Tokyo dreaming – Prinzessin im Rampenlicht - Emiko Jean - E-Book

Tokyo dreaming – Prinzessin im Rampenlicht E-Book

Emiko Jean

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Beschreibung

Zurück nach Tokyo Izumi hat ihren Prinzessinnentraum wahr gemacht: Sie lebt im Kaiserpalast mit ihrem geliebten Hund, sie hat einen perfekten Bodyguard-Freund und ihre Eltern planen, endlich zu heiraten … Bis das Kaiserliche Hofamt einschreitet und die Eheschließung nicht billigt – aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft! Izumi will alles tun, um das Happy End ihrer Eltern zu retten, dafür muss sie aber vielleicht ihr eigenes Glück opfern. Wenn die Pflicht ruft, heißt das, dass Izumi ihr Herz verraten muss?

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Seitenzahl: 456

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Über das Buch

Prinzessin werden war schon schwer Prinzessin bleiben ist es noch mehr

Nachdem sie intrigante Cousinen und Skandale epischen Ausmaßes überstanden hat, ist Izumi als Prinzessin von Japan angekommen. Sie ist mit Akio glücklich und ihre Eltern wollen sogar endlich heiraten! Doch dann führt die bürgerliche Herkunft ihrer Mutter zu einer kaiserlichen Kontroverse und die Hochzeit steht auf der Kippe … und noch dazu trifft Akio eine weitreichende Entscheidung für ihre Beziehung. Die Rolle der perfekten Prinzessin beinhaltet vielleicht doch mehr Schauspielerei, als Izumi gedacht hätte. Muss sie für ihren royalen Titel ihre große Liebe opfern?

Von Emiko Jean ist bei dtv außerdem lieferbar:

Tokyo Ever After – Prinzessin auf Probe

EMIKO JEAN

TOKYO

DREAMING

PRINZESSIN IM RAMPENLICHT

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Katarina Ganslandt

 

 

 

 

Für alle Mädchen dieser Welt

 

Das Leben ist ein Gedicht.

Ich hoffe, ihr schreibt es.

TOKYO TATTLER

Sommer-Sonderausgabe

Love is in the Air!

21. August 2021

Kaum da, waren sie auch schon wieder weg. Als gestern am späten Abend nach der Aufführung eines traditionellen Bunraku-Puppentheaterstücks die Zuschauer aus dem Staatstheater strömten, bahnte sich ein Paar besonders eilig seinen Weg durchs Gedränge und schlüpfte in eine mit laufendem Motor am Straßenrand wartende schwarze Limousine. Aufmerksamen Beobachtern entging nicht, dass es sich dabei um Seine Kaiserliche Hoheit den Kronprinzen Toshihito und dessen Begleitung, die Amerikanerin Hanako Tanaka (Mutter seiner unehelichen Tochter Ihrer Kaiserlichen Hoheit Prinzessin Izumi), handelte. Die beiden hatten sich die Vorstellung nicht aus der Kaiserlichen Loge, sondern von frei verkäuflichen Plätzen im Parkett aus angesehen. Niemand um sie herum ahnte, dass der Kronprinz mit seiner Gefährtin mitten unter ihnen saß.

Mittlerweile ist es dreißig Tage her, dass Ms Tanaka an Bord eines gewöhnlichen Linienflugs aus den USA in unser Land eingereist ist. Mitgebracht hatte sie damals nichts weiter als eine etwas abgewetzte Reisetasche von LeSportsac sowie Prinzessin Izumis Schoßhündchen Tamagotchi – eine kleine Promenadenmischung, die praktisch in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil der von unserer Hoheit der Kaiserin so hochgeschätzten reinrassigen Shiba Inus ist.

»Mutter und Hund stellen im Palast alles auf den Kopf«, hörte man schon bald einen Angestellten des Kronprinzenhaushalts klagen. »Ms Tanaka besteht darauf, alles selbst zu machen, und lehnt es ab, sich vom Personal bedienen zu lassen. Der Hund ist völlig unerzogen und stinkt außerdem erbärmlich.«

Allem Anschein nach hat sich der Kronprinz von den freigeistigen Ideen seiner amerikanischen Freundin anstecken lassen. So verzichtet er seit Wochen bei Ausflügen auf die übliche große Polizeieskorte, nutzt unauffällige Fahrzeuge und entscheidet spontan und ohne Vorankündigung über das jeweilige Tagesprogramm. Nirgendwo weht mehr die Kaiserliche Flagge, um die Ankunft Seiner Hoheit anzukündigen, und auch die üblicherweise bis auf die Minute durchgetakteten Terminpläne des Kaiserlichen Hofamts gehören der Vergangenheit an. In einem bis dato unerhörten Bruch mit dem höfischen Protokoll tauscht das Paar zudem in aller Öffentlichkeit Zärtlichkeiten aus, hält sich an den Händen und tuschelt miteinander.

Es ist kein Geheimnis, dass die Beamten des Kaiserlichen Hofamts schon lange auf eine Heirat des Kronprinzen hofften – schließlich gilt es, zur Sicherung der Thronfolge einen Erben hervorzubringen. Allerdings befand sich unter den potenziellen Kandidatinnen niemals eine Frau wie Hanako Tanaka. Eine geborene US-Bürgerin, die zwar japanischstämmig, aber ohne jede Verbindung zu einer der ehemaligen Adelsfamilien des Landes ist und überdies bereits vierzig, womit sie ihre fruchtbaren Jahre wohl überschritten haben dürfte.

Über Ms Tanaka selbst ist, abgesehen davon, dass sie und der Kronprinz sich in Harvard begegnet sind, wo der Prinz zwei Auslandssemester absolvierte und sie Biologie studierte, wenig bekannt. Obwohl sie ihren Master an der renommierten amerikanischen Elite-Universität abgelegt hat, unterrichtet sie heute an einem unbedeutenden staatlichen College, das ohne Ausschlussverfahren alle Studierenden aufnimmt, die einen Highschool-Abschluss vorweisen können.

»Ich kann einfach nicht nachvollziehen, was er an ihr findet«, sagt die auf das Kaiserhaus spezialisierte Bloggerin Junko Inogashira ratlos. »Der Kronprinz könnte jede Frau haben. Jede.«

Doch der Prinz scheint seine Wahl getroffen zu haben. »Seine Kaiserliche Hoheit hat deutlich gemacht, dass er Ms Tanaka für die Richtige hält und nicht von seiner Entscheidung abrücken wird«, berichtet ein Mitarbeiter des Hofes. »Der Kronprinz ist Hals über Kopf verliebt.« So verliebt, dass er mit allen Traditionen gebrochen und Ms Tanaka sogar auf dem Kaiserlichen Palastgelände einquartiert hat – in seinem Palast. Ein Vertreter des Kaiserlichen Hofamts legt allerdings Wert darauf, zu betonen, dass die Grenzen der Schicklichkeit dabei nicht überschritten werden. »Ms Tanaka wohnt zwar im Palast, ist dort aber in einer separaten Gästesuite untergebracht.«

Ihre Kaiserliche Hoheit Prinzessin Izumi folgt dem Beispiel ihres Vaters und verzichtet neuerdings, wenn sie mit ihrem Partner Herrn Akio Kobayashi – ihrem ehemaligen Leibwächter – Ausflüge unternimmt, sowohl auf offizielle Limousinen als auch auf eine Polizeieskorte und lässt sich lediglich von ihrer eigenen Personenschützerin begleiten. Genau wie ihre Mutter trägt sie in letzter Zeit außerdem bei privaten Unternehmungen sehr oft Hosen anstelle der üblicherweise von den weiblichen Mitgliedern der Kaiserfamilie favorisierten Kleider in Pastellfarben.

Alle drei – der Kronprinz, Ms Tanaka und Ihre Kaiserliche Hoheit Prinzessin Izumi – setzen sich so unbekümmert über die Regeln des Kaiserlichen Hofs hinweg, als wären sie der Meinung, sie würden für sie nicht gelten.

Derweil hegt das Kaiserliche Hofamt die stille Hoffnung, dass die Affären von Vater und Tochter früher oder später ein natürliches Ende finden werden. Die Hofbeamten können kaum den Tag erwarten, an dem Ms Tanaka in die USA an ihr College zurückkehren und Herr Kobayashi Tokyo verlassen wird, um seine Ausbildung an einer Offiziersakademie der japanischen Luftwaffe zu beginnen. Die Beamten setzen darauf, dass der räumliche Abstand die entflammten Herzen des Kronprinzen und der Prinzessin wieder abkühlen wird.

1

Ende August findet traditionellerweise das Jahrestreffen der Asian Girl Gang statt. Es herrscht strenge Anwesenheitspflicht und die einzelnen Tagesordnungspunkte werden im Vorfeld festgelegt. Gäste sind nicht zugelassen, und teilnehmen darf nur, wer feierlich auf die Fünf Gebote der AGG geschworen hat:

1.Ich verspreche, immer und überall Snacks dabeizuhaben.

2.Zur Stärkung des Zusammenhalts werde ich euch meine allerpeinlichsten Geheimnisse anvertrauen. (Eine von uns schreibt Jonas-Brothers-Fan-Fiction. Eine rasiert sich die Zehen. Und eine hat mal mit einer fetten Maxibinde das Schulklo so dermaßen verstopft, dass ein Klempner geholt werden musste und alle Schülerinnen in die Aula gerufen wurden, wo der Schulleiter uns über die ordnungsgemäße Entsorgung von benutzten Hygieneartikeln informiert hat. Ja, ich gebe es zu. Das war ich.)

3.Ich werde euch in schweren Lebenslagen immer seelisch aufbauen, euch den Rücken stärken und treu zur Seite stehen.

4.Mein Kleiderschrank ist euer Kleiderschrank.

5.Und: Wenn ihr es macht, mache ich es auch.

Dieses Jahr nehmen die Mitglieder der AGG (meine drei besten Freundinnen Noora, Glory, Hansani und ich) virtuell per Laptop am Treffen teil. Es ist das allererste Mal seit Gründung der Gang, dass wir uns alle an verschiedenen Orten in unterschiedlichen Zeitzonen befinden.

Nimmt man Mount Shasta – die nordkalifornische Kleinstadt, in der wir alle aufgewachsen sind – als Ausgangspunkt, bin ich am weitesten weg. Ich sitze nämlich in meiner neuen Suite im Tōgū-Palast in Tokyo, die in verschiedenen Weißschattierungen und hellen Naturtönen eingerichtet und so stylish ist, dass sie locker eine Fotostrecke in der japanischen Ausgabe von Architectural Digest verdient hätte. Bei uns ist es acht Uhr abends. Bei Noora in New York früher Morgen. Sie ist erst vor ein paar Tagen in ein Studentenheim der Columbia University gezogen.

Glory und Hansani haben echt Pech, denn bei ihnen an der Westküste ist es mitten in der Nacht – vier Uhr. Glory besucht ihren Vater in Portland, bevor sie morgen nach Eugene weiterfährt, um ihr Studium an der University of Oregon anzutreten. Hansani ist noch in Mount Shasta und hat sich mit ihrem Laptop in ein 24-Stunden-Diner gesetzt, weil sie zu Hause keinen Internetzugang hat. Ihre Familie wohnt so abgelegen, dass extra für sie ein Glasfaserkabel gelegt werden müsste, was ihrem Vater aber zu teuer ist. Übermorgen zieht sie in ein Studentenheim der UC Berkeley in San Francisco.

Meine Freundinnen sind ausnahmslos überdurchschnittlich schlau, klug, hochbegabt und intelligent. Ernsthaft. Es gibt nichts, was sie nicht könnten. Allen dreien steht eine goldene Zukunft bevor. Und mir?

Tja, das gilt es noch rauszufinden. Meine Welt wurde Anfang des Jahres erst mal aus ihren Angeln gerissen, als ich erfahren habe, dass ich die Tochter des japanischen Kronprinzen bin, wodurch ich quasi über Nacht zur Prinzessin wurde.

Das war schon damals schwer zu verdauen, und ich bin immer noch damit beschäftigt, mich an meine neue Rolle zu gewöhnen, weshalb ich seither in Tokyo wohne (ich war nur noch einmal kurz in Mount Shasta, nachdem die Presse von der Liebesgeschichte zwischen mir und meinem Leibwächter Wind bekommen hatte). In Tokyo nehme ich Prinzessinnenunterricht und lerne meinen Vater besser kennen. Viel mehr habe ich bis jetzt eigentlich nicht gemacht, aber ich fürchte, dass sich das bald ändern könnte …

Herr Fuchigami, mein persönlicher Kammerherr und gnadenloser Herrscher über meinen Terminkalender, hat nämlich in sämtlichen Räumen des Palasts, in denen ich mich aufhalte, Broschüren japanischer Eliteuniversitäten ausgelegt. Außerdem zwingt er mich, morgen die Universität von Tokyo zu besichtigen, an der schon mein Vater und mein Großvater (der Kaiser) studiert haben. Alles ganz unverbindlich, behauptet er, kein Druck … Ja klar, außer dass ich eben im Schatten meiner Vorväter stehe. Trotzdem ist es für mich längst noch nicht beschlossene Sache, ihrem Vorbild zu folgen. Herr Fuchigami weiß, dass ich mir erst mal alle Optionen offenhalten möchte. Die Frage lautet: Studieren oder lieber ein Jahr Auszeit nehmen? Die Antwort: Keine Ahnung.

Ein Studium in Japan würde mich in meiner Entwicklung zur perfekten Prinzessin weiter voranbringen, eine Auszeit dagegen einen Rückschritt bedeuten. Ich wäre seit hundert Jahren die erste Kaiserliche Prinzessin, die nicht sofort nach dem Schulabschluss an die Uni geht.

Ich ziehe Tamagotchi aus seiner stinkenden Höhle am Fußende meines Betts und drücke trostsuchend meine Nase in sein drahtiges Fell. Er strampelt sich aus meiner Umarmung frei, weicht zurück und presst sich knurrend an die Wand. Undankbares Ding. Ich will doch nichts weiter, als ihn lieben zu dürfen und zurückgeliebt zu werden. Ist das zu viel verlangt? Wobei man Tamagotchi zugestehen muss, dass er traumatisiert ist, weil er nach seiner Ankunft in Japan erst mal vierzehn Tage in Quarantäne gesteckt wurde.

Ich schaue wieder auf den Laptop. In Mount Shasta kommt gerade eine Bedienung ins Bild und schenkt Hansani Kaffee nach. »Danke sehr.« Sie legt beide Hände um den dampfenden Becher und lächelt verlegen. »Tut mir echt leid, dass ich schon so lange hier sitze und nichts bestelle. Dafür lasse ich ein gutes Trinkgeld da.« Die Frau versichert ihr, dass sie bleiben kann, solange sie will.

Hansani ist der liebenswürdigste und netteste Mensch der Welt, das merkt ihr jeder sofort an. Alle Eltern lieben sie. Als die Bedienung wieder weg ist, schaut sie in die Kamera und wispert: »Mein Geld reicht gerade noch für den Kaffee. Wir müssen langsam Schluss machen.«

»Wir sind sowieso fast fertig«, sagt Noora. An der Wand hinter ihr hängt ein Kalender, der mit Post-its in diversen Neonfarben vollgeklebt ist. Typisch, dass sie jetzt schon ihr gesamtes Semester durchorganisiert hat. Aber das braucht sie, sonst fühlt sie sich nicht wohl.

Mit der Tagesordnung sind wir eigentlich durch. Der erste Punkt war: Wie können wir es schaffen, über die räumliche Entfernung und die unterschiedlichen Zeitzonen hinweg weiter in Kontakt zu bleiben? Indem alle so oft wie möglich in den AGG-Chat schreiben, wenn es irgendwas Neues gibt. Sobald eine von uns eine Nachricht liest, muss sie sofort antworten. Zweiter Punkt war: Jede von uns muss versprechen, die anderen in dieser für uns alle wichtigen Umbruchphase nach Kräften emotional zu unterstützen. Abgehakt. Und auch den dritten Punkt haben wir schon besprochen: Wann trifft die AGG wieder live zusammen? Traurigerweise frühestens nächsten Sommer. Dafür kommt mich Noora aber in den Winterferien in Japan besuchen. Ich freue mich total darauf, ihr Tokyo zu zeigen.

»Bleibt nur noch ein Thema. Punkt vier auf der Tagesordnung«, verkündet Noora.

»War das etwa ernst gemeint? Ich hab das für einen Witz gehalten.« Glory lehnt sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurück.

Noora zieht gereizt die Brauen zusammen. »Wie gesagt, der letzte Punkt auf unserer Tagesordnung …«

»Du willst wirklich die kostbaren letzten Minuten unseres Live-Treffens damit vergeuden, darüber zu diskutieren, welcher Liebesfilm sich am besten für eine Neuverfilmung mit einem gleichgeschlechtlichen Paar – egal, ob weiblich, männlich oder nonbinär – eignet?«, unterbricht Glory sie. Dann schaut sie sich schnell um und raunt: »Okay. Ich bin für Titanic.«

»Ich hab lange darüber nachgedacht«, sagt Hansani. »Mein Favorit wäre Dirty Dancing. Die Szene im Fluss? Jetzt mal ehrlich? Unbedingt!«

Ich höre draußen im Gang Schritte und drehe mich kurz zur Tür. »Ladys«, seufze ich. »Ich beende diese spannende Diskussion nur sehr ungern, aber ich muss mich verabschieden.«

»Wie bitte?«, Noora verzieht gequält das Gesicht. »Darf ich wenigstens noch schnell meinen Vorschlag loswerden? Immerhin habe ich eine fünfseitige Begründung für Wie ein einziger Tag geschrieben. Hier.« Sie wedelt mit ein paar zusammengehefteten Seiten.

»Ich hab euch sehr lieb«, sage ich und verteile Luftküsse. »Aber ihr habt leider alle den falschen Film ausgesucht. Die korrekte Antwort lautet: Stolz und Vorurteil. Okay, bis zum nächsten Mal!« Ich knalle meinen Laptop zu, rutsche vom Bett und stürze in den Flur hinaus. Tamagotchi flitzt mir hinterher. »Mom?«

»Izumi!« Sie dreht sich erschrocken um. »Ich dachte, du wärst heute mit Akio verabredet.«

»Der kommt gleich.« Ich betrachte sie mit skeptisch zusammengekniffenen Augen. Tamagotchi setzt sich auf den Po und verdreht den Rumpf, um die Pfoten seiner Hinterläufe zu beknabbern. »Aber was machst du hier?« In diesem Trakt des Palasts befinden sich außer meiner Suite nur noch die Gemächer meines Vaters.

»Ich?« Mom legt sich eine Hand an die Brust und tut entrüstet. »Was ich hier mache?« Es ist offensichtlich, dass sie Zeit schindet. »Nichts Besonderes … Ich wollte zu deinem Vater … Er möchte mir etwas zeigen … eine … Pflanze?«

Ich verschränke die Arme. »Das klingt nicht sehr überzeugend.«

Sie stemmt eine Hand in die Hüfte und schnaubt. »Also wirklich, Izumi. Ich bin dir keine Erklärung schuldig, wenn ich Lust habe, mit …«

»Stopp.« Ich hebe die Hand. »Falls du mich nicht für immer traumatisieren willst, muss ich dich bitten, diesen Satz nicht zu beenden.« Ich zwinge mich, an harmlose Dinge zu denken, die nichts mit Sex zu tun haben. Baseball. Weizenanbau. Bestrumpfte Männerfüße in Sandalen.

Mom unterdrückt ein Seufzen. »Ich bin eine erwachsene Frau, Zoom-Zoom.«

Mom ist zum zweiten Mal für längere Zeit hier in Tokyo. Im Juni war sie schon einmal mit mir da, nachdem ich vorübergehend in die Staaten zurückgeflohen war, weil die Presse von der Geschichte zwischen Akio und mir erfahren hatte. Damals herrschte im Palast akuter Krisenmodus. Aber obwohl wir alle schwer damit beschäftigt waren, die Nachrichtenlage unter Kontrolle zu bekommen, war nicht zu übersehen, dass zwischen ihr und Dad immer noch Funken sprühten. Nachdem sich die Situation beruhigt hatte, kehrte sie erst mal wieder nach Mount Shasta zurück. In den Wochen danach habe ich sie aber ununterbrochen bearbeitet, den Sommer in Tokyo zu verbringen. Bald sind doch Semesterferien und du musst nicht unterrichten. Also kannst du genauso gut hier sein. Bitte sag Ja. Bitte sag Ja. BITTESAGJA. Natürlich ist sie irgendwann eingeknickt. In der ersten Juliwoche haben Dad und ich sie dann am Flughafen abgeholt. Ich bin auf sie zugerannt und habe sie vor Wiedersehensfreude so fest umarmt, dass ich ihr fast ein paar Rippen gebrochen hätte.

Dad hat sich nur stumm vor ihr verbeugt.

Danach hat sie sich vor ihm verbeugt und mit heiserer Stimme »Mak …« gesagt. (Das ist sein Spitzname aus Unitagen – die Abkürzung von Makotonomiya.)

Und er hat zurückhaltend gelächelt. »Hanako … Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen.«

Aber als wir kurz darauf in der Kaiserlichen Limousine saßen und Richtung Tokyo fuhren, schoben sie ihre Hände über das Lederpolster aufeinander zu und es war offensichtlich, dass die sprühenden Funken zu einer lodernden Flamme geworden sind. Die ersten Tage wohnte Mom noch in einem Hotel in der Nähe des Palasts, wurde dort aber so von Paparazzi belagert, dass es nicht auszuhalten war. Natürlich spielte auch die Frage der Sicherheit eine Rolle. Ihre und meine. Also wurde beschlossen – hauptsächlich von Dad –, dass Mom zu uns in den Palast zieht. Jetzt wohnt sie in einer Gästesuite in einem Seitenflügel und hat ihren Aufenthalt erst von zwei auf drei Wochen verlängert und kurz darauf schließlich verkündet, dass sie den ganzen Sommer bleiben wird.

Ha!

Mittlerweile haben meine Eltern jede Zurückhaltung aufgegeben und schweben auf einer Wolke aus flammenden Herzen durch den Tag. Morgendliche Spaziergänge durch den Park. Kuschelige Abendessen bei Kerzenschein in versteckten Restaurantnischen. Einmal habe ich sie sogar in der Speisekammer beim Knutschen erwischt. Tja, und jetzt das. Ein mitternächtliches Schäferstündchen … na ja, fast. Immerhin ist es schon nach acht Uhr abends. Es ist verrückt, zu sehen, wie meine Mutter – sonst supernüchterne Naturwissenschaftlerin durch und durch – ständig knallrot anläuft, verliebt kichert und sich ihren Gefühlen hingibt. Aber ich freue mich für sie. Und für mich.

Mittlerweile haben wir ein richtiges Familienleben. Alles ist so, wie ich es mir immer erträumt habe. Morgens sitzen wir gemeinsam am Frühstückstisch, besprechen unser Tagesprogramm und verabschieden uns dann in unser jeweiliges Leben. Mein Vater und ich erfüllen unsere Pflichten als Mitglieder des Kaiserhauses, während Mom meistens im Palast bleibt und liest, weil sie ja schließlich Ferien hat. Falls abends nicht irgendein offizieller Termin ansteht, essen wir wieder gemeinsam und bleiben auch danach noch sitzen, denn keiner hat es eilig zu gehen. Mom und Dad erzählen mir oft Anekdoten aus Harvard, wo sie sich auf einer Studentenparty kennengelernt und ineinander verliebt haben.

Vor ein paar Tagen hat Dad gesagt, dass er Mom damals einen Stuhl gebracht hat, weil er um ihre Füße besorgt war. »Sie hatte diese merkwürdigen Schuhe mit auffallend dicken Sohlen an, weshalb ich angenommen habe, sie hätte die gleiche schmerzhafte Krankheit wie mein Großonkel«, erzählte er. »Der musste auch immer so klobige Schuhe tragen.«

»Das waren total angesagte Plateausohlen«, schnaubte Mom. »Die hatte ich mir gekauft, um größer zu wirken.«

Ich hörte den beiden mit leuchtenden Augen zu, weil ich von diesen Geschichten gar nicht genug bekomme.

Dad lachte leise. »Ja. Du hast ziemlich beleidigt reagiert.«

»Ich fand es extrem unhöflich von dir, mir zu unterstellen, ich hätte Klumpfüße. Außerdem hast du mich ansonsten kaum eines Blickes gewürdigt.« Obwohl Mom empört tat, lächelte sie verzückt und beugte sich ihm entgegen, als wäre sie ein von einem Magneten angezogener Eisenspan.

»Ich wollte nicht unhöflich sein und dich anstarren. In Wahrheit fand ich dich unendlich … faszinierend«, sagte Dad, und ich sah seinem Blick an, dass sich daran bis jetzt nichts geändert hat.

Für mich sind solche Momente wie Salbe auf der Wunde, die ich schon mein Leben lang mit mir herumtrage. Ich muss an das Familienbild denken, das wir in der zweiten Klasse malen sollten. Meins zeigte Mom und mich und einen undefinierbaren lila Fleck – meinen Vater. Als ich vor ein paar Monaten nach Japan kam, dachte ich, es würde reichen, ihn kennenzulernen, aber das war ein Irrtum. Ich will uns drei zusammen – für immer. Ich will die komplette Familie.

Seit gestern spüre ich das Pochen dieser Wunde wieder ganz besonders deutlich. Mom hat ihr Ticket gebucht. In fünf Tagen fliegt sie nach Mount Shasta zurück. Sie unterrichtet am College of the Siskiyous Biologie mit Schwerpunkt Botanik und wird zu Semesterbeginn dort erwartet. Noch versuche ich, jeden Gedanken an ihre Abreise zu verdrängen. Daran, wie sehr ich sie vermissen werde. Wie sehr Dad sie vermissen wird.

Während ich versuche, diese düsteren Gedanken wegzuschieben, leuchten Moms Augen plötzlich auf. »Akio!«, ruft sie mit unüberhörbarer Erleichterung in der Stimme. »Da bist du ja! Endlich! Wie schön, dich zu sehen.«

Ich drehe mich um und nehme den Anblick, der sich mir bietet, in stummer Andacht in mich auf: Vom anderen Ende des Flurs her nähern sich ein Meter fünfundachtzig pure Lässigkeit und Perfektion. Breite Schultern. Wangenknochen wie aus Marmor gemeißelt. Warme, schokotrüffelbraune Augen, die bis tief in meine Seele blicken. Ein japanisches Gesamtkunstwerk namens Akio. Sein Lieblingsfilm ist Stirb Langsam. Er liest fast nur Sachbücher zum Thema Luftfahrt. Falls er später mal einen Garten hat, wird er bestimmt alle Grashalme auf exakt zehn Zentimeter Länge stutzen. Schmacht. Ich kann es mir selbst nicht so richtig erklären, aber ich finde diese Kombi einfach absolut unwiderstehlich. Bis vor einiger Zeit war Akio mein Bodyguard, jetzt ist er nur noch: mein.

Gggrrrrrr.

Tamagotchi bleckt die Zähne.

Sein Hass auf Akio ist genauso groß wie meine Liebe zu Akio. Moment mal … Liebe? Ist es Liebe? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er mir viel bedeutet und dass ich ihn wahnsinnig mag. Dass ich mich bei ihm wohlfühle, sicher und aufgehoben. Ganz egal, wo ich bin oder was ich gerade mache, zieht es mich wie einen menschlichen Bumerang zu ihm zurück. Ist das schon Liebe?

Tamagotchi sträubt die Nackenhaare und macht sich zum Angriff bereit.

Akio verengt die Augen.

»Schsch! Tamagotchi!« Mom bückt sich schnell nach ihm und hebt ihn hoch. »Böser Hund!«, tadelt sie ihn mit zuckersüßer Stimme. Sich windend versucht er, sich zu befreien, aber ihr Griff ist eisern.

Akio verbeugt sich. »Ms Tanaka.« Dann richtet er sich ganz langsam wieder auf und kommt in Zeitlupe auf mich zu, um die Bestie nicht weiter zu reizen.

»Schön, schön, schön. Gut, dass du da bist, Akio, dann gehe ich jetzt auch mal«, sagt Mom mit gekünsteltem Lachen. »Viel Spaß euch beiden!« Sie wirbelt herum und verschwindet mit Tamagotchi im Arm eilig um die Ecke in Richtung von Dads Gemächern.

Akio bleibt vor mir stehen. »Bist du sicher, dass euer Hund gegen Tollwut geimpft ist? Und ist mit deiner Mutter alles okay?«

»Tamagotchi ist geimpft und Mom geht es bestens.« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, halte mich am Revers seines Jacketts fest und gebe ihm einen Kuss. Normalerweise läuft Akio ganz normal in Jeans und Shirts rum, aber wenn er in den Palast kommt, zieht er sich immer ein Jackett über.

Ich schiebe ihn ungeduldig in meine Suite an der schwarz lackierten, mit vergoldeten Chrysanthemen dekorierten Kommode vorbei, auf der ein paar gerahmte Erinnerungen stehen. Unter anderem ein Foto der Asian Girl Gang aus der achten Klasse. Hansani lächelt mit Zahnspangen-Mund, wir sind alle vier von Kopf bis Fuß komplett im Denim-Look eingekleidet und ich habe – superpeinlich, ja – eine Dauerwelle. Im Rahmen daneben steckt ein waka, ein Gedicht, das Akio für mich geschrieben hat.

Jetzt begreif ich,trotz Regen und Graupel

seh ich klar.

Mein Glaube an die Liebe schien verloren,

bis ich die Blätter fallen sah.

Wir tauschen öfter selbst geschriebene Gedichte aus. Ich muss innerlich immer lachen, wenn ich daran zurückdenke, dass wir am Anfang Todfeinde waren. Ich fand Akio so was von unsympathisch, weil er immer vampirmäßig eiskalt geguckt hat, jede Verzögerung im Zeitplan als persönliche Beleidigung auffasste und unverschämterweise auch noch zwanzig Zentimeter größer war als ich.

Aber irgendwie haben wir uns dann doch ineinander verliebt und ich finde, dass wir ein ziemlich cooles Paar abgeben. Die Mischung aus etwas verpeilter Prinzessin und knurrigem Ex-Leibwächter Schrägstrich zukünftigem Piloten, der seinen weichen Kern nur denen zeigt, die ihm am nächsten stehen, hat was.

Ich hauche Akio einen Kuss aufs Kinn, zwinkere und flüstere dramatisch: »Sag, bist du gekommen, um mir die Kleider vom Leib zu reißen und dich an mir zu vergehen?«

Akio betrachtet mich mit flammendem Blick und nickt zum Panoramafenster. »Während Reina uns zusieht?« Die Frau im schwarzen Anzug, die unten im Park steht und ihren Adlerblick schweifen lässt, ist meine neue Leibwächterin. Sie hat mir erzählt, dass sie einen Angreifer mal mit seinem eigenem Pferdeschwanz bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hat. Deswegen trägt sie selbst ihre Haare kurz.

Ich runzle die Stirn. »Äh, sexy Vorstellung, aber … dann lieber doch nicht.« Zu dumm, dass ich nicht vorausschauenderweise die Vorhänge zugezogen habe. Mit bedauerndem Seufzen gehe ich zu dem kleinen Tisch am Fenster, auf dem ein Go-Spielbrett aufgebaut ist, und stütze mich auf die Rückenlehne eines der beiden Stühle. »Revanche?«

Akios Mundwinkel kräuseln sich zu einem Lächeln. »Ich nehme die Herausforderung an.« Er schüttelt sich das Jackett von den Schultern und legt den Inhalt seiner Taschen neben das Spielbrett. Handy. Schlüsselbund. Portemonnaie.

»Ich fange an.« Ich setze mich und ziehe die geschnitzte Holzschale mit den schwarzen Steinen zu mir heran.

Akio neigt den Kopf und greift nach der Schale mit den weißen Steinen. »Sowieso. Wer die letzte Partie verloren hat, darf die nächste eröffnen.«

Ich habe – bis jetzt – noch nie gegen ihn gewonnen. Dabei saßen wir in den vergangenen Wochen viele Sommerabende hier an diesem Tisch und haben um die territoriale Vormacht gekämpft. In Akios dunklen Augen lag immer ein genüssliches Glitzern, wenn er seine Strategie plante, und Triumph, wenn er gewonnen hatte. Aber heute wird seine Schreckensherrschaft enden, denn ich will Blut sehen.

Als er die Ärmel seines Hemds hochkrempelt, bewundere ich verstohlen die Venen, die sich auf seinen muskulösen Unterarmen abzeichnen. »Musik?«, fragt er und scrollt durch sein Handy.

»Solange du versprichst, nicht mitzusingen.«

Akio hat eine tiefe, melodische Stimme, aber wenn er singt, hört es sich an wie eine Mischung aus röhrendem Seelöwen und kreischender Möwe.

»Ich kann nichts versprechen.« Er grinst.

»Dann lieber keine Musik.«

Er nickt. »Ist vielleicht besser so.«

Ich beginne das Spiel mit einem kühnen Eröffnungszug. Akio reibt einen seiner weißen Spielsteine zwischen den Fingern. »Du gehst gleich zum Angriff über«, murmelt er. 

»Weniger reden, mehr spielen«, kontere ich.

Er schnalzt mit der Zunge, aber seine Augen funkeln belustigt. »Verstehe. Heute machst du Ernst.«

Innerhalb von acht Zügen habe ich zwei Steine von Akio einkassiert und von seiner Entspanntheit ist nicht mehr viel übrig. Mit düsterem Blick und einer steilen Falte zwischen den Augenbrauen beugt er sich über das Brett. Ein Samurai, der einen Umsturz plant. Nach sechs Zügen hat er fünf von meinen Steinen gefangen genommen.

Doch mein Kampfgeist ist ungebrochen. »Bist du sicher, dass das ein kluger Zug war?«, stichle ich. »Ich weiß genau, was du vorhast, und rate dir davon ab, mein Lieber. Ganz, ganz schlechte Idee.« Unsere Spieltaktik könnte nicht unterschiedlicher sein. Akio setzt seine Steine nüchtern und methodisch, ich entscheide aus dem Bauch heraus und spiele auf volles Risiko.

Eineinhalb Stunden später ist die Schlacht beendet: 24:23 für Schwarz. Ein knapper Sieg für mich. Ich grinse so breit, dass mir die Mundwinkel wehtun.

»Mairimashita«, verkündet Akio und neigt den Kopf. Ich habe verloren.

Ich akzeptiere seine Niederlage großzügig. »Arigatō gozaimashita«, bedanke ich mich.

Er nickt. »Arigatō gozaimashita.« Erst nachdem wir genug Höflichkeiten ausgetauscht haben, lehnt er sich mit verblüfftem Gesichtsausdruck in seinem Stuhl zurück, offensichtlich versteht er die Welt nicht mehr.

Ich schiebe mitfühlend die Unterlippe vor, gehe zu ihm, setze mich auf seinen Schoß und schlinge ihm die Arme um den Nacken. »Tut mir leid. Ich weiß, wie gerne du gewinnst.«

Akio legt die Hände um meine Taille. »Stimmt«, sagt er und streicht mit den Daumen über meine Hüfte. »Aber ich mag es noch lieber, wenn du gewinnst.«

Ich hole tief Luft. »Was für eine perfekte Antwort!«

Er betrachtet mich liebevoll. »Ach, Rettich.«

Mittlerweile mag ich es, wenn er mich so nennt. Ursprünglich hatte er mir Rettich als Codenamen für den Funk der Palastpolizei verpasst. Ich dachte ziemlich lange, er würde sich damit über mich lustig machen, weil mir der Koch eines Flughafenrestaurants bei meiner Ankunft in Japan eine aus einem Rettich geschnitzte Chrysantheme überreicht hatte. Irgendwann sagte ich Akio, dass ich diesen Spitznamen hasste, worauf er mir tief in die Augen sah und behauptete, Rettich sei ein wirklich tolles Gemüse. Ich mag ihn. Sogar sehr, hat er gesagt. Jetzt sieht er mich genauso intensiv an wie damals, dann schaut er kurz zum Fenster. »Reina ist jetzt übrigens weg«, raunt er.

Wir neigen uns einander zu, und plötzlich wird es ganz still im Raum, aber diese Stille ist aufgeladen wie die Atmosphäre kurz vor einem Gewitter. Und dann beugt Akio sich noch näher zu mir, seine Nase streift meine und meine Lippen werden ganz weich und öffnen sich sehnsüchtig. Ich bin bereit. Wenn ich in Akios Nähe bin, steigt meine Körpertemperatur immer automatisch an. Wir sind wie zwei Atomkerne, die unaufhaltsam aufeinander zustreben, um zu verschmelzen.

Im Hochsommer treffen sich immer so Hardcore-Hippies – die Rainbow Gatherers – in meiner Heimatstadt Mount Shasta, die nackt in der Sonne rumlaufen und sich Blumen ins Haar flechten. Aber das ist total harmlos gegen das, was hier gerade passiert. Der wahre Summer of Love findet dieses Jahr eindeutig in Tokyo statt.

2

Am nächsten Vormittag trifft die Kronprinzenfamilie in Begleitung diverser Mitglieder des Hofstaats auf dem Campus der Universität Tokyo ein, wo um Punkt elf der Rundgang beginnt. Rechts neben mir geht Herr Fuchigami, links ein Student, der ausgewählt wurde, um uns herumzuführen. Er sieht zwar blutjung aus, hat aber schon fertig studiert und schreibt gerade an seiner Doktorarbeit. Dahinter folgen meine Mom und mein Dad, Dads Stallmeister, sein Kammerherr, der Studiendekan und dessen Assistent, dazu Reina und eine Abordnung der Palastpolizei. Wir sind eine ziemlich große Truppe. Akio, den ich zur seelischen Unterstützung mitgebracht habe, bildet das Schlusslicht.

Während unser Zug dem Doktoranden über das Unigelände folgt, erklärt er uns, welche Fakultäten und Institutionen in den einzelnen Gebäuden untergebracht sind, die aus den unterschiedlichsten Architekturepochen stammen. Irgendwann kommen wir zu einem Studentenheim. »Ach? So modern wohnen die Studenten hier?« Mein Kammerherr kann vor Begeisterung kaum an sich halten. »Das ist ja fabelhaft! Wirklich fabelhaft. Finden Sie nicht auch, Eure Hoheit?«

Ich lächle milde. »Ganz toll, ja.«

Drinnen steigen wir in den einen Aufzug, meine Eltern in den anderen. Nicht, weil wir zu schwer wären, sondern weil es anscheinend irgendeine Bestimmung gibt, dass zwei Mitglieder des Kaiserhauses nicht im selben Aufzug fahren dürfen, weil sonst beide tot sind, falls ein Stahlseil reißt. Reina und Akio fahren bei uns mit.

Auf dem Weg nach oben schwärmt der Doktorand von den vielen Freizeitmöglichkeiten, die den Studierenden hier geboten werden – Kennenlernpartys, Karaoke-Abende und natürlich diverse Vereinigungen, in denen man sich engagieren kann. »Während meines Bachelorstudiums war ich im Flaggen-Club«, verrät er uns lächelnd. »Die Mitglieder hissen die Flaggen der verschiedenen Nationen, die vor dem Hauptgebäude wehen. Wir sind schon ein verrückter Haufen gewesen.« Er kichert. »In meinem letzten Jahr haben wir beschlossen, auch fiktionale Flaggen zuzulassen, wie die von der Sternenflotte.« Als ich ihn ratlos ansehe, sagt er: »Star Trek? Ich bin ganz großer Fan.«

Akio hustet in seine Faust, und ich sehe, wie Reina den Blick senkt und sich das Lachen verbeißt.

Herrn Fuchigamis Augen funkeln. »Was es nicht alles gibt. Fabelhaft!«

Oben angekommen vereinen wir uns wieder mit dem Rest der Gruppe und werden einen engen Flur entlanggeführt. Vor einem Wohnheimzimmer lässt uns der Doktorand anhalten.

»Moment«, zischt Reina. Sie stößt die offene Tür mit einer Schulter auf und stürmt in den Raum. Ich lächle den Doktoranden an, als wäre das alles total normal. »Akio-san?« Reina winkt ihn zu sich, und die beiden nehmen jeden Zentimeter des Minizimmers unter die Lupe, inspizieren den Wandschrank, knipsen das Deckenlicht an und aus und untersuchen das Türschloss.

Sie besprechen die Sicherheitslage – Betonwände und doppelt verglaste Fensterscheiben: gut. Kein kugelsicheres Glas: schlecht. Mom und Dad sehen lächelnd zu.

Akio hält die Tür am Knauf fest und klopft auf das Holz. »Pressspan. Innen hohl«, murmelt er.

Reina nickt besorgt und streicht mit einem ihrer manikürten Fingernägel über das Kunststofffurnier. »Einen Eindringling hält die nicht ab.«

Akio mahlt mit dem Kiefer, verengt die Augen und deutet auf unseren Tourguide. »Wie viele Einbrüche gab es hier letztes Jahr?«

»Das weiß ich gerade nicht«, gesteht der Doktorand und wirkt nervös. »Da müsste ich nachfragen.«

»Was ist mit Vorfällen, die der Polizei gemeldet wurden?«, erkundigt sich Reina.

»Äh, weiß ich leider auch nicht.« Er läuft rot an wie die Cherrytomaten, die wir in unserem Garten in Mount Shasta immer angepflanzt haben.

»Wie sieht es mit Wachpersonal aus?«, fragt Akio.

Er und Reina starren den Doktoranden abwartend an, der unter ihrem Mörderblick immer kleiner wird, während er um eine Antwort ringt.

Stille. Es hat ihm wohl die Sprache verschlagen.

Der Dekan tritt vor und hebt beruhigend die Hände. »Unser Campus ist sehr gut gesichert, in dieser Hinsicht müssen Sie sich keine Sorgen machen.«

»Ich hätte trotzdem gern konkrete Informationen«, sagt mein Vater, in dessen Stimme Jahrhunderte kaiserlicher Autorität mitschwingen.

Oh mein Gott. Ich schließe kurz die Augen. Als ich sie wieder öffne, verbeugt sich der Dekan tief. »Selbstverständlich, Eure Kaiserliche Hoheit. Ich werde Ihnen die genauen Zahlen heute Nachmittag zukommen lassen«, sagt er unterwürfig.

»Sollte sich die Prinzessin entscheiden, hier zu studieren, arrangieren wir ein Treffen der Kaiserlichen Palastwache mit dem Uni-Sicherheitsdienst und der Polizei«, verkündet Reina. »Für die Bewachung der Prinzessin selbst sorgen unsere Personenschützer, uns liegt aber daran, so eng wie möglich mit den örtlichen Kräften zusammenzuarbeiten.«

Der Dekan neigt den Kopf und verspricht, dass sämtliche Wünsche des Kaiserhauses erfüllt werden. »Falls Sie sich für ein Studium an der Universität Tokyo entscheiden sollten, Eure Kaiserliche Hoheit«, wendet er sich an mich, »wird das für Sie so etwas wie eine Heimkehr bedeuten. Schließlich haben sowohl Ihr Vater als auch Ihr Großvater bei uns studiert. Ich gehe davon aus, dass Sie die Familientradition fortsetzen wollen?«

Tief durchatmen, Izzie. Ich klebe mir ein Lächeln ins Gesicht, verschränke die Hände und neige den Kopf. »Es wäre mir eine Ehre«, sage ich mit klarer Stimme, obwohl sich in mir alles zusammenzieht.

Der Dekan lädt mich ein, mich nach Belieben umzusehen, und beginnt dann eine Unterhaltung mit meinen Eltern.

Ich gehe in dem schlauchförmigen Raum auf und ab. In der Luft liegt ein muffiger Geruch, den ich nicht ganz einordnen kann. Ungewaschene Kleidung und angebranntes Essen vielleicht. Ansonsten sieht es hier aus wie in allen Wohnheimzimmern – schmaler Wandschrank, Bett und Schreibtisch.

Allerdings wurde es für meinen Besuch vorbereitet. An der Wand hängt ein Willkommensbanner, auf dem Tisch liegen Broschüren der verschiedenen Studienfächer – von abseitig bis harmlos ist alles dabei. Mein Vater hat seinen Magister damals mit einer Arbeit über das Verkehrswesen im Mittelalter gemacht.

Die Mitglieder des Kaiserhauses dürfen weder kontroverse Fächer wie Politikwissenschaften belegen noch etwas, das sich später beruflich nutzen ließe. Uns ist es nicht erlaubt, Geld zu verdienen. Ich dürfte noch nicht mal Medizin studieren wie Noora, Pharmazie wie Glory oder Jura mit Schwerpunkt Umweltrecht wie Hansani, um später unentgeltlich für eine gemeinnützige Organisation zu arbeiten. Prinzessin ist ein Beruf für sich. Mir wird übel, als ich begreife, was wirklich auf mich zukommt, wenn ich diesen Pfad einschlage. Die Einschränkungen. Die hohen Erwartungen.

Ich stelle mich ans Fenster, halte den dünnen Vorhang zur Seite und schaue auf die vielen Studierenden hinunter, die zielstrebig über den Campus eilen. Werde ich in den nächsten vier Jahren eine von ihnen sein? Will ich das? Ich könnte mir ja stattdessen wirklich erst mal eine einjährige Auszeit nehmen und in die USA zurückkehren. Aber was würde ich dort machen?

»Rein aus Neugier …« Akio stellt sich neben mich. »Hast du immer noch was dagegen, über dein Handy geortet zu werden?«

Ich lasse den Vorhang los. »Diese Frage würdige ich noch nicht mal mit einer Antwort.«

Als er noch mein Bodyguard war, hat er mir irgendwann gestanden, dass in mein Handy ein Tracker eingebaut wurde. Für mich ein absolutes No-Go, egal wie sehr das bei der Palastpolizei vielleicht üblich ist. Ich habe ihn gezwungen, das Ding auszubauen. Meine persönliche Freiheit ist mir das Allerwichtigste und ich verteidige sie notfalls bis zum letzten Blutstropfen.

Er verzieht besorgt das Gesicht. »Ein Nahkampftraining hast du in letzter Zeit auch nicht gemacht, oder?«

Ich lache laut auf und alle hören schlagartig auf zu reden. Als ich in den Flur hinausgehe, werde ich mit Fragen bombardiert. Mom: Worüber hast du eben so gelacht? Dad: Gefällt dir das Zimmer? Der Studiendekan: Könnten Sie sich vorstellen, an unserer Universität zu studieren, Eure Hoheit? Herr Fuchigami: Ich habe die ausgefüllten Bewerbungsunterlagen zufälligerweise hier. Sie müssen nur noch unterschreiben.

Ich habe das Gefühl zu ersticken.

»Gerade hab ich in einer Broschüre gelesen, dass das neue Gebäude der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät die höchste LEED-Zertifizierung bekommen hat, weil es so klimafreundlich und nachhaltig gebaut ist«, sage ich zu Mom. »Der Regenwasserspeicher auf dem Dach deckt siebzig Prozent des gesamten Wasserbedarfs. Willst du dir das nicht mal anschauen?«

Ihre Augen leuchten auf und mein Vater strahlt.

Für meine Mutter ist Nachhaltigkeit das Größte, und es ist ganz offensichtlich, dass für meinen Vater meine Mutter das Größte ist.

»Wahnsinnig gern, aber …« Sie sieht mich zweifelnd an. »Soll ich wirklich? Was meinst du, Mak?« Sie schaut meinen Vater an, der den Dekan anschaut, der sich verbeugt.

»Aber natürlich. Selbstverständlich«, sagt er. »Ich muss mich dafür entschuldigen, dass wir eine Besichtigung des Gebäudes nicht von vornherein eingeplant haben. Bitte hier entlang.« Er geht voran, Mom und Dad ihm hinterher.

»Bist du wirklich sicher, dass es für dich okay ist, wenn wir dich allein lassen, Zoom-Zoom?«, fragt Mom mich über ihre Schulter. Sie ist schon fast am Aufzug.

Ich nicke eindringlich. Geht!

Und das tun sie. Der Doktorand, Reina und ein paar Sicherheitskräfte bleiben im Flur stehen. Ich kehre zu Akio ins Zimmer zurück und nicke ihm zu, worauf er die Tür hinter uns schließt. Sobald wir allein sind, lässt der Druck hinter meinen Schläfen etwas nach. Ans Fenster gelehnt, atme ich die miefige Luft tief ein und aus.

Akio stellt sich neben mich. »Und? Was denkst du?«, fragt er leise und sieht mich forschend an.

Ich seufze. Setzt er mich jetzt etwa auch noch unter Druck? Alle erwarten von mir, dass ich möglichst bald eine Entscheidung treffe, mein Leben durchplane. Aber wie will ich überhaupt leben? Wo will ich leben? In Mount Shasta gab es in meinem Leben und in den Büchern, Filmen und Videospielen nur wenige asiatischstämmige Mädchen. Und wenn, waren sie wandelnde Klischees – überragend in Mathe, ehrgeizig, fleißig und angepasst. Mit mir selbst hatten diese Abziehbilder kaum etwas zu tun. Hier in Japan hat sich mein Horizont erweitert und außerdem bekomme ich jeden Wunsch erfüllt – ich muss ihn nur äußern. Gleichzeitig gibt es Regeln, an die ich mich halten muss. Prinzessinnenregeln, die besagen, was ich tun darf und was nicht. Oder ist es so, dass man im Leben zwangsläufig immer irgendwann an Grenzen stößt? Gehört diese Erkenntnis zum Erwachsenwerden dazu?

»Du schwitzt. Ist dir heiß?« Akio hält mir ein Taschentuch hin, aber ich schüttle den Kopf.

»Akio …« Ich schaue zum Bett. Auf der nackten Matratze klebt noch das Preisschild. »Hast du immer schon gewusst, dass du Pilot werden willst?«

Er überlegt. »Na ja, mit fünf wollte ich noch ein Tyrannosaurus Rex werden. Aber als mein Vater mir das erste Modellflugzeug geschenkt hat, stand mein Entschluss fest.«

Ich denke an Akios Jugendzimmer, in dem noch heute überall Flugzeugmodelle rumstehen. Er ist zwar nicht den direktesten Weg gegangen, aber sein Ziel hat er trotzdem erreicht.

»Was wolltest du denn als Kind werden?«, fragt er.

»Einmal habe ich eine ganze Woche lang so getan, als wäre ich ein Becher Sour Cream.« Die Erinnerung bringt mich – und Akio – zum Lachen. »Ehrlich gesagt weiß ich das bis heute noch nicht. Eigentlich hab ich nur ein Talent. Ich esse und trinke gerne und gut.« Das soll ein Witz sein, aber er zündet nicht so wirklich. Ich seufze.

»Vielleicht könntest du ja damit anfangen, dir zu überlegen, was du auf gar keinen Fall studieren möchtest.« Akio greift nach einer der Broschüren, blättert darin und hält sie mir dann hin. »Hier. Muscheln zum Beispiel. Ein wahnsinnig faszinierendes Themengebiet, obwohl die Forschungsobjekte ziemlich verschlossen sein können.« Er wippt auf den Fersen und grinst.

Ich schüttle den Kopf. »Nein danke.« Gott, ich kann noch nicht mal über einen echt guten Witz lachen.

»Sicher nicht?« Akio sieht mich mit hochgezogener Braue an. »Ich glaube, einer deiner Großonkel hat eine Doktorarbeit über Seeigel geschrieben.«

Ich schüttle müde den Kopf und Akio legt die Broschüre weg.

»Hey, läuft doch. Ein Studienfach können wir schon mal abhaken.« Er greift zur nächsten Broschüre. »Okay, dann vielleicht Ägyptologie? Das Seminar ›Babylonische Magie und Heilkunde‹ klingt spannend.«

»Zu viele Flüche und Mumien.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Er schlägt sie zu und wirft sie zu der anderen. »Ah, aber jetzt hab ich was für dich. Hättest du vielleicht Lust zu lernen, wie man Leichen präpariert?«

»So ein Studienfach gibt es nicht!« Ich reiße ihm die Broschüre aus der Hand und sehe, dass sie vom Fachbereich Anglistik ist.

Akio zuckt mit den Schultern. »Du musst nur rausfinden, wo deine Neigungen liegen.«

Ich verziehe ratlos das Gesicht. »Meine Neigungen?«

»Ach, Rettich.« Akios Stimme ist tief und warm wie Samt, der über meine Haut streicht. Er greift nach meiner Hand und drückt sie kurz, bevor er wieder loslässt. Eine flüchtige und zugleich tröstliche Berührung.

»Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt studieren will«, sage ich mit vorgeschobener Unterlippe.

Akio lächelt. »Das wirst du schon noch rausfinden. Ich glaube an dich. Hör auf dein Herz.«

Er hat mir mal gesagt, er finde es gut, dass ich immer mit dem Herzen entscheide. Und tatsächlich hat mein Instinkt mich noch nie im Stich gelassen. Aber was will mein Herz? Wo strebt es hin?

Etwa eine Stunde später ist unsere Besichtigungstour beendet, und wir warten, von einer Horde von Personenschützern umringt, vor dem Gebäude der Wirtschaftswissenschaften auf meine Eltern. Mir tun die Füße weh. Meinetwegen können wir nach Hause fahren.

»Wie ist das mit Ihnen, Kobayashi-san?«, fragt der Doktorand Akio. »Interessieren Sie sich auch für ein Studium hier an der Universität?«

»Ich? Nein.« Akio knöpft sich sein Jackett zu und lässt den Blick über das Unigelände schweifen. »Ich habe meine Stelle bei der Palastpolizei gekündigt, um zu den Luftselbstverteidigungsstreitkräften zu gehen. Bald beginne ich meine Ausbildung zum Piloten an der Offiziersschule in Nara.«

Wenn Mom in die USA zurückfliegt, wird auch Akio aus Tokyo weggehen. Das ist natürlich doppelt hart für mich. Mir steht ein ziemlich einsamer Herbst bevor.

Der Doktorand verzieht enttäuscht den Mund. »Dann stimmt es also, was in der Boulevardpresse steht. Sie sind erst mal bloß Kadett?«

Ich krümme mich innerlich. Meint er das ernst?

»Ja, genau. Bloß Kadett«, sagt Akio gleichmütig.

Meine Eltern kommen aus dem Gebäude und sofort rattern die Kameras los, Blitzlichter leuchten auf und wir werden von Schaulustigen umringt. Mein Vater und ich gehen ein Stück zur Seite, um uns zusammen fotografieren zu lassen und die Fans des Kaiserhauses von Mom und Akio abzulenken. Journalisten bestürmen uns mit Fragen: Prinzessin Izumi, haben Sie schon die Bewerbungsunterlagen für die Universität von Tokyo ausgefüllt? Kronprinz Toshihito, freuen Sie sich darüber, dass Ihre Tochter an derselben Uni studieren wird wie Sie selbst?

Wir geben keine Kommentare ab.

»Ich freue mich vor allem, dass wir beide mal einen Moment allein haben«, sagt Dad so leise, dass nur ich es hören kann.

»Ach ja?« Ich lächle und winke einer jungen Frau, die ihren kleinen Sohn im Argyle-Karopulli hochhält. Als sie nach seinem pummeligen Ärmchen greift und so tut, als würde er zurückwinken, verzieht er das Gesicht und lässt einen empörten Schrei los. Völlig zu Recht, wie ich finde.

»Ich habe beschlossen, deine Mutter zu fragen, ob sie mich heiraten will«, sagt Dad plötzlich.

Ich lasse die Hand sinken und starre ihn mit offenem Mund an. »Echt jetzt?« Um uns herum klickt und blitzt es weiter.

»Echt jetzt, ja.« Im Licht der Spätnachmittagssonne funkeln seine dunklen Augen amüsiert. In letzter Zeit klauen meine Eltern aus Spaß gern irgendwelche Ausdrücke von mir – ihr seid cringe, ich bin komplett lost, ich spür voll die seelenlose Leere in mir. Ein bisschen beängstigend, aber irgendwie auch niedlich, dass sie mich als Quelle für ihre Insiderscherze anzapfen.

»Wow. Das geht aber ganz schön schnell«, sage ich. Nach der kurzen Affäre, die meine Eltern als Studenten hatten, vergingen erst mal über achtzehn Jahre, bis sie sich wiedergesehen haben, und jetzt sind sie gerade mal seit ein paar Wochen wieder zusammen. Hofft er, dass sie nicht nach Mount Shasta zurückkehrt, wenn er ihr einen Antrag macht?

Dad sieht mich besorgt an. »Bist du dagegen?«

»Nein, nein, gar nicht«, versichere ich ihm eilig.

Das ist doch eigentlich der Moment, auf den ich immer gewartet habe. Ich wünsche es mir so sehr. Und ich glaube, Mom wünscht es sich auch. Aber ich weiß es nicht mit Bestimmtheit und das macht mir Angst. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie mein Kindergarten-Familienbild in kleine Fetzen zerrissen vom Wind davongeweht wird.

Bevor ich eine Chance habe, etwas zu erklären, sagt Dad: »Vielleicht kommt es dir plötzlich vor, aber das ist es nicht. Jedenfalls nicht für mich. Deine Mutter war jahrelang in meinen Gedanken. Ich habe abgewartet. Und jetzt will ich nicht noch länger warten. Aber …«, er senkt die Stimme, »ich frage sie nur, wenn du uns deinen Segen gibst. In den vergangenen Wochen haben wir wie eine Familie zusammengelebt, es ist mein großer Wunsch, das zu etwas Dauerhaftem zu machen.«

Meiner doch auch! Einer Sache bin ich mir zumindest sicher: Mom liebt Dad und Dad liebt Mom. Daran gibt es nicht den Hauch eines Zweifels. »Natürlich bekommt ihr meinen Segen.«

»Echt jetzt?«, fragt er grinsend.

Ich lege eine Hand auf die Stelle, wo mein Herz auf einmal wild schlägt, weil alles, wonach ich mich gesehnt habe, zum Greifen nah scheint – Liebe, Familie und eine Chance auf ein märchenhaftes Happy End. Gott, ich hoffe so sehr, dass Mom das genauso sieht. Dass sie sich für uns entscheidet. Dass sie in Tokyo bleibt. »Ja, echt.«

»Wunderbar. Dann frage ich sie gleich morgen.«

Wahnsinn. Er verliert wirklich keine Zeit. »Weißt du denn schon, wo du ihr den Antrag machen willst?«, frage ich. »Ich hätte da nämlich eine Idee. Wie wäre es mit dem …«

»… Gewächshaus?«, beendet er meinen Satz.

»Genau.« Als ich mich wieder den Kaiserhausfans und den Paparazzi zuwende, zieht es mir vor lauter Glück die Mundwinkel so sehr auseinander, dass ich meinen Blick auf eine mit Vogelkacke verkleckerte Markise richten muss, um wieder halbwegs würdevoll schauen zu können.

Das Gewächshaus. Dad hat es mir an einem meiner ersten Tage hier gezeigt. Damals wusste ich noch nicht, dass er es für meine Mutter gebaut hat und deswegen auch ihre Lieblingsblumen darin züchtet – Orchideen.

Natürlich will er sie jetzt, wo er sie wiedergefunden hat, so schnell wie möglich heiraten. In seinem Herzen hat die Blume ihrer Liebe nie aufgehört zu blühen.

3

Am nächsten Nachmittag schleiche ich mich in Moms Suite und leere ein Tütchen Hundesnacks in einen ihrer Schuhe. »Glaub mir, Mom, ich tue dir einen Gefallen«, flüstere ich, obwohl sie mich nicht hören kann, weil sie gar nicht hier ist. Ich streiche liebevoll über das vegane Leder der Slipper und verabschiede mich von ihnen. Moms Schuhgeschmack hat sich seit ihrer Studienzeit nicht verbessert.

Dann stecke ich zwei Finger in den Mund und pfeife schrill nach Tamagotchi.

Er kommt um die Ecke gerast, schießt an mir vorbei und sucht schnüffelnd nach der Quelle des künstlichen Speck- und Käsearomas. Ich laufe ins Wohnzimmer, wo meine Mutter auf dem Sofa liegt und ein Buch über Wildkräuter liest, und tue so, als wäre ich total außer Atem: »Mom! Schnell! Tamagotchi hat sich einen von deinen Schuhen geschnappt.«

»Oh Gott!« Sie klappt ihr Buch zu und rennt los.

Ich sehe ihr lächelnd hinterher und gehe dann nach draußen in den Park, wo ich den Weg zum Gewächshaus einschlage. Meine Wangen glühen vor Aufregung. Als ich ankomme, erwartet mich mein Vater schon.

»Wie lief es?«

»Wie geplant. Sie ist jetzt erst mal noch eine Weile abgelenkt.« Mehrere Palastangestellte klettern Leitern rauf und runter und befestigen Lichterketten. »Ich dachte, das wollten wir machen?«, frage ich und streiche über eines der winzigen Birnchen.

»Ich habe ihnen gesagt, dass wir es gern selbst machen würden, aber Herr Soga« – der Großkammerherr – »war der Meinung, es wäre zu riskant für uns, auf Leitern zu steigen.«

Ich zucke mit den Achseln, weil ich daran gewöhnt bin, dass uns der Großkammerherr den Spaß verdirbt. Stattdessen machen wir uns daran, die noch nicht aufgehängten Lichterketten zu entwirren und Laternen aufzustellen. Als wir gerade die letzte Kerze angezündet haben, erscheint ein Trupp von Männern im Smoking mit Instrumentenkoffern – das Kaiserliche Hoforchester. Die Musiker werden sich in einiger Entfernung dezent zwischen den Bäumen postieren und für einen romantischen Hintergrundsound sorgen.

Bald taucht die Abenddämmerung den Park in ihren rötlich-goldenen Schimmer. Romantischer geht es gar nicht mehr. Aber als ich mich aus dem Staub machen will, hält mein Vater mich zurück. »Moment noch, Izumi. Ich habe ein Geschenk für dich.« Er verschwindet im Gewächshaus und kommt mit einem Buch zurück, das er mir hinhält.

»Eintausend Tipps und Tricks für das Studentenleben«, lese ich den Titel laut vor.

Er klopft aufs Cover. »Da stehen unglaublich viele nützliche Informationen drin, die dir helfen werden, ein wesentlich realistischeres Bild vom normalen Unialltag zu bekommen, als ich es damals hatte. Wusstest du zum Beispiel, dass die meisten Studierenden ihre Bücher selbst kaufen? Meine Kammerherren haben immer dafür gesorgt, dass ich sie direkt von den Autoren zugeschickt bekommen habe, mit persönlichen Kommentaren und Widmung.«

Das lasse ich mal unkommentiert so stehen. Er und ich sind wirklich in verschiedenen Welten aufgewachsen. »Wow. Danke.« Ich drücke mir das Buch an die Brust.

»Ich hatte den Eindruck, dass dir die Besichtigungstour gestern Spaß gemacht hat«, sagt er.

Im Laufe der Monate, die ich in Tokyo verbracht habe, habe ich gelernt, die japanischen Kunst, eine Frage zu stellen, ohne sie zu stellen, zu durchschauen. Dads Aussage, dass mir die Tour anscheinend Spaß gemacht hat, bedeutet in der Übersetzung: Denkst du immer noch darüber nach, eine einjährige Auszeit zu nehmen, statt zu studieren? Bitte sag mir, dass du diese Idee verworfen hast, und entscheide dich für eine Universität, damit wir offiziell verkünden können, wo du studieren wirst, und die Kammerherren endlich aufhören, mich zu nerven.

»Ja, stimmt«, sage ich nur. Dad wartet offensichtlich darauf, dass ich noch etwas hinzufüge, aber ich muss ihn enttäuschen. Mein Herz schweigt. Es weiß immer noch nicht, wie es sich entscheiden soll. Vielleicht bedeutet das, dass ich tatsächlich eine Auszeit nehmen sollte. Womöglich brauche ich Abstand von allem, um mich selbst zu finden. Um zu ergründen, wer ich – außer Prinzessin und Mädchen aus Mount Shasta – wirklich bin. Was mich als Mensch ausmacht.

Dad kratzt sich an der Schläfe, wie er es immer tut, wenn er etwas nicht versteht. So wie das merkwürdige Verhalten seiner erst frisch in sein Leben getretenen Teenagertochter. Seine goldene Armbanduhr mit dem Kronen-Logo funkelt in der Abendsonne. »Ich könnte Herrn Fuchigami bitten, für nächste Woche auch noch eine Besichtigung der Gakushūin-Universität zu arrangieren, wenn du möchtest.«

Die Gakushūin-Schulgesellschaft wurde im neunzehnten Jahrhundert gegründet, um die Sprösslinge des japanischen Adels zu unterrichten. Meine Cousinen, die ach-so-perfekten Zwillingsprinzessinnen, haben an der dazugehörigen Uni studiert, aber mit den beiden will ich ungefähr so dringend was zu tun haben, wie ich vom Fotografen des Tokyo Tattler mit am Schuh klebendem Klopapier erwischt werden möchte.

»Bevor ich eine andere Uni besichtige, lasse ich vielleicht lieber erst mal die Eindrücke von gestern sacken.« Ich blättere in dem Buch, das Dad mir geschenkt hat, und hoffe, er merkt mir nicht an, welche Stürme in mir toben.

Manchmal habe ich nach wie vor das Gefühl, nicht wirklich nach Japan zu gehören. Und es stimmt ja auch, dass ich hier immer eine Außenseiterin bleiben werde, weil ich nun mal in den Staaten aufgewachsen bin. Andererseits habe ich mich in Mount Shasta ja auch nie wirklich zugehörig gefühlt. Wo will ich eigentlich leben? »Ich verziehe mich besser mal. Mom wird jeden Moment hier sein.« Bevor Dad nachhaken kann, habe ich mich schon weggedreht und gehe davon.

Auf halber Strecke kommt mir meine Mutter entgegen. »Gib Tamagotchi einen Abschiedskuss«, schnaubt sie. »Morgen kommt er ins Tierheim.«

Strähnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst haben, stehen nach allen Richtungen ab und ihr Shirt ist aus der Jeans gerutscht. Es ist nicht zu übersehen, dass sie in einen Kampf verwickelt war. Ich tippe darauf, dass Tamagotchi gewonnen hat. Er kann gnadenlos sein. »Dann kuschle ich heute Abend noch mal ganz eng mit ihm.« Ich gehe um Mom herum, ziehe ihr das Gummi aus den Haaren, kämme sie mit den Fingern glatt und lege sie um ihre Schultern. Viel besser so. Das Haargummi stecke ich in die Tasche.

»Wo warst du denn auf einmal? Dein Vater hatte angerufen und gesagt, ich soll zum Gewächshaus kommen. Hast du ihn getroffen? Ich bin zu spät dran, weil ich erst noch deinen Hund einfangen musste. Was ist das für ein Buch?«, fragt sie in einem Atemzug. Als ich an die Senior High kam und danach ständig mit den Mädels von der AGG unterwegs war, verwandelte sie sich in eine Schnellfeuerfragenabschussmaschine. Es war echt erstaunlich, wie sie mich innerhalb kürzester Zeit bombardierte, wenn ich ihr beim Rausgehen im Flur begegnete. Wann kommst du heute Abend nach Hause? – Brauchst du irgendwas aus dem Supermarkt? – Wartest du darauf, dass magische Putzfeen dein Zimmer aufräumen?

Ich antworte nur auf die letzte ihrer Fragen. »Ein Geschenk von Dad.« Ich halte das Buch hoch, damit sie den Titel lesen kann. »Wusstet du, dass er seine Unibücher direkt von den Autoren geschickt bekommen hat – mit Kommentaren und persönlicher Widmung?«

Sie reibt sich die Schläfen. »Wusste ich zwar nicht, aber ich glaube es dir sofort.«

Als ich herausgefunden habe, dass mein Vater Kronprinz von Japan ist, hat Mom mir ein bisschen von ihm und ihrer kurzen gemeinsamen Zeit an der Uni erzählt. Mein erster Eindruck von dem Mann, den meine Mutter geliebt hat, sah folgendermaßen aus: Er hatte keine Ahnung, wie man ein Hemd bügelt oder eine Waschmaschine bedient. Er konnte noch nicht mal eine Instantsuppe heiß machen. Er liebte Craft Beer und hat sich durch alle Mikrobrauereien in ganz Cambridge getrunken. Er war witzig. Er hatte einen trockenen Humor und eine Zunge wie ein Skalpell. So spitz, dass man manchmal erst im Nachhinein merkte, dass er sich gerade über einen lustig gemacht hatte.

Ich lächle, sage: »Okay, bis nachher«, und gehe los.

»Moment noch.« Ich bleibe stehen. »Kommt Akio heute Abend?«

»Ja, aber erst später. Vorher trifft er sich noch mit ein paar alten Kumpels von der Palastpolizei.«

»Verstehe.« Sie kaut auf ihrer Unterlippe. »In letzter Zeit war er abends immer ziemlich lang bei dir. Sollen wir noch mal über Verhütung sprechen?«

Mein Blick wird starr. »Was? Nein!« Ganz sicher nicht. Bitte nicht. Nie wieder. Dieses »Gespräch« hat sie vor Jahren mit mir geführt und dazu extra Modelle aus der biologischen Fakultät mit nach Hause gebracht. Es war der pure Horror. Habt ihr schon mal gesehen, wie eure Mutter routiniert einen superrealistischen Plastikpenis betastet? Nein? Ich schon. Es ist definitiv Zeit zu gehen.

»Schön, dass wir uns getroffen haben, aber ich muss los. Außerdem wartet Dad auf dich.« Ich laufe davon wie ein gehetztes Reh und verlangsame meine Schritte erst, als der Palast in Sichtweite kommt.

In der Küche mit dem chromblitzenden französischen Gourmet-Profiherd duftet es köstlich. Ich setze mich an die Theke, auf der ein Teller mit warmen dorayaki steht, nehme mir einen der mit süßer Sojabohnenpaste gefüllten kleinen Pfannkuchen, beiße ab und schaue in den Park hinaus.