Feuerschwester - Emiko Jean - E-Book

Feuerschwester E-Book

Emiko Jean

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Beschreibung

Verwitterte Mauern, eine Nebelwand - das sieht Alice, wenn sie aus dem Fenster blickt. Die psychiatrische Anstalt auf Savage Isle ist für sie ein Ort des Schreckens, denn hinter einer der Mauern lauert Cellie, ihre machtbesessene Zwillingsschwester. Cellie hat das verheerende Feuer gelegt, das Alice' Freund Jason das Leben kostete. Und sie wird nicht ruhen, ehe sie nicht auch Alice getötet hat ..."Alice, hörst du mir zu? Bitte erzähl mir von dem Feuer." Dr. Goodman klopft mit dem Stift auf sein Buch."Ich kann mich nicht erinnern", sage ich.Womöglich ist sie ein Akt der Gnade - die Lücke in meiner Erinnerung.Womöglich will mein Gehirn nicht, dass ich mich daran erinnere, was passiert ist. Um mich von der Erkenntnis zu verschonen, dass meine Schwester, mein eigen Fleich und Blut, mir so etwas angetan haben könnte - mir und Jason. Dumm nur, dass mein Herz es längst weiß.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2017

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2017 Ravensburger Verlag GmbH

Copyright © 2015 by Emiko Jean Published by Arrangement with Emiko Coughlin Die englischsprachige Originalausgabe erschien unter dem Titel »We’ll never be apart« bei Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Übersetzung: Britta Keil

Lektorat: Franziska Jaekel

Umschlaggestaltung: Yvonne Hüttig

Verwendete Fotos von © Anatol Misnikov/Fotolia

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN978-3-473-47797-5

www.ravensburger.de

Für Craig,

der über die Sonne, die Sterne und die Meere wacht.

Dieses Buch habe ich für dich geschrieben.

Prolog

Celia

Wenn sie mich fragen, werde ich sagen: Es war ein Unglück. Ein tragischer Unfall. Aber das war es nicht. Wenn sie mich fragen, was in jener Nacht geschah, werde ich sagen: Es war ein Fehler. Aber das war es nicht. Ich erinnere mich nicht, werde ich sagen. Doch das tue ich.

Ich, Celia Monroe, erinnere mich an alles.

Sobald ich die Augen schließe, sehe ich sie wieder vor mir: Alice und Jason, wie sie Hand in Hand durch den Wald rennen, zwei verschwommene Umrisse im fahlen Licht des Mondes. Bis zu dem Tag, der alles veränderte, waren wir drei unzertrennlich gewesen – vor allem Alice und ich. Wir waren wie Spiegelbilder, wie das Sternbild der Zwillinge am leuchtenden Himmel, die für alle Ewigkeiten vereint sind.

Die Nacht, in der Alice und Jason aus der Klinik flohen, war sternenlos. Irgendwie schafften sie es über den Stacheldrahtzaun, auf die andere Seite des fast zugefrorenen Sees und von dort aus durch das verwilderte Feld, hinter dem sie in einer alten Scheune Unterschlupf fanden. Als ich mir sicher war, dass die beiden schliefen, schlich ich mich hinein, doch dann hörte ich sie flüstern und blieb stehen. Mein Herz flatterte wie das Herz eines Vogels, dem man eine Schnur ums Bein gebunden hat. Sie schworen einander, zusammenzubleiben und weiter nach Westen zu trampen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben ohne mich. Und da erkannte ich plötzlich, was ich für sie war. Das fünfte Rad am Wagen, das sie zurücklassen würden.

Ich huschte aus meinem Versteck, und als ich im Pferdestall eine Petroleumlampe fand, hielt ich das für ein Zeichen. Eine Fügung der Götter, die mir zu verstehen gaben, dass das, was ich gleich tun würde, richtig war. Mit ruhiger Hand zündete ich das Streichholz an und hielt es an den Docht. Das Glas verströmte eine angenehme Wärme.

Alice entdeckte mich zuerst. Selbst im spärlichen Licht der Lampe konnte ich ihr Gesicht genau erkennen. Wir waren das perfekte Ebenbild der anderen: lange braune Haare, übergroße Augen. Es waren die Details, die uns unterschieden.

»Bitte tu das nicht«, sagte sie.

Diese Worte waren ihr Mantra geworden. Bitte tu das nicht. Bitte steck nicht das Laub in Brand. Bitte tu dem Hund nicht weh. Bitte tu mir nicht mehr weh, Cellie. Ich wollte ihre Worte in der Faust zusammenquetschen und sie ihr ins Gesicht zurückschleudern. Sie glaubte tatsächlich, in mir würde noch irgendetwas Gutes schlummern. Etwas, das sie nur herauszuzerren bräuchte und mit dem sie verhandeln könnte. Aber diesen Teil in mir gab es nicht mehr. Er war im Angesicht ihres Verrats zu Asche zerfallen.

Dann kam Jason. Früher hätte ich ihn stundenlang ansehen können. Sein schönes Gesicht. Sein markantes Kinn. Das Grün in seinen Augen, bei dessen Anblick ich mir immer vorstellte, barfuß über eine Wiese zu laufen. Jason, der Junge, den ich liebte. Jason, der Alice immer mehr geliebt hat als mich. Er strich ihr zärtlich die Haare zurück und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dabei sah er sie so liebevoll an, dass ich mich leer und winzig fühlte. Ich wich ein paar Schritte zurück und drehte mich weg. Ich hörte nicht, wie er näher kam, spürte nur, wie er seine Finger um meine legte. Mein Blick fiel auf das Einhorntattoo auf seinem Handgelenk, psychedelische Farben, mit fetten Konturen, eine Erinnerung an glücklichere Zeiten.

»Lass einfach los«, sagte er.

Lass los. Es klang wie eine Aufforderung.

Die Lampe fiel zu Boden und explodierte. Flammen wühlten sich wie Wurzeln durch das Heu, fraßen sich durch die morschen Balken. Als ein Windstoß durch das offene Fenster fegte und das Feuer weiter anfachte, hatte ich das Gefühl zu fliegen. Ich hatte mich noch nie so leicht gefühlt.

Alice drehte total durch. Ich wusste gar nicht, dass sie so durchdrehen kann. Sie kreischte und versuchte, zum Scheunentor zu gelangen, aber das Feuer zischte, die Wände gaben nach. Ein Balken stürzte krachend herab und versperrte ihr den Weg. Sie fiel auf die Knie und wollte auf allen vieren weiterkriechen, doch Jason schlang seine Arme um sie und hielt sie fest. Er wusste, dass es zu spät war.

Sie husteten und flüsterten sich wilde Liebesschwüre zu, bis Jason nach ein paar Minuten, die sich anfühlten wie Stunden, ohnmächtig wurde und meine arme Allie sich selbst überließ. Danach verlor auch sie das Bewusstsein. Ihre Augenlider zuckten, als wäre sie in einem Albtraum gefangen. Ich widerstand der Versuchung, sie zu streicheln und tröstende Worte zu murmeln, während das Schicksal das letzte Kapitel ihres Lebens schrieb. Kurz verspürte ich sogar das Bedürfnis, mich schluchzend an ihre Schulter zu schmiegen, so wie man sich schluchzend in das Nackenfell eines alten Hundes schmiegt, bevor er eingeschläfert wird.

Dann kam die Polizei. Sirenen heulten und rotierende Lichter verwandelten die Nacht in ein rot-blaues Inferno. Als sie mich fanden, wehrte ich mich nicht – biss und spuckte und kratzte nicht. Ich wurde hochgehoben und auf eine Trage geschnallt. Durch die offene Tür des Krankenwagens konnte ich sehen, wie Feuerwehrmänner die beiden nach draußen schleiften, als wären sie Müllsäcke.

Sie legten eine Plane über Jason, aber nicht über Alice. Jemand schrie: »Sie lebt!« Dann fingen sie an, ihren reglosen Körper zu bearbeiten und ihren Brustkorb so heftig zu traktieren, dass ich beinahe hören konnte, wie ihre Rippen unter der Wucht zersplitterten.

»Stirb«, flüsterte ich in die kühle Nachtluft hinein. Geh einfach.

Das tat sie natürlich nicht. Dabei wäre dann alles so viel leichter gewesen.

1. Kapitel

Savage Isle

In meinem Kopf flattern Schwarz-Weiß-Fotos umher – Traumlandschaften, Albträume –, landen lautlos hier und da, legen sich über andere Erinnerungen. Manche erblühen unvermittelt in Farbe, wie das Bild, das ich gerade betrachte. Wie eine Blume im Sonnenschein öffnet es seine feuchten, dunklen Blütenblätter, trieft in satten Farben. Düsterer Himmel. Dicke Tropfen. Gelbe Scheinwerfer. Ein Junge mit gelocktem Haar und schiefem Grinsen. Jason im Regen. Meine liebste Erinnerung an ihn.

»Wann hattest du deine letzte Periode?«, fragt die Schwester. »Alice?« Ihre Stimme ist drängend wie ein Fingerschnippen. Das Bild verblasst. Das weiße Papier unter mir knistert, als ich mich voller Unbehagen auf dem Untersuchungstisch herumwälze. Ich versuche, die Stunden, die Sonnen und Monde zu zählen, versuche, mich daran zu erinnern, wie viel Zeit seit dem Feuer vergangen ist. Ein paar Wochen, schätze ich. Tsunamis haben Städte in weit weniger Zeit ausgelöscht. Ich reibe mir über die Brust. Das Atmen fällt mir immer noch schwer. Auf dem weißen Namensschild der Schwester steht: SCHWESTERDUMMEL, PSYCHIATRISCHEKLINIK, OREGON. Ich erkenne ihr Gesicht wieder. Ich war schon mal hier. Das Gesicht einer Bulldogge. Schlaffe, hängende Backen und ein Unterkiefer, der ein bisschen zu weit vorsteht. Schwester Dummel räuspert sich.

»Ähm, weiß nicht genau …«, sage ich. »Vor zwei Wochen oder so?« Ich schlucke. Obwohl das Feuer Wochen her ist, habe ich immer noch den Geschmack von Asche auf der Zunge. Vielleicht geht er nie wieder weg.

Schwester Dummel gibt etwas in den Computer ein. »Und was machen die Brandwunden?«

Die Brandwunden, die sich über meine Schultern bis hinunter zum rechten Handgelenk ziehen, prickeln. Wie durch ein Wunder hat das Feuer meine linke Hand verschont. Dort ist die Haut noch ganz weich und glatt.

»Geht schon besser«, antworte ich.

Auch wenn ich an das Feuer selbst keine Erinnerungen habe, so erinnere ich mich doch verschwommen an die Tage auf der Intensivstation. An die quälende Ungewissheit und an die höllischen Schmerzen, die einfach nicht nachlassen wollten.

»Keine Schmerzen mehr? Kein Taubheitsgefühl? Nichts geschwollen?«, fragt die Schwester.

»Nein, es juckt nur.«

Draußen heult der Wind und lässt die Mauern des Gebäudes erzittern. Mich überläuft ein Schauer. Die Klinik befindet sich auf einer schmalen, dicht bewaldeten Insel und wirbt für sich selbst als Oase des Friedens, wo kranke Seelen heilen können. Dabei hat dieser Ort überhaupt nichts Friedliches. Sogar der Name der Insel, Savage Isle, hat einen blutigen Ursprung. Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden Hunderte Indianer gewaltsam hierher verschleppt und dann brutal ermordet. In den Zeitungen von damals steht, in jenem Winter sei so viel Blut geflossen, dass es aussah, als wäre roter Schnee gefallen.

»Na, dann ist ja gut. Du kannst froh sein, dass du überhaupt noch was spürst … bei Verbrennungen zweiten Grades.«

Froh. Ich soll froh sein? Das ist nicht unbedingt das Gefühl, mit dem ich meinen Zustand beschreiben würde.

»Du wirst die nächsten Wochen weiterhin Antibiotika nehmen und deine Physiotherapie fortsetzen.«

Fast muss ich lachen. Als ich von der Intensivstation kam, überreichte mir einer der Ärzte einen Wisch mit Übungen für die Hand und erklärte, die würden dabei helfen, dass ich sie bald wieder vollständig bewegen kann. So viel zum Thema Physiotherapie. Ich strecke und krümme die Finger. Es tut ein bisschen weh, aber davon abgesehen scheint noch alles zu funktionieren.

Der Drucker neben dem Computer spuckt ein weißes Armband aus.

»Den linken Arm, bitte«, sagt Schwester Dummel. Dann legt sie mir das enge Plastikarmband ums Handgelenk. Auf Savage Isle gibt es Armbänder in vier verschiedenen Farben. Ich habe schon alle getragen. Alle, bis auf das rote. Keiner hier will ein rotes Armband. Nachdem man aufgenommen wurde, bekommt man erst mal ein weißes. Nach ein, zwei Tagen unter strenger Beobachtung geben sie einem dann normalerweise ein gelbes, das nur noch mit wenigen Einschränkungen verbunden ist. Nach gelb kommt grün. Grün heißt: Freiheit. Aufbleiben, so lange man will, Besuche zu Hause, Kaffee trinken, raus hier.

»Gut, Kindchen«, sagt Schwester Dummel. »Du kannst aufstehen. Zieh deine Sachen aus und den hier an.« Sie überreicht mir einen hässlichen Krankenhauskittel.

Ich warte einen Moment, um zu sehen, ob ich mich zumindest ungestört umziehen darf, aber Schwester Dummel rührt sich nicht vom Fleck und beobachtet mich mit Adleraugen. Ich schlüpfe schnell und wortlos aus meinen Sachen, werfe mir den Kittel über und denke an Jason.

Seine Lippen schmeckten nach Bergsee und Zimtbonbons. Bisher habe ich mich noch nicht getraut, nach ihm zu fragen. Ich habe Angst vor der Antwort. Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht zu kennen. Obwohl sie irgendwo ganz tief in mir drin scheppert und rasselt … Er kann den Flammen unmöglich lebend entkommen sein. Ich ignoriere diese Stimme. Verleugnung ist manchmal ein Segen.

Obwohl ich gar nicht will, muss ich plötzlich an Cellie denken. Ich schiebe den Gedanken beiseite. Ich habe es satt, mir den Kopf über meine Zwillingsschwester zu zerbrechen. Es bringt ja sowieso nichts.

Nachdem ich den Kittel zugebunden habe, ziehe ich meinen Kapuzenpulli darüber und hoffe, dass ich ihn anbehalten darf. Ich friere nicht gern. Die Schwester protestiert nicht und deutet auf meine Schuhe.

»Die Schnürsenkel müssen raus. Ist das deine Tasche?« Sie zeigt auf die lavendelfarbene Reisetasche, die in der Ecke steht. Sie ist zerschlissen und schmutzig und inzwischen eher grau als lavendelfarben.

Ich nicke, ziehe meine Sneakers aus und fädele die Schnürsenkel heraus. Die Schwester schüttelt kaum merklich den Kopf, während sie sich ein Paar Latexhandschuhe überstreift. Dann nimmt sie meine Tasche und stellt sie auf den Untersuchungstisch. Mit routinierten Handgriffen kontrolliert sie meine Sachen. Ein paar Hosen, ein paar Oberteile, ein iPod, Zahnbürste, Zahnpasta, Zahnseide und Origamipapier – meine einzigen weltlichen Besitztümer.

Sie holt das Origamipapier heraus und beäugt mich skeptisch. Ich erwidere ihren Blick. Am liebsten würde ich ihr wie ein bockiges Kind die Zunge herausstrecken und ihr das Papier wegnehmen. Es war ein Geschenk, das Cellie und mich regelmäßig daran erinnert hat, dass es auch Zeiten gab, in denen wir nicht allein waren. Ich will nicht, dass Schwester Dummel ihre schmierigen Fingerabdrücke darauf hinterlässt. Als sie das Papier beiseitelegt, bin ich erleichtert.

»Dann wären wir hier fertig«, sagt sie. »Ein paar von deinen Sachen muss ich dir allerdings abnehmen.« Schwester Dummel konfisziert meine Zahnbürste, die Zahnseide, meine Klamotten und Kopfhörer und stopft alles in eine Plastiktüte. Somit bleiben mir: ein iPod, der ohne Kopfhörer ebenso nutzlos ist wie die Zahnpasta ohne Zahnbürste, und mein Origamipapier.

Schwester Dummel öffnet die Tür und bedeutet mir mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Ich lege meine verbliebenen Habseligkeiten zurück in die Tasche, wobei ich darauf achte, die Papierbögen nicht zu zerknicken.

Vor dem Untersuchungszimmer hält ein Hüne mit Vokuhila-Frisur Wache. Er folgt uns über den Flur, der nach wenigen Metern in einen anderen Flur mündet. Ein steriles Labyrinth. Wir kommen an einem Schild vorbei, auf dem steht: STATION C. Auf dem nächsten lese ich: ZUGANGSBEREICHFÜRPATIENTENENDETHIER. Der Hüne zieht eine Karte durch ein schwarzes Kästchen und die Tür schwingt auf. Ich umklammere meine Tasche fester. Ein vertrautes Unbehagen macht sich in mir breit, als wir zur nächsten Schleuse kommen. Wieder zieht der Vokuhila-Typ seine Karte durch den Scanner und wie durch Zauberei öffnen sich auch diese Türen. Kaum habe ich die Schwelle übertreten, schließen sie sich mit einem leisen Klicken hinter mir.

Hier sieht alles noch genauso aus wie beim letzten Mal: als hätte irgendein gigantisches Wesen die Siebziger verschlungen und sämtliche Möbel in diesen Raum gekotzt. Wir befinden uns im Gemeinschaftsraum, dem Ort, an dem sich Jungen und Mädchen zusammen aufhalten dürfen. Es gibt einen alten Fernseher mit zwei Kanälen, einen davon kann man sogar ohne Rauschen empfangen. Wir haben meistens DVDs geschaut, doch dann hat einer der Knirpse auf den DVD-Player gepinkelt und das Ding war Schrott. Es stehen mehrere Sofas herum, auf denen zerknautschte Sofakissen liegen, die immer so aussehen, als würden sie böse gucken, ein paar heruntergekommene grüne Ledersessel und ein paar Tische in Holzoptik. Alle Fenster sind vergittert. Ich muss daran denken, wie ich als Kind im Zoo war und das Gesicht zwischen die Gitterstäbe des Eisbärengeheges gequetscht habe, hinter denen die Bären lautlos ihre immer gleiche Bahn zogen. Ihre weichen, großen Tatzen hinterließen tiefe Spuren im Matsch. Wie viele Monate ich wohl brauchen würde, um solche Spuren zu hinterlassen? Ich krümme die Zehen in meinen schnürsenkellosen Schuhen. Außer uns ist niemand hier, wahrscheinlich weil gerade Abendbrotzeit ist. Es riecht verdächtig nach Braten.

»Donny bringt die Tasche in dein Zimmer«, sagt Schwester Dummel. Ich streife die Tasche von der Schulter und gebe sie dem Pfleger, der penibel darauf achtet, mich nicht zu berühren.

Die Schwester läuft weiter, und ich habe Mühe, hinterherzukommen. Vom Gemeinschaftsraum zweigen drei Flure ab. Auf einem Flur sind die Jungs untergebracht, auf dem anderen die Mädchen. Diese Flure münden in einer Sackgasse. Der dritte Flur führt zur Cafeteria, zum Entspannungsraum (wo man Muscheln auf Holzbretter kleben oder sich auf einem der drei Spinning Bikes auspowern kann), zu den Büros der Ärzte und den Gruppentherapieräumen. Vor einer Bürotür gegenüber der Cafeteria bleibt Schwester Dummel stehen.

»Warte hier«, sagt sie und deutet auf einen Plastikstuhl. Sie klopft an und geht hinein.

Ich betrachte den Stuhl. Die eingerissene Sitzfläche sieht wenig einladend aus. Ich stecke meine Hände in die Taschen meines Pullovers und lehne mich gegen die Wand.

Gerade als die Warterei unerträglich zu werden droht, ertönt ein Summen, und die Türen zur Cafeteria schwingen auf. Jugendliche strömen heraus, schlurfend, den Blick auf den Boden gerichtet, als hätten sie Angst davor, versehentlich jemandem in die Augen zu sehen. Cellie meinte immer, sie seien wie Quallen. Quallen, vollgepumpt mit Medikamenten. Gallertartige Klumpen, deren Berührung einen vergiftet und die immer in Bewegung bleiben müssen, denn wenn sie aufhören, sich zu bewegen, sind sie tot. Die meisten von ihnen kenne ich nicht, was mich nicht sonderlich überrascht. Savage Isle wird vom Staat finanziert, also versucht man, die Patienten so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Außerdem waren Cellie und ich beim letzten Mal nur kurz hier. Es blieb gar keine Zeit, Freunde zu finden oder – in Cellies Fall – sich Feinde zu machen. Ein zweiter Summer ertönt und die Quallen wabern (als hätte eine Strömung sie erfasst) ein bisschen schneller Richtung Gemeinschafts- oder Entspannungsraum zur sogenannten »Freizeitgestaltung«. Freizeit. Was für ein Witz.

Als Letztes kommt ein Junge aus der Cafeteria. Doch im Gegensatz zu den Quallen wabert er nicht. Nein, er schlendert. Den habe ich hier definitiv noch nicht gesehen. Das wüsste ich. Er hält den Kopf gesenkt, sodass ich sein Gesicht unter dem schwarzen Basecap nicht sehen kann. Zwei Pfleger folgen ihm.

»Lauf zu, Chase«, sagt der eine.

Der Junge dreht sich nicht um. Er hebt lediglich den Kopf. Seine Augen sind blau, gletschereisblau. Über seine linke Wange zieht sich eine lange Narbe. Von einer Rasierklinge? Einem Messer? Jedenfalls muss es etwas sehr Scharfes gewesen sein, das tief in die Haut schneidet. Abgesehen von der Narbe sieht er aber nicht schlecht aus. Okay, wenn die Narbe nicht wäre, sähe er überirdisch heiß aus. So ist er einfach nur verdammt schön (aber nicht zu schön, um wahr zu sein) und hat etwas Verwegenes. Er trägt ein T-Shirt und eine tief sitzende Jeans. Als er merkt, dass ich ihn anstarre, grinst er und lacht ein tiefes Gänsehautlachen, nimmt sein Basecap ab und fährt sich durch die verstrubbelten blonden Haare.

Ich laufe vor Scham rot an. Im selben Moment überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich nicht an Jasons Zimtatem gedacht, an die geschwungene Linie seiner Lippen, wenn er lächelt, an seine rauen Finger auf meiner Haut. Und alles nur, weil die Augen eines wildfremden Typen mich von innen leuchten lassen. Ich beiße mir in die Wange, ganz fest. Der Junge schlendert an mir vorbei und hinterlässt den Duft nach frisch gewaschener Wäsche.

Die Tür neben mir geht auf und die Schwester kommt heraus.

»Okay, Alice, Dr. Goodman wäre dann so weit.«

Ich stoße mich von der Wand ab und sehe dem fremden Jungen hinterher. Gerade als ich ins Büro gehen will, bleibt er stehen, sieht über die Schulter und lächelt mich an. Vertraut. Als würde er sich freuen, mich zu sehen. Als hätte die Begegnung mit mir ihm soeben den Tag versüßt. Er lächelt, als würde er mich kennen. Und plötzlich habe ich ein merkwürdiges Déjà-vu. (Jason würde sagen: einen Fehler in der Matrix.) Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich ihm wirklich schon mal begegnet bin. Dass ich sein Gesicht schon mal irgendwo gesehen habe. Dass wir uns kennen.

Das Büro, in dem ich stehe, platzt aus allen Nähten. Regale und Aktenschränke, vollgestopft mit Büchern und Papierstapeln, säumen die Wände. Ich komme mir vor, als wäre ich in einen Strudel eingesaugt und in Dumbledores Arbeitszimmer wieder ausgespuckt worden. Schön wär’s. Schön wäre auch, ich würde dieses Büro nicht ganz genau kennen. Doch das tue ich. Dr. Goodman steht in der Mitte des Raums. Er ist noch relativ jung und trägt eine Brille mit dünnem Drahtgestell. Ich fand immer, dass er aussieht wie einer dieser Typen, die keinen Fernseher haben. In seinen blassen Händen hält er eine dicke Akte. Meine Akte.

»Hallo, Alice«, sagt er und hält inne, als erwartete er irgendeine Reaktion von mir. Keine Ahnung, wie er darauf kommt, diese Sitzung könnte anders verlaufen als all die anderen Therapiesitzungen, die ich vor allem schweigend über mich ergehen ließ.

»Schön, dich wiederzusehen.« Er kommt auf mich zu und streckt mir die Hand hin.

Meine Hände, die ich noch immer in den Taschen meines Pullovers vergraben habe, zucken unwillkürlich. Ich mag den Fleece-Stoff. Er ist flauschig wie ein Teddybär. Widerwillig ziehe ich eine Hand heraus, schüttele seine und stecke die Hand schnell wieder zurück in die Tasche.

»Bitte nimm doch Platz.« Er deutet auf einen Sessel. Dann wendet er sich an die Schwester, die noch immer lauernd im Türrahmen steht. »Ich denke, Sie können jetzt gehen, Ms Dummel.«

Schwester Dummel spitzt die Lippen. Ich frage mich, ob sie weiß, dass ihr Gesicht aussieht wie ein Arsch, wenn sie das tut. Sie schaut zu mir, zögert einen Moment, dann nickt sie. »Wie Sie meinen. Donny wird Miss Monroe danach auf ihr Zimmer bringen. Er steht vor der Tür, falls Sie ihn brauchen.«

»Ich bin mir sicher, wir kommen hier auch ohne Donny zurecht«, erwidert Dr. Goodman.

Die Schwester wirft mir noch einen Blick zu, als wäre ich eine gekappte Starkstromleitung, die Funken schlägt, und verlässt das Zimmer.

Ich setze mich in den Sessel. Dr. Goodman nimmt mir gegenüber Platz. Die Stille zwischen uns wiegt tonnenschwer. Er schlägt die Beine übereinander, richtet seine Krawatte und räuspert sich. Dann nimmt er ein gelbes Notizbuch und einen Stift von dem Tischchen, das neben seinem Sessel steht. »Du siehst erholt aus, Alice. Das freut mich.«

Ich warte darauf, dass er endlich zur Sache kommt. Unsere bisherigen Treffen liefen immer auf dasselbe hinaus. Gefühle äußern. Geheimnisse preisgeben. Über die Vergangenheit reden.

»Weißt du, warum du hier bist, Alice? Weißt du, warum du wieder in der Klinik bist?«

Bilder steigen an die Oberfläche. Bilder von meiner Flucht mit Jason. Treppenhäuser. Dunkles Wasser. Eine rote Scheune in der Nacht. Aber die Erinnerung rinnt mir wie Wasser durch die Finger.

»Es hat gebrannt«, sage ich leise.

Er kritzelt etwas in sein Buch. »Erzähl mir von der Nacht, Alice. Von der Nacht, in der ihr aus der Klinik geflohen seid.«

Ich verknote die Finger, starre in meinen Schoß, immer noch unfähig, Dr. Goodman in die Augen zu sehen. Nach einer Weile wandert mein Blick zum Fenster. Der Himmel ist grau und wolkenverhangen. Eine Wand aus dichtem Nebel wälzt sich auf uns zu, sodass man nur bis zum Stacheldrahtzaun sehen kann, der das Gelände umschließt.

»Warum ist es hier immer so neblig?«

Dr. Goodman schaut aus dem Fenster. »Das liegt an dem See und der hohen Luftfeuchtigkeit. Stört dich der Nebel?«

Wieso muss er jede Frage mit einer Gegenfrage beantworten? Ich zucke die Schultern. »Nein, er stört mich nicht. Ich finde es nur seltsam. Woher sollen wir wissen, dass es ein Leben auf der anderen Seite des Nebels gibt, wenn wir immer nur den Nebel sehen?«

Er lächelt kaum merklich, und zum ersten Mal macht er sich keine Notiz. »Das ist eine sehr philosophische Frage, Alice. Vielleicht solltest du den Nebel durchqueren, um zu sehen, was dich auf der anderen Seite erwartet.«

Ich weiß, was mich auf der anderen Seite erwartet. Wasser, dunkelgraues Wasser, das die Knochen klappern und die Lippen blau anlaufen lässt. Ich weiß das, weil Jason und ich durchgeschwommen sind. Er hat mich ans andere Ufer gezerrt und meinen zitternden Körper mit seinem gewärmt.

»Alice, hörst du mir zu?«

»Entschuldigung. Was haben Sie gesagt?«

»Ich habe dich gebeten, mir von dem Feuer zu erzählen.« Dr. Goodman klopft mit dem Stift auf sein Buch.

Womöglich ist sie ein Akt der Gnade – die Lücke in meiner Erinnerung. Womöglich will mein Gehirn nicht, dass ich mich daran erinnere, was passiert ist. Um mich von der Erkenntnis zu verschonen, dass meine Schwester, mein eigen Fleisch und Blut, mir so etwas angetan haben könnte – und Jason. Dumm nur, dass mein Herz es längst weiß.

»Ich kann mich nicht erinnern«, sage ich.

Dr. Goodman fischt meine Akte vom Tisch und schlägt sie auf. »Mir liegt der Polizeibericht vor.«

Ich starre auf meine linke Hand, die Hand ohne Verbrennungen. Auf die abgekauten Nägel und die zerbissene Nagelhaut. Cellie hat immer behauptet, das Weiße unter den Nägeln verriete, wenn man lügt. Wenn sie der Überzeugung war, dass ich ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte, packte sie meine Hände, inspizierte die Nagelbetten und verkündete, das Weiße hätte sich ausgedehnt. Und dann bombardierte sie mich mit Vorwürfen. Dass ich Geheimnisse vor ihr hätte. Dass ich ihr wehtun wollte. Dass ich Jason mehr lieben würde als sie.

»War Celia in dieser Nacht bei euch?«, fragt der Doktor.

»Was steht denn in dem Bericht?«

Er schaut in die Akte. »Da steht, dass sie dabei war.«

Ich blinzele, und kreischend kehrt die Erinnerung zurück. Meine durchgeknallte Zwillingsschwester beugt sich über mich und Jason, in ihrem Blick liegen Mitleid und Abscheu, während das Feuer um uns lodert und kracht. In diesem Moment steigen Millionen Gefühle in mir auf. Schlimme Gefühle. Hassgefühle. Für meine eigene Schwester.

Dr. Goodman entknotet seine Beine und beugt sich vor, wobei er mit der Nasenspitze gegen die unsichtbare Blase stößt, die mich umhüllt. Ich drücke mich in die Sessellehne. Sein Atem riecht nach altem Kaffee, bitter und abgestanden.

»Weißt du, warum du hier bist, Alice?«

Ich schüttele den Kopf. Ich kann immerzu nur an Cellie denken. An Cellie und Jason. Das Bild verschwimmt – und dann ist da nur noch Rauch. Ich kann Jason nicht sehen, aber ich kann ihn spüren. Er streichelt meine Wange und flüstert mir etwas ins Ohr, doch die Worte ergeben keinen Sinn.

»Jason.«

Dass ich seinen Namen laut ausgesprochen habe, merke ich erst, als ich Dr. Goodmans Blick sehe. Darin liegt so viel Mitgefühl, dass mein Entschluss, ihn nicht nach Jason zu fragen, ins Wanken gerät.

»Alice …« Die Art, wie er meinen Namen ausspricht, verheißt nichts Gutes. »Jason hat es nicht geschafft. Es tut mir so leid.«

Es fühlt sich an, als würde ein scharf gezackter Stein in meinem Hals stecken. Für einen Augenblick höre ich nichts als meinen röchelnden Atem. Jason. Tot. Fort. Für immer. Ich rufe mir noch einmal sein Bild ins Gedächtnis. Sehe, wie er sein schiefes Grinsen grinst, als hätte er gerade die Welt gekapert und wäre von nun an ihr Kapitän. Ich sehe uns beide, wie wir mit ausgestreckten Armen durch den Mondschein rennen. Verliebt. Idiotisch. Die Zeit genießend, die nur geborgt war. Ein Schluchzen steigt mir in die Kehle. Dr. Goodman reicht mir eine Box mit Taschentüchern, aber ich schüttele den Kopf. Ich wische die Tränen weg und zwinge mich dazu, gleichmäßig zu atmen. Unter der Oberfläche brodelt der Schmerz weiter, aber ich werde jetzt nicht die Nerven verlieren.

Dr. Goodman stellt die Taschentücher zurück auf den Tisch. »Möchtest du über Jason reden?«

Ich schüttele den Kopf. Wie konnte Cellie mir das antun? Ich weiß schon lange, dass sie meinen Tod herbeisehnt – mir tausend kleine Tode beschert hat. Aber Jason? Sie hat ihn geliebt. Zumindest dachte ich das.

»Ich kann mir vorstellen, wie schwer das alles für dich ist.« Er meint es nett, aber es klingt herablassend. »Ich weiß, dass Jason und du öfter zusammen in einer Pflegefamilie wart.«

Zwei Mal. Jason, Cellie und ich waren zwei Mal zusammen in einer Pflegefamilie. Eine heiße Träne rollt mir über die Wange, aber ich bleibe still. Ich versuche, die coole Fassade wieder aufzurichten, eine Maskerade, an die ich mich gewöhnt und die ich inzwischen perfektioniert habe.

Dr. Goodman trommelt mit dem Stift auf seinem Buch herum. »Ich würde mir für dich wünschen, dass wir offen miteinander reden können, Alice. Ich weiß, unsere letzten Gespräche waren nicht einfach, und ich würde verstehen, wenn du noch Zeit brauchst.« Er schlägt meine Akte zu, kramt in seinen Sachen und zieht ein schwarzes, in Leder gebundenes Buch hervor.

»Ich würde gern etwas Neues mit dir ausprobieren. Ich möchte, dass du, begleitend zu unserer Therapie, ein Tagebuch führst.« Er hält mir das Buch hin. Als ich mich nicht rühre, legt er es behutsam in meinen Schoß. »Ich werde es nicht lesen, es sei denn, du willst es. Ich möchte, dass du mit deiner ersten Erinnerung beginnst. Schreib einfach alles auf. Ich glaube, dass es dir dabei helfen könnte, zu begreifen, was geschehen ist, und einen Zugang zu deinen Gefühlen zu finden. Trauer ist etwas sehr Mächtiges, und wenn wir uns ihr nicht stellen, kann es passieren, dass wir uns in ihr verlieren.«

Es gefällt mir nicht, dass er von »wir« redet. Wir sind kein »wir«. Es gibt ihn und es gibt mich. Zwischen uns besteht keinerlei Verbindung. Er legt einen Kugelschreiber auf das Tagebuch. Ich kann dem Drang nicht widerstehen, den Stift zu berühren. Wir dürfen eigentlich keine Stifte haben. In den falschen Händen können sie zur Waffe werden.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er: »Normalerweise dürfte ich dir den Kugelschreiber nicht geben. Dieses Privileg ist Patienten mit gelben oder grünen Armbändern vorbehalten. Aber ich glaube, dass es die richtige Therapie für dich ist. Und ich glaube, dass ich dir vertrauen kann. Ich kann dir doch vertrauen, oder, Alice?«

Ich nicke hastig und füge die beiden neuen Gegenstände in Gedanken zu der Liste mit Dingen hinzu, die ich besitze. Typischer Pflegekinder-Tick. Dinge zählen, die man besitzt. Sie wieder und wieder zählen wie kostbare Juwelen.

»Wirst du dir meinen Vorschlag durch den Kopf gehen lassen? Die Sache mit dem Tagebuchschreiben?«, fragt Dr. Goodman freundlich.

Ich nicke wieder, schließe die Finger um das in Leder gebundene Buch und presse es an meine Brust. Ich wünschte, ich hätte ein Foto von Jason, das ich hineinkleben könnte. Meine Erinnerung an ihn verblasst bereits.

Dr. Goodman lehnt sich wieder zurück. »Ich bin froh, dass du über meinen Vorschlag nachdenken wirst. Und nun lass uns zu unserem eigentlichen Thema zurückkehren – der Frage, warum du hier bist. Du hast gesagt, du kannst dich weder an das Feuer erinnern noch an das, was danach passiert ist.« Er räuspert sich und sieht mir in die Augen.

Ich reibe mir übers Gesicht. Meine Erinnerungen an diese Zeit zerfließen wie ein Bild, das man ins Wasser getunkt hat. Schläuche und Kabel. Summende Maschinen und verschwommene Gesichter.

»In den letzten Wochen ist eine Menge passiert.« Dr. Goodman räuspert sich wieder. »Du wurdest angeklagt.«

Zehn unsichtbare Finger legen sich um meinen Hals und drücken zu. »Angeklagt?«

»Ja, Alice. Wegen Brandstiftung und Totschlag.«

2. Kapitel

Der Mädchenflügel

»Alice, hast du gehört, was ich gesagt habe?« Dr. Goodman runzelt die Stirn.

»Cellie hat das Feuer gelegt«, antworte ich, die Hände zu Fäusten geballt, und springe auf. Die Sesselbeine scharren laut über den Fußboden.

Dr. Goodman hebt beschwichtigend die Hand. »Ich glaube dir ja.« Er wirft einen bedeutungsvollen Blick zur Tür, hinter der Vokuhila-Donny steht, das rote Armband griffbereit. Eine unausgesprochene Drohung. Wie ich so was hasse. »Setz dich bitte wieder hin.«

Ich setze mich auf die vordere Kante des Sessels, jeder Muskel meines Körpers ist angespannt. Meine Lippen kribbeln, meine Finger bohren sich in meine Handflächen.

»Cellie hat das Feuer gelegt«, stoße ich hervor. Ich weiß, dass ich mich anhöre wie eine Schallplatte mit Sprung oder wie ein dämlicher Vogel, der nur einen einzigen Satz sprechen kann, trotzdem kann ich nicht damit aufhören, ihn zu wiederholen.

Seine Miene wird sanfter. Was ist das da in seinem Blick? Mitleid? Bedauern? Irgendwas, was ich schon mal gesehen habe und nicht mag.

»Verstehe«, sagt er.

Ich glaube nicht, dass er das tut.

Er mustert mich eine Weile. »Das ist nicht das erste Mal, dass Cellie und du so was gemacht habt.«

Ich weiß, worauf er anspielt. Vor Jahren, als Cellie und ich noch nicht verfeindet waren, als ich noch klein und naiv war und dachte, ich könnte meine Schwester retten, habe ich schon einmal den Kopf für sie hingehalten und behauptet, ich hätte das Feuer gelegt, das in Wahrheit ihr Werk gewesen war. Seitdem waren Cellie und ich ein unzertrennliches Gespann – die Feuerteufel.

Dr. Goodman redet weiter auf mich ein, aber ich kriege nur noch die Hälfte mit. »Der Staatsanwalt war sehr großzügig … Alle waren sich einig … das Beste, dich in Savage Isle psychiatrisch begutachten zu lassen, bevor der Prozess beginnt …«

»Oh mein Gott.« Das kann doch alles nur ein übler Scherz des Universums sein! Angst und Verzweiflung wälzen sich zäh und kalt durch meine Adern. Diesmal hat Cellie es geschafft. Diesmal hat sie gewonnen. Sie hat mich zur Strecke gebracht. Wenn nicht alles so schrecklich wäre, würde ich ihr glatt applaudieren.

»Wir wollen nur dein Bestes«, sagt der Doktor.

Ich kann mich immer noch nicht auf seine Worte konzentrieren. Das Einzige, worauf ich mich konzentrieren kann, ist mein Atem. Mein bebender Atem und der Prozess, der wie eine bedrohliche dunkle Wolke über mir schwebt.

»Wann?«, frage ich.

»Was – wann?«, fragt Dr. Goodman irritiert.

»Wann muss ich vor Gericht?«

»Das kann noch Monate dauern. Und das ist im Augenblick auch nicht die Frage, mit der wir uns befassen sollten. Das Wichtigste ist deine Genesung. Dass die Wunden verheilen und deine Erinnerung zurückkehrt.«

Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf. »Wird Cellie bei der Verhandlung auch dabei sein?«

Die Frage scheint Dr. Goodman nicht zu gefallen, und ich glaube nicht, dass er sie mir beantworten wird. Aber er tut es. »Ja.«

»Ist sie hier?« Ich lasse den Kugelschreiber klicken.

Dr. Goodman sieht auf seine Uhr und seufzt. »Unsere Zeit ist gleich um.«

Sein wenig subtiler Versuch, meiner Frage auszuweichen, entgeht mir nicht. Mir spuken tausend Fragen durch den Kopf. Wo ist Cellie? Ist sie hier? Muss auch sie sich einer psychiatrischen Begutachtung unterziehen? Aber es gibt noch etwas Wichtiges, worum ich Dr. Goodman bitten muss. Etwas Lebenswichtiges.

»Ich möchte Sara sehen.« Sara ist meine Sozialarbeiterin. Mein Rettungsanker. Wenn ich in ihre warmen Augen sehe, muss ich immer an knisternde Kamine und Apfelkuchen denken.

Dr. Goodman legt sein Notizbuch beiseite, lehnt sich zurück, legt die Fingerspitzen aneinander und atmet tief ein. »Alice, als dein behandelnder Arzt bin ich verpflichtet, dir mitzuteilen, dass dein Aufenthalt hier keineswegs freiwillig ist, sondern auf richterliche Anordnung hin erfolgt. Da es sich nicht um dein erstes Vergehen handelt und deine Tat schwerwiegende Folgen hatte, hat das Gericht eine achtundvierzigstündige Kontaktsperre verhängt. Danach darfst du wieder Besuch empfangen.« Und leise fügt er hinzu: »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

Es ist ein Friedensangebot. Ein Frieden, dem ich nicht traue. Aber habe ich eine Wahl? Ich hasse es, andere um einen Gefallen zu bitten. Man macht sich angreifbar. Doch diesmal ist es mir das wert, denn ich tue es für Jason.

»Ich würde gern auf Jasons Beerdigung gehen.«

»Vielleicht können wir darauf hinarbeiten.«

Ich habe es gewusst. Es ist genau wie immer. Er hat das Möhrchen und ich bin der Esel.

Ich werfe ihm einen frostigen Blick zu. »Alles klar.«

Dr. Goodman rutscht in seinem Sessel herum und sieht in meine Akte. »Da ist noch etwas. Deine Flucht hat einige Lücken in unserem Sicherheitssystem offenbart. Du solltest wissen, dass diese in der Zwischenzeit geschlossen wurden.«

Was soll das sein? Eine weitere Drohung? Klingt so.

»Haben wir uns verstanden?«

Ich nicke hastig.

»Gut. Dann ist es jetzt Zeit für deine Medikamente.« Dr. Goodman reicht mir ein kleines Döschen und ein Glas mit Wasser. »Die Tablette wird dir beim Einschlafen helfen.«

Ich leere das Glas mit einem Schluck, mache den Mund weit auf und strecke die Zunge heraus.

»Okay, Alice, dann sehen wir uns morgen um dieselbe Zeit wieder hier. Morgen früh ist Gruppentherapie.«

Ich verlasse wortlos das Büro.

Vokuhila-Donny ist nirgends zu sehen. Dafür der geheimnisvolle Junge. Er lungert auf dem Stuhl vor Dr. Goodmans Büro herum. Um seinen Hals klemmen riesige Kopfhörer, aus denen leise ein Beat ertönt, den er mit den Fingern mittrommelt. Er sieht zu mir hoch und lächelt. Ich werfe einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtet. Wir sind die Einzigen auf dem Flur. Etwas in mir verspürt den Drang, die Arme um ihn zu schlingen und ihm wie ein kleines, dummes Mädchen ins Ohr zu flüstern: Freunde?

»Hab gehört, wie sich die Pfleger über dich unterhalten haben«, sagt er. »Sie meinten, die Feuerteufel wären wieder hier.« Er schnippt mit dem Daumen, als würde er ein unsichtbares Feuerzeug entzünden.

Ich ziehe scharf die Luft ein und weiche einen Schritt zurück. Alles Schöne, was ich eben noch für ihn empfunden habe, löst sich in nichts auf. »Nenn mich nicht so.«

Er zieht eine Grimasse.

»Wichser«, murmele ich und marschiere an ihm vorbei.

Er lacht. »Netter Wortschatz.«

Ich zeige ihm den Mittelfinger und laufe weiter. In diesem Moment höre ich Donnys schwere Schritte über den Flur hallen. Bevor er mich sehen kann, taste ich mit der Zungenspitze nach der Tablette in meiner rechten Wangentasche, spucke sie in die Hand und lasse sie in meinem Kittel verschwinden. Hinter mir öffnet sich die Tür zu Dr. Goodmans Büro. »Komm rein, Chase. Wir haben einiges zu besprechen«, sagt Dr. Goodman.

Dann ist Donny bei mir, sichtlich erleichtert, mich noch rechtzeitig erwischt zu haben. Er riecht ein bisschen nach Rauch. Mit einer Kopfbewegung fordert er mich auf, ihm zu folgen, also trotte ich mal wieder seinem Vokuhila hinterher durch die grell erleuchteten Flure. Vor einer Tür im Mädchenflügel bleibt er stehen, zieht seine Karte durch den Scanner und das Türschloss öffnet sich klickend.

»Du weißt ja, wie das hier läuft«, sagt er. »Letzter Kontrollgang um elf. Frühstück um acht, danach Gruppentherapie.«

Kaum habe ich das Zimmer betreten, fällt die Tür leise hinter mir zu und ich stehe im Halbdunkeln. Doch auch ohne viel zu erkennen, weiß ich, wie das Zimmer eingerichtet ist: mit einem Bild (wahrscheinlich ein Landschaftsidyll), das fest in der Wand verankert ist (um einen Selbstmord durch Kunst zu verhindern, die vermutlich poetischste Art, sich das Leben zu nehmen), und zwei Betten mit quietschendem Metallgestell. Das Bett am Fenster ist schon belegt. Der Mond scheint meiner Zimmergenossin ins Gesicht und lässt ihre pinken Haare leuchten. Ihr Arm, der von breiten weißen Narben übersät ist, liegt auf der Bettdecke. Es gibt ein kleines Bad mit Toilette und Waschbecken. Keine Dusche. Das Bad hat eine Tür, die man nicht abschließen kann. Sie soll einem Privatsphäre vorgaukeln, aber ich weiß, dass es hier so etwas nicht gibt. Auf einer Holzkommode, die mit Sicherheit in der Wand verschraubt ist, steht meine Tasche. Ich stecke Tagebuch und Kugelschreiber hinein und hole meine Zahnpasta heraus. Auf halbem Weg zum Bad mache ich kehrt und fische Buch und Stift wieder aus der Tasche.

Ich putze mir die Zähne mit dem Finger. Das ist ziemlich eklig und hat so gut wie keinen Effekt, stelle ich fest, nachdem ich den Schaum ausgespuckt und mir den Mund ausgespült habe. Tagebuch und Stift liegen äußerst wacklig auf dem viel zu schmalen Waschbeckenrand. Ich schalte das Licht ein, schnappe mir Buch und Stift, lasse mich auf den Boden sinken und schlage die erste leere Seite auf. Dann kritzele ich drauflos, fülle Seite um Seite, bis ich einen Krampf in den Fingern habe und die Verbrennungen an meiner Hand und an meinen Schultern prickeln, als würde etwas unter meiner Haut entlangkriechen.

Ich habe immer noch Kopfweh, und die Beruhigungspillen, die sie mir im Krankenhaus gegeben haben, wirken nicht mehr. Ich muss an Cellie denken und an ihren Wahn und wo ich seinetwegen gelandet bin. Panik und Übelkeit steigen in mir auf. Angst und Wut und Schmerz schießen durch mein eben noch betäubtes Herz wie Raketen über den schwarzen Nachthimmel.

Ich stelle mir vor, wie ein roter Teppich ausgerollt wird, an dessen Ende meine Zukunft winkt: eine Zukunft mit vergitterten Fenstern. Eine Zukunft, die noch nie schillernd zu werden versprach und die jetzt noch düsterer aussieht als vorher. Das bisschen Hoffnung, an das ich mich geklammert habe – eines Tages aufs College zu gehen, ein Leben ohne Cellie zu führen –, wurde ausgelöscht.

All der Schmerz, den ich so lange unterdrückt habe, bricht aus mir heraus, und ich weine. Jason. Dass ich mich nicht an seine letzten Worte erinnern kann, tut mehr weh als jede äußerliche Wunde. Hat er um Gnade gefleht? Hat er leise dafür gebetet, dass wir überleben? Oder waren es sanfte, zärtliche Worte des Abschieds – eines Abschieds für immer? Oder hat er mir versprochen, dass wir uns im Jenseits wiedersehen?

Ich lasse die Tränen laufen, bis nur noch Schluchzer übrig sind. Ich stehe auf und atme tief durch. Und dann ist er plötzlich da, dieser kalte, kühne Gedanke. Plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe – für Jason (und für mich). Ich spreche es laut aus, damit es kein Zurück mehr gibt. »Das wirst du mir büßen, Cellie. Komme, was wolle. Ich werde dich finden. Und wenn ich dich gefunden habe, bringe ich dich um.«

Ich verlasse das Bad und ziehe den Kittel aus. Beim Zusammenlegen fällt die Tablette auf den Fußboden. Als ich mich danach bücke, poltert ein dumpfer Schmerz durch meinen Schädel. Vom Heulen sind die Kopfschmerzen nur noch schlimmer geworden. Ich hebe die Tablette auf und betrachte sie im Mondlicht. Ich brauche dringend ein paar Stunden ohne Kummer und Schuldgefühle. Also schlucke ich die Tablette, ohne Wasser. Dann lege ich mich ins Bett, wobei ich versuche, so wenig Lärm wie möglich zu machen, und warte darauf, dass die Pille wirkt. Dass sie meine Traurigkeit vertreibt. Heute Nacht erlaube ich mir, zu vergessen. Und morgen, nun ja, morgen ist ein neuer Tag.

Halb benebelt, halb schläfrig, spule ich die Ereignisse des Tages noch einmal ab und bleibe an einem Halbsatz hängen, den dieser Chase gesagt hat: Hab gehört, wie sich die Pfleger über dich unterhalten haben. Sie meinten, die Feuerteufel wären wieder hier. Er hat gesagt: die Feuerteufel, Plural. Plötzlich weiß ich sicher, dass Cellie hier ist. Ich kann ihre Anwesenheit förmlich spüren. Sie ist auf Savage Isle, und Chase weiß, wo ich sie finden kann.

Aus dem Tagebuch von Alice Monroe

Dr. Goodman meinte, ich solle aufschreiben, wie alles begann. Ich glaube, das ist gar keine so schlechte Idee. Denn zwischen mir und Cellie war es nicht immer so wie jetzt. Es gab eine Zeit, da war sie meine Freundin. Meine beste Freundin. Wenn sie mir damals erzählt hätte, dass sie jemanden umgebracht hat, hätte ich einfach nur gefragt, ob ich ihr dabei helfen soll, ein Grab zu schaufeln. Wo also beginnt eine Geschichte, die mit Feuer und Tod endet? Sie beginnt im Schnee, am kältesten Tag des kältesten Jahres seit einem halben Jahrhundert, mit zwei Mädchen, die ihren sechsten Geburtstag feiern, in einem Haus, in dem es ganz still ist. Sie beginnt mit einer Leiche.

Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist ein Traum. Ein Traum, der nach Torte schmeckte. In dem es Konfetti regnete. Ein Traum voller Luftballons und Geschenke, die in goldenes Papier eingewickelt waren. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist Stille und Leere. Cellie war schon aufgestanden. Ihr Bett – sie schlief im Doppelstockbett oben – war mal wieder schlampig gemacht, was mich störte. Ich hatte es gern ordentlich, ich mochte klare Linien und sauber gefaltete Kanten. Cellie hatte mich die halbe Nacht lang wach gehalten, weil sie vor lauter Aufregung nicht einschlafen konnte, und in einem fort davon geplappert, wie der nächste Tag wohl werden würde. Unser Geburtstag.

Es war kalt, und ich fror in meinem dünnen Nachthemd. Als ich einen Fuß auf den Boden setzte, fühlte es sich an, als wären Eiskristalle in den Teppich hineingewebt. Ich blieb kurz stehen und lauschte in die Stille hinein, horchte, ob die Schneeflocken vor dem Fenster irgendein Geräusch machten oder jemand im Haus. Aber ich hörte nichts außer meinem Herzschlag.

Ich sprang die Treppe hinunter, ohne mir Gedanken darüber zu machen, was die Stille bedeuten könnte. Welches Geheimnis sie wispernd preisgab. Genau wie Cellie war ich einfach nur gespannt darauf, welche tolle Geburtstagsüberraschung mich gleich erwarten würde. Mit einem gezielten Tritt beförderte ich den Pantoffel, der auf der Stufe lag, durchs Treppengeländer nach unten. Er landete auf Grandpa.

Grandpa lag auf dem Fußboden, den Kopf zur Seite gedreht. Sein Gesicht war so weiß wie der Schnee. Ein Arm klemmte, merkwürdig verdreht, unter seinem Bauch, der andere war ausgestreckt. Die Finger, die sich in den Teppich krallten, waren ganz steif. Ich blieb stehen und setzte mich auf die letzte Stufe.

»Er wacht nicht auf«, sagte Cellie. Sie kauerte vor dem Kamin, die Beine an die Brust gezogen, das Kinn auf die Knie gestützt.