekommen war.

»Ich weiß.« Er ahnte nichts von meiner Arbeit. Niemand tat das.

»Oder willst du auf ewig den Haussitter spielen?« Matthew machte eine große Handbewegung und deutete auf die Einrichtung, von der er glaubte, dass sie einem reichen Künstler gehörte, in dessen Urlaub ich hier wohnte, um Einbrecher abzuschrecken.

»Eigentlich fühle ich mich echt wohl«, erwiderte ich.

»Ich finde, der Hausbesitzer hat keinen Geschmack«, erwiderte Matthew und deutete mit dem Zeigefinger auf ein Gemälde, das ich Anfang des Jahres für 50000 Dollar erstanden hatte. Es zeigte einen tiefschwarzen Himmel mit hellen Lichtpunkten. »War wahrscheinlich richtig teuer, dabei sind das einfach ein paar weiße Flecken auf schwarzer Farbe. Male ich dir sogar betrunken in dreißig Minuten.«

»Ich finde das Bild ganz schön«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Der Besitzer hat mir erlaubt, Sachen, die mich stören, zeitweise auf dem Dachboden zu verstauen. Die Stockentensammlung habe ich dort schon untergebracht.« Ein Witz, der die meisten zum Lachen brachte. Matthew gehörte nicht zu ihnen. So ernst, wie er mich ansah, wunderte ich mich, dass er mit seinem Herzschmerz zu mir gekommen war. Wahrscheinlich dachte er das Gleiche.

Ich bemühte mich um ein Lächeln. Matthew war noch nicht lange in meinem Leben, und nach heute Abend bezweifelte ich, dass er noch viel länger bleiben würde. Aber das lag nicht an ihm, sondern an mir und meiner Unfähigkeit, mich dauerhaft mit zwischenmenschlichen Verpflichtungen auseinanderzusetzen. Ganz abgesehen davon, dass die Ausrede mit dem Haussitting nicht ewig funktionierte und die Leute irgendwann Fragen stellten.

Wo ist der Hausbesitzer? Warum macht er fünf Monate Urlaub? Ist er ein Superstar? Gehört er zum FBI?

Das war immer der Moment, in dem ich den Kontakt beendete, und da ich mit niemandem eine wirklich tiefe Bindung einging, kümmerte es die Menschen wenig, wenn ich plötzlich nicht mehr auf ihre Nachrichten antwortete und aus ihrem Leben verschwand. Es gab nur zwei Menschen, die eine Ausnahme bildeten: mein Friseur Luca und Stefano, der Betreiber eines italienischen Restaurants, in dem ich gern essen ging. Die beiden teilten eine für mich sehr wichtige Eigenschaft: Sie erzählten lieber von ihrem Leben, als Fragen zu meinem zu stellen.

Matthew stand auf, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Na ja, Mann, sorry, dass ich so reingeplatzt bin. Ich sollte gehen. Hast sicher noch was vor.«

Natürlich hatte ich das nicht. Hatte ich nie. Allein dass ich Matthew kennengelernt hatte, grenzte an ein Wunder. Wir waren uns mehrmals beim Sport im Park begegnet und hatten irgendwann angefangen, gemeinsam zu laufen. Das führte zu ausgetauschten Handynummern und dem ein oder anderen Bier, wobei ich die meisten seiner Einladungen abgelehnt hatte und nur so oft zu Verabredungen gekommen war, dass ich nicht komplett vereinsamte. Es schmerzte mich doch, dass diese Bekanntschaft nun ausgerechnet damit endete, dass Matthew sie zu einer Freundschaft hatte machen wollen. Wäre mein Leben ein anderes, hätte ich Matthew gern näher an mich herangelassen, aber das war nicht möglich.

Ich war einfach nicht für Freundschaften geeignet, wie die Vergangenheit gezeigt hatte.

»Pass auf dich auf«, sagte ich zum Abschied und klopfte ihm auf die Schulter. Er nickte nur und ging.

Als die Tür ins Schloss fiel, schien die Stille in dem großen Haus auf einmal erdrückend, und ich beschloss, doch noch einmal an den Schreibtisch zu gehen. Tatsächlich warteten im Arbeitszimmer mittlerweile zwei neue Mails auf mich. Eine davon war von meinem Management. Sie wünschten sich sechzehn weitere Seiten für die nächsten zwei Episoden, damit sie den Sammelband pünktlich zum Weihnachtsgeschäft veröffentlichen konnten. Die nächste Episode würde übermorgen erscheinen, also hatte ich gerade mal wenige Stunden Zeit für die ersten sechzehn Zusatzseiten.

Ich seufzte. Seit zwei Jahren war ich bei meinem Management unter Vertrag, und obwohl sich mein Lebensstandard und meine Einnahmen seitdem enorm gebessert hatten, fühlte es sich nicht immer gut an. Sie verstanden einfach nicht, wie ich arbeitete.

Meine Zeichnungen offenbarten mein Innerstes. Auch wenn viele Menschen Manga nicht als Kunstform begriffen, war es eben genau das: eine hohe Kunst. Gesichtsausdrücke, Panelaufteilungen, Lettering. Ganz zu schweigen von der einfachen Grundlage, wiedererkennbare Figuren zu erschaffen und mit ihnen eine fesselnde Geschichte zu erzählen.

Sechzehn Seiten in einer Nacht waren quasi unmöglich. Ich warf einen kurzen Blick auf den Papierstapel. Die weiße Oberfläche leuchtete im Schein der Lampe. Ich biss mir auf die Unterlippe.

Das Management wusste, dass ich es schaffen würde. Ich war Hikaru, besser bekannt als Luke Asakura, und ich hatte einen Ruf in der Szene. Niemand zeichnete so schnell wie ich. Das war mein größter USP, sagte das Management. Unique Selling Point. Das, was mich von anderen Kunstschaffenden unterschied. Der Grund, weshalb mein Webcomic eine so große Fangemeinde hatte. Ich lieferte zuverlässig jede Woche fünfzig bis siebzig neue Seiten. Seit vier Jahren. Die Sammelbände erschienen in regelmäßigen Abständen und waren vor allem als Geschenke beliebt. Wunderschöne Hardcover-Ausgaben, die von angehenden Mangaka koloriert wurden. Unglücklicherweise zählten Farben nicht zu meinen Stärken.

Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr, überlegte, ob ich noch heute beginnen oder es lieber auf den nächsten Morgen verschieben sollte. Aber ich wusste, dass ich keinen Schlaf bekommen würde, solange diese Aufgabe zu erledigen war, also konnte ich es gleich hinter mich bringen.

Abgesehen davon würde es mir nach dem Gespräch mit Matthew vielleicht guttun, den Abschied von der Freundschaft zu verarbeiten. Meiner Erfahrung nach wurden das auch die besten Geschichten: die persönlichen. Jene, die mir das Gefühl gaben, mich komplett entblößt zu haben. Das waren die Episoden, die bei meinen Fans am besten ankamen, und ich war fest entschlossen, ihnen nur das Beste zu geben.

Ich rollte mit dem Schreibtischstuhl hinüber zur Zeichenfläche und zog ein leeres Blatt vom Stapel. Allein der Anblick der weißen Oberfläche beruhigte mich. Sanft strich ich mit dem Daumen der rechten Hand an den Kanten entlang und legte die linke genau in die Mitte. Ich dachte an die Geschichte, an Harus letztes Abenteuer, in dem er mithilfe eines neu gefundenen Sternenkristalls einmal mehr das Böse gebannt hatte. Kurz schloss ich die Augen, rief mir die letzten Zeichnungen in Erinnerung. Das Bild von Haru, wie er den Kristall an seine Brust presste. Lichtstrahlen strömten von ihm zu den Panels um ihn herum, in denen sich verschiedene Monster auflösten. Schwarze Schuppen, Zähne, Klauen, überlagert von hellem Weiß.

Ein erlösendes Ende, nach dem sich die Leserschaft fragen würde, wie es mit Haru weiterging, da er ja alles Böse besiegt hatte. Die Lösung lag auf der Hand: Nicht einmal der Sternenkristall war mächtig genug, um dieses Ziel zu erreichen.

Meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Als ich die Augen wieder öffnete, war die Seite vor mir gefüllt. In einer Ecke stand Haru, drückte den Kristall weiterhin an sich, und rund um ihn erstrahlte die Welt im Licht. Doch ganz unten links war ein Fleck, der dunkel blieb.

Zufrieden betrachtete ich mein Werk, dann zog ich die nächste Seite heran, strich wieder mit dem rechten Daumen über den Rand, während ich die linke Handfläche gegen die raue Oberfläche drückte. Dieses Mal schloss ich nicht meine Augen, sondern betrachtete fasziniert, wie schwarze Linien von meinen Fingern aus über das Papier strömten. Sie ordneten sich zu Figuren, zu Worten und Schattierungen.

Schnell floss die Tinte über das Blatt, und ich lächelte. An manchen Tagen zeigten sich die Charaktere nur zaghaft, und es geschah nicht selten, dass eine Seite komplett unbrauchbar war. Verwischte Konturen, unklare Aufteilungen, leere Sprechblasen. Aber heute war meine Muse bei mir, und die Geschichte erzählte sich von selbst.

Okay, zugegeben: Das tat sie immer.

Mein Einfluss auf den Verlauf von Harus Geschichte war gering. Ich konnte lediglich entscheiden, gewisse Teile oder Seiten nicht zu veröffentlichen. Aber das tat ich nur mit jenen, die unvollkommen waren.

Mit jeder Seite, die ich erschuf, offenbarte sich mir ein neuer Teil aus Harus Leben. Überraschungen gab es zugegebenermaßen selten, denn der Webcomic hielt sich brav an die mir bekannten Erzählstrukturen.

Ich liebte das. Ihn zu erschaffen, gab mir Sicherheit. Die Geschichte entfaltete sich unter meinen Händen, geschaffen von dieser Gabe, die ich vor der Menschheit geheim hielt. Für sie war ich ein Mangaka, der unfassbar schnell mit Tinte und Tusche zeichnete. Dabei besaß ich unbeschreibliche Magie, dank der die Geschichte direkt auf das Papier floss.

Das war auch der Grund, weshalb ich so einsam war. Meine Gedanken schweiften zu Matthew, während ich das nächste Blatt vor mich zog.

Tief in mir regte sich ein altbekannter Schmerz. Dabei ging es nicht mal so sehr um Matthew als Person, sondern vielmehr um meine Einsamkeit, die mich schon viel zu lange begleitete. Eigentlich wünschte ich mir einen Menschen, mit dem ich über all das reden konnte und der mich nicht verurteilte. Jemanden, der an meiner Seite blieb und mir half, mit meinem außergewöhnlichen Leben klarzukommen. Vielleicht sogar mit mir herausfand, wieso gerade ich diese Gabe besaß. Ich kniff die Lippen zusammen.

Meine Magie wirkte, zeichnete Harus Geschichte weiter. Ich schluckte, blinzelte die Tränen weg.

Es ist okay, sagte ich mir. Ich war vielleicht einsam, aber dafür begeisterte ich Hunderttausende mit dieser Geschichte. Auch wenn ich niemanden an mich heranließ, so kommunizierte ich doch mit vielen Menschen, und sie alle kannten mich irgendwie. Auch wenn ihnen das nicht bewusst war, für mich fühlte es sich an, als wären sie auf eine gewisse Art meine Freunde. Zumindest klammerte ich mich an diesen Gedanken, wenn ich wieder einmal einen Freitagabend allein verbrachte oder das große Bett am Morgen so leer schien.

Dafür hatte ich Magie, die wunderbare Geschichten zauberte. Eine Gabe, für die viele Kunstschaffende töten würden, da war ich mir sicher.

Die Linien unter meiner Hand begannen zu glühen, meine Finger zitterten. Ich stieß einen Fluch aus.

Die Kehrseite meiner Gabe offenbarte sich. Es geschah schon wieder.

Toni

Henry warf seinen Laptop aufs Bett, als ich gerade aus der Dusche kam. »Magst du schon einmal einen Film aussuchen?«

»Wir könnten auch auf dem Fernseher schauen«, schlug ich vor und deutete auf das Sofa, aber er schüttelte den Kopf.

»Das Bett ist viel bequemer.«

Lachend ließ ich mich darauffallen und steckte die nackten Beine unter die warme Bettdecke. »Mach nicht zu lange.«

»Ich habe noch nie schneller geduscht«, erwiderte er.

Mittlerweile waren diese zwei Sätze zu Floskeln geworden. Ich liebte diese routinierten Momente, die einen Vorgeschmack darauf gaben, wie eine längere Beziehung zwischen uns sein könnte. Sein Hemd schmiegte sich weich an meine Haut, während ich mich entspannt in die Kissen sinken ließ und den Laptop öffnete.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was ich dort sah, dabei hatte es eine Zeit gegeben, in der ich mehrmals am Tag diese Seite geöffnet hatte. Covernahaufnahmen neben pastellfarbenen Kaffeetassen. Fotos von mir vor einer Bücherwand. 1,2 Millionen Abonnenten. Meine Hände begannen zu zittern. Mein alter Bookstagram-Account. Der Teil meines Lebens, meiner Vergangenheit, den ich bisher vor Henry versteckt hatte. Wie hatte er ihn gefunden?

»Ah, Moment …« Henry kam aus dem Bad getapst. »Ich muss den Laptop noch entsperren.«

»Das ist er schon«, erwiderte ich und drehte den Bildschirm so, dass er ihn sah. Fragend hob ich die Augenbrauen.

»Das ist nicht schlimm«, sagte er, und ich fiel aus allen Wolken.

»Bitte?«

»Na, dass du es vor mir verheimlicht hast. Ich verstehe das.«

»Seit wann kennst du den Blog?« Meine Stimme klang kalt, und jetzt bemerkte Henry, dass ich wütend war.

Er senkte den Kopf, wich meinem Blick aus. »Ein Freund hat mir davon erzählt.«

»Wer?«, hakte ich nach. Ich hätte das Profil löschen sollen, aber bisher hatte mich immer etwas davon abgehalten. Mein letzter Post war inzwischen fünf Monate her.

»Wieso hast du damit aufgehört?« Henry winkte ab und trat auf mich zu, nur mit einem Handtuch um die Hüfte bekleidet. »Deine Posts sind großartig. Witzig, authentisch, nachdenklich. Du hast so viele Menschen zum Lesen gebracht.« Er setzte sich neben mich, legte eine Hand auf meine. »Du hast Bestseller gemacht, Toni. Eine Empfehlung von dir, und das Buch führte in der kommenden Woche die Bestsellerliste der New York Times an!« Ein Funkeln lag in seinen Augen. »Weil die Leute dir vertrauen. Deine Meinung ist ihnen wichtig.«

Ich erwiderte nichts, dachte an die Nacht zurück, in der mein farbenfrohes Leben plötzlich schwarz wurde. Meine Hände begannen zu zittern, mein Brustkorb fühlte sich auf einmal viel zu eng an für mein panisches Herz.

»Toni«, fuhr Henry eindringlich fort, »du bist ein inspirierender Mensch. Weshalb hast du das aufgegeben?«

Seine Hände auf meinen wirkten falsch. Ich riss sie weg. »Weil ich verfolgt wurde«, sprudelte es aus mir heraus.

Henry runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Ich hatte einen Stalker«, erklärte ich. Das Wort klang zu harmlos für das, was er mir angetan hatte.

»Das haben viele Promis«, erwiderte Henry. »Gerade hier in New York. Das ist doch kein Grund, aufzuhören.«

Entsetzt schüttelte ich den Kopf. »Was hast du da gerade gesagt?«

»Na ja, es gibt genug Sicherheitsfirmen und …«

»Der Typ hat mir zu Hause aufgelauert.« Ich sprang auf und begann, meine Kleidung aufzuklauben. In Henrys Hemd fühlte ich mich plötzlich so verletzlich. »Ich musste umziehen. Viermal in neun Monaten. Er hat mich immer wieder gefunden. Hat anhand des Sonnenstands in meiner Instagram-Story gewusst, wo ich bin. Er hat jeden Quadratzentimeter meiner Bilder analysiert und Spiegelungen der nebenstehenden Hochhäuser im Kaffee entdeckt. Und dann hat er dort gelauert. Hat mich angesprochen und mir erzählt, wie sehr er mich liebt. Wie gut wir zusammenpassen. Ich müsste ihm ja nur eine Chance geben.«

Allein bei dem Gedanken wurde mir übel.

»Und die Polizei?«, fragte Henry.

»Denen habe ich eine Beschreibung des Typen gegeben, aber …« Ich seufzte frustriert, während ich mit meiner Strumpfhose kämpfte. »Vergebens. Es ist ja nicht so, dass der Kerl widerliche Kommentare schreibt oder Nachrichten schickt, sodass sie wenigstens die IP herausfinden könnten. Nein. Er ist irgendeiner meiner stillen Follower, und es gibt keine Beweise für seine Belästigung außer mein Wort. Außerdem hat er angeblich nichts getan, was ich anzeigen könnte. Er lauerte mir auf, hat mich aber nie verletzt.«

»Und wenn du zukünftig besser aufpasst?«

Ich schnaubte. Henry wusste nichts von meinem Zweitprofil. Von dem Account, auf dem ich seit einigen Monaten Manga-Reihen und Webcomics zelebrierte. 800000 Follower. Eine unfassbar große Zahl für einen so kurzen Zeitraum. Vor allem, wenn man bedachte, dass ich für dieselbe Zahl bei BibliophileBoulevard fünf Jahre lang Content kreiert hatte. Aber dank meiner Erfahrung kannte ich die Spielregeln der Plattform. Und dank meines Stalkers wusste ich, wie ich BentoBooksAndComics komplett anonym hielt. Niemand wusste, wer hinter diesem Account stand. Nicht einmal die Sponsoren, für die ich arbeitete. Es lief alles über meine Agentin. Mich. Das gab mir viel mehr Sicherheit, als mit meinem alten Account so zu tun, als wäre nichts geschehen.

Offiziell hatte ich mich nach meinem Rückzug bei BibliophileBoulevard als Beraterin selbstständig gemacht. Ich betreute auch noch einige andere Influencer, denn von meinem neuen Account allein konnte ich nicht leben. Damit war ich aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verschwunden, aber die Branche kannte mich noch immer, vertraute mir. Glücklicherweise arbeitete ich auch hier nur mit einer Handvoll Menschen zusammen, die alle von dem Stalker wussten und dementsprechend umsichtig mit meinen Kontaktdaten umgingen. Meine Geschäftstreffen verteilte ich über die ganze Stadt, fuhr teilweise zwei Stunden, damit niemand erfuhr, in welchem Viertel ich wohnte.

»Ich weiß, was ich tue«, sagte ich zu Henry.

»Fehlt es dir nicht?« Er legte eine Hand auf den Laptop, und ich kniff die Lippen zusammen.

»Doch«, antwortete ich. »Natürlich fehlt es mir. Ich habe das Bloggen geliebt. Aber ich bin nicht bereit, mein Leben dafür zu opfern.«

»Das klingt jetzt aber sehr pathetisch.«

Ich stieß ein bitteres Lachen aus. »Und das von dir? Du bist doch derjenige, der ständig kitschige Phrasen raushaut. Die Zeit mit dir ist wie ein Traum.«

Henry senkte den Kopf, und mir wurde klar, wie verletzend diese Worte für ihn sein mussten. Aber ehrlich gesagt war es mir in diesem Moment egal. Seine Vorschläge waren übergriffig und unsensibel.

Ich zog mein Kleid über den Kopf und schlang den Gürtel um meine Taille. »Ich denke, wir sollten ein wenig Abstand voneinander nehmen.«

»Aber Toni, Repeat erscheint bald und …«

Ich erstarrte in der Bewegung. »Bitte?«

Henry sah mich mit gesenktem Kinn an, die Augenbrauen nach oben gezogen. »Ich …« Er fuhr sich durch die Haare. »… hatte gehofft, dass du …«

Oh nein, dachte ich. Sag es nicht.

»Ein Post auf BibliophileBoulevard, und es wäre ein Bestseller, da bin ich mir sicher.«

Wortlos drehte ich mich um und lief zur Tür.

Henry sprang auf, folgte mir. »Toni, bitte.« Er griff nach meiner Hand, aber ich riss mich los. »Wenn dieses Buch kein Erfolg wird, bin ich ruiniert. Kannst du mir diesen Gefallen tun? Bitte? Wir können das Foto doch so machen, dass niemand den Ort erkennt und …«

Ich wirbelte herum, stieß ihm den Zeigefinger in die Brust. »Stopp.« Mein Atem ging schwer, und mein Brustkorb fühlte sich viel zu eng an. Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Ich schluckte, versuchte, den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Diese Situation wirkte wie aus einem schlechten Film. Henry hatte mich benutzen wollen, und ich musste wissen, ob das von Anfang an sein Plan gewesen war. »Hast du mich nur deshalb im Hidden World angesprochen?«

»Natürlich nicht!« Seine Antwort kam schnell, eindringlich. Er griff erneut nach meinen Händen, und dieses Mal ließ ich es zu. »Es war dein Lächeln, das mich in den Bann gezogen hat, das weißt du doch. Dieses Leuchten in deinen Augen, als sie dein Lieblingslied gespielt haben. Das war pures Leben, und deshalb wollte … musste ich dich näher kennenlernen. Aber als ich Chris ein Foto von dir zeigte, hat er dich direkt erkannt. Ich hielt es für eine Fügung des Schicksals. Weshalb sonst sollte New York mir ausgerechnet die erfolgreichste Bookstagramerin des Landes an die Theke spülen? Wie wahrscheinlich ist das schon, Toni? Es war Schicksal. Du und ich. Wir gehören zusammen.« Seine Worte klangen so schön wie immer. »Gemeinsam können wir wirklich erfolgreich sein.«

Und dieser Satz ließ die Blase platzen. Henry ging es nur um seinen Erfolg, nicht um mich. Er hatte kein einziges Mal gesagt, wie furchtbar er das Verhalten des Stalkers fand. Er hatte nicht erwähnt, dass er mich beschützen würde. Oder gefragt, was er tun könnte, damit es mir besser ginge. Nein, alles, was aus seinem Mund kam, waren Worte, die mich dazu bringen sollten, sein Buch zu promoten. Mir wurde übel, und ich schämte mich für den Teil in mir, der darauf gehofft hatte, dass alles ein riesiges Missverständnis war. Für den Teil, der ihm noch immer vertrauen wollte.

»Wie heißt der Song?«, fragte ich leise.

»Bitte?« Henry hob die Augenbrauen.

»Mein Lieblingslied, das sie gespielt haben?« Eine einfache Frage, deren Antwort er kennen musste, wenn es doch der Moment gewesen war, in dem er sich verliebt hatte. Wenn er mich kannte. Doch in Henrys Gesicht stand nichts als Ratlosigkeit.

Etwas in mir zerbrach. Ich riss mich frei, schnappte meine Schuhe und meine Jacke und verließ das Loft, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Hikaru

Die Figur schälte sich aus dem Papier wie eine Raupe aus ihrem Kokon. Ganz langsam stieg sie empor, das Blatt raschelte. Ich wich zurück.

»Nein«, sagte ich deutlich. Manchmal half es, und das Monster kehrte in die Papierwelt zurück. Doch die Hörner wechselten von Schwarz zu Dunkelgrau, wurden fester, wie Nebel, der an einer kalten Oberfläche kondensierte.

 

Das Wesen erhob sich, und ich erkannte darin eines der Ungeheuer, das Haru noch vor wenigen Seiten erledigt hatte. Es fletschte die spitzen Zähne zu einem höhnischen Grinsen, dann breitete es seine fledermausartigen Flügel aus und stieg empor.

»Zurück!« Geistesgegenwärtig griff ich nach einer leeren Seite, aber es war bereits zu spät. Das Monster war verschwunden, hatte sich an einen anderen Ort dieser Welt teleportiert. So war es immer: Manche Figuren meiner Geschichte wurden lebendig, kämpften sich in meine Welt und verschwanden, um woanders wieder aufzutauchen.

Schon so oft hatte ich versucht, sie direkt nach dem Lebendigwerden einzufangen, aber das war mir bisher nie gelungen. Egal, wie sehr ich mich beeilte, die Ungeheuer waren schneller. Als würde mein Papier sie vertreiben.

Ich knirschte mit den Zähnen. Dann rollte ich zurück zum Schreibtisch, rief das Mailprogramm auf, öffnete die Textvorlage und personalisierte sie.

FYI – Für die nächsten Stunden habe ich mit dem Marketing eine weitere Kampagne vereinbart. Dieses Mal wird es eines der Monster aus den neuen Sonderseiten sein.

Ich überlegte kurz und fügte hinzu:

Unser Ziel ist, damit die neue Sammelausgabe zu promoten.

Dann schickte ich die Nachricht ab, stand auf und eilte zur Garderobe. Ich schnappte mir die bereitstehende Tasche und meine Jacke, schlüpfte in die bequemen Stiefel, die ich seit einigen Jahren mein Eigen nannte.

Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Sicher war das Monster schon irgendwo gesichtet worden. Während ich zum Auto lief, blinkte mein Handy. Der Hashtag-Alert schlug an. Ich öffnete die App, begutachtete die ersten Fotos. Es war zweifelsfrei das eben geflohene Monster, auch wenn einige Bilder verschwommen waren. Eine junge Frau hatte die Location getaggt, und ich seufzte erleichtert.

Der Rockefeller Park.

Das war nicht weit von hier. Wie immer. Ich gab die Adresse in mein Navigationsgerät ein, dann startete ich den Motor und fuhr los. Obwohl die Menschen die entflohenen Monster für Marketing mit teuren Special Effects hielten und ich dadurch erst so richtig erfolgreich geworden war, durfte ich die Ungeheuer nicht zu lange in dieser Welt lassen.

Ich steuerte das Auto in eine Seitenstraße und zog mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf. Als ich ausstieg, empfing mich der Geruch nach gebratenem Fisch und Salz. Die Häuser ragten über mir auf, und ich fühlte mich seltsam eingeengt. Mir lief die Zeit davon.

Routiniert griff ich nach meinem Handy und überprüfte in den sozialen Netzwerken den aktuellen Aufenthaltsort des Monsters. Laut den Fotos befand es sich auf einer sehr alt aussehenden Bank. Und es aß Sushi.

 

Ich schnaubte. Noch tat es so, als wäre es ein harmloses Kuscheltier mit spitzen Hörnern und scharfen Zähnen, die es lediglich für toten Fisch verwendete, aber ich wusste, was es wirklich war, immerhin hatte ich die Geschichte erfunden. Diese Monster waren böse, und sie in dieser Welt zu behalten, war ein Risiko, das ich nicht bereit war, einzugehen. Es dürstete sie nach Menschenblut, und sie saugten ihre Opfer bis auf den letzten Tropfen aus. Eiskalte Mörder, wahr gewordene Albträume.

Ich betrat den Park und folgte dem Menschenstrom die geraden Wege entlang bis zu der Bank, die ich auf den Fotos gesehen hatte. Und tatsächlich saß es dort: ungefähr einen Meter groß, spitze Hörner auf dem Kopf, eine aufgeklappte Plastikbox voller Sushi neben sich. Gerade spießte es ein Sashimi auf eine seiner Krallen und tauchte es in Sojasoße.

»Abgefahren!«

»Wie süß es ist!«

»Hast du das gefilmt?«

Das Stimmengewirr lenkte mich zu sehr ab. Es erinnerte mich daran, dass die Menschen früher Angst vor diesen Monstern gehabt hatten. Aber mittlerweile war Haru no Hikari: Sakura’s Guardian weltberühmt, und jeder Ausbruch wurde als Marketingkampagne gesehen. Schon lange fürchteten sich die Menschen nicht mehr vor diesen Ungeheuern. Nicht einmal dann, wenn sie wie dieses Exemplar besonders tödlich aussahen.

Als eine dunkelhaarige Frau mit erhobenem Handy auf es zutrat, fletschte das Ungetüm die Zähne und knurrte. Die Frau lachte und drückte den Auslöser. Das Blitzlicht entlockte dem Monster ein weiteres bedrohliches Knurren, und ich rechnete damit, dass es jederzeit jemanden ansprang. Unruhig ging ich einen Schritt darauf zu, dann ein weiteres Klicken, noch ein Foto, und ich zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, wich wieder zurück, wollte nicht, dass mich irgendwer auf einem Foto erwischte. Mittlerweile war höchste Vorsicht geboten, denn ganze Foren hatten es sich zur Aufgabe gemacht, meine Identität und das Geheimnis dieser angeblichen Marketingwunder zu lüften.

Hier war es zu voll. Ich konnte das Monster nicht vor den Augen dieser Menschen wegbringen, geschweige denn es auf Papier bannen. Sobald ich mich dem Ding näherte, würden Fragen auftauchen. Schon jetzt sah ich Menschen, die hinter Bäumen und Büschen nach Projektoren und Komplizen suchten.

Ich musste mich beeilen, bevor noch mehr Menschen dem Ding zu nahe kamen und sich in Gefahr begaben.

Routiniert ging ich meine Optionen durch.

Ablenkung würde schwierig werden, denn dieser offene Park war eine denkbar schlechte Location, um Verwirrung zu stiften. Alles war gut einsehbar, es gab keine Gebäude und auch keine dichten Baumgruppen oder Büsche.

Als ob das Monster wüsste, wie es sich in Sicherheit bringen konnte. Es mampfte gemütlich sein Essen, und die meisten Menschen gingen bereits wieder, doch dafür kamen neue hinzu und trauten sich näher heran, egal wie aggressiv das Ungetüm die Zähne fletschte. Sein Sushi war beinahe leer.

Kurz fragte ich mich, wie es überhaupt an dieses Essen gekommen war und warum es Lachs verschlang, obwohl so viel Menschenblut in greifbarer Nähe war. So viel weiches Fleisch, das auf seine Zähne wartete. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Je länger ich wartete, desto mehr Leute würden kommen, angezogen von den unzähligen Posts auf sozialen Netzwerken. Ich musste handeln. Meine Finger wanderten zu den Rauchbomben in der kleinen Tasche, aber der Wind war zu stark und würde den Nebel wegreißen, bevor ich auch nur in der Nähe des Wesens war. Die Musikbox war zwar laut, aber selbst wenn ich mit ihr die Menschen in der Hoffnung auf ein großes Happening an einen anderen Ort lockte, würden sie das Monster und mich weiterhin sehen. Die Decke war ebenso nutzlos wie die Gesichtsmaske, mit der ich nur noch mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen würde, statt mich vor Überwachungskameras zu schützen.

Mein ganzes Equipment war in dieser Situation vollkommen unwirksam. Ich war zum Warten verdammt und hoffte, dass das Wesen bald an einen geeigneten Ort weiterziehen würde. Am besten, bevor die Zeit ablief und ich es nur noch mit einem Messer in der Brust aus dieser Welt löschen konnte.

Da sah ich aus dem Augenwinkel eine bekannte Gestalt, die alles noch schwieriger machte. Ich kniff die Lippen zusammen.

Ausgerechnet Matthew. Wieso war er hier?

Ich starrte ihn eine Sekunde zu lang an, und er erwiderte meinen Blick. Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht aus, verwandelte sich in ein Grinsen. Dann kam er zu mir.

»Hey, Mann!« Er klopfte mir auf die Schulter, als hätte das Gespräch vor wenigen Stunden nicht stattgefunden. »Hätte nicht gedacht, dass du auch ein Hunter bist.«

»Bin ich nicht«, sagte ich schnell.

»Klar.« Matthew schmunzelte. »Deswegen bist du auch hier und starrst dieses Ding da an.«

»War nur ein Zufall«, log ich. »Ich komme einfach gern hier in den Park. Mir gefällt die Nähe zum Hudson River.«

»Klar, wer winkt nicht gern mal nach Jersey.«

»Seit wann bist du ein Hunter?« Ich steckte meine Hände in die Jackentaschen. Ausgerechnet Matthew. Der Kerl, der meine Adresse kannte und gerade erst in meiner Wohnung gewesen war. Das Arbeitszimmer sperrte ich zwar immer ab, aber … Noch nie war einer der Hunter mir so nahe gekommen.

Beruhige dich, ermahnte ich mich. Nicht alle Hunter waren besessen vom Auffinden des Zeichners. Manche bezeichneten sich auch nur so, weil sie in ihrer wenigen Freizeit gern Fotos und Videos analysierten, ohne wirklich etwas zur Community beizutragen. Ich hoffte sehr, dass Matthew einer von ihnen war.

»Nicht so lange«, gab Matthew zu und sah sich um. »Scheiße.«

Plötzlich ging er in die Hocke und zog mich mit nach unten. Ich folgte seinem Blick und erkannte die junge blonde Frau sofort. Sie trug einen Trainingsanzug, hielt eine große Kamera in der Hand und sah sich sehr aufmerksam in der Menge um, scannte jedes Gesicht.

»Du bist wegen Sarah hier«, stellte ich fest. Matthew grummelte und gab vor, sich die Schuhe zu binden. Ich tat es ihm gleich und wischte dabei etwas Dreck von der Spitze meiner Lederstiefel. »Ernsthaft, Matthew? Jetzt auch noch Stalking?«

»Würde ich nicht so nennen«, brummte er. »Sie hat mir eben ein Hobby gezeigt, und ich gehe dem auch nach der Trennung nach.«

»Wie heißt die Hauptfigur in Haru no Hikari: Sakura’s Guardian?«, fragte ich geradeheraus.

»Heriu?« Matthew formte jede Silbe äußerst langsam, dann schnaubte er. »Okay, okay, du hast mich erwischt. Mir ist egal, wer diesen Comic zeichnet. Ich dachte nur, wenn ich Sarah noch einmal sprechen könnte …«

»Erstens: Und deshalb versteckst du dich, sobald du sie siehst?« Ich schüttelte den Kopf. »Und zweitens: Lass den Scheiß. Du solltest deiner Ex echt nicht nachts in einem Park auflauern.«

»Wenn du das so sagst, klingt es richtig hart.« Matthew seufzte. »Okay, du hast recht. War ’ne beschissene Idee. Meinst du, ich kann verschwinden, bevor sie mich sieht?«

»Sind ziemlich viele Leute da«, meinte ich.

»Könntest du ein Ablenkungsmanöver starten?«, bat er, und ich erstarrte.