Sturmwelten - Jenseits der Drachenküste - Christoph Hardebusch - E-Book

Sturmwelten - Jenseits der Drachenküste E-Book

Christoph Hardebusch

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Beschreibung

Der furiose Höhepunkt von Christoph Hardebuschs großer Fantasy-Saga!

Das schwarze Schiff taucht wieder auf – und für den Freibeuter Jaquento und die Offizierin Roxane schlägt plötzlich die letzte Stunde! In einem gewaltigen, magischen Sturm entfesselt sich eine Seeschlacht, deren Ausgang über das Schicksal der Welt entscheiden wird ...

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Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Widmung
Lob
DRAMATIS PERSONAE
PROLOG
JAQUENTO
SINAO
FRANIGO
ROXANE
JAQUENTO
TAREISA
ROXANE
THYRANE
FRANIGO
JAQUENTO
SINAO
TAREISA
FRANIGO
ROXANE
TAREISA
JAQUENTO
THYRANE
JAQUENTO
SINAO
JAQUENTO
THYRANE
ROXANE
THYRANE
SINAO
FRANIGO
THYRANE
JAQUENTO
SINAO
THYRANE
ROXANE
TAREISA
THYRANE
FRANIGO
ROXANE
FRANIGO
SINAO
JAQUENTO
TAREISA
FRANIGO
JAQUENTO
FRANIGO
ROXANE
SINAO
FRANIGO
JAQUENTO
THYRANE
ROXANE
TAREISA
ROXANE
FRANIGO
TAREISA
JAQUENTO
THYRANE
FRANIGO
SINAO
THYRANE
ROXANE
THYRANE
JAQUENTO
ROXANE
SINAO
TAREISA
JAQUENTO
FRANIGO
SINAO
JAQUENTO
EPILOG
Danksagung
GLOSSAR
Copyright
Das Buch
Auf der Korvette Ihrer Majestät Siorys nehmen die junge Kapitänin Roxane und der Freibeuter Jaquento Kurs auf die Drachenküste, um das schwarze Schiff, die Todsünde, zu verfolgen. Das Piratenschiff mit seiner mysteriösen und hochgefährlichen Ladung ist unterwegs zu unerforschten Gestaden jenseits der Drachenküste.
Unterdessen versucht der bärbeißige Admiral Thyrane mithilfe der ehemaligen Sklavin Sinao und des jungen Maestre Manoel zu beweisen, dass die mächtige Handelscompagnie in der Sturmwelt ein schmutziges Geheimnis versteckt. Dabei gerät er mitten hinein in das Intrigenspiel der Mächtigen und wird prompt auf Lessan eingesperrt, doch seine Mannschaft hält wie Pech und Schwefel zu ihm und wagt einen Befreiungsversuch, der sie alle den Kopf kosten könnte.
Im geheimnisvollen Reich des Drachenkaisers geraten Jaquento und Roxane in höchste Gefahr – und machen dabei eine schreckliche Entdeckung. Die Zeit drängt, und als alle in einem gewaltigen magischen Sturm wieder aufeinandertreffen, schlägt zum letzten Mal die Stunde der Freibeuter. Werden Jaquento und seine Gefährten der Macht ihrer Gegner standhalten und den Untergang der Welt verhindern können?
Der Autor
Christoph Hardebusch, geboren 1974 in Lüdenscheid, studierte Anglistik und Medienwissenschaft in Marburg und arbeitete anschließend als Texter bei einer Werbeagentur. Sein großes Interesse an Fantasy und Geschichte führte ihn schließlich zum Schreiben. Seit dem großen Erfolg seiner Troll- und Sturmwelten-Romane lebt er als freischaffender Autor in Heidelberg.
Mehr zu Autor und Werk unter: www.hardebusch.net
Für meine Liebe, schön und geheimnisvoll wie die See
»11. Jede Person, die auf ein Signal oder einen Befehl zum Angriff hin oder auf die Sichtung eines Schiffes oder von Schiffen, die aufzubringen ihre Pflicht wäre, hin nicht die notwendigen Vorbereitungen für das Gefecht trifft und nicht, je nach Stand und Posten, die Untergebenen dazu anhält, mutig zu kämpfen, soll mit dem Tod bestraft werden oder einer solchen Bestrafung zugeführt werden, wie sie dem Kriegsgericht als angemessen erscheint und wie die Natur und der Grad des Verbrechens sie verdienen.«
Die Kriegsartikel der Thaynrischen Marine
»3. Im Gefecht hat der Kapitän absoluten Gehorsam von jedem Mann und jeder Frau zu erwarten. Jede Person hat zu kämpfen und an der Seite der Kameraden zu stehen, bis der Feind überwältigt ist.«
Der Kodex der Piraten
DRAMATIS PERSONAE
Personen in und aus Corbane
Admiral DaunceMitglied der AdmiralitätAlmarzaHiscadischer RatsvorsitzenderAlserrasHiscadischer StudentAomas ThyraneAdmiral im Ruhestand, genannt der SeewolfAskellThaynrische MaestraBlylockVerstorbener thaynrischer AdmiralChaviasVerstorbener Bruder JaquentosDeckardKapitän der PhönixEstergeHiscadischer HauptmannFrancinaThebounus FrauFranigoHiscadischer DichterFridgae FarceyThaynrische AdmiralinGusemanGéronaischer RevolutionsführerInxiHiscadischer StudentJeffronAdmiral Farceys StewardJuanbare GárrerHiscadischer MagistratLirneyLeutnant, Kommandant der AlcanderMaecanAlter MaestreMerrickSchiffsbrüchige MatrosinMorweyKönigin von ThaynricPilwickThaynrischer Offizier und MaestreRedardThaynrischer KapitänSugérand XV.Einstiger König von GéronayTanáraEhemalige MaestraTareisaMaestraThebounuHiscadischer VolksrichterVimaro FroigaHiscadischer DruckermeisterWalsleyKanzler ThaynricsYuoneSchauspielerin
Personen in und aus der Sturmwelt
Admiral HoltKommandeur der Sturmwelt-FlotteBihrâdMaureske, Arzt, MagietrinkerBrizulaEhemalige SklavinDagüeyEhemaliger SklaveGleckhamLaerd-Protektor der CompagnieHollroyLeutnantJaquento, genannt JaqHiscadiMajaguaVerstorbener SklaveMalsterBailiff der CompagnieManoel, genannt ManoMaestreOxarreUnterweltköniginRayoEine Cacique der ParanaoShantonMajorSinao, genannt SinEhemalige SklavinTangyeVerstorbener Aufseher
Personen im Imperium des Drachenkaisers
SenpierGéronaischer GouverneurShanDiener der Drachen
Besatzung der Todsünde
RahelOffizierinRénand DeguayVerstorbener Kapitän
Besatzung der Imperial
BerconsKapitänHosredMarinesoldatLamworthBordmaestreSudlinZeitweiliger CaserdoteTarrenLeutnant, Dritte OffizierinYonMatrose
Besatzung der Siorys
BrynsMatroseCyneddMatroseCoenrad GrofertonBordmaestreRoxane HedynKapitäninHuwertLeutnant, Erster OffizierSean VargusMatroseWallonFähnrich
Historische Personen
CorbanProphetSiorysDrachentöter
PROLOG
Den Tod zu wählen war keine bewusste Entscheidung. Der Wunsch zu sterben wuchs langsam heran, wie ein Baum, bis er sie ganz erfüllte. Es war schwer, das Verlangen in Worte zu fassen, aber das störte sie nicht; Worte waren ohnehin unzulänglich.
Die Ruhe, entstanden durch seine Abwesenheit, besänftigte sie nicht, sondern trieb sie eher noch an. Sie konnte die Leere spüren, mit Sinnen, die sie nicht besitzen sollte. Sie wusste nicht, warum sie die Welt so wahrnahm. Der Herr der Räume hatte sie verlassen, und der Fluss der Magie geriet langsam ins Stocken. Lichter verblassten, schwebende Statuen sanken herab, selbst das Mauerwerk ächzte nun unter der Last der Jahrhunderte.
Solange er fort war, verschwand der eiserne Druck, der ihren Geist unterwarf und in Richtungen zwang, in die sie nicht gehen wollte. Wenn er anwesend war, gab es ihren Willen nicht, sondern nur den seinen. Doch je weiter er sich entfernte, desto mehr und mehr erinnerte sie sich an sich selbst. Tanára.
Bilder tanzten durch ihren Geist, und für einen Moment hielt sie die Schemen für Visionen, wie sie sie oft überkamen, Erscheinungen, die ihre Gedanken überfluteten und sie hilflos zurückließen, mit Fragmenten von Wissen um Geschehnisse, deren Sinn sie nicht verstehen konnte. Doch es waren keine Visionen, sondern Erinnerungen. Ein blauer Himmel über grünem Gras.
Alle Farben waren so intensiv, dass sie schon unwirklich erschienen, alle Eindrücke so überwältigend nah, dass sie kaum zu fassen waren. Sie fühlte das Gras unter ihren Fußsohlen, die Beschaffenheit der spröden Halme, sie roch den Duft und spürte den Wind auf ihrer Haut. Erinnerungen an gelernte Lektionen durchströmten sie so machtvoll wie Vigoris. Sie erinnerte sich an erste Erfolge, ein einfaches Licht in ihrer Hand und das stolze Lächeln ihres Lehrmeisters.
Glück haftete an diesen Erinnerungen; ein untergegangenes, beinahe vergessenes Glück. Sie wusste wieder, wie die Macht in ihr mit jedem Tag gewachsen war, wie sie gierig alle Lehren in sich aufgesogen und doch immer mehr und neue Erkenntnisse gesucht hatte.
Und als ihr die Maestre nichts mehr beibringen konnten, da hatte sie ihn getroffen. Den Meister der Hallen, der die Vigoris wie kein anderer beherrschte, scheinbar uneingeschränkt in seiner Macht. Nun erinnerte sie sich wieder, wie er sie aufgenommen hatte, ihr Wunder zeigte, von denen die Welt nicht einmal ahnte, dass sie sie vergessen hatte. Sie war ihm gefolgt, in allem. Hatte alle anderen zurückgelassen und sich niemals mehr umgeblickt. Denn nur er besaß das Wissen, nach dem es sie verlangte.
Und er hatte sie zu dem gemacht, was sie nun war.
JAQUENTO
Im ersten Licht des Tages präsentierte sich die Küste als dunkler Umriss am Horizont, eingehüllt in Frühnebel, wie eine Jungfer, die zu keusch war, um sich ganz zu offenbaren. Der Wind blies nur schwach, und in der Nacht war so viel Segelfläche wie möglich gesetzt worden, um auch das letzte Lüftchen einzufangen. Einige Möwen hatten sich mit den Wolken auf die See hinaustragen lassen und umkreisten die Siorys nun in der Hoffnung auf etwas Essbares. Ihre Schreie waren wie ein von Wehmut erfülltes Klagen.
Jaquento stand an der Reling, die linke Hand an einer Toppwant, die andere spielte unbewusst mit einem messingfarbenen Knopf seines Mantels. Die Rufe der Vögel brachten in ihm eine Saite zum Klingen, deren Ton ihm durch alle Glieder fuhr. Es war, als riefe ihn jemand von jenseits des Horizonts, und tief in seiner Seele wusste er, dass er diesen Ruf schon immer vernommen hatte. Nur hatte er ihn früher nicht deuten können und war deshalb vielen anderen Rufen, aber nicht diesem einen gefolgt. Wie hatte Rahel es ausgedrückt? ›Ich kann den Lockruf der See schon hören, kann sehen, wie er seine Widerhaken in deine Seele geschlagen hat. Das Meer ist deine Bestimmung, Jaquento.‹
Als sie diese Worte zu ihm in einer heruntergekommenen Kaschemme in Portosa sprach, hatte er geglaubt, sie wolle ihn zum Besten halten. Heute wusste er, dass sie Recht gehabt hatte. Obwohl sie ansonsten ein Miststück war, wie nur die Sturmwelt eines hervorbringen kann, dachte Jaquento mit dem Anflug eines Grinsens.
Um ihn herum herrschte die ständige Betriebsamkeit eines Segelschiffs, die selbst in diesen frühen Stunden nie ganz zum Erliegen kam, doch er blendete für den Moment die thaynrischen Seeleute aus, die ihren Dienst taten oder sich in ihrer Freiwache an Deck begeben hatten, um die ersten, blassen Strahlen der Sonne einzufangen. Er ignorierte ihre Blicke, manche neugierig, manche feindselig, und hörte nicht auf ihre Stimmen. Er war erst vor wenigen Tagen überhaupt an Deck gekommen; vorher hatte er zehn Tage lang in der Kapitänskajüte gelegen, während sein Körper versuchte, sich von Kapitän Deguays letztem Degenstich zu erholen.
Seit gestern versah er seinen Dienst wie die anderen auch, aber natürlich betrachteten ihn die übrigen Besatzungsmitglieder, als sei er ein Kalb mit zwei Köpfen: Ein einst in der Sturmwelt von der Marine gesuchter Piratenkapitän, der nun als Matrose auf einem thaynrischen Kriegsschiff Dienst tat, war eine Kuriosität, das sah er durchaus ein.
In der Theorie mochte er nun einer von ihnen sein, doch weder fühlte er sich so noch akzeptierten sie ihn in ihrer Mitte.
Langsam frischte der Wind auf, und die Korvette glitt schneller ihrem Ziel entgegen; ihr Bug durchpflügte die Fluten, und die Segel blähten sich, bis die Masten knarrten und das Tauwerk knallte. Das kleine Schiff war schnell und wendig; und auch wenn es nur über zwölf Kanonen verfügte und damit keinesfalls so stark bewaffnet war wie manch anderes Schiff Ihrer Majestät, so bewunderte Jaquento doch Kapitänin Hedyns kluge Wahl. Genau das richtige Schiff für eine Verfolgung.
Aber die Todsünde hatte sich wieder einmal als schwer zu erhaschende Beute erwiesen, die ihnen entkommen war, kaum, dass sie die Gewässer Géronays hinter sich gelassen hatten. Seitdem mussten sie darauf hoffen, dass ein glücklicher Zufall oder die Hand der Einheit ihnen bei der Jagd helfen würde.
Ein Pfeifen ertönte, und Seeleute sprangen in die Wanten, kletterten empor und begannen ihre Arbeit hoch oben im Tauwerk. Jaquento blickte sich um und entdeckte Roxane, die auf dem Achterdeck stand, in der für sie so typischen Haltung, die Hände hinter dem Rücken, den Mantel gegen die morgendliche Kälte bis zum obersten Knopf geschlossen, den Dreispitz auf dem Kopf. Noch war die Haut ihres Gesichts vom Aufenthalt in der Sturmwelt gebräunt, aber der Hiscadi meinte schon erkennen zu können, wie ihre thaynrische Blässe darunter zum Vorschein kam. Du wirst dir bestimmt einen Sonnenbrand holen, wenn wir erst wieder in sonnigere Gefilde kommen, dachte er.
Sie sah nicht zu ihm hinüber, sondern blickte hoch zu den Masten, ein prüfender Blick, auf die Arbeit ihrer Besatzung und auf ihr Schiff gerichtet. Erst, als sie mit dem zufrieden schien, was sie sah, suchte ihr Blick den seinen. Er wusste, dass sie niemals vor ihrer Mannschaft gezeigt hätte, wie sie zueinander standen – weder mit Worten noch mit Taten-, aber er meinte, ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel zu erkennen, und er erwiderte es und tippte sich, einem Salut gleich, an die Stirn. Deine Bemühungen in allen Ehren, meine Liebste, dachte er. Aber das hier ist ein verflucht kleines Schiff. Und du hast mich in deiner Kajüte pflegen lassen. Wer jetzt noch nichts ahnt, müsste schon blind, taub und blöde sein. Und solche Matrosen hättest du nicht auf deiner Heuerliste.
Roxane sah nun wieder weg, lauschte den Worten eines jungen Fähnrichs, nickte, gab Befehle. Sie wirkte müde, was kein Wunder war, denn sie schonte sich nicht, sondern war stets früh an Deck und gönnte sich nur wenig Ruhe.
Bihrâd hingegen, der gerade aus dem Niedergang trat und herzhaft gähnte, ließ sich nur selten an Deck blicken. Seine Fähigkeiten machten ihn bei der Besatzung unbeliebt, fast so sehr wie seine Herkunft. Die sonst so mutigen Männer und Frauen der Königlichen Marine von Thaynric machten zumeist einen weiten Bogen um ihn.
Manch einer schlug ein Schutzzeichen, als der Maureske zu Jaquento trat, sich den Schlaf aus den Augen rieb und mit der Rechten über die Stoppeln auf seinen Wangen strich, unter denen seine Tätowierungen langsam zu verschwinden drohten.
»Nun sieh dir diesen Nebel an, Jaq«, sagte Bihrâd und kratzte sich den Schädel. »Wenn er noch ein bisschen dichter wird, sehen wir kaum mehr die Hand vor Augen, geschweige denn ein anderes Schiff. Es kommt mir so vor, als habe es, seit wir die Sturmwelt verlassen haben, keinen klaren Tag mehr gegeben. Wir werden eher in den neun Höllen landen, als dass wir die Todsünde finden.«
Jaquento grinste den Mauresken an. »Ich wusste ja gar nicht, dass du so wetterfühlig bist, mein Freund.«
»Die Vorderbram ein Stück höher«, wies Roxane die Mannschaft vom Achterdeck aus an, gefolgt von den Pfiffen des Bootsmanns. Da sich das Vorderbramsegel fast genau über ihm befand, griff Jaquento automatisch mit nach den Seilen. Gemeinsam mit vier anderen Matrosen straffte er das Leinen und wickelte die Taue um die Belegnägel.
»Und ich wusste nicht, dass es dir schon wieder gut genug geht, um den Leichtmatrosen zu spielen«, versetzte Bihrâd.
Das brachte den Hiscadi zum Lachen. »Die Wunde ist recht gut verheilt, wie du ganz genau weißt. Und ich denke, die Kapitänin erwartet durchaus, dass wir uns unsere Überfahrt verdienen, glaubst du nicht?«
»Überfahrt? Das klingt so, als hätten wir freiwillig auf diesem Kahn angeheuert.«
»Wenn du nicht in meiner Nähe bist, um mich daran zu erinnern, vergesse ich beinahe, dass wir ja eigentlich auf die Siorys verschleppt wurden«, entgegnete Jaquento aufgeräumt.
»Es gab allerdings auch keine andere Möglichkeit, dich an Bord zu bekommen, als dich zu schleppen«, meinte Bihrâd trocken.
Jaquento, der genau wusste, dass der Maureske ohne Zwang mit ihm an Bord gegangen war, lachte. »Damit hast du wohl Recht. Aber immerhin, wenigstens dich konnten sie bei vollem Bewusstsein zum Dienst pressen.«
»Während ich Baumwollstopfen in die Lecks in deinem Körper gesteckt habe.«
Diese Worte ließen den Hiscadi wieder ernst werden. »Es war keine Kleinigkeit, dass du mich gefunden und hergebracht hast. Und auch nicht, dass du mich weiter begleitet hast. Das weiß ich.«
Der Maureske zuckte mit den Schultern. »Ich will die Todsünde und ihre Ladung ebenso dringend finden wie Roxane und du. Und wenn du krepiert wärst, hätte mich die verdammte Marine allein wohl kaum mitgenommen.«
Bevor Jaquento antworten konnte, berührte eine Matrosin ihn am Ellbogen. Als der Hiscadi zu der wettergegerbten Frau herumfuhr, deutete diese mit einem unwilligen Gesichtsausdruck zum Achterdeck. »Der Käpt’n will dich sprechen«, knurrte sie.
»Ach ja? Na, dann will ich sie mal nicht warten lassen, nicht wahr?«
Der Frau entlockten seine Worte nicht das geringste Lächeln, aber zumindest Bihrâd schien erheitert. Er nickte seinem Freund zu, als dieser mit langen Schritten zum Achteraufbau ging.
Neben der Kapitänin stand der Bordmaestre, Coenrad Groferton, ein noch junger Mann, der sich jedoch so gebeugt hielt wie ein Greis. Er war in einen dicken blauen Wollmantel gehüllt, die Messingknöpfe bis unter das Kinn geschlossen. Den unteren Teil seines Gesichts konnte Jaquento kaum erkennen, da er einen breiten Schal vor dem Mund trug. Sein Haar hing ihm strähnig in die Stirn, und das bisschen Haut, das noch freilag, war blässlich und wächsern.
»Das Salz ruiniert meine Kehle vollends«, erklärte er eben, »und dem ist nicht einmal die Macht der Vigoris gewachsen.«
Roxane bedachte den Mann mit einem höflichen Nicken, doch Jaquento konnte die Ungeduld in ihrem Blick sehen. Er räusperte sich, um die beiden auf sich aufmerksam zu machen.
»Der Käpt’n ließ mich rufen?«, erkundigte er sich mit einem Anflug von Spott, als er die Treppe hinaufstieg, die zum Achterkastell führte.
Als Roxane sich ihm zuwandte, fügte er rasch noch ein »Thay« an. Idiot, schalt er sich selbst. Ich sollte wohl besser alles vermeiden, was ihre Lage vor ihren Leuten noch schwieriger macht, als sie es ohnehin schon ist.
Nur einen Augenblick lang konnte er Ärger in Roxanes Zügen lesen, dann glättete sich ihr Gesicht wieder, und sie nickte ihm zu.
»Ja. Ich möchte unser weiteres Vorgehen besprechen. Ich habe gerade mit Maestre Groferton über unseren Kurs nachgedacht und wüsste gern Ihre Meinung dazu.«
»Die Meinung eines einfachen Seemanns?« Jaquento konnte sich die Frage nicht verkneifen.
Roxane hob die Augenbrauen und hätte ihm sicher eine scharfe Erwiderung gegeben, hätte Groferton nicht laut gestöhnt, die Hände an die Schläfen gehoben und die Augen geschlossen.
»Werter einfacher Seemann«, erklärte der Maestre seufzend. »Können wir den Part, in dem Sie Anspielungen auf Ihre eigene fragwürdige Stellung innerhalb der Königlichen Marine von Thaynric machen, nicht einfach überspringen? Derlei Geplänkel ermüdet mich und raubt mir Lebenszeit, die, so möchte ich anmerken, kostbar ist, da mir wohl nicht mehr viel davon verbleibt.«
Sowohl Roxane als auch Jaquento schwiegen verblüfft. Es war zwar nicht unüblich für Groferton, sich zu beschweren, so aus der Haut zu fahren hingegen schon.
Der Hiscadi spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Zorn darüber, dass er sich in dieser albernen Rolle befand, dass seine Anwesenheit Roxane Ärger bereitete, dass ein Hypochonder wie Groferton sich über ihn lustig machen konnte. Doch dann verrauchte seine Wut so plötzlich, wie sie gekommen war. Die Worte des Maestre hatten ihn getroffen, weil sie wahr waren; seine Angriffe gegen die Marine liefen ins Leere, waren nichts als Spiegelfechterei.
Er neigte den Kopf. »Ja, lassen wir das. Ihr habt Recht, Coenrad«, sagte er.
Auf dem Gesicht der jungen Kapitänin zeichnete sich Erleichterung ab, während Groferton aussah, als könne er das eben Gehörte noch nicht fassen.
»Der Maestre teilte mir gerade mit, dass er denkt, dass die Todsünde noch immer voraus ist. Oder zumindest die Ladung, falls sie das Schiff gewechselt hat«, erklärte Roxane und nahm der Situation damit endgültig die Schärfe.
Groferton nickte bestätigend mit dem Kopf, hob aber warnend den Finger: »Die Eindrücke sind allerdings schwach, Thay. Ich kann mich unmöglich zu hundert Prozent festlegen. Dafür ist die Entfernung einfach zu groß.«
»Notiert.« Roxanes Blick folgte dem Verlauf der Küste, an der sie entlangsegelten.
»Das würde bedeuten, dass sich unsere Beute nach wie vor in Landnähe aufhält, nicht wahr?«, warf Jaquento ein.
Die Kapitänin griff in die Tasche ihres schweren, gewachsten Mantels und holte eine zusammengerollte Karte hervor, die sie vorsichtig auf dem Geländer ausbreitete. Ihr rechter Zeigefinger tippte auf einen Punkt auf der Karte, während sie das Pergament mit dem Handballen offen hielt.
»Ich schätze, dass die Todsünde sich in diesem Bereich befindet. Sie würde bei den momentanen Windverhältnissen gute Fahrt machen, sofern sie unversehrt wäre, doch so gut können sie sie nicht überholt haben. Wir nähern uns ihr vermutlich, aber nicht schnell genug.
Hier, hier und hier gibt es größere Häfen, die das Ziel sein könnten. Dazu eine ganze Reihe kleinerer Fischerdörfer, Buchten und dergleichen, die zur Löschung der Fracht geeignet wären. Der Admiral hat zugesagt, die Ostflotte zu verständigen, aber ich bezweifle, dass uns das wirklich helfen wird. Ich sehe nicht, wie uns die Flotte schnell genug erreichen könnte, selbst wenn wir wüssten, wo die Todsünde anlanden wird.«
Sie alle drei starrten auf die Karte, als würde ihnen die Zeichnung verraten, wohin ihr Zielobjekt floh.
Jaquento runzelte die Stirn. »Warum steuern sie gerade diese Gegend an? Was ist das?« Er deutete auf einen langen Küstenabschnitt, der noch hinter den Häfen lag, die Roxane ihm und Groferton gezeigt hatte. Die Karte war an dieser Stelle sehr einfach gehalten, mit wenigen Markierungen und Zahlen. Sie war so trostlos, wie das Land dort selbst sein mochte.
»Das ist die Drachenküste. Hundert Meilen kaum bewohnter Klippen mit unzähligen vorgelagerten Riffen und Untiefen. Trügerisches Fahrwasser, selbst in guten Zeiten, und kaum erforscht.«
»Vielleicht trägt sie diesen Namen zu Recht«, warf Coenrad ein. »Wir haben zwar seit dem Angriff in Boroges keine Drachen mehr gesehen oder gespürt, aber von irgendwoher müssen sie schließlich gekommen sein.«
Jaquento nickte nachdenklich, als er die Worte erwog und ihm ein Bild von Sinosh vor Augen trat. Wo mochte die erstaunliche kleine Echse im Augenblick wohl sein?
Er ließ die Kuppe seines Fingers über die Karte wandern, folgte, vorbei an den Häfen, die die letzten Bastionen der Zivilisation vor der Drachenküste bildeten, dem Verlauf der Küstenlinie und erreichte schließlich den Rand der Karte.
»Und was befindet sich jenseits der Drachenküste?«
»Terra incognita«, antwortete Roxane langsam. »Einige Handelsposten der Géronaee und das Reich des Kaisers.«
Jaquento rieb sich das Kinn, ließ seinen Blick über die Karte wandern. Natürlich. Das muss es sein. »Dorthin fährt die Todsünde«, erklärte er und sah Roxane in die Augen. »Dorthin. Jenseits der Drachenküste, dort liegt ihr Ziel.«
Einen Moment erwiderte sie seinen Blick, als versuche sie zu erforschen, woher er seine Gewissheit nahm, dann nickte sie entschlossen.
»Ich habe bereits dieselbe Überlegung angestellt. Coenrad, Sie werden Ihre Anstrengungen, die Fracht der Todsünde aufzuspüren, auf diese Gegend konzentrieren. Und ich werde einen entsprechenden Kurs berechnen und der Mannschaft mitteilen.«
Der Maestre salutierte, ehe er zu husten begann. »Darf ich mich entfernen, Thay, bevor meine Gesundheit noch mehr vom Wetter in Mitleidenschaft gezogen wird?«, fragte der junge Mann in seinem üblichen leidenden Ton.
»Erlaubnis erteilt. Verschwinden Sie.«
Jaquento blieb noch einen Moment neben Roxane stehen, während Groferton bereits wieder unter Deck verschwand, obwohl der Hiscadi spürte, dass auch er besser gehen sollte. Schon jetzt hatte er das Gefühl, dass zu viele Blicke der Mannschaft auf sie beide gerichtet waren.
Als ob sie was erwarten?, fragte er sich. Dass ich Roxane gleich hier und jetzt vor aller Augen küsse?
Wenn er zu sich selbst ehrlich war, musste er sich zwar eingestehen, dass die Idee ziemlich verlockend war, aber er wusste, dass Roxane ihn vermutlich kielholen lassen würde, falls er etwas Entsprechendes auch nur versuchte.
»Er ist schon etwas eigenwillig, dein Bordmaestre«, murmelte Jaquento stattdessen so leise, dass nur sie es hören konnte.
Die Kapitänin nickte. »Aber ein guter Mann, trotz allem.«
»Es tut mir leid, dass ich fast mit ihm aneinandergeraten wäre.«
»Danke, dass du so ruhig geblieben bist. Es geschehen wohl doch noch Zeichen und Wunder.«
Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu und sah, dass tatsächlich ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen lag.
»Ich wollte dir keine Scherereien machen«, erklärte er.
Mit einer Stimme, die nicht mehr als ein heiseres Flüstern war und ihm einen wohligen Schauer über den Körper jagte, sagte sie: »Nun, das wird sich auf Dauer wohl dennoch kaum vermeiden lassen, nicht wahr, Jaq?«
Der Hiscadi erwiderte ihr Lächeln, dann richtete er sich auf. »Aye, aye, Thay!«, versicherte er laut, als habe sie ihm einen Befehl gegeben, bevor er die Treppe wieder hinabstieg und zu Bihrâd zurückkehrte.
SINAO
Ihre nackten Fußsohlen klatschten auf die Planken des Schiffes, jeder Schritt eine Zahl in ihrem Geist. Wenn sie sich darauf konzentrierte, konnte sie ihre Schritte zurückverfolgen, immer entlang der Zahlenkette, bis in jene Tage, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, das nichts von seiner Zukunft als Sklavin wusste. Und auch nichts von seiner Zukunft als Maestra, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu.
Anui hatte wirklich einen seltsamen Plan mit ihr verfolgt, der sie zuerst als Eigentum der Weißen auf die Insel Hequia geführt hatte und nun als Gast eines anderen Weißen auf ein gewaltiges Schiff, das den Namen Imperial trug.
Die Fähigkeiten, die die Ahnen ihr geschenkt hatten, hätten sie früher auf Hequia leicht das Leben kosten können, hatten es ihr aber stattdessen gerettet. Einen Teil dieses Lebens hatte sie hinter sich gelassen, der andere wartete auf sie.
Sinao schlüpfte zwischen zwei Matrosen hindurch, die gerade ein dickes Tau aufrollten, wich zwei Frauen aus, die einen Eimer mit fürchterlich stinkendem Inhalt an Deck trugen, und duckte sich in den Niedergang.
Wo Manoel nur steckt? Normalerweise war der junge Maestre kaum dazu zu bewegen, sich in die quälende Enge des Schiffsbauchs hinabzubewegen. Wie Sinao auch, hatte er seine Schlafmatte an Deck verstaut und genoss weitaus lieber den Blick auf den freien Himmel als auf die oft über hundert fluchenden, würfelnden, lärmenden und schwitzenden Matrosen auf Freiwache. Doch jetzt hatte Sinao ihren Freund und Lehrmeister an Deck nicht finden können. Dabei wollte sie ihm doch unbedingt zeigen, welches neue Kunststück sie eben zuwege gebracht hatte. Er wird Augen machen, wenn er das sieht, dachte sie voller Vorfreude.
Sinaos Augen gewöhnten sich schnell an das Dämmerlicht. Obwohl der Kapitän die Stückpforten hatte öffnen lassen, damit Licht und Luft hereingelangen konnten, war es unter Deck immer noch stickig und warm, und die wenigen Lichtstrahlen erhellten den engen Raum kaum.
»He! Du!«
Eine kleine, drahtige Frau in roter Uniform kam auf Sinao zu. Ihr Gesicht war gerötet, und ihr lief ein Tropfen Schweiß die Schläfe hinab. Die Paranao wunderte das nicht; die Uniform war eng und sah unbequem aus, und sie war mit einem hohen Kragen versehen, der den Hals einschnürte. Die Stiefel der Frau waren ebenfalls geschnürt, was in der Hitze der Sturmwelt gewiss sehr unangenehm war.
»Der Admiral will dich sehen«, erklärte die Seesoldatin und runzelte die Stirn, während ihr Blick über Sinao wanderte. Offensichtlich gefiel ihr nicht, was sie sah, aber sie sagte nichts mehr. Fragend blickte die junge Frau sie an. Fünf Herzschläge vergingen, sechs, dann endlich fauchte die Soldatin: »Hopp, hopp! Worauf wartest du?«
»Ich weiß nicht, wohin«, erwiderte Sinao ungerührt. Ihre eigene Kleidung bestand nur aus einer dünnen, weiten Hose und einem Hemd, das für einen doppelt so großen Mann gedacht gewesen musste. Ihre Füße waren nackt, und ihre Locken hatte sie mit einer Kordel zurückgebunden. Sie lächelte süß, während ihr Blick dem Schweißtropfen folgte, der nun zitternd am Ohrläppchen der Frau hing, ehe er auf den Kragen fiel und von dem schon speckig wirkenden Stoff aufgesogen wurde.
»In der Kapitänskajüte. Schwing die Hufe, verdammt nochmal!«
Sinao nickte. Die Soldatin war verärgert, doch als die Paranao sich abwenden wollte, entdeckte sie noch mehr in den Augen, verborgen hinter dem Zorn: Angst.
Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie meinte, den Blick der Seesoldatin in ihrem Rücken spüren zu können, als sie die steile Treppe hinauflief. Obwohl sie nichts getan hatte, um dieses Angstgefühl in der Frau auszulösen, sorgte deren Furcht dafür, dass Sinao die Schultern straffte und den Kopf stolz hob. Ihr könnt mich nicht mehr einfach herumschubsen. Diese Zeiten sind vorbei. Ich bin keine Sklavin mehr.
Als sie an Deck ankam, mitten im Sonnenlicht, über ihr die gebauschten Segel des Schiffs, und den frischen Wind spürte, der ihr übers Gesicht strich, verflogen die dunklen Gedanken wieder. Sie lief zum Achteraufbau, öffnete die Tür und trat in den engen Gang. Vor der Tür der Kajüte stand ein Soldat Wache, dessen Miene zwar unbewegt war, dessen gesamte Haltung jedoch sein Unbehagen deutlich ausdrückte. Hinter ihm erklangen Stimmen, zwar durch die Tür gedämpft, aber dennoch laut, so als ob zwei Menschen streiten würden. Eine dieser Personen war unverkennbar Bailiff Malster. Als Sinao die Stimme der Verwalterin der Compagnie auf Rosarias zum ersten Mal gehört hatte, hatte die Paranao sie sich gut eingeprägt.
»Hallo, Hosred«, grüßte Sinao den Soldaten, der ihr zunickte. »Ich soll reingehen.«
Er lächelte gequält. Sinao kannte ihn von seinen Freiwachen, in denen er manchmal an Deck saß und leise vor sich hin sang. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme, die gut zu den traurigen Liedern passte, die ihm am besten zu gefallen schienen. Auf seiner Wange war noch Schorf zu sehen; in der Schlacht um das Fort hatte er Splitter abbekommen. Damals hatten die Wunden schlimm geblutet und ihn wie einen Daemon aussehen lassen. Jetzt wirkte es, als habe er sich mit brauner Farbe drei Striche auf die Wange gemalt. Er klopfte an die Tür. Von drinnen erklang ein wütendes »Ja?«.
Hosred öffnete die Tür einen Spalt.
»Sinao, Thay. Sie hatten nach ihr geschickt.«
»Natürlich, Mann. Lassen Sie sie rein, um der Einheit willen.«
»Du kannst …«, begann der Soldat, aber Sinao nickte nur mitfühlend und schob sich an ihm vorbei durch die Tür. Admiral Thyrane und Bailiff Malster waren allein in der geräumigen Kapitänskajüte. Sie saßen in dem großen Raum ganz hinten, wo die Fenster weit geöffnet waren und einen Blick zurück erlaubten, auf die See. Sonnenlicht tanzte auf den Wellen, bildete kleine, glänzende Punkte, die so schnell verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.
»Oh, bitte, Admiral.« Malsters Stimme troff vor Hohn. »Sie wollen mir doch nicht wieder von einem Eingeborenenmädchen vorwerfen lassen, dass ich lüge, nicht wahr?«
»Selbstverständlich nicht, Bailiff. Wir wissen beide, dass Sie in der Angelegenheit nicht die Wahrheit sagen; darauf muss mich Sinao nicht extra aufmerksam machen. Ich will lediglich, dass sie als Zeugin fungiert.«
Der Admiral wirkte angespannt. Das Netz von Falten um seine hellen Augen schien ausgeprägter zu sein, und eine tiefe Furche zeigte sich auf seiner Stirn. Sinao schien es, als ob sich der Zorn, der in seinen Augen funkelte, jeden Moment Bahn brechen könnte, um Malster zu verschlingen.
Die Frau von der Compagnie hingegen bemerkte dies wohl nicht, oder sie ignorierte es absichtlich. Mit einem Kopfschütteln tat sie die Vorstellung ab. »Als ob eine solche Zeugin irgendeinen Wert hätte.«
Sinao wusste, was sie wirklich sagen wollte. Dass ich keinen Wert habe. Sinao spürte, wie Thyranes Zorn sich auf sie übertrug, als wäre er ein lebendiges Wesen, das unsichtbar von ihm zu ihr sprang und sich in ihrem Herzen einnistete. Tief in ihr zog die Vigoris an den Pforten, und es hätte nur eines Gedankens bedurft, um sie freizulassen, ihr Form zu geben und sie gegen die Bailiff zu lenken. Doch die junge Paranao zwang diese Gedanken zurück, legte sie in Ketten und verbannte sie aus ihrem Geist.
»Das werden nicht wir entscheiden, Bailiff«, erwiderte Thyrane betont ruhig. Der Admiral schwieg zwei Herzschläge lang, legte die Finger zusammen und sah nachdenklich zur Decke empor. Dann senkte er den Blick und lächelte. »Andererseits … Vielleicht erspare ich es mir, Sie bis nach Lessan zu transportieren, und mache Ihnen gleich hier an Bord den Prozess. Weniger Papierkram, nicht wahr?«
»Das wagen Sie nicht! Ich bin eine Bailiff der Thaynrisch-Kolonialen Handelscompagnie!« Malster hatte sich halb erhoben, sank jedoch wieder zurück, als sie Thyranes eiskalten Blick bemerkte.
»Sagen Sie mir nicht, was ich wage oder nicht«, fuhr der Admiral sie an. »Auf einem thaynrischen Schiff obliegt die Gerichtsbarkeit demjenigen, der das Kommando führt, das wissen Sie ebenso gut wie ich. Und ich kann Ihnen versichern, dass für die schmutzigen Geschäfte der Compagnie Köpfe rollen werden.«
Wieder schwieg er. Doch der Zorn schwand aus seiner Miene, und er lächelte beinahe freundlich.
»Sehen Sie, jemand muss für all das geradestehen. Und ich denke nicht, dass Laerd-Protektor Gleckham plant, dass es sein Hals ist, um den sich die Schlinge legen wird. Die Opfer werden weiter unten in der Hierarchie Ihrer Thaynrisch-Kolonialen Handelscompagnie gebracht werden müssen.« Seine Stimme klang boshaft, als er ihre Worte wiederholte.
Bevor Malster noch etwas sagen konnte, erhob der Admiral die Stimme: »Soldat! Holen Sie die Bailiff ab, und bringen Sie sie zurück in ihr Quartier.«
»Aye, aye, Thay.«
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Bailiff«, verabschiedete sich Thyrane, während Sinao die Frau nur wütend anstarrte.
Malster indes hatte ihre Fassung wiedergewonnen, nickte ihnen zu und sagte: »Admiral. Kind.« Dann wandte sie sich ab und folgte Hosred.
Als sich die Tür hinter ihnen schloss, wies Thyrane auf den Stuhl, den Malster gerade verlassen hatte. »Hast du Durst?«, erkundigte er sich, während Sinao es sich bequem machte, die Beine anzog und ihr Kinn auf die Knie legte. Sie schüttelte den Kopf und sah den Admiral fragend an, der daraufhin erklärte: »Sie ist eine harte Nuss. Das Schlimme daran ist, dass sie glaubt, sie wäre im Recht.«
»Und? Ist sie das nach euren Gesetzen?«
Der Admiral blickte sie überrascht an.
»Als wir Sklaven von Hequia geholt wurden, da waren wir auch im Recht. Und trotzdem musstest du erst kommen, um das deinen Leuten zu sagen. Wer weiß schon, was sonst mit uns geschehen wäre. Ohne dich.«
»Ich bin mir sicher …«, begann Thyrane, dann schüttelte er resigniert den Kopf. »Nein, ich bin mir nicht sicher, dass eure Fahrt ein gutes Ende genommen hätte. So wenig, wie ich garantieren kann, dass wirklich jemand von der Compagnie für das zur Verantwortung gezogen wird, was auf Rosarias geschehen ist. Es spielen viele Interessen eine Rolle, Sinao. Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass schließlich die Gerechtigkeit siegen wird. Aber ich kann es nicht. Malster ist nur ein kleiner Fisch in einem großen, schmutzigen Tümpel. Und wir können noch nicht einmal bis auf den Grund des Tümpels sehen, denn wir wissen nicht, was sie eigentlich auf der Insel gefunden haben.
Vielleicht wird man Malster fallenlassen. Vielleicht aber auch nicht. Ich werde jedenfalls mein Bestes geben, damit man sie und ihre Hintermänner zur Rechenschaft zieht. Verflucht noch eins, sie hat auf mich feuern lassen!«
Jetzt musste Sinao doch lächeln. Sie war sehr froh darüber, dass dem starrköpfigen alten Mann in dem Gefecht mit den Soldaten der Compagnie nichts passiert war.
»Was wird als Nächstes geschehen, wenn wir in Lessan ankommen?«, fragte sie Thyrane. Der Admiral zuckte mit den Schultern.
»Du meinst, wenn es mir gelingt, mich so weit zu beherrschen, dass ich das Weibsstück nicht vorher schon an einer Rah aufknüpfen lasse? Dann werde ich wohl zur Admiralität gehen müssen und ein förmliches Verfahren gegen Malster und die Compagnie anstrengen. Und ich hoffe, diese aufgeblasenen Beamten brauchen danach nicht erst einmal zwei Jahre, um den Papierkram zu regeln, bevor ihnen klar wird, dass die Compagnie zweifelsohne eine bedeutende Entdeckung auf Rosarias gemacht hat.«
»Denkst du, sie werden dir glauben und ein Schiff losschicken, um die Ruinen nochmal zu untersuchen? Oder um das zu finden, was dort versteckt war?«
»Das ist eine gute Frage. Einerseits war dort eine wirklich beeindruckende Macht am Werke, das wird Thaynric nicht einfach ignorieren können. Andererseits ist die Compagnie sehr einflussreich, und, wie du schon sagtest, was auch immer in den Ruinen gelegen hat, ist nicht mehr dort.«
»Manoel und ich könnten dir helfen, es aufzuspüren«, schlug Sinao vor.
Thyrane lachte leise. »Ich glaube nicht, dass Manoel allzu große Lust hätte, uns dabei zu helfen. Aber du kannst ihn ja fragen; ich muss ohnehin noch einen Bericht schreiben.« Er wies mit gespielt unglücklicher Miene auf seinen mit Papieren übersäten Schreibtisch.
Sinao sprang von ihrem Stuhl auf, erwiderte das Lächeln des alten Mannes und schlüpfte aus der Kajüte und an Hosred vorbei, der wieder auf seinen Posten zurückgekehrt war.
Als sie eben wieder an Deck treten wollte, tauchte in der Tür eine vertraute Silhouette auf. Die schlanke Gestalt mit den langen, zu verfilzten Zöpfen gebundenen Haaren hätte sie mittlerweile überall erkannt.
»Da bist du ja, Sin. Ich hab schon den halben Kahn nach dir abgesucht«, sagte der junge Maestre und tat einen Schritt zurück, um sie an sich vorbei und ins Freie zu lassen.
»Ich war beim Admiral, Mano. Er wollte, dass ich mir anhöre, was er mit Bailiff Malster bespricht«, erwiderte Sinao, als sie nebeneinander an Deck standen.
Bei der Erwähnung der Bailiff verzog Manoel das Gesicht. »Ich glaub nicht, dass irgendwas von dem, was sie zu sagen hat, es wert ist, gehört zu werden.«
Sinao schüttelte unwillig den Kopf. »Weswegen hast du mich gesucht?«, fragte sie dann. »Ich wollte nämlich auch zu dir.«
Manoel trat an die Reling und deutete ins Wasser. »Da ist eine ganze Gruppe von Grindwalen«, erklärte er. »Ich dachte mir, dass du sie dir vielleicht ansehen willst. Sie leben ziemlich weit draußen und kommen nur selten an die Küste.«
Sinao ließ ihren Blick dem ausgestreckten Arm des Maestre folgen. Tatsächlich entdeckte sie ein Stück weit von der Imperial entfernt neunzehn große, graue Körper mit Flossen, die sich im Wasser tummelten, scheinbar ziellos neben-, vor-und hintereinander her schwammen, bis sich schließlich zwei Wale aus der Gruppe lösten, in einem großen Bogen aus dem Wasser sprangen und sich dann klatschend wieder hineinfallen ließen.
Sinao lachte auf. »Das ist großartig.«
»Und Grindwale zu sichten bringt Glück«, versicherte ihr Manoel. »Das hat mir eine der Matrosinnen erklärt.«
»Vielleicht lag es ja daran, aber ich hatte heute tatsächlich schon Glück. Ich habe etwas Neues gelernt.«
»So? Was denn?«
»Nicht hier. Du musst mitkommen, damit ich es dir zeigen kann«, drängte Sinao und zog Manoel an der Hand hinter sich her, zwischen einhundertelf geschäftigen Matrosen hindurch und bis zum Bug des Schiffes.
Hier, zwischen den gewaltigen Taurollen, waren sie so ungestört, wie man es an Bord eines voll besetzten Kriegsschiffs nur sein konnte.
Mit einem raschen Seitenblick, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich keine Zuschauer hatten, griff Sinao in die Tasche ihrer Hose und nach dem Zemi-Stein, den sie stets als Talisman bei sich trug.
Sie strich vorsichtig über den glatten, bearbeiteten Stein, dann gab sie ihn Manoel.
»Wirf ihn mir zu«, forderte sie ihn auf.
»Nee, lieber nicht. Was ist, wenn du ihn nicht fängst und er kaputtgeht?«
»Los, mach schon.«
»Na gut.« Manoel rückte ein Stück von ihr ab, wog den Stein in der Hand und warf ihn dann in Sinaos Richtung.
Die Paranao hatte die Augen geschlossen. Sie zeigte keine Reaktion. Sie hob weder die Hand, um den Stein zu fangen, noch bewegte sie sich, um dem Wurf auszuweichen. Dennoch kam der Stein eine Handbreit vor ihrem Gesicht zur Ruhe. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und blieb dann völlig unbeweglich in der Luft hängen, wie von unsichtbaren Fingern gehalten.
Sinao öffnete die Augen und streckte den linken Arm aus. Als sich ihre Handfläche unter dem Stein befand, löste dieser sich aus seiner Starre und fiel in ihre Hand.
»Ich kann es kontrollieren, Mano«, flüsterte Sinao. »Ich muss nicht einmal mehr aufgeregt oder ängstlich dafür sein.«
Das Grinsen auf Manoels braungebranntem Gesicht drückte deutlich seine Anerkennung aus.
»Sehr gut, Maestra«, sagte er und verbeugte sich galant vor ihr.
FRANIGO
»Ihr, Mesér, seid ein Hund!«
Franigo spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Haut bildete, und er genoss die plötzlich in ihm aufsteigende Hitze. Mit einem Lächeln hob er den Degen grüßend vor das Gesicht und ließ die Beleidigung einfach an sich abperlen wie Wasser. »Ein Hund? Ich denke nicht, Mesér.«
Inzwischen war das Gesicht seines Gegenübers purpurrot und vor Wut verzerrt. »Oh doch! Ein Hund, der jede läufige Hündin besteigt!«
Franigo parierte den ungestümen Ausfall seines Gegners mit Leichtigkeit. »Habt Ihr gerade Eure Frau als läufige Hündin bezeichnet? Meine Güte, wer hätte gedacht, dass ich es sein würde, der in diesem Duell ihre Ehre verteidigen muss?«
Mit einem Aufschrei stürzte sich der betrogene Ehemann wieder auf Franigo, doch ein simpler Schritt zur Seite und ein schnelles Ducken genügten, um ihn ins Leere laufen zu lassen.
»Bastard!«
Franigo hob die Hand an die Stirn, als habe ihn das Wort tief verletzt. Dann schenkte er dem Mann ein boshaft süßes Lächeln. »Hätte ich gewusst, dass Ihr zu unserem kleinen Tête-à-tête praktisch unbewaffnet erscheint, hätte ich mir den Degen gespart.«
»Was? Ich trage meine Waffe mit Stolz«, erklärte der Duellant verwirrt und zeigte seinen wuchtigen Degen vor, als gäbe es auch nur die geringste Möglichkeit, dass dieser Franigo bislang nicht aufgefallen wäre.
»Ich bitte Euch, ich meinte nicht das plumpe Stück Stahl in Eurer ebenso plumpen Faust. Ich sprach von Eurer Zunge.«
»Ihr verspottet mich«, erkannte der Mann endlich, aber der Poet schüttelte nachsichtig den Kopf.
»Keineswegs, Mesér. Würde ich Euch verspotten, würdet Ihr Euch doch sicher zur Wehr setzen, oder etwa nicht? Stattdessen blökt Ihr nur wie ein Schafbock, was angesichts der stattlichen Hörner auf Eurem Haupte nicht ganz unangemessen ist.«
Wieder schrie der Ehemann wütend auf, als er vorstürmte, und gab Franigo so mehr als genug Zeit, sich auf den schlecht gezielten Stich vorzubereiten, die Klinge elegant abzulenken, so dass sein Gegner an ihm vorbeistolperte, und diesen dann mit einem beherzten Tritt ins Gesäß zu Boden zu schicken.
Der Hof war gepflastert, und der Mann schlug hart auf den Steinen auf. Immerhin ließ er dabei seine Waffe nicht aus den Fingern gleiten, was Franigo einen Funken Respekt abnötigte. Dennoch konnte der Dichter sich ein Lachen nicht verkneifen, als er seinen Gegner derart blamiert vor sich liegen sah. Einen Moment lang erwog er, ihm einen Stich in das emporgereckte Hinterteil zu verpassen, besann sich dann aber eines Besseren. Ein Stich in den Hintern schmerzt einige Wochen, ein Stich ins Herz ein Leben lang.
»Die schöne Francina hatte Recht«, befand er dementsprechend. »Es fällt Euch schwer, oben zu bleiben.«
Das Brüllen, das seine Feststellung quittierte, war Beweis genug für seine These, und er arbeitete in Gedanken bereits daran, den Satz in sein neuestes Stück einzubauen, als der Ehemann aufsprang und sich geifernd auf ihn stürzte.
Die Schläge kamen schnell und hart, wenig präzise, doch Franigo hatte genug damit zu tun, ihnen zu entgehen. Die Paraden sandten Vibrationen durch Hand, Arm und Körper, und er wurde Schritt für Schritt zurückgedrängt. Jeder Fehler konnte sein Ende bedeuten; spätestens nach seinen Spötteleien würde der gehörnte Gatte keine Gnade mehr zeigen. Genau dieses Wissen durchströmte den Poeten wie erfrischendes Quellwasser und spülte den schalen Geschmack der Behäbigkeit fort. Viel zu lange hatte er in düsteren Räumen gesessen und sich mit Gesetzgebung und der Gründung eines neuen Staatsgebildes befasst, obwohl er das Gefühl hatte, dabei gänzlich im Dunkeln zu tappen. Oder er hatte einer jener endlos scheinenden Beratungen gelauscht, von der die Revolution einen unerschöpflichen Vorrat zu bieten hatte.
All die trockenen Dispute und kleinkrämerischen Streitigkeiten hatten sich wie eine Wüste über seinen Geist gelegt, hatten ihm alle Frische entzogen, bis ihm nicht einmal mehr das kleinste Bonmot, geschweige denn ein vernünftiger Dialog einfallen wollte.
Langeweile und Verdruss hatten dazu geführt, dass er die Frau dieses aufgeblasenen Volksrichters Thebounu während einer Versammlung im Hinterzimmer verführt hatte, und Langeweile und die Suche nach ein wenig Aufregung hatten dafür gesorgt, dass dies so offensichtlich geschah, dass der Ehemann sie bei ihrem Schäferstündchen überraschte.
Der Mann hatte Franigo schon seit Wochen mit seinem schalen Geist und seiner Beamtenmentalität gequält, so dass dem Dichter die süßen Momente in den Armen der erheblich jüngeren und vor allen Dingen erheblich feurigeren Frau des Richters eine süße Entschädigung gewesen waren.
Auch hatte diese Kur ihre Wirkung nicht verfehlt. Franigo genoss das Duell nun in vollen Zügen. Er fühlte sich lebendiger als seit Wochen, und jeder Moment war köstlicher als zuvor ein ganzer Tag. Für Worte indes war keine Zeit mehr.
Der Angriff lief aus, die Hiebe kamen langsamer und schwächer, und Franigo wusste, dass sich dieses Duell dem Ende zuneigte. Es machte ihm Spaß, zu Beginn zu spielen, sich und seinen Gegner zu testen, aber das Ende musste voller Würde sein, wie es sich bei einem so männlichen Brauch gehörte.
Seine Waffe durchschnitt die Luft, fing den ungeschickten Hieb des Mannes ab, lenkte dessen Klinge zu Boden, dann wirbelte Franigo herum und stach unter dem eigenen Arm hindurch zu, mitten in den ungedeckten Leib seines Gegners. Der drehte sich noch weg, aber viel zu langsam, und die Spitze des Degens drang ihm in die Seite, glitt eine Handbreit in den Körper, dann drehte Franigo seine Pirouette weiter, und die Waffe zog sich zurück, so schnell und schneidig, wie sie die Wunde verursacht hatte.
Zur Sicherheit duckte sich der Poet zur Seite und hob den Degen zur Abwehr, doch als er seinen Gegner wieder erblickte, lag dieser am Boden. Diesmal hatte er seine Waffe fallen lassen und presste nun beide Hände auf die Wunde. Unter den Fingern färbte sich sein weißes Hemd rot.
Franigo trat an ihn heran, kniete neben ihm nieder, sorgsam darauf bedacht, seine eigene Kleidung nicht mit dem Blut an seiner Klinge zu beschmutzen.
Er legte die Hand auf die Schulter des Mannes und nickte ihm zu. Das Gesicht des Gestürzten war vor Schmerz verzerrt, aber er biss die Zähne zusammen und nickte. Ein Rest Stolz war ihm noch geblieben, und Franigo beschloss, ihm diesen zu lassen, wenn er ihm schon so viel anderes genommen hatte.
»Ein guter Kampf«, log er. In den Augen des Mannes blitzte es auf, und Franigo wusste, dass er durchschaut war, aber sein Gegner beschloss, die Scharade mitzuspielen und sein Gesicht zu wahren.
»Ja«, presste er hervor. Tränen liefen Thebounu aus den Augenwinkeln, also wandte der Poet sich ab und lief zum Ausgang des Hofs. Wie seltsam. Dieser Richter kennt keine Gnade, wenn es darum geht, auch nur das kleinste Vergehen gegen die hehren Ziele der Revolution zu bestrafen. Er hat Knaben hängen lassen, weil sie den Revolutionstruppen Brot gestohlen hatten, aber nun liegt er im Staub und weint, weil die Frau zu gern die Röcke hebt und wegen eines kleinen Kratzers in der Seite.
Draußen standen zwei Männer, dort an die Natursteinwand gelehnt, wo der halbwilde Efeu sie nicht für sich beansprucht hatte. Sie blickten Franigo fragend an, und er nickte. Es war gut, immer einen Doktor in der Nähe zu haben, wenn man mit scharfen Klingen aufeinander losging.
»Er wird Euch bezahlen, Mesér«, rief der Dichter ihnen nach, als sie den Hof betraten. Um seinen Kontrahenten machte er sich keine Sorgen; die Wunde war nicht tief, ein sauberer Stich. Schmerzhaft sicherlich, aber kaum lebensbedrohlich, wenn der Arzt sein Handwerk verstand.
Beschwingten Schrittes schlenderte Franigo durch die düsteren Gassen. In diesem Teil von Sargona standen die alten Häuser so dicht, dass sich ihre Giebel fast über den schmalen Straßen und Gässchen berührten und selbst an sonnigen Tagen nur wenig Licht den Boden erreichte. Hier gab es abgelegene Hinterhöfe, in denen zwei Männer noch ihre Ehrenhändel austragen konnten, ohne von neugierigen Soldaten oder Gendarmen aufgespürt zu werden.
Außerdem gab es in dem Viertel auch noch eine ganze Reihe schmieriger Kaschemmen, die billigsten Wein anboten. Eigentlich entsprach das weniger Franigos Geschmack, aber zumindest verirrten sich keine ehrbaren Bürger dorthin, deren Gesellschaft er in letzter Zeit zu oft ertragen musste.
Einige der Revolutionäre begannen bereits, sich auch als Tugendwächter aufzuspielen, und forderten, die Tavernen im Land zu schließen oder stark zu reglementieren, um den Weinkonsum der Bevölkerung rigoros einzuschränken, da nur ein nüchterner Revolutionär der guten Sache förderlich sei. Deshalb schlich Franigo immer wieder an diese Orte, die er noch gut aus früheren Tagen kannte und an denen man ihn verschwiegen und wissend begrüßte.
Genau so ein Etablissement war »Der goldene Stich«. Nichts an dem unscheinbaren Gebäude deutete auch nur an, dass man hinter der schiefen Tür einen Gastraum finden konnte. Der namensgebende Stich, eine Karte der Stadt, hatte natürlich mit Gold nichts zu tun, sonst hätte ihn sein Besitzer längst verkauft, sondern war lediglich ein vergilbtes, eingerissenes Stück Papier an der Wand hinter der Theke. Franigo trat in den Schankraum, zog den Hut vom Kopf, blickte sich ruhig um und nickte dem Wirt grüßend zu. Nach dem Kampf dürstete es ihn nach Wein und Gesellschaft, vornehmlich weiblicher, aber zur ersten Karaffe würde es auch eine Handvoll der rauen Gesellen tun, die an den Tischen saßen und tranken, als wollten sie nicht nur ihre eigene Vergangenheit vergessen, sondern gleich die aller Anwesenden im Raum.
Doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und ein junger Bursche stürmte in die Gaststube. Schnelle, aufgeregte Bewegungen an diesem Ort waren kein allzu guter Plan, denn keiner der Gäste hatte Lust, sich vor einem Revolutionstribunal wegen Trunkenheit zu verantworten. Zu schnell erwuchs in den heutigen Zeiten eine Anschuldigung aus der anderen, und bevor man sich’s versah, baumelten die eigenen Stiefelspitzen vier Handbreit über dem Boden.
Aus den Augenwinkeln sah Franigo, dass sich einige der nervöseren Besucher bereits erhoben hatten. Erst, als sie erkannten, dass von dem jungen Mann keine Gefahr ausging, setzten sie sich wieder, als sei nichts geschehen.
Das Gesicht des Burschen mit den hellen Augen und dem nur spärlich sprießenden Bartflaum kam dem Poeten vage bekannt vor. Also überraschte es ihn nur wenig, als der Junge sich an ihn wandte: »Mesér! Ich habe Euch überall gesucht. Ihr müsst dringend mitkommen!«
Da dies in etwa das Letzte war, was Franigo zu tun beabsichtigte, zog er fragend eine Augenbraue hoch, ein Mienenspiel, das er ausgiebig vor dem Spiegel geübt hatte, bis er sich seiner Wirkung sicher war.
»Warum sollte ich das tun?«
»Sie haben ihn verhaftet. Wegen Hochverrats, Mesér!«
»Wen, verflucht noch mal?«
»Alserras.«
ROXANE
Auf den ersten Blick waren es nicht mehr als Linien, Zahlen und Worte in winziger Schrift, die sich auf dem gewachsten Blatt Papier befanden, das Roxane auf dem Tisch ihrer Kajüte ausgerollt hatte. Aber sie sah diese Einzelheiten kaum; für ihr Auge enthüllte die nautische Karte bereits die wahrscheinlichste Route der Siorys. Ihr Finger fuhr über das Papier, und sie begann, im Kopf Kurse und Zeiten zu berechnen.
Der Gedanke an die Drachenküste und an das, was dahinter liegen mochte, hatte eine seltsam zwiespältige Wirkung auf sie. Sie hatte gesehen, was ein Drache gegen ein Schiff ausrichten konnte, hatte den Angriff eines der gigantischen Wesen in Boroges nur mit letzter Kraft überstanden. Und sie hatte gesehen, wozu die Menschen fähig waren, die die Ladung des schwarzen Schiffs jagten. Sie wusste genau, wie gefährlich ihre Mission für ihr Schiff, ihre Mannschaft und sie selbst war.
Und dennoch machte ihr die Jagd auf die Todsünde unleugbar Freude. Die Möglichkeit, in unbekannte Gewässer zu segeln, die Aussicht, vielleicht als erste Corbanerin neue Gestade zu betreten, war berauschend. Und ebenso der Gedanke, dass der Hiscadi, von dem sie noch vor kurzer Zeit geglaubt hatte, dass er dem sicheren Tod geweiht sei, sich nun wohlauf und an ihrer Seite befand.
Ja, Roxane wusste genau um die Gefahren ihrer Reise, und sie pfiff trotzdem ziemlich schief eine alte thaynrische Weise, während sie den Kurs neu berechnete.
Erst als es leise an die Tür klopfte, blickte sie wieder auf.
»Herein.«
Durch die nur spaltbreit geöffnete Tür schlüpfte ein schmächtiger Matrose, so vorsichtig, als sei er ein Dieb, der sich in ein Haus schlich. Er war in einen geflickten Mantel gekleidet, der ziemlich feucht war. Das Wetter draußen war schon seit einigen Tagen einigermaßen unberechenbar.
»Thay.« Verlegen hob der Junge eine Hand zum Gruß.
»Was gibt es, Bryns?«, erkundigte sich Roxane. Es war nicht ganz einfach gewesen, sich die Schiffsliste so schnell einzuprägen, aber sie war stolz auf das Kunststück, die Namen aller ihrer Untergebenen stets parat zu haben.
»Der Erste sagt, wir soll’n Sie fragen, ob Sie an Deck kommen können, Thay.«
Die Kapitänin hob die Brauen. »Mister Huwert möchte, dass ich raufkomme? Und wieso?«
Der Junge drehte verlegen die Strickmütze, die er sich vom Kopf gezogen hatte, in den Händen.
»Ich glaub, das weiß er auch nich’ so recht, Thay. Er hat bloß gesagt, Sie soll’n kommen.«
Mit einem Seufzen erhob sich Roxane. Sie nahm ihr Ölzeug von einem Haken an der Wand und deutete Bryns mit einem Nicken an, dass sie ihn begleiten würde.
Wahrscheinlich hätte auch eine genauere Befragung des Jungen nicht viel mehr an Informationen zutage gebracht; aber wenn Huwert sie darum bat, an Deck zu kommen, hatte er vermutlich einen guten Grund dafür. Der Mann war doppelt so alt wie sie und musste bereits Offizier gewesen sein, als Roxane noch zur Schule gegangen war.
Ob er es schwierig findet, von mir Befehle entgegenzunehmen? Sie schob die Frage beiseite. Der Einheit sei Dank richteten sich in der thaynrischen Marine Beförderungen nicht nur nach Dienstjahren, wenngleich dies durchaus vorkam, sondern man versuchte auch, nach Eignung und Befähigung Kommandos zu verleihen. Huwert war ein fähiger Mann, aber zu bedächtig und zu sehr um Ausgleich bemüht, um ein Schiff zu führen. Sie war froh, dass der Admiral ihn ihr zur Seite gestellt hatte, denn seine Erfahrung auf See war von großem Nutzen für sie.
Als Roxane hinter Bryns den Niedergang heraufkam, stellte sie zunächst erfreut fest, dass der Regen aufgehört hatte. Die Schlechtwetterfront war nach Norden gezogen, und sie hatte den Kurs etwas ändern lassen, um ihre Ausläufer zu umgehen. Noch waren die Wolken zu sehen und die Regenschauer, die wie Schleier von ihnen herabhingen, aber der kräftige Wind würde sie bald vertreiben.
Die Siorys fuhr nun nah an der Küste entlang, und Roxane konsultierte regelmäßig die Karten mit den eingezeichneten Landmarken. Sie war noch niemals in diesen Gewässern gefahren, und sie war besonders aufmerksam, da sie keine Lust auf unliebsame Überraschungen hatte. Zum Glück gab es vorläufig nur wenige Untiefen, und die Karten waren dank der Erfahrungen vieler Jahrhunderte detailliert und genau, so dass sie sich kaum Sorgen machen musste.
Das Schiff lag gut am Wind. Die Segel waren straff gespannt, und die Mannschaft hatte so viel Fläche gesetzt, wie ihre Kapitänin Tauen und Leinwand bei diesem Wind zutraute. Bislang übertraf die Siorys ihre Erwartungen an Geschwindigkeit und Kraft, was das alte Gerücht bestätigte, dass die Géronaee zwar die besseren Schiffbauer, aber die schlechteren Seefahrer waren.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen ging Roxane auf das Achterdeck zu und warf dabei der Mannschaft links und rechts Blicke zu. Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen, die Männer und Frauen taten ihre Arbeit, und es gab keine Anzeichen für irgendwelche besonderen Vorkommnisse.
Bald würden sie nach Fischerdörfern und Booten Ausschau halten müssen, um sicherzustellen, dass sie der Todsünde noch auf der Spur waren. Vielleicht hatte ihre Beute Wasser und Proviant aufnehmen müssen oder war zumindest gesehen worden. Spätestens, wenn sie auf ihren Gegner trafen, würde sich zeigen, wie gut das Zusammenspiel der Mannschaft war, wenn es darauf ankam.
Die Bewegungen des Schiffs waren ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen, die ersten Tage der Übelkeit schon beinahe vergessen. Ihre Beine federten das Drängen von Meer und Wind ab.
Als ihr Erster Offizier Huwert Roxane sah, kam er ihr einige Schritte entgegen und salutierte.
»Thay.«
Sie nickte grüßend und wandte sich dann an Bryns: »Sie können jetzt wegtreten.«
Der Junge war offenbar erleichtert, seinen Auftrag ausgeführt zu haben, und verschwand so rasch, als bekäme er eine Freiration Rum am anderen Ende des Schiffes.
»Was gibt es denn, Huwert?«, wandte sich Roxane an den großen, hageren Mann, dessen vollständig kahler Schädel im Augenblick unter einem Zweispitz verborgen war.
»Wir bekommen immer wieder seltsame Meldungen vom Ausguck, Thay.«
Roxane runzelte die Stirn. »Was meinen Sie mit seltsamen Meldungen?«
Huwert seufzte und wollte eben zu einer Erklärung ansetzen, als sie unterbrochen wurden.
»Untiefe voraus!«
Der Ruf des Ausgucks im Krähennest brachte Roxane dazu, zur Mars emporzublicken. Der Seemann deutete direkt voraus.
»Ruder zwei Strich Backbord«, befahl sie sicherheitshalber mit lauter Stimme, und die Pfeife des Bootsmannes griff ihre Anordnung auf und leitete sie weiter.
»Genau das meine ich mit seltsam, Thay«, raunte Huwert ihr zu. »Das ist schon die dritte angebliche Untiefe seit dem letzten Glasen. Dabei dürfte es hier überhaupt keine Sandbänke oder dergleichen geben.«
Roxane konnte dem älteren Mann nur beipflichten; das war wirklich merkwürdig. Eigentlich war sie sicher, dass auf ihrem Kurs keine Untiefen lagen, aber die Warnung war deutlich gewesen. Ein Risiko wollte sie nicht eingehen, also hatte sie den Kurswechsel angeordnet.
»Huwert, bleiben Sie auf dem Achterdeck. Ich schaue mir das mal an«, wies Roxane ihren Ersten Offizier an und wandte sich dann ab. Die Siorys legte sich leicht nach Backbord, während die Kapitänin möglichst gelassen auf das Hauptdeck hinabstieg.
»Bericht«, rief sie dem Ausguck zu. Sie wichen fast 23 Grad nach Norden aus, das sollte bei einer so guten Sicht wie heute mehr als genug sein, wenn der Mann im Krähennest rechtzeitig Meldung gegeben hatte.
»Kurs klar.«
Sie gestattete sich ein kurzes Lächeln. Bei der Prüfung, bevor man ihr ihr Offizierspatent verliehen hatte, war ihr eine ganz ähnliche Situation als Aufgabe gestellt worden, und sie konnte sich noch gut an jede Einzelheit dieses denkwürdigen Tages erinnern.
»Äh … doch nicht«, erschallte es vom Krähennest. »Will sagen, Untiefe voraus!«
Sie beschleunigte ihre Schritte nun doch, achtete dabei aber darauf, nicht ungebührlich schnell zu werden. Eine laufende Kapitänin konnte bei der Besatzung schnell Unruhe hervorrufen, und zu rennen war ihres Ranges ohnehin gänzlich unwürdig.
»Was denn nun?«, bellte sie erbost, während sie sich dem Ausguck näherte. »Mehr Untiefen?«
»Nein, Käpt’n. Sie … bewegt sich.«
»Die Untiefe?«
»Ja, Thay!«
Roxane wandte sich um.
»Schicken Sie noch einen Ausguck hoch, Fähnrich!«, rief sie Wallon zu, der mit gerunzelter Stirn nach vorn starrte. Es dauerte einen Moment, bis er den Befehl erkannte und ihn mit einem besonders schneidigen »Aye, aye, Thay!« quittierte.
Da war Roxane bereits weitergegangen. Immer eine Hand an stehendem Gut, stieg sie auf die Schanz, beschattete mit der anderen die Augen und suchte die unruhige See ab. Das Spiel der Wellen, die der Wind unablässig nach Norden trug, verdeckte die Sicht auf die seltsame, sich bewegende Untiefe. Kurz überlegte Roxane, weiter hinaufzusteigen, dann aber besann sie sich. Das war ihrer Position einfach nicht angemessen, auch wenn sie nicht übel Lust gehabt hätte, sich von den Sichtungen des Ausgucks mit eigenen Augen zu überzeugen. So würde sie auf die Berichte des zweiten Ausgucks warten müssen. Vermutlich ist der Kerl da oben ohnehin nur betrunken. Und sieht in der kabbeligen See alles Mögliche.
Dann aber wurden ihre Augen von einem Umriss angezogen, und alle Gedanken an Verfehlungen im Dienst waren vergessen. Unweit der Siorys war ein dunkler Fleck im Wasser zu erkennen. Die Größe war unter den Wellen schwer zu schätzen, aber dort war definitiv etwas. Und es lag mitten im Kurs der Korvette.
»Ruder drei Strich …«, begann sie einen Befehl, der bereits vom Bootsmann nach hinten weitergegeben wurde, da stockte sie. Der Fleck bewegte sich, als wäre es eine Schildkröte oder ein Wal, war aber viel zu schnell, um eines dieser Tiere zu sein. Er schoss geradezu durch das Wasser – direkt auf die Siorys zu.
»Ruder hart Backbord!«
Tauwerk und Holz protestierten lautstark, als sich das Schiff auf die Seite legte. Die Seeleute, die vorher ihren Aufgaben nachgekommen waren, liefen nun aufgeschreckt umher. Befehle wurden gebellt. Die Segel, eben noch fest gespannt, flatterten jetzt im veränderten Wind. Langsam, quälend langsam, bewegte sich der Bug.
Zu langsam. Der Schatten glitt auf sie zu. Für Roxanes Augen schien er fast wie eine Pfeilspitze geformt zu sein. Im letzten Moment, kurz bevor er das Schiff erreichte, erhaschte die Kapitänin einen Blick auf ihn, und ihr wurde schlagartig kalt, als sie den Umriss zweifelsfrei erkannte.
Es gab einen dumpfen Schlag, und die Korvette erzitterte vom Kiel bis in die Mastspitzen. Ein grausames, metallisches Reißen ertönte. Der Seemann, der zusätzlich in den Ausguck gesandt worden war, wurde über die Kante der Mars geschleudert. Er packte ein Tau und baumelte dann laut schreiend über dem Deck. Überall brach Chaos aus, da die Besatzung jegliche Disziplin verlor.
»Ruhe!«, donnerte Roxanes Stimme über das Deck. Und noch einmal: »Ruhe, verflucht!«
Tatsächlich kehrte Stille ein, wenn man von Wind und Meer absah. Hoch oben half der Ausguck seinem Kameraden, aber Roxane hatte keine Zeit, darauf zu achten. Sie musste sich darauf verlassen, dass ihre Besatzung auch jetzt noch funktionieren würde. Sie lief zurück nach achtern, wobei sie Anweisungen brüllte: »Klar Schiff zum Gefecht! Holt die Segel ran!«
Die Siorys lag durch das missglückte Ausweichmanöver unglücklich vor dem Wind, und schon verlor die Korvette an Fahrt. Es gab viel zu wenige Matrosen an Bord, um gleichzeitig die Geschütze zu bedienen und die Segel einzuholen, also versuchte Roxane, das Beste herauszuholen, was unter diesen Umständen möglich war.
»Drehen Sie sie wieder in den Wind, Rudergänger!«
Aus einigen Schritten Entfernung sah sie Jaquento, der in ihre Richtung lief. Seine Kleidung war unordentlich und sein langes Haar so nachlässig unter ein Tuch gestopft, als sei er gerade erst aus seiner Hängematte gesprungen.
»Was ist passiert?«
»Ein Drache«, erklärte Roxane grimmig. Jaquento drehte ruckartig den Kopf und suchte den Himmel ab.
»Nein, im Wasser. Unter Wasser.«
Er blickte sie ungläubig an, schüttelte den Kopf. Doch dann dämmerte es ihm. Er sah sich um.
»Wir müssen uns kampfbereit machen. Ich brauche eine Waffe.«
»Der Sergeant soll Gewehre an die Mannschaft ausgeben. Sag ihm, ich schicke dich. Was ist mit Bihrâd?«
»Er wird keine Waffe wollen. Danke.«
Bevor sie antworten konnte, ertönte es hinter ihr: »Thay, Wassereinbruch im Laderaum!«
Sie fuhr herum. »Zimmerleute runter! Mannschaft an die Pumpen! Ich will Berichte! Los! Los! Los!«
Ihre Befehle rissen die Seeleute aus Untätigkeit und Schreckensstarre. Einige Besatzungsmitglieder sprangen den Niedergang hinunter, andere begannen, lose Taue wieder aufzuwickeln.
Als Roxane sich wieder umwandte, war Jaquento bereits zurück unter Deck und auf dem Weg zur Waffenkammer, wo die Seesoldaten ausgerüstet wurden.