Feuerstimmen - Christoph Hardebusch - E-Book

Feuerstimmen E-Book

Christoph Hardebusch

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Beschreibung

Mit dem preisgekrönten Roman »Die Trolle« und der Reihe um die »Sturmwelten« schrieb sich Christoph Hardebusch an die Spitze der deutschsprachigen Fantasy. Mit »Feuerstimmen« führt er alle Fans in eine neue Welt: Seit einer Ewigkeit lag der Schrecken in den Tiefen der Meere verborgen und war von den Menschen fast vergessen. Doch nun ist der fünfte Drache, ein allmächtiges Geschöpf der Finsternis, erwacht. Und er will etwas zu Ende bringen, das ihm vor Jahrhunderten nicht gelungen war: die Welt zu unterjochen. Im Verborgenen wächst die Macht des Drachen, und die Menschen erkennen erst spät, dass sie mehr und mehr zum Spielball der Dunkelheit werden. Während die junge Königin Elena alles versucht, um ihr Volk zu schützen, erfährt der Fischer Aidan, dass er eine ganz besondere Gabe besitzt, die im Kampf gegen den Drachen die entscheidende Rolle spielen könnte - den Gesang der Magie ...

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Für meine Liebe, die mein Herz singen lässt

 

 

 

 

 

ISBN 978-3-492-97319-9

März 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, München, unter Verwendung eines Artworks von Osmar Arroyo

Karte: Timo Kümmel

Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

~ CLASHINGS ON ARMOUR PLATES ~

Of myths and twists

Of fields in mist

Of creatures flying high.

 

Of lands – to find

Of seas – so wide

A mystery by night

And part of a firefly.

PROLOG

Die Harmonie war zerbrochen.

Die Fünf, die einer hätten sein sollen, wurden einander fremd, ein jeder kehrte zu seiner eigenen Natur zurück. Erst als die Boshaftigkeit des Fünften erkannt wurde, formten die Vier ein letztes Mal die Welt. Doch ihre Macht war zu groß, als dass sie ohne Balance entfesselt werden durfte.

Die Harmonie war zerbrochen.

Jedoch die Echos des Weltenlieds können immer noch gehört werden. Und durch dies fanden die Vier ihre Helden, riefen sie an ihre Seite. Die Elemente hätten die Welt zerstört, hätten sie von allem Leben befreit, hätte nicht der Bardenruf ihre furchtbare Macht gezähmt.

Viel war an jenem Tage verloren. Aber die Welt wurde gewonnen. Der Fünfte fiel in die Tiefen der Welt, sein Leib zerschlagen, sein Geist zerbrochen. Aber selbst aus seiner Niederlage erwuchs neue Hoffnung. Acht Lande, gesegnet und verflucht von seiner Macht.

Die Harmonie war zerbrochen.

Und doch kehrte Frieden zurück in die Welt. Der Fünfte besiegt, schwanden die Vier. Das, was einst wild und veränderlich war, wurde fest und hart. Die Geschichte der sterblichen Rassen begann und sie machten sich die Welt untertan, wie es ihnen bestimmt war.

Der Fünfte glitt in Legenden, die Vier wurden Mythen. Sowohl Verrat als auch Opfer wurden zu Geschichten. Sterne, die über den Nachthimmel tanzen.

Aber ich erinnere mich. Denn ich kann die Lieder im Wind hören, in den Wellen, im Knistern der Flammen, aufsteigend aus den Gebeinen der Erde. Was vergessen wurde, kann wiederentdeckt werden. Was verborgen liegt, kann aufgedeckt werden. Was schläft, kann wieder wachen. Und mit ihm all seine Schrecken.

Die Harmonie war zerbrochen.

Und doch überdauern die Lieder. Ich werde von den Fünfen singen, von der Wiederkehr des Fünften, von Finsternis, uralt und unvorstellbar.

Ich werde zu den Herzen der Sterblichen singen. Ich werde singen – mit einer Stimme aus Feuer!

~ DRAGONWAKE ~

Again, I find myself at night,

Falling awake from a dream.

Memories, one-of-a-kind.

Still I wonder who once sowed them

Into my mind and into my life.

Forebodings moving by.

AIDAN

»Enttäuschend.«

Aidan blickte zu Revus hinüber, der stocksteif dastand und verständnislos fragte: »Was ist enttäuschend?«

Aidan wiegte den Kopf hin und her, als sei er selbst unsicher, und ließ die Hände herabsinken.

»Sieh dich doch einfach mal um.«

Beide ließen die Blicke schweifen. Sie reichten nicht weit, denn trotz des hellen Mondlichts waren die Schatten bereits zu tief, um viel zu erkennen. Die staubige kleine Straße, auf der sie Richtung See zogen, kreuzte hier die größere Küstenstraße an den Klippen, bevor sie hinab zu einem der winzigen Fischerdörfchen führte, die die Küste wie Seepocken sprenkelten.

Freundlich ausgedrückt war es eine ruhige Gegend; langweilig, wenn man es weniger freundlich betrachtete, und verlassen, wenn man von düsterem Gemüt war. Und Aidan wurde dieser Tage oft von finsteren Gedanken beherrscht. Bei Tageslicht mochten die Klippen hoch über der windgepeitschten See eine gewisse Romantik ausstrahlen, doch vor allem war die Landschaft karg, der Boden steinig und die Menschen, die diese Gegend ihre Heimat nannten, so zäh und hart wie der Stockfisch, der hier für die langen, kalten Wintermonde eingelagert wurde.

»Ich verstehe nicht ganz, was du meinst«, erklärte Revus langsam, immer noch, ohne sich zu bewegen.

»An einem solchen von allen Göttern verlassenen Ort, einer solchen Kreuzung, wenn es auf Mitternacht zugeht, da erwartet man doch mehr. Du kennst die Geschichten, singst die Lieder. Zumindest einen Dämon?«

»Dämon?«

Jetzt drehte Revus den Kopf doch zu ihm herum, die Stirn in Falten gelegt.

Aidan zwinkerte ihm zu. »Ja, einen Dämon mit einer Fiedel, der einen zu einem Wettkampf herausfordert. Ein Duell der Barden um den ultimativen Preis. Ein großes Lied, das beste, das je gespielt wird. Stattdessen …«

Aidan wies mit einem Nicken auf die Kreuzung.

»Haltet die Klappe«, schnauzte sie der kleine Mann in dem schmierigen Lederwams an, offensichtlich durch die Tatsache ermutigt, dass er eine Armbrust auf Aidans Brust gerichtet hielt. Seine beiden Begleiter hielten lange Klingen in den Fäusten, billiger Stahl, abgewetzt und schmucklos, aber sicher noch immer gut genug, um einen Mann vom Leben zum Tod zu befördern. In ihren bärtigen Gesichtern stand genau jene Absicht in deutlichen Lettern geschrieben.

»Ah, jetzt verstehe ich.« Revus schnalzte mit der Zunge. »Du willst sagen, das Leben ist oft enttäuschender als die Lieder, die es beschreiben.«

»Ich sage nicht, dass da draußen nicht eine verlassene Kreuzung existiert, an der genau in diesem Moment ein verzweifelter Spielmann um Leib und Seele aufspielt, aber diese hier ist …«

»Eine Enttäuschung.«

Sie sahen einander in die Augen, während sie weiterredeten.

»Genau.«

Vertrauen und Verständnis, gewachsen in vielen Jahren unverbrüchlicher Freundschaft, bedurfte nur weniger Worte.

»Ich sagte, haltet die Klappe!«

Der Anführer der Räuberbande stieß mit der Armbrust in Aidans Richtung, was dem die Gelegenheit gab, die Hände in einer scheinbar abwehrenden Geste zu bewegen und sie danach ein Stück tiefer zu halten. Der Mann schien von der Reaktion seiner Opfer verwirrt zu sein; sicherlich hatte das plötzliche Erscheinen dreier Bewaffneter normalerweise eine andere Wirkung auf Reisende, die die Küstenstraße entlangkamen –

»Dies ist ein Überfall«, erklärte er, als sei dieser Umstand bislang nicht erwähnt worden.

»Das sagtest du bereits, als du hinter dem Findling hervorgetreten bist, den du so geschickt als Versteck genutzt hast.«

Aidan wies auf den vom Wind abgeschliffenen Felsen, auf den jemand vor langer Zeit Wegmarken gemalt hatte, die längst so verblasst waren, dass keine Worte oder Symbole mehr zu erkennen waren. Nur noch Flecken aus Farbe, die einst alles geheißen haben mochten. Die Mitte von Nirgendwo, dachte Aidan mit grimmiger Zufriedenheit, das verdammte Ende der Welt.

»Das ist alles deine Schuld«, entfuhr es Revus mit einem Mal so heftig, dass Aidan aus seinen Gedanken gerissen wurde und seinen Freund ansah.

»Meine Schuld?«

Empört schüttelte er den Kopf.

»Natürlich! Du wolltest über Land reisen. Ich habe eine ruhige Passage auf einem Schiff vorgeschlagen, aber der Herr hat ja Angst vor dem Meer und …«

»Eine ruhige Passage?«, griff Aidan die dahingeworfenen Worte auf und zog sie wie ein Tau ein. »Ruhige Passage? Schon mal was von Stürmen gehört? Von Riffen? Von Seeungetümen?«

»Seeungetüme! Pah, so ein Unsinn! Du wolltest bloß nicht seekrank werden wie eine Hafenratte.«

Die drei Banditen schauten ratlos zwischen ihnen hin und her. So ein Schauspiel wurde ihnen wohl nur selten geboten und sie hatten keine Eile, es zu beenden, auch wenn ihr kleiner Anführer immer noch finster dreinblickte.

»Ach ja? Und was ist mit … mit …«

Aidan sah sich Hilfe suchend um. Sein Blick traf auf die drei Straßenräuber und er wies mit einem triumphierenden Ruf auf sie.

»Piraten!«

»Das sind doch keine Piraten«, entgegnete Revus und verdrehte die Augen. »Piraten fahren auf Schiffen und haben Entermesser und Totenkopfflaggen.«

»Ähm … Strandpiraten?« Aidan sah den größten der drei an, einen wahren Hünen von einem Mann, der selbst ihn noch um anderthalb Köpfe überragte. »Ich nehme an, das tut ihr doch auch gelegentlich, oder?«

»Was?«

Der Straßenräuber schien ehrlich verwirrt zu sein. Aidan sah es ihm nach und wandte sich an den Anführer.

»Strandräuberei? Kommt schon, wir haben doch mindestens ein Leuchtfeuer in der Ferne gesehen. Hier auf den Klippen? In dunklen Nächten, bei Sturm und Wind?«

»Es gibt Leuchtfeuer«, bestätigte der Anführer langsam, wie ein Mann, der nicht sicher ist, ob er gerade ein Geständnis ablegt.

»Und Riffe? Gefährliche Untiefen? Bei solch einer Küste, solchen Klippen, da muss es doch …«

»Ja, sicher, deshalb doch die Leuchtfeuer«, fuhr ihm der Anführer ins Wort.

»Na also«, sagte Aidan mit Triumph in der Stimme. »Und sicher schleicht ihr euch in dunklen Nächten dorthin, löscht die Feuer, entzündet euer eigenes, vielleicht unten am Strand, und die Schiffe, die in jenen Nächten vorüberziehen, werden in die Irre gelockt, laufen auf ein Riff und dann …«

Die drei Straßenräuber wechselten verunsicherte Blicke. Das hier lief nicht so, wie sie es erwartet hatten, das war ihnen mittlerweile deutlich anzumerken. Aidan rollte die Augen und konnte nur knapp ein Seufzen unterdrücken.

»Dann müsst ihr am nächsten Morgen nur noch die Reichtümer vom Strand einsammeln«, kam ihm Revus zur Hilfe, der ihm ein schnelles Lächeln zuwarf, das jeden aufmerksamen Beobachter misstrauisch gemacht hätte. Zum Glück waren ihre Gegenüber alles andere als aufmerksam, denn Gerede über Reichtümer hatte zur Folge, Menschen dieses Schlags abzulenken.

»Genau. Und es ist nicht einmal Mord, weil die See schon längst ihren Teil der Arbeit erledigt hat. Einfach nur ein schöner Spaziergang am Strand – und wer mag das nicht? –, bei dem man reich wird – und wer wird nicht gern reich?«

Fast hätte er sehen können, wie in den Köpfen der Straßenräuber aus der kleinen Saat ein Schössling spross, der früher oder später dunkle Früchte tragen würde, die nichts Gutes für die Schifffahrt an dieser Küste bedeuteten.

»Hank hat nie so gute Ideen«, grummelte der Älteste der Straßenräuber, dessen grauer Bart verfilzt war. Seine Nase ragte wie eine Burgruine aus seinem Gesicht hervor. Entweder war er beim Brotschneiden sehr unvorsichtig gewesen oder jemand hatte ihm vor langer Zeit die Nase aufgeschlitzt, vermutlich als Strafe für ein Verbrechen. Aidan war froh, dass das fahle Mondlicht kein genaueres Studium des zerfurchten Gesichts ermöglichte.

»Halt die Klappe«, fauchte der Kleine und funkelte seinen Gefährten wütend an. Dabei wandte sich die Armbrust ein winziges Stück zur Seite, gerade genug, damit sie nicht mehr genau auf Aidan zielte.

»Ist doch so«, sagte der Hüne mit kindlichem Trotz in der Stimme.

Aidan bemerkte, wie auch Revus’ Hände weiter herabsanken, kaum merklich, Stück für Stück.

»Ich wollte das schon längst vorschlagen«, log Hank.

Aidan war überrascht, wie schnell er sich gefangen hatte und nun versuchte, das Blatt zu wenden. Er war gefährlicher, als er zuerst angenommen hatte.

»Aber erst mal müssen wir die beiden hier versorgen.«

Noch während er sprach, wandte er sich wieder Aidan zu und hob die Armbrust. Seine Gefährten kicherten finster, als sei der Satz ein gewaltiger Scherz, was für ihre Gemüter vermutlich sogar der Wahrheit entsprach. In Aidans Ohren klangen die Worte verdächtig wie ihre hübsche Umschreibung für Umbringen und Verscharren, ein Schicksal, dem Aidan trotz allem gern entgehen wollte.

»Habt ihr denn Erfahrung mit Strandräuberei?«

Aidan dachte schnell, sprach aber manchmal noch schneller, was sie schon mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte, ihnen aber auch hin und wieder aus so manchem Schlamassel half.

»Nein«, gestand Hank und legte mit der Armbrust an. »Aber ich lerne schnell.«

»Wir waren drei Jahre bei der Schwarzen Bruderschaft oben im Norden an der, äh, schwarzen Küste«, berichtete Aidan so ruhig, dass jeder annehmen musste, dass er die Wahrheit sprach.

»Ja, die Schwarze Bruderschaft«, warf Revus schnell ein. Sie beide kannten das alte Lied von der Schwarzen Bruderschaft und ihrem Anführer. Nach einigen Strophen voller Raub und Plünderung entpuppte sich der Kapitän als niemand anderer als die Scharlachrote Klinge, eine Piratin von legendärer Schönheit und noch legendärerer Grausamkeit.

 

Klingende Münzen von Silber und Gold,

Schätze wie niemals gesehen

haben wir uns an Bord geholt,

um gleichfort wegzuwehen.

 

Klingende Schwerter aus edelstem Stahl,

härter als Felsengestein,

lassen dir selten die letzte Wahl.

Was dir einst war, ist mein!

 

Klingende Worte wie Winde so flink

eilen uns voraus.

Feier noch einmal, sei glücklich und trink.

Morgen ist es aus!

 

Ihr kennt die Lieder von Wasser und Wind.

Brüder, lasst uns gehen.

Wir lassen sie wissen, wie wir wirklich sind:

scharlachrot und schön.

Offenbar waren sie nicht die Einzigen, die das Lied schon einmal gehört, oder, in ihrem Fall, viele Male vorgetragen hatten.

Aidan stimmte einige Töne an, sang den Refrain von Beute, Gold und Schätzen, der in so vielen Tavernen aus voller Brust mitgegrölt wurde. Fast so inbrünstig wie die Zeilen, in denen die Scharlachrote Klinge eingehender beschrieben und ihre beeindruckenden Taten in der Koje besungen wurden. Das Lied brachte immer gutes Geld ein und jeder Barde, der etwas auf sich hielt, kannte es.

»Ihr … ihr kennt die Klinge?«, fragte der Hüne mit etwas, das wohl ein anzügliches Grinsen sein sollte, aber mehr wie das hoffnungslose Lechzen einer läufigen Hündin wirkte.

»Ho, immer langsam«, erwiderte Aidan. »Kennen ist zu viel gesagt, wir haben nur unter ihr die Weltmeere unsicher gemacht. Obwohl der gute Revus hier einmal eine ganze Nacht in ihrer Kajüte verbracht hat …«

»Nein!«

Revus warf ihm einen gequälten Blick zu, den Aidan mit einem aufmunternden Lächeln quittierte.

»Aber er schweigt darüber.«

»Ja, äh, zu … schmerzhaft?«, bot Revus an, was dem Hünen ein lautes Lachen entlockte.

»Das glaube ich bei dir Winzling sofort«, bellte er in die Nacht. »Ich würde ihr schon zeigen, was ein echter Kerl ist!«

Er schlug sich auf die Brust, sodass es schallend klatschte. Die Klinge in der anderen Hand schien er vergessen zu haben. Hank jedoch nicht.

»Genug mit dem Seemannsgarn«, rief er.

»Kein Seemannsgarn«, erwiderte Aidan. »Aber wenn ihr keine Hilfe bei der Strandpiraterie wollt …«

»Doch, wir sollten …«

»Halt die Klappe!«

»Nein! Reichtümer am Strand einfach einsammeln!«

Die drei Straßenräuber begannen einen lautstarken Streit, der zwar nicht ihre ganze Aufmerksamkeit kostete, wohl aber den Gutteil davon. Aidan blickte zu Revus, der mit den Schultern zuckte. Wenn es um Angriffssignale ging, war ein Schulterzucken wenig bemerkenswert und würde auch sicher nicht in die Annalen der Kriegsführung eingehen, aber in dieser Situation war es ausreichend.

Aidan warf sich zur Seite, die Hände fielen auf die Hefte von Schwert und Dolch. Hank stieß einen Alarmschrei aus, der zwar weitaus beeindruckender war als ein Schulterzucken, aber dennoch zu spät kam. Der Bolzenschuss der Armbrust war hastig und ging dorthin, wo Aidan gerade noch gestanden hatte, sich aber nun nicht mehr befand.

Mit einem Geräusch wie von zerreißender Seide glitten die geölten Klingen aus den Scheiden. Aidan sprang vor und führte das Schwert in einem hohen Bogen. Hank riss die Armbrust empor, empfing den Hieb und die Klinge grub sich in das harte Holz. Doch so öffnete der Straßenräuber sich für den Dolch, den Aidan mit der Linken führte und ihm schnell in die Brust rammte. Hank taumelte zurück, die Armbrust entglitt seinen Fingern, doch Aidans Schwert hatte sich im Holz verbissen und wurde ihm ebenfalls aus der Hand gerissen. Für Siegesfreude war keine Zeit, denn der Vernarbte drang nun auf ihn ein. Nur mit größter Mühe konnte Aidan seinen schnellen, geschickten Hieben ausweichen und er wurde weiter und weiter zurückgedrängt. Sein Gegner wusste, was er tat, war offenkundig erfahren mit der Klinge und hatte mit Aidan einen Gegner vor sich, der nur noch mit einem Dolch bewaffnet war.

»Deserteur?«, brachte Aidan keuchend hervor und wies auf seine eigene Nase. Der Mann brüllte wütend und hieb nach seinem Kopf, doch Aidan zuckte gerade noch rechtzeitig zurück. »Wusst’ ich’s doch.«

»Dein gesprächiges Maul stopfe ich dir schon«, knurrte der Vernarbte und spie auf den Boden. »Du hast deinen letzten Scherz gemacht!«

»Das bezweifle ich«, rief Revus von weiter hinten, der den groben, aber ungemein wuchtigen Angriffen des Hünen auswich, in einer Rolle über den Boden glitt und Aidans Schwert ergriff. Er sprang mit einem triumphierenden »Ha!« auf, nur um festzustellen, dass noch immer die Armbrust an der Klinge hing. Der Hüne röhrte wie ein brünstiger Hirsch und hieb wieder nach ihm, doch Aidan musste weiteren Angriffen des Vernarbten ausweichen und konnte seinen Freund nicht mehr sehen.

»Ich schlitze dich auf wie ein geschlachtetes Schwein«, gab sein Gegner ein ungemütliches Versprechen ab. »Für Hank.«

»Ach, du konntest Hank nie leiden«, warf Aidan ein. »Du bist ein besserer Kämpfer als er und schlauer auch.«

Für einen kurzen Moment hielt der Vernarbte inne und legte den Kopf kurz zur Seite. »Stimmt. Aber es wird mir einfach Spaß machen, dich in Streifen zu schneiden.«

Aidan nutzte den Moment, um seinen Dolch zu schleudern. Die Klinge flog gerade und grub sich in die Schulter des Vernarbten, ließ ihn aufschreien. Eine Handbreit weiter links, und es wäre vorüber gewesen. Eine Handbreit, die über Leben und Tod entschied. So jedoch packte der Mann das Heft mit der freien Hand, zog die Klinge langsam aus seinem Fleisch und sah auf das blutige Metall in seiner Faust hinab.

»So viel Spaß«, sagte er grimmig und hob sein Schwert, dann hielt er inne. »Was denn, kein kluges Wort mehr? Kein Scherz? Deine einzige Waffe weggeworfen, und jetzt? Auch noch die Sprache verloren?«

Aidan holte tief Luft. In ihm kochte die Erinnerung an ein altes Leid empor. Eigentlich hatte er sich geschworen, nie wieder …

Sein Schwert wirbelte durch die Luft, ein silbernes Rad im Mondlicht. Der Vernarbte stürmte auf ihn zu. Aidans Hand fuhr empor, seine Finger fanden schweren Stahl. Er wirbelte herum, Metall schlug auf Metall, kratzte übereinander, dann glitt die Klinge seines überraschten Gegners zur Seite. Aidan jedoch zog einen Bogen nach oben, einen tiefen Schnitt von der Lende bis zur Schulter. Sein Gegner fiel wortlos hintenüber. Noch bevor er am Boden aufschlug, waren seine Augen kalt und leer.

»Nein, keine Sprüche, keine Lieder«, flüsterte Aidan, dann sah er sich schnell um, doch Revus kniete bereits neben dem gefallenen Hünen, in dessen Brust das Schwert seines Freunds fast bis zur Parierstange steckte.

Einige Momente schwiegen sie, dann erhob sich Revus langsam und atmete tief durch.

»Du weißt, dass ich recht hatte, ja? Es ist deine Schuld.«

Sie beide wussten, dass es die Wahrheit war, aber Aidan parierte mit einem Scherz, wie es ihm seit langer Zeit zur Gewohnheit geworden war.

»Du bist nur wütend, weil ich nicht in dem Gasthaus Rast machen wollte, in dem dir die Stallmagd schöne Augen gemacht hat.« Er wischte das Blut vom Schwert und sah sich nach seinem Dolch um.

»Ja, das auch.« Für einen Moment schien es, als wollte Revus noch etwas hinzufügen, aber dann wechselte er das Thema: »Die Schwarze Bruderschaft? Die Scharlachrote Klinge?«

»Erschien mir angemessen, irgendwie passend.«

Revus lachte.

»Weiß denn niemand, dass dieses Lied mehr als zweihundert Jahre alt ist? Und dass die Flotten der gesegneten Inseln die Schwarze Bruderschaft zerschlagen und die Scharlachrote Klinge am Mast ihres eigenen Schiffs aufgehängt haben?«

»Letzte Strophe, Revus, letzte Strophe. Du weißt doch, da ist niemand mehr nüchtern.«

Sie standen nun nebeneinander, sahen sich an.

»Das Schicksal der Barden«, erklärte Revus.

»Das Schicksal der Barden«, bestätigte Aidan, doch in seinem Herzen meinte er etwas ganz anderes als sein alter Freund und Reisegenosse.

Die schmale Straße führte auf das Meer zu. Die andere, die hier kreuzte, verlief nach Norden und Süden, in größere Länder, größere Städte. Dieser Weg jedoch führte lediglich in ein kleines Dorf. Genau richtig.

»Lass uns aufbrechen und die gute Nachricht überbringen, dass die Wege nun sicherer sind. Bestimmt wird irgendjemand gern hierherkommen und diese Schurken beerdigen.«

»Mehr als sie für uns getan hätten«, vermutete Revus und schlug Aidan auf die Schulter. »Gut, lass uns Helden sein.«

Nein, besser nicht, dachte Aidan, nickte aber und folgte seinem Freund auf dem letzten Stück ihres Wegs ans Ende der Welt.

ELENA

Obwohl die Sohlen ihrer Stiefel weich waren, hallten Elenas Schritte durch den hohen Gang. Am liebsten wäre sie gerannt, doch das Wissen um die vielen Augen, die ihrem Weg folgten, ließ sie ihre Geschwindigkeit zügeln. Zumindest soweit dies möglich war.

Die alten Hallen in all ihrer Pracht waren nicht der richtige Ort für unangemessene Eile. Würdevoll erhoben sich die Bögen der prächtigen Räume über den Menschen, formten sich weit über ihren Köpfen zu Spitzen. Roter Marmor, wie es ihn nur auf den Inseln gab, so dunkel und glänzend wie Blut und deshalb auch Blutstein genannt, setzte Akzente in all dem hellen Weiß des restlichen Mauerwerks. Vor allem dort, wo es nicht von hohen Wandteppichen bedeckt wurde, die in kunstvollen Stickereien die Geschichte des Königreichs, der Insel und der gesamten Welt erzählten. Einst hatte Elena viele Stunden hier verbracht und die gewaltigen Drachen bestaunt, deren Majestät von geschickten Fingern in den Stoff gebannt worden war. Jetzt jedoch hatte sie keinen Blick für die Schätze ihres Volks.

Dafür ruhten alle Blicke auf ihr. Die Wachen in ihren zeremoniellen Rüstungen, goldenes Metall mit roten Umhängen in der Farbe des Marmors, zeigten keine Regung hinter den stilisierten Masken ihrer Helme, doch natürlich betrachteten sie den schnellen Lauf ihrer Königin interessiert. Je zwei standen sich in den Wandnischen gegenüber, die Blicke scheinbar ewig aufeinander gerichtet. Durch die Visiere der Helme, die den Köpfen von Adlern nachempfunden waren, sahen sie alle gleich aus, jeden Tag, jede Nacht, auch wenn die Wachen, die die Helme trugen, natürlich wechselten. Es war schwierig, ihnen eine Regung zu entlocken; dies hatte Elena als Kind in einigen Versuchen herausgefunden, bis ihre Mutter es ihr in einer strengen Ermahnung untersagt und sie an den nötigen Respekt jenen Männern und Frauen gegenüber erinnert hatte, die bereit waren, ihr Leben für andere zu geben.

Damals hatte Elena es kaum erwarten können, selbst eines Tages auf dem aus Blutstein geschlagenen Thron zu sitzen, ein Privileg, das sie als ihr Geburtsrecht ansah. Doch inzwischen wusste sie, dass der Thron eine Pflicht war, eine Bürde und dass ihr Aufstieg zur Königin einen tiefen Verlust mit sich bringen musste. Ein Verlust des kleinen Rests Freiheit, den sie als Reguva, als designierte Erbin, noch besessen hatte. Aber dies war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den sie an den Sarkophagen ihrer Eltern empfunden hatte und noch immer in sich spürte, verborgen und vergraben, aber niemals ganz vergessen.

Die Pflicht, das Reich zu lenken und all seinen Bewohnern gerecht zu werden, ließ ihr wenig Zeit für derartige Erinnerungen.

»In der Kleinen Halle«, erinnerte sie Geloras, der junge Sekretär, den sie vor Kurzem in ihren Dienst gerufen hatte, weil seine Familie Hof und Thron seit Generationen treu und gut gedient hatte. Sie wollte ihn anfahren, sie nicht an das zu gemahnen, was sie ohnehin wusste, hielt ihre Gefühle aber im Zaum und nickte nur. Sie musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass ihre zweite Begleiterin, Kaleona, Schwertträgerin der Königin und damit unermüdliche Leibwache, ihr schiefes Grinsen aufgesetzt hatte. Die Kriegerin kannte ihre Königin zu gut. Sie war fast eine Dekade älter als Elena und hatte schon ihrer Mutter als Schwertträgerin gedient, viel jünger in diese Position berufen als all ihre Vorgänger. Ihr Haar war ungewöhnlich für die Bewohner des Reichs, ja der ganzen Inseln: dunkel zwar, aber mit einem Stich ins Rote. Doch es waren ihre Augen, eines von hellem Blau, eines von dunklem Grün, die zu den Legenden beitrugen, dass sie vom Schicksal zu großen Taten ausersehen worden war.

Momentan bestanden diese großen Taten hauptsächlich darin, während der langen Ratssitzungen und vielen Zeremonien das Gähnen zu unterdrücken, während sie hinter Elena stand und eine Aura der Gefahr verbreitete.

»Die Herrin weiß, wo der Rat sie erwartet«, wies Kaleona den neuen Höfling zurecht, als Elena dies nicht tat, bestimmt, aber nicht unfreundlich.

»Natürlich. Ich wollte nicht … ich nahm nicht an …«

Seine Stimme verlor sich, als Elena die Hand hob.

»Besser eine Erinnerung zu viel als eine zu wenig«, sagte sie und warf dann doch einen Seitenblick zu Kaleona, die ihr grimmig zunickte. Er wird es lernen, dachte Elena und sah den Gedanken in der Miene der Frau gespiegelt, die seit Jahren ihre engste Begleiterin war.

Die Mitglieder des Rats waren bereits auf ihren Plätzen, als sie in die Kleine Halle eintrat, ein Name, der dem Raum nur deshalb gerecht wurde, weil die Große Halle von solch gewaltigen Ausmaßen war. Wie überall im Palast der Vier Himmel war die Decke hoch, hier mochten es gut zehn Schritt sein. Fast ebenso hohe, aber sehr schmale Fenster ließen das Licht des Tages in die Halle, sodass sie in Bänder aus Licht und Schatten getaucht war.

Doppelt mannsgroße Statuen der Herrscherinnen und Herrscher, die vor Elena auf dem roten Thron gesessen hatten, standen zwischen den halb in die Wand eingelassenen Säulen, so stumm und starr wie die Wachen in den Fluren. Sie waren schweigende Erinnerungen an die Pracht und die Traditionen des Reichs, an die lange Kette von Vorfahren, deren Erbe die junge Königin war. Und Elenas Pflicht war es, ihr Erbe zu erhalten und ihren Teil hinzuzufügen.

Stühle rutschten über den Marmor, als sich alle erhoben. Einen winzigen Teil des Zeremoniells hatte Elena abschaffen können, als sie den Thron bestieg, und so wurde wenigstens in dieser Ratsrunde nicht ihr Name samt aller Titel verlesen, was angesichts der Tatsache, dass die einzigen Zuhörer die engsten Berater des Throns waren, immer ein wenig lächerlich gewirkt hatte.

Diesmal jedoch war außer ihren Ratgebern noch jemand anwesend, eine junge Soldatin in der schlichten Tunika der Grenzwachen, bar jeder Rüstung und Waffe, wie es die uralten Regeln des Hofs für die Anwesenheit in der Präsenz der Herrscher vorschrieben. Die einzigen Waffen im Raum waren die beiden Schwerter an der Hüfte von Kaleona, eines für sie und das Thronschwert für Elena. Die Schwertträgerin ging an ihren Platz hinter den Stuhl, auf den sich Elena ohne Umschweife setzte, während Geloras an das schön geschnitzte Schreibpult trat und sich bereit machte, seinen Aufgaben als Schreiber nachzukommen.

»Grenzstreitigkeiten?«, begann Elena umstandslos. Die Nachricht, die sie zum Rat gerufen hatte, war kurz gewesen. Sie hatte daraus nur erfahren, dass es an der Grenze zu Skaros zu einem Scharmützel gekommen war. Ein unerhörter Vorgang, wie es ihn seit über zwei Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Krieg war auf den Acht Inseln längst vergessen geglaubt, nur noch eine Erinnerung an alte Zeiten. Soldaten bewachten die Grenzen, jenseits der Meere gab es noch wilde, unzivilisierte Völker und Barbaren, aber Zwist zwischen den Reichen der Acht Inseln wurde am Verhandlungstisch beigelegt.

»So scheint es«, meldete sich Marschall Oreus zu Wort. Der alte Mann war ein lang gedienter Höfling aus einer der angesehensten Familien des Reichs, dabei so sanft wie seine Stimme, und wäre sicher nicht die beste Wahl gewesen, um Armeen im Kriege zu führen. Aber Elena hatte sich nicht durchringen können, ihn von seinem Posten abzuberufen, auf den ihn schon ihre Mutter gesetzt hatte. Der lange Frieden hatte dafür gesorgt, dass er niemals selbst an der Spitze königlicher Truppen hatte in die Schlacht reiten müssen. Und sein Alter würde seinen Pflichten ohnehin bald im Wege stehen. Vielleicht sollte ich dies in einem Gespräch unter vier Augen erwähnen und ihm Gelegenheit geben, den Schritt selbst zu gehen, überlegte Elena, während sie ihn fragend ansah. Sollte es tatsächlich zu Kämpfen mit Skaros kommen, würde sie jemand anderen an ihrer Seite benötigen.

»König Akasios ist ein Freund«, stellte sie mit fester Stimme fest. »Ein Verbündeter. Sein Volk und das unsere stehen in langer Treue zueinander. Wieso sollte er befehlen, unsere Grenzen anzugreifen?«

Sie sah in die Runde. Niemand sprach, bis sich Oreus vernehmlich räusperte. Ihr Blick fiel auf ihn und es war ihm sichtlich unangenehm. Heraus damit, wollte sie rufen, stattdessen begnügte sie sich mit einer fragend emporgezogenen Augenbraue.

»Ganz so ist es offenbar nicht gewesen.«

Jetzt war sie verwirrt.

»Aber in dem Bericht stand, dass es sogar Tote gegeben hat. Ein Kampf auf der Brücke!«

Die beiden Inseln waren durch eine schmale Wasserstraße getrennt, doch in den alten Zeiten hatten ihre Vorfahren eine hohe Brücke über die Meerenge gebaut, die einige der Acht Inseln miteinander verband. Es war eine Großleistung der Magie, ein anmutiges Bauwerk und scheinbar zerbrechlich, doch so stark wie der Fels der Inseln selbst.

»Das ist richtig.« Oreus sah sich Hilfe suchend um, entdeckte, dass er keine Unterstützung bekommen würde, und trat die Flucht nach vorn an. »Aber es waren unsere Soldaten, die die Kampfhandlungen … nun ja, begonnen haben.«

Verblüfft ließ sich Elena zurück in den Stuhl sinken.

»Das ergibt keinen Sinn«, sprach sie das Offensichtliche aus. »Wer trägt die Verantwortung? Wer gab den Befehl?«

Alle Köpfe wandten sich der jungen Soldatin zu, die angesichts der plötzlichen Aufmerksamkeit den Rücken durchdrückte und stur geradeaus starrte.

»Wer bist du?«, fragte Elena. »Was hast du zu berichten?«

Ohne den Blick von dem imaginären Fleck an der Wand über Elenas Kopf zu nehmen, antwortete sie: »Ira, Herrin. Ich war an dem Haus der Brücke stationiert.«

Ein kleiner Turm, je einer an jedem Ende der Brücke, einst als Zollstation und Wachposten genutzt, in heutigen Zeiten kaum mehr als eine Zierde. Sicherlich noch als Festung zu gebrauchen, sollte es jemals notwendig werden, aber bislang war dieser Gedanke fern gewesen.

»Warst du bei dem …«, Elena zögerte kurz, »Angriff beteiligt?«

Ira nickte nur, besann sich dann aber eines Besseren: »Ja, Herrin.«

»Berichte uns alles.«

»Es war der Kommandeur, Herrin. Er gab den Befehl. Wir saßen abends im Hof zusammen und, äh, unterhielten uns.«

Soldaten, die sich die Zeit vertrieben, redeten sicherlich nicht nur, sondern würfelten vermutlich auch und tranken, aber Elena ließ die junge Frau ungestört weitererzählen.

»Es wurden Scherze gemacht, über die Soldaten aus Skaros auf der anderen Seite.«

»Was für Scherze?«

»Dass sie Feiglinge sind, Herrin. Also, zuerst. Dann wurden die Scherze böser. Der Kommandeur sagte, dass sie allesamt …«, Ira schluckte und senkte den Blick, als sei es ihr unangenehm, weiterzusprechen »… mit, äh, Ziegen verkehren.«

Die Soldatin hielt inne, unsicher, welche Folgen dieses Geständnis haben mochte.

»Geschmacklos, aber noch kein Grund, einen Krieg anzuzetteln«, murmelte Elena, während sie ihr bedeutete, fortzufahren.

»Es wurde immer lauter. Alle riefen durcheinander. Ich … ich weiß auch nicht. Irgendwann rief der Kommandeur, wir müssten diesen … mit Ziegen verkehrenden Bastarden eine Lektion erteilen.«

Noch immer ergab nichts einen Sinn.

»Und dann? Hat denn niemand gesagt, dass dies eine schlechte Idee ist?«

Ira schüttelte das Haupt. Ihre kurzen Locken tanzten um ihre Stirn.

»Alle dachten, dass es stimmt, Herrin. Dass es so sein muss. Wir waren so wütend …«

Elenas Finger trommelten auf dem Tisch, eine alte Angewohnheit, die sie nicht ablegen konnte. Die Geste ließ die Soldatin verstummen, wodurch sich Elena ihrer bewusst wurde und die Hände im Schoß verschränkte.

»Geloras, geleite sie hinaus und schreib ihren Bericht wortgetreu nieder«, befahl sie scharf und bereute es sofort, denn es war der Ärger über das unbewusste Trommeln, der in ihren Worten lag. Also fügte sie ruhiger hinzu: »Ich möchte alles wissen, jede Kleinigkeit. Wir müssen verstehen, was dort vorgefallen ist.«

Alle schwiegen, bis der Schreiber die Soldatin aus der Kleinen Halle geführt hatte. In Gedanken begann Elena bereits, eine Nachricht an König Akasios zu formulieren, seine Entschuldigung erbittend und gerechte Strafe für die Übeltäter versprechend.

Drei Tote! Weil ein Haufen gelangweilter Soldaten den Wein nicht vertragen haben! Nein, ich sollte nach Skaros reisen und persönlich vor Akasios erscheinen, wenn ich nicht will, dass er diesem Scharmützel mehr Bedeutung beimisst, als es verdient.

»Wir sollten Soldaten zum Haus an der Brücke entsenden«, unterbrach Oreus ihre Gedanken.

»Um diejenigen, die beteiligt waren, festzusetzen. Eine gute Idee, Marschall.«

Wieder räusperte sich der alte Mann, bevor er sprach.

»Wir müssen mit Racheakten rechnen.«

Elena sah ihn verständnislos an.

»Was? Aus Skaros?«

Jetzt nickte er heftig.

»Ja, Blut ist geflossen. Die Toten waren Töchter und Söhne. Ihre Mütter und Väter werden uns hassen. Ich kann hundert Soldaten in drei Tagen dorthaben, dann sind wir fürs Erste gewappnet und …«

»Fürs Erste?«, fuhr ihm Elena entgeistert ins Wort, dann schüttelte sie vehement den Kopf. »Ich werde jetzt auf keinen Fall Truppen an die Grenze verlegen. Wenn wir das tun, sorgen wir doch nur dafür, dass diese Sache immer größere Kreise zieht. Im Gegenteil, jetzt ist es unsere erste Pflicht, den Frieden zu sichern.«

Der Marschall war offensichtlich nicht ihrer Meinung. Hat er auf seine alten Tage noch einmal Blut geleckt? Sucht er einen heroischen letzten Kampf, um abzutreten? Sie schob den Gedanken beiseite, so unmöglich erschien er ihr. Oreus, der üblicherweise nur eine Klinge schwang, wenn er einen Braten anschnitt, und so verständnisvoll war, dass er sogar seiner Frau ihre zahlreichen Liebschaften verziehen hatte. Ein Mann, der so wenig Krieger war, wie man es nur sein konnte, und seinen Posten überhaupt nur bekleidete, weil seine Familie einfach wieder einmal an der Reihe gewesen war, den Marschall zu stellen.

»Man kann ihnen nicht trauen«, erwiderte Oreus leise.

Elena zog die Brauen zusammen. »Wem?«

»Denen aus Skaros.« Trotz schwang in seiner Stimme mit. »Mit all den Soldaten an unseren Grenzen und …«

»Es waren unsere Soldaten, die uns in dieses Schlamassel geführt haben«, erinnerte ihn Elena mit kalter Stimme, doch zu ihrer Überraschung sah sie vor allem Zustimmung für seine Worte in den Gesichtern der anderen Räte. Eingehend studierte sie die Stimmung in der Halle.

Der Thron war eine Bürde.

»Gut, schicken wir Soldaten zum Haus an der Brücke«, entschied sie schließlich. »Aber keinesfalls hundert! Eine Handvoll, um jene in Verwahrung zu nehmen, die sich gegen Skaros vergangen haben.«

Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich und verließ die Kleine Halle, dicht gefolgt von Kaleona. Für die Schönheit des Palasts hatte sie keine Augen mehr, zu sehr war sie mit den seltsamen Ereignissen in ihrem Königreich beschäftigt.

Schließlich erreichten sie ihre privaten Gemächer und Elena trat auf die Terrasse hinaus, die man hoch über den Wassern des Ewigen Meeres in die Klippen geschlagen hatte. Hundert Schritt unter ihr brachen sich die Wellen am weißen Felsen und ein Schwarm Vögel glitt unten durch das gelbliche Licht des Abends. Es muss länger gedauert haben, als ich dachte, bemerkte Elena verwirrt, als sie die tief stehende Sonne sah, die in den Himmel in ein ungewohntes Violett tauchte. Die schmalen Säulen, die das filigrane Dach stützten, warfen bereits lange Schatten auf den hellen Marmor. Dazwischen sahen die Blutsteine mehr denn je so aus, als wäre dort eine wahre Flut des Lebenssafts vergossen worden.

»Das alte Schlachtross«, scherzte Kaleona. »Sonst ist er doch immer nur der Erste, wenn es um den Nachtisch geht.«

Elena löste den Blick von den seltsamen Himmelsfarben und lächelte.

»Ich bin sicher, er meint es nur gut.«

»Und ich bin sicher, dass es ein ganz besonderer Anblick wäre, ihn in die Schlacht ziehen zu sehen.«

Die beiden teilten ein kurzes, verstohlenes Lachen. Elenas Hand fuhr zum Hals und berührte das uralte Amulett, Erbstück ihrer Familie und Zeichen der Königswürde, seit es ihr Vorfahr Gavril auf die Acht Inseln gebracht hatte. Über seine Fahrten gab es viele Legenden und Lieder, doch keine zwei davon waren sich einig, woher es stammte.

»Wir sollten sehen, ob Geloras schon den Bericht fertiggestellt hat«, befand sie schließlich. »Vielleicht wirft das ein neues Licht auf diese ganze Geschichte.«

Kaleona nickte und wandte sich ab.

Elena blieb noch einen Moment lang stehen und sah zur Sonne. Ein neues Licht, wiederholte sie in Gedanken und runzelte die Stirn beim Anblick des Himmels, der ihr nun wie ein dunkles Omen erschien.

~ TIME AND TIME AGAIN ~

So what!

Another round!

For all our friends

And all the others.

We shine so bright in our old stories.

Time and time again.

AIDAN

Im Wein mochte Wahrheit liegen, aber als Aidan den letzten Schluck aus seinem Becher trank, fand er am Boden nichts als einen Rest des bitteren Ales, in das der Braumeister des Dorfs irgendein einheimisches Kraut gemischt hatte, um den sauren Geschmack zu mildern. Oder zumindest hoffte Aidan, dass es ein Kraut war und kein Seetang, denn der war wichtig in diesem kleinen Kaff und schien überall zu finden zu sein, vom Essen bis hin zu den Dächern, man hatte einige damit gedeckt.

»Seetang-Ale«, murmelte er vor sich hin, hob den Becher und blickte zu Revus hinüber, der aber zu sehr damit beschäftigt war, eine kleine Gruppe von Fischern mit Lügengeschichten zu unterhalten. Halben Lügengeschichten, musste Aidan gestehen, denn die meisten enthielten einen Kern Wahrheit. Sie waren jedoch so sehr ausgeschmückt, dass er kaum noch zu erkennen war. Aber Revus wusste nun einmal, was das Publikum von ihm verlangte, und das war ganz sicher nicht einfach nur die Wahrheit.

»Zwölf Fuß war er groß und haarig wie ein Bär«, beschrieb er gerade einen Riesen und seine ausgestreckten Arme gaben seinen Zuhörern ein Gefühl für die Ausmaße der gewaltigen Figur.

»Unsinn«, brummelte ein Fischer, dessen Gesicht so vom Wetter gegerbt war, dass er wie sein eigener Großvater aussah.

»Na gut, vielleicht waren es auch dreizehn Fuß«, gab Revus zu und erntete einige Lacher, bevor er weiter davon erzählte, wie dieser Gigant erst Tod und Vernichtung gebracht hatte, bevor er schließlich durch eine List doch noch besiegt werden konnte.

Aidan hatte die Geschichte oft genug gehört, vor allem jedoch war er es gewesen, der dem Riesen die Schläuche voll schwerem Wein gegeben hatte, bis dieser in einen rauschhaften Schlaf gefallen war. Groß war er wirklich gewesen, sicherlich, ein Riese unter Menschen, aber dennoch nur ein einfacher Mann. Und sie hatten ihn nicht erschlagen, als er so dalag, leise vor sich hin schnarchend und sabbernd, sondern ihn nur seines Besitzes beraubt. Soweit Aidan wusste, lebte er immer noch weit im Osten, vollkommen unerschlagen und nicht mehr als ein reicher Händler, der mit fragwürdigen Methoden zu seinem Wohlstand gelangt war.

»Und dann fiel er um. Ungefähr so.«

Revus deutete mit dem Arm einen fallenden Baum an und schlug dann mit beiden Händen flach auf den einfachen Holztisch, der so sehr bebte, dass Ale aus einigen Bechern schwappte.

»Genau so hat die Erde gebebt! Und meine Knie erst!«

Wieder folgte grölendes Lachen, das die Worte seines Freunds übertönte, aber seine ausladenden Gesten erzählten dennoch deutlich von dem Keulenschlag, der dem Riesen den Garaus gemacht hatte.

Aidan seufzte und sah noch einmal in seinen Becher, der jedoch noch genauso leer war wie beim letzten Mal. Er winkte den dürren Jungen heran, der hier als Bedienung durchging, und hielt ihm den Becher hin.

Kurze Zeit später nahm er einen weiteren tiefen Zug. Der dritte Becher schmeckte weitaus besser als der erste, das musste man dem Braumeister lassen, auch wenn Aidan aus Erfahrung wusste, dass dieses Phänomen bei jedem Ale auf der Welt auftrat.

»Ein Lied«, unterbrach ihn einer der Fischer in seinen Überlegungen. »Du bist doch ein Barde, oder etwa nicht?«

Breit grinsend erhob sich Revus. »Nicht nur irgendein Barde. Ich bin Revus, Sänger an Königshöfen, Barde von Völkerschaften, Betörer von Maiden.«

Er würzte diesen letzten Titel mit einem Augenzwinkern in Richtung einer der Fischerinnen, die ihm ein süßes Lächeln schenkte. Zumindest einer von ihnen würde sich heute wohl keine Sorgen um ein ungewärmtes Bett machen müssen.

Als Revus zum Gesang anhob, rutschte Aidan erst auf der Sitzbank zur Seite, um dann aufzustehen und sich einen leeren Tisch in der anderen Ecke des Schankraums zu suchen, was nicht schwierig war, da sich inzwischen alle Gäste um Revus versammelt hatten. Aidan musste lächeln, als er seinen alten Freund dort sah, wo er sich am liebsten befand, im Zentrum aller Aufmerksamkeit, einen Fuß auf die Kante der Sitzbank gestellt, einen Becher mit Ale in der einen Hand, die andere jedes Wort seines Gesangs untermalend. Er stimmte ein heldenhaftes Lied über große Schlachten und tapfere Taten an, das seiner Stimme gut stand und einen einfachen Refrain besaß, der zum Mitsingen einlud.

 

Denn wenn der Himmel ewig weint

und wenn ein Sturm die Welt vereint.

Dann wenn der Wind von Norden weht

und er die Sonne schlafen legt.

Erst dann ist unsere Welt bereit

für eine neue Heldenzeit.

»Du hörst ihm nicht gern zu?«

Überrascht sah Aidan auf und blickte in das sommersprossige Gesicht einer jungen Frau, die einen tönernen Krug in den Händen hielt.

»Noch Ale?«, fragte sie, als er nicht sofort antwortete. Sie hatte grüne Augen und dunkelblondes Haar, dessen wilde Locken sie nur mäßig mit einem Stoffband gebändigt hatte.

Ohne ein Wort hielt er ihr seinen Becher hin und sah zu, wie sie ihn geschickt füllte, bis lediglich ein Hauch Schaum über den Rand trat und daran herablief.

»Er hat doch eine schöne Stimme, so tief und doch so weich.«

»Doch, ich höre ihm gern zu«, antwortete Aidan nach einem Schluck Ale und wischte sich den Schaum von den Lippen. »Er ist der beste Sänger, den ich je gehört habe.«

»Das musst du sagen«, entgegnete sie mit einem Lächeln. »Er ist dein Freund. Ich habe gesehen, wie ihr gemeinsam angekommen seid.«

»Ja, das ist er, aber es ist dennoch die Wahrheit.«

Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt sie auf die Bank ihm gegenüber und stellte den Tonkrug auf den Boden.

»Musst du nicht weiterarbeiten?«, wollte er wissen.

Sie schüttelte den Kopf. »Solange er singt, wird niemand einen Becher verlangen. Schau doch, sie sind alle wie gebannt.«

Sie sprach die Wahrheit. Nun war es nicht allzu schwierig, ein Gasthaus voller Trinkender zu unterhalten – jeder durchschnittliche Barde, der halbwegs einen Ton treffen konnte, vermochte das. Einige Sauflieder, eine traurige Ballade, hier und da etwas Anzügliches und man war aus dem Schneider und konnte auf einige Münzen des begeisterten Publikums hoffen.

Doch Revus trug nun ein altes Lied vor, eine traurige Weise, langsam und getragen, ganz und gar ungeeignet für den Moment. Aber die Kraft seiner Stimme fesselte seine Zuhörer und trug sie fort in die Weiten der Musik, die er nur mit seiner Stimme für sie öffnete.

 

Einst in der Kalten Zeit,

Rote Felder, rot wie Glut.

Gefallen waren Tausende,

jedoch niemals fiel der Mut.

Stahl auf Stahl.

Ein heller Klang durchdringt den Tag.

Das Schlachtfeld spielt ein wirres Lied,

welches nur der Krieger mag.

 

Einst in der Kalten Zeit

gingen Freunde, schnell der Tod.

Der Krieg ließ Trauer keine Zeit,

doch niemals fiel der Mut.

 

Stahl auf Fleisch.

Und noch ein Leben ging vorbei.

Die Freiheit blieb uns höchstes Gut.

Der Sieg stets unser sei.

Es war ein Lied, wie man es selbst an den größten Fürstenhöfen nur selten zu hören bekam, ein kleines Wunder, und selbst die ungeschlachten, groben Fischer dieser harten Küste wussten darum … oder ahnten es, sobald sie die Töne hörten.

Einst hatten sie beide solche Lieder vor den Mächtigsten der Welt gesungen und Könige hatten sie reich entlohnt, Fürstinnen ihnen zu Füßen gelegen. Es schien Aidan ein ganzes Leben zwischen jener Zeit und heute zu liegen, oder vielleicht war es auch ein anderes Leben gewesen, ein Leben, an das er sich nur noch bruchstückhaft erinnerte.

»Woher kommt ihr?«

Fast hätte er ihre Anwesenheit vergessen, aber der Blick, den sie ihm unter langen Wimpern hervor zuwarf, riss ihn zurück in die Gegenwart.

»Aus dem Osten«, sagte er ebenso wahrheitsgemäß wie vage und nahm noch einen Schluck.

»Und was sucht ihr ausgerechnet hier?«

Beinahe hätte er ihr ein rüdes »unsere Ruhe« ins Gesicht gesagt, doch ihre Neugier war unschuldig und seine Finsternis nicht die ihre.

»Vielleicht eine Passage auf einem der Schiffe, die hier Wasser aufnehmen.«

Auch das war keine Lüge, aber es war auch nicht die Wahrheit. Wohin es sie von hier aus weitertreiben würde, wussten sie noch nicht. Falls sie erkannte, dass er ihr auswich, ging sie nicht darauf ein, sondern nickte nur und sah dann zu Revus hinüber, der die letzte Strophe entlangglitt, die mit Tod und Vergessen endete.

Stille senkte sich über den Raum. So leise wurde es, dass nur noch das Knistern des Feuers zu hören war. Es war eine heilige Stille, die sie alle verband, genährt aus der Ehrfurcht, wahre Bardenkunst erlebt zu haben. Worte, die glühende Spuren über die Seele zogen; Melodien, die den, der sie hörte, nie wieder verlassen würden. Eine ganz eigene Magie.

Ein alter Fischer räusperte sich und brach damit den Bann. Lauter Jubel brandete auf, Zuhörer bedankten sich bei Revus, schlugen ihm auf die Schulter, wollten ihm Getränke ausgeben.

Die junge Frau erhob sich und nahm den Krug auf, schenkte Aidan jedoch noch ein schnelles Lächeln, bevor sie sich daranmachte, die durstigen Kehlen zu benetzen.

»Der Bardensturm«, rief ein junger Bursche. »Sing uns den Bardensturm!«

Aidan erstarrte. Revus warf ihm einen Blick zu und hob dann abwehrend die Hände.

»Nein, jetzt nicht, meine Kehle ist trocken«, rief er, woraufhin ihm jemand einen Becher reichte, den er unter lautem Gejohle in einem Zug leerte.

Dann schlug er sich mit der flachen Hand auf die Brust, dass es klatschte, und sah in die Runde, die sofort ruhig wurde.

»Kennt ihr die Geschichte von der Schwarzen Bruderschaft?«

Noch während sein Publikum lautstark bejahte, begann er, eines der schnellen Trinklieder vorzutragen, das die Zuhörer zum Mitklatschen und -brüllen animierte und so den ersten Vorschlag vergessen machte.

 

Einen Humpen! Zwei, drei, vier,

fünf der Krüge leer ich hier.

Erst wenn sechse, sieben, acht

Humpen ich heut leer gemacht.

Lege ich mich breit zur Ruh.

Und trink den neunten Krug dazu.

Fängt mich ein die schwarze Nacht,

hab zehn Humpen ich leer gemacht.

Doch Aidan vergaß nicht. Egal wohin sie gingen, der Bardensturm folgte ihnen. Schnell schüttete Aidan den Rest des Ales herunter und sah sich nach der Frau mit dem Krug um. Sie bemerkte seinen Blick und kam gleich zu ihm. Wortlos füllte sie seinen Becher wieder auf.

So langsam zeigte das Ale Wirkung. Die Welt verlor ihre Kanten, Aidans Geist kreiste nicht länger um Vergangenes, sondern schwamm im Hier und Jetzt.

»Singst du auch?«

Er sah zu ihr hoch. Eine einfache Frage. Keine einfache Antwort.

»Nein«, log er. »Ich bin nur sein Begleiter. Er ist der König der Barden.«

Sie warf einen Blick über die Schulter zu Revus, der sein Publikum vollkommen in der Hand hatte, und lachte dann. Die Bewegung hatte eine Locke gelöst, die ihr nun in die Stirn hing. Aidan trank noch einen Schluck und traf eine Entscheidung.

»Aber ich kann Geschichten erzählen«, sagte er leiser und warf ihr einen Blick aus halb geschlossenen Augen zu.

Sie lächelte versonnen und setzte sich wieder ihm gegenüber.

»Ich liebe Geschichten.«

»Gut«, stellte er fest und sah ihr in die Augen. Revus würde nicht der Einzige sein, der heute Nacht nicht allein schlafen musste. Vielleicht würde ihre Nähe die Dunkelheit fernhalten, die ihn nachts heimsuchte.

Vielleicht.

Stunden später lag Aidan in einem angemieteten Zimmer auf dem Bett, eine raue Decke halb über sich gezogen. Es war ihre weiche Haut, die ihm Wärme spendete, doch er fand keinen Trost in ihrer Berührung. Ihr Atmen war leise und regelmäßig, er konnte ihn an seiner Schulter spüren und hören, wie er im Einklang mit der Brandung ging. Seine Fingerkuppen strichen über ihre Haut, glitten an ihrem Rücken hinab, fanden ebenso wenig Ruhe wie er selbst.

Als sie betrunken in das Zimmer getaumelt waren, eng ineinander verschlungen, sich wild küssend, die Hände auf Entdeckungsreise über einen fremden Körper, da war die Lust alles gewesen, woran er gedacht hatte. Doch so wie die Flammen der Leidenschaft schließlich erloschen waren, schlich nun auch die Finsternis in ihm wieder näher heran.

Aidan war müde. Sein Kopf war schwer, seine Gliedmaßen ebenso, eine süße Erschöpfung des Leibs, doch sein Geist war hellwach, sosehr er sich auch nach Schlaf und Erholung sehnte. Er versuchte, sich auf den warmen nackten Körper neben sich zu konzentrieren, auf all die kleinen Geheimnisse, die er entdeckt hatte, den süßen Duft, die heiseren Seufzer, doch die Lust war versiegt. Eine Ablenkung für wenige Stunden, ein kurzes Feuer. Was brachte es schon? Welchen Sinn hatte es? Die ewig gleichen Fragen krochen durch seinen Kopf, fraßen sich wie Maden durch seinen Geist, hinterließen einen dumpfen Schmerz.

»Ich hätte mehr trinken sollen«, murmelte er und rieb sich über die Augen, aber es war ihm wie eine schlechte Idee erschienen. Ale gab einem Willen, aber nahm auch die Kraft. Er fragte sich, ob er in den Schankraum hinabschleichen konnte, um seinen Fehler zu beheben, nun, da es nur noch die Dämonen der Nacht waren, denen er sich stellen musste.

Seine Stimme, so leise sie auch war, unterbrach ihre Ruhe für einen Moment. Ihr Atem wurde zu einem kleinen Stöhnen, und sie wand sich kurz, bevor sie sich wieder in seinen Arm schmiegte. Was wusste Aidan schon, mit welchen eigenen Dämonen sie in ihren Träumen rang? Einige kostbare Augenblicke lang lenkte es ihn ab, dann kehrten seine eigenen Nachtgespinste zurück und verlangten seine gesamte Aufmerksamkeit.

Der Bardensturm!, rief eine Stimme in seinem Kopf und sosehr er sich auch bemühte, sie zu ignorieren, sie verstummte nicht, bis die Bilder in ihm emporquollen, all die hässlichen, grausamen Erinnerungen. Die Gesichter der Toten, manche verschwommen, manche klar, alle unwillkommen. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Aidan, dass er sich zu ihnen gesellen könnte. Nein, sich zu ihnen gesellt hätte, damals, als sie ihm noch vertraut hatten. Warum hatte er überlebt, warum nicht sie? Die Schuld nagte an ihm, Tag und Nacht, höhlte ihn langsam aus, ließ jede Stunde weniger von ihm zurück. Und er ahnte, dass er irgendwann in sich zusammenbrechen würde wie ein wurmzerfressenes Gebäude, dessen Fundament schwach geworden war.

Vor allen anderen konnte er dies verbergen, vielleicht mit Ausnahme von Revus, in dessen Blick er zu oft Sorge sah. Nach außen war er immer noch Aidan, immer ein schnelles Wort auf den Lippen, schlagfertig und selbstbewusst. Doch wie lange noch?

Ein Schrei riss Aidan aus seinen dunklen Gedanken und ließ sein Herz rasen. Er war lang und erfüllt von tiefstem Schrecken, durchschnitt die Nacht und blies jeden Dunst aus Aidans Geist. Sofort glitt er aus dem Bett und seine Finger tasteten über den Boden, fanden seinen Waffengurt und schließlich den Griff seiner Klinge.

»Was ist?«, fragte die junge Frau schlaftrunken.

»Bleib hier«, erwiderte Aidan leise. Im schmalen Lichtstreif, den der Mond in das Zimmer sandte, suchte er seine Sachen zusammen, schlüpfte in seine Hose, zog sich das Hemd über den Kopf und band den Gurt um. Für mehr war keine Zeit. Dann schlich er zur Tür.

Eine dunkle Gestalt erhob sich vor ihm, seine Finger krampften sich um seine Waffe, bis er Revus erkannte.

»Du hast es gehört?«

»Es kam von draußen, glaube ich«, erwiderte Revus, und Aidan nickte.

»Aus Richtung der See.«

Gemeinsam liefen sie die Treppe hinab in den Schankraum, wo einige der betrunkeneren Gäste auf den Bänken vor sich hin schnarchten. Das Feuer war längst heruntergebrannt, nur noch einige Reste glühten dunkelrot im Kamin.

Im Vorbeilaufen schüttelte Aidan unsanft einen der Schlafenden.

»Weck den Rest«, rief er dem Mann zu, als der sich lautstark beschwerte.

Aus dem stickigen Schankraum kommend war die Meeresbrise noch frischer. Der Mond stand hoch am Himmel, nur einige dünne Wolkenschleier zogen vor ihm her.

»Komm.«

Aidan lief den Weg zu den Klippen hinunter. Das Dorf war zum größten Teil auf ihnen erbaut worden, nur einige kleine Hütten krallten sich auf den Vorsprüngen weiter unterhalb fest und es gab Höhlen, die als Lagerräume und Werkstätten genutzt wurden. Die Fischerboote lagen am Strand unterhalb oder tanzten ein Stück weiter draußen auf den Wellen. Lediglich ein schmaler Pfad führte die Klippe hinab, wenn man von den beiden Kränen absah, mit denen der Fang und sonstige Ladung in zwei Etappen emporgehievt werden konnte. Aber die Konstruktion wirkte auf Aidan nicht gerade vertrauenerweckend.

Zwischen den Hütten und Häusern herrschte Schatten. Es roch nach salziger Seeluft, aber auch nach Rauch und Fisch und aus mehreren der Räucherhütten stieg Qualm auf. Zu sehen war nichts.

Sie hielten inne.

»Hörst du was?«

Doch ihnen antwortete nur das Raunen des Meeres.

»Vielleicht war es nur ein Streit?«, hoffte Revus, aber Aidan schüttelte den Kopf. Dieser Schrei … Verzweiflung und Todesangst hatten aus ihm geklungen. Etwas Schreckliches war geschehen, dessen war er sich sicher.

»Lass uns zu den Klippen hinuntergehen. Vielleicht ist jemand gestürzt.«

Beide hielten ihre Klingen in den Fäusten, während sie geduckt zu der Stelle liefen, an dem der Pfad vom Meer das Dorf erreichte.

Gut sechzig Schritte unter ihnen brandete die See an den schmalen Strand der Bucht. Windgeschützt, wie der Sund war, bot er einen perfekten Naturhafen, wenn man davon absah, dass die Bucht von den Klippen aus nur schwierig zu erreichen war. Das Wasser funkelte im Mondlicht, die Schaumkronen leuchteten kurz auf, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwanden. Die Umrisse der Fischerboote zeichneten sich vor Sand und Wasser ab, einige auf den Strand gezogen, halb zur Seite gekippt, andere mit festen Tauen verankert und im Rhythmus der Wellen schwankend. Doch sosehr sich Aidan auch anstrengte, er konnte keine Menschenseele entdecken.

»So einen Sturz würde man kaum überleben«, stellte Revus fest.

»Aber man würde auf den Strand fallen. Siehst du dort etwas?«

Angestrengt blickte Revus über die Kante der Klippe hinab, was Aidan ihm hoch anrechnete, wusste er doch, wie sehr ihm Höhe zu schaffen machte. Dann schüttelte er den Kopf und zog sich wieder einen Schritt zurück.

»Vielleicht bei einem der Boote«, überlegte Aidan laut. »Wir müssen nachsehen.«

Skeptisch sah Revus zu dem Pfad, der im spärlichen Licht des Monds reichlich schmal wirkte.

»Oder damit.« Aidan wies auf den oberen der beiden Kräne, ein dünnes Holzgerüst, von dem man fast glauben konnte, dass es im Wind schwankte. Der zweite war gut dreißig Schritt unter ihnen, halb auf einen Vorsprung und halb in eine Höhle gebaut, und Aidan konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er in der harten Felswand befestigt war.

»Bist du wahnsinnig?«, hauchte Revus.

»Wie wäre es, wenn du hier oben schaust, ob du was findest und ich unten?«

Revus strich sich über den Mund und nickte dann.

»Und besorg dir Licht. Wenn du etwas entdeckst, schwenk eine Laterne oder was weiß ich. Keine Ahnung, ob ich da unten was höre.«

Damit wandte er sich ab und ging die ersten Schritte des Klippenpfads hinab. Der Fels war halbwegs trocken, aber uneben und schon auf dem ersten, noch halbwegs geraden Stück rutschte Aidan beinahe aus und musste sich an der Wand festhalten. Seine nackten Fußsohlen fanden wieder Halt. Er fluchte leise. Im Dunkeln diesen Pfad hinabzusteigen war nicht seine beste Idee gewesen. Er brauchte Licht. Es würde niemandem helfen, wenn er zu Tode stürzte.

Als er sich umdrehte und an der Wand wieder nach oben tastete, griffen seine Finger in etwas Schleimig-Nasses, als habe er in feuchte Flechten gegriffen. Er zog die Hand zurück und rieb die Finger aneinander. Es war unangenehm, schmutzig. Langsam hob er sie vor sein Gesicht. Zwischen ihnen glänzte etwas im Mondlicht, dünne Fäden, eine Art Schleim.

»Was zum …«, begann er und starrte sie an. Ein leichter Geruch nach Meer und Fisch ging von ihnen aus, irgendwie von Verrottung und Aas durchwoben. Angeekelt rieb sich Aidan die Hand an seinem Hemd ab und stapfte weiter.

Als er nach wenigen Metern die Kante der Klippe erreichte, sah er sich nach Revus um, entdeckte ihn jedoch nicht. Schnell lief er weiter, froh, von dem gefährlichen Pfad wegzukommen. Gerade wollte er seinen Freund rufen, als er eine Gestalt zwischen zwei Häusern sah, halb im Schatten verborgen. Erleichtert ging Aidan auf sie zu, nur um gleich wieder innezuhalten. Etwas stimmte nicht, irgendetwas war falsch, warnte ihn seine innere Stimme. Ein halb vergessener Instinkt hielt ihn zurück.

»Aidan, alles in Ordnung?«

Überrascht wandte er sich der Stimme zu und sah Revus ein ganzes Stück abseits stehen und ihm zuwinken.

»Ich …«, hob er an, dann tauchte unvermittelt ein weiterer Schatten neben Revus auf. »Vorsicht!«

Ein unmenschliches Brüllen ertönte, Revus schrie, Metall blitzte im Mondlicht auf. Aidan wollte zu ihm eilen, doch die Gestalt zwischen den Häusern sprang auf ihn zu, und er riss sein Schwert hoch. Die Klinge glitt über einen zähen Widerstand, dann traf Aidan etwas am Kopf und wirbelte ihn herum. Seine Füße verloren den Halt und er ging zu Boden, fiel auf die Seite, rollte sich reflexartig ab, kam auf die Knie und ließ seine Waffe wirbeln, um seinen Gegner auf Abstand zu halten.

Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. Irgendwo hörte er Revus zornerfüllt schreien, doch er konnte dem keine Beachtung schenken. Ein Schatten ragte über ihm empor. Diesmal warf er sich zurück, doch nicht schnell genug. Linien aus Feuer zogen sich über seine Brust und er schrie auf. Sein Schwert biss in seinen Feind, erkaufte ihm einen Moment, den er nutzte, um schwer atmend auf die Beine zu kommen.

Jetzt waren mehr Geräusche, Stimmen, Rufe und Lichter am Rande seines Sichtfelds, die er mehr ahnte als sah.

»Du solltest Fersengeld geben, Freund«, knurrte Aidan. Sein Gegner stand gebückt im Schatten einer Räucherhütte. Aidan blinzelte. Noch immer stimmte irgendetwas nicht.

»Dein Blut«, erklang eine heisere Stimme mit fremdartigem Akzent. »Ich werde dein Blut trinken.«

»Nicht bevor wir einander vorgestellt wurden«, erklärte Aidan trotz seiner Schmerzen mit einem schiefen Grinsen. Seine Brust stand in Flammen. Warm lief es ihm über den Bauch. Er wusste nicht, wie tief die Wunde war, konnte aber keine Zeit damit verlieren, sich zu vergewissern. Er verlagerte das Gewicht, legte die zweite Hand an den Griff des Schwerts.