Fillory - Der König der Zauberer - Lev Grossman - E-Book

Fillory - Der König der Zauberer E-Book

Lev Grossman

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Beschreibung

Quentin muss die sieben goldenen Schlüssel finden, um nicht nur Fillory sondern alle magischen Welten und damit die Welt selbst zu retten. Quentin und seine Freunde, Julia, Janet und Eliot, sind nach Fillory zurückgekehrt, um in dieser magischen Welt als Könige und Königinnen zu leben. Aber schon bald wird Quentin dieser so ausgeglichenen und unveränderlichen Welt überdrüssig – er will das Abenteuer und er will sich nützlich machen. Als die Außeninsel ihre Steuern nicht bezahlt, nimmt er das zum Anlass, sich dorthin auf die Reise zu machen. Er hat ein uraltes Segelschiff gefunden, dass er aufwendig restaurieren lässt und sticht schließlich mit Julia und seinen Freunden in See. Doch was sie nicht wissen, ist, dass Julia sich auf einen gefährlichen Handel mit einer Gruppe abtrünniger Magier eingelassen hat. Sie erhält außergewöhnliche Kräfte, büßt dafür aber ihre Menschlichkeit ein. Und diese Magier haben zudem die alten Götter heraufbeschworen, die die magischen Welten zerstören wollen. Nur wenn Quentin und seine Freunde die sieben goldenen Schlüssel finden, können sie die Welt retten. Eine fantastische Suche beginnt, die die Freunde von Fillory über Chesterton, Massachusetts, Venedig und die Jenseitsinsel bis ans Ende der Welt führt.

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Seitenzahl: 694

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Lev Grossman

Fillory - Der König der Zauberer

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto][KARTE Die Reise Der Muntjak]Buch IKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Buch IIKapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Buch IIIKapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Buch IVKapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26

Für Sophie

Nun werden wir suchen

was wir niemals finden werden.

SIR THOMAS MALORY, Le Morte d’Arthur

Buch I

Kapitel 1

Quentin ritt eine Grauschimmelstute mit weißen Fesseln namens Wildfang. Er trug schwarze Lederstiefel mit Kniestulpen, bunte Beinkleider und einen marineblauen Mantel, der üppig mit Staubperlen und Silberfäden bestickt war. Seinen Kopf schmückte eine schmale Platinkrone, und gegen sein Bein schlug ein glänzendes Schwert – kein Zeremonienschwert, sondern eine echte Waffe, tauglich für den Kampf. Quentin besaß alle Attribute, die ihn als König von Fillory kennzeichneten. Es war ein warmer, aber bedeckter Morgen in den letzten Augusttagen, und Quentin war auf der Jagd nach einem magischen Kaninchen.

An Quentins Seite ritt eine Königin: Julia. Ihnen voraus ritten eine weitere Königin und ein weiterer König, Janet und Eliot – das Land Fillory zählte insgesamt vier Herrscher. Sie folgten einem erhöht angelegten Waldweg, übersät mit gelben Blättern, die so dekorativ verteilt lagen, als hätte ein Florist sie abgeschnitten und arrangiert. Die Reiter bewegten sich, schweigend und langsam, gemeinsam fort, aber jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Vor ihnen lagen die grünen Tiefen des Spätsommerwaldes.

Es war ein angenehmes Schweigen. Alles war angenehm. Schwierigkeiten gab es nicht. Der Traum war Wirklichkeit geworden.

»Halt!«, rief Eliot, der an der Spitze ritt.

Sie parierten die Pferde durch. Quentins Stute hielt jedoch nicht wie die anderen an, sondern tänzelte aus der Reihe und halb den Weg hinunter, bis es Quentin gelang, das Pferd für einen Moment zum Stehen zu bringen. Zwei Jahre König in Fillory, und er war immer noch ein lausiger Reiter.

»Was ist los?«, rief er.

Schweigend warteten sie ab. Sie hatten keine Eile. Wildfang schnaubte einmal in die Stille hinein: hochmütige Pferdeverachtung für das menschliche Vorhaben, welches es auch immer sein mochte.

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

»Ich frage mich allmählich«, sagte Quentin, »ob wir ein Karnickel überhaupt aufspüren können.«

»Es ist ein Hase«, erwiderte Eliot.

»Ist doch egal.«

»Nein, ist es nicht. Hasen sind größer und leben nicht in Bauten, sondern graben Mulden im offenen Feld.«

»Nicht schon wieder!«, stöhnten Julia und Janet im Chor.

»Meine eigentliche Frage ist«, fuhr Quentin fort, »wenn dieses Karnickelvieh tatsächlich die Zukunft voraussehen kann, weiß es dann nicht, dass wir es fangen wollen?«

»Die Zukunft kann es sehen«, erwiderte Julia hinter ihm leise. »Aber es kann sie nicht verändern. Habt ihr drei euch in Brakebills auch ständig gestritten?«

Sie trug ein beerdigungsschwarzes Reitkleid und einen ebenfalls schwarzen Kapuzenumhang. Sie trug stets Schwarz, als sei sie in Trauer, obwohl Quentin niemand einfiel, um den sie hätte trauern können. Ganz nebenbei, als rufe sie einen Kellner, lockte Julia einen winzigen Singvogel auf ihr Handgelenk und hob ihn ans Ohr. Er zwitscherte und gurrte etwas, und auf ihr Nicken hin flog er wieder davon.

Niemand außer Quentin schien es zu bemerken. Julia tauschte ständig kleine Geheimnisse mit den sprechenden Tieren aus. Es war, als funke sie auf einer anderen Frequenz als er und die anderen.

»Du hättest uns Jollyby mitnehmen lassen sollen«, bemerkte Janet. Sie gähnte und hielt sich den Handrücken vor den Mund. Jollyby war Jagdmeister auf Schloss Whitespire, wo sie alle wohnten. Normalerweise leitete er solche Exkursionen.

»Jollyby ist großartig«, antwortete Quentin, »aber nicht mal er könnte einen Hasen im Wald aufspüren. Ohne Hunde. Wenn kein Schnee liegt.«

»Kann sein, aber Jollyby hat so tolle Wadenmuskeln. Ein hübscher Anblick. Er trägt solche Männerstrumpfhosen.«

»Ich trage auch Männerstrumpfhosen«, warf Quentin gespielt beleidigt ein. Eliot schnaubte.

»Ich wette, er ist sowieso hier irgendwo in der Nähe.« Eliot spähte noch immer zwischen den Bäumen hindurch. »In diskreter Entfernung und so weiter. Nichts kann diesen Mann von einem königlichen Jagdausflug fernhalten.«

»Pass auf, was du jagst«, bemerkte Julia, »du musst es auch fangen.«

Janet und Eliot sahen sich an: eine weitere rätselhafte Weisheit von Julia. Sogar Quentin runzelte die Stirn. Julia hatte ihre eigene Logik.

Quentin war nicht immer ein König gewesen, weder in Fillory noch sonst wo. Keiner von ihnen war königlichen Blutes. Quentin war als normaler Nichtzauberer völlig unaristokratisch in Brooklyn aufgewachsen, in einer Umgebung, die er trotz allem bis heute als die normale Welt betrachtete. Er hatte geglaubt, Fillory sei eine Fiktion, ein verzaubertes Land, das nur als Handlungsort für eine Reihe von Kinder-Fantasyromanen diente. Doch dann erlernte er die Zauberei an einem geheimen College namens Brakebills, und wie seine Freunde fand er heraus, dass Fillory tatsächlich existierte.

Doch diese Welt war nicht so, wie sie sie sich vorgestellt hatten. Fillory war in Wirklichkeit düsterer und gefährlicher als in den Büchern. Schlimme Dinge ereigneten sich dort, schreckliche Dinge. Menschen wurden verletzt, gequält und getötet. Quentin kehrte auf die Erde zurück, einsam und verzweifelt. Sein Haar war schlohweiß geworden.

Doch dann hatten er und die anderen sich wieder vereint und waren nach Fillory zurückgekehrt. Sie hatten ihren Ängsten und Verlusten ins Auge geblickt, ihre Plätze auf den vier Thronen von Schloss Whitespire eingenommen und waren Könige und Königinnen geworden. Und es war wunderbar. Manchmal konnte Quentin kaum glauben, dass er so vieles überlebt hatte, während Alice, das Mädchen, das er geliebt hatte, sterben musste. Es war schwer, das gute Leben, das er jetzt führte, anzunehmen, da Alice es nie gekannt hatte.

Trotzdem musste er es tun. Wozu wäre sie sonst gestorben? Er nahm seinen Bogen von der Schulter, stellte sich in die Steigbügel und sah sich um. Seine steifen Knie knackten erleichtert. Es herrschte Totenstille bis auf das Rascheln der Blätter, die sich im Fallen berührten.

Ein graubrauner Blitz flitzte dreißig Meter vor ihnen über den Weg und verschwand mit einem Satz im Unterholz. Mit einer schnellen, fließenden Bewegung, die ihn viel Übung gekostet hatte, legte Quentin einen Pfeil ein und spannte den Bogen. Er hätte einen magischen Pfeil benutzen können, aber das fand er unsportlich. Er zielte lange, kämpfte gegen den starken Bogen an und schoss.

Der Pfeil bohrte sich bis zu den Federn in den lehmigen Boden, genau dort, wo die flinken Pfoten des Hasen noch Sekunden zuvor gewesen waren.

»Knapp vorbei«, bemerkte Janet trocken.

Nie und nimmer würden sie dieses Vieh erwischen.

»Du willst mit mir spielen?«, rief Eliot. »Jaa!«

Er gab seinem schwarzen Schlachtross die Sporen. Es wieherte, stieg gehorsam und schlug mit den Vorderhufen in die Luft, bevor es vom Weg hinunter in den Wald stürmte, dem Hasen hinterher. Das Krachen auf seinem Weg durch die Bäume verstummte praktisch sofort. Die Zweige peitschten hinter ihm an ihren alten Platz und regten sich nicht mehr. Eliot war kein lausiger Reiter.

Janet blickte ihm nach.

»Hüh, Silver«, sagte sie. »Was wollen wir eigentlich hier draußen?«

Gute Frage. Im Grunde ging es gar nicht darum, den Hasen zu fangen. Es ging darum – ja, worum eigentlich? Wonach suchten sie? Zu Hause im Schloss warteten Annehmlichkeiten im Überfluss. Ein ganzes Heer von Personal war nur dazu da, dafür zu sorgen, dass jeder Tag ihres Lebens absolut vollkommen war. Es war, als sei man der einzige Gast eines Zwanzigsternehotels, das man niemals zu verlassen brauchte. Eliot schwebte im siebten Himmel. Er hatte alles, was er an Brakebills immer geliebt hatte – den Wein, die Speisen, die Zeremonien, jedoch ohne die Arbeit. Eliot genoss das Herrscherdasein in vollen Zügen.

Auch Quentin gefiel es, aber er war ruhelos. Er sehnte sich nach etwas anderem – nach was, wusste er nicht genau. Doch als der Sehende Hase in der weiteren Umgebung Whitespires gesichtet worden war, war ihm klargeworden, dass er einen Tag Pause vom Nichtstun brauchte. Er wollte versuchen, ihn zu fangen.

Der Sehende Hase war eines der Einzigartigen Geschöpfe Fillorys. Es gab ein Dutzend von ihnen – das Suchmich-Tier, das Quentin einst drei Wünsche gewährt hatte, war eines von ihnen, und ebenso der Große Friedensvogel, ein unbeholfenes, flugunfähiges, gefiedertes Wesen ähnlich einem Kasuar, das eine Schlacht beenden konnte, indem es zwischen den gegnerischen Armeen erschien. Von jedem dieser Geschöpfe existierte nur ein einziges – daher ihr Name, und jedes besaß eine besondere Gabe. Der Unsichtbare Überwacher war eine große Eidechse, die einen, wenn man es wünschte, ein Jahr lang unsichtbar machen konnte.

Nur selten erblickten die Menschen ein solches Geschöpf, geschweige denn, dass sie eines fingen, und so waren zahlreiche Gerüchte über sie im Umlauf. Niemand wusste, wo sie herkamen oder was ihr Nutzen war, wenn sie denn einen hatten. Sie existieren seit jeher und bildeten einen festen Bestandteil der verzauberten Landschaft Fillorys. Offenbar waren sie unsterblich. Die Gabe des Sehenden Hasen war es, jedem, der ihn fing, die Zukunft vorauszusagen, so wollte es die Legende. Seit Jahrhunderten war er nicht mehr gefangen worden.

Nicht, dass Quentin einen Blick in die Zukunft dringend gebraucht hätte. Er besaß eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie sein künftiges Leben aussehen würde, nämlich nicht wesentlich anders als sein derzeitiges. Und es war ein gutes Leben.

Schon früh hatten sie die Spur des Hasen aufgenommen. Der Morgen war noch taufeucht und klar gewesen, als sie ausgezogen waren und dabei lauthals im schönsten Falsett selbstgedichtete Hasenfanglieder zur Melodie von »Ritt der Walküren« geschmettert hatten. Seitdem hatte das Tier sie im Zickzack quer durch den Wald gelockt. Es blieb sitzen und rannte wieder los, zog Schleifen, schlug Haken, versteckte sich im Gebüsch und flitzte ihnen dann kreuz und quer über den Weg, immer und immer wieder.

»Ich glaube nicht, dass er wieder zurückkommt«, bemerkte Julia.

Sie redete nicht viel in letzter Zeit, teils nicht mal mehr das Allernötigste.

»Na schön. Den Hasen können wir vielleicht nicht fangen, dafür aber ganz sicher Eliot.« Janet trieb ihr Reittier sanft vom Weg herunter und zwischen die Bäume. Sie trug eine tief ausgeschnittene jagdgrüne Bluse und Männerchaps. Ihr Hang zu männlicher Kleidung war in diesem Jahr bei Hofe der Skandal der Saison gewesen.

Julia ritt kein Pferd, sondern einen riesigen pelzigen Vierbeiner, den sie als Zibetkatze bezeichnete und der tatsächlich auch so aussah: langgestreckt, braun und leicht katzenhaft, mit sanft gewölbtem Rücken, allerdings so groß wie ein Pferd. Quentin hatte den Verdacht, dass das Tier sprechen konnte – seine Augen blickten ein wenig verständiger, als sie sollten, und stets schien es ihre Unterhaltungen mit etwas mehr als angemessenem Interesse zu verfolgen.

Wildfang weigerte sich zunächst, der Zibetkatze zu folgen, die moschusartig und so gar nicht nach Pferd roch, gehorchte aber schließlich, wenn auch widerwillig und steifbeinig.

»Ich habe gar keine Dryaden gesehen«, bemerkte Janet. »Ich dachte, hier gäbe es welche.«

»Ich habe auch keine gesehen«, antwortete Quentin. »Im Königinnenwald scheinen sie sich nicht mehr aufzuhalten.«

Wie schade. Quentin mochte die Dryaden, jene mysteriösen Nymphen, die über die Eichen wachten. Man merkte erst so richtig, dass man in einer magischen Gegenwelt war, wenn plötzlich eine wunderschöne Frau in einem knappen Blättergewand aus einem Baum sprang.

»Ich dachte, sie könnten uns vielleicht helfen, den Hasen zu fangen. Kannst du nicht eine rufen oder herbeibeschwören, Julia?«

»Man kann sie rufen oder beschwören, wie man will. Sie werden nicht kommen.«

»Ich habe sowieso genug von ihren Nörgeleien über die Landverteilung«, warf Janet ein. »Und wo sind sie überhaupt, wenn nicht hier? Gibt es irgendwo einen cooleren, magischeren Wald, in dem sie herumspuken?«

»Sie sind keine Gespenster«, erwiderte Julia, »sondern Geister.«

Die Pferde suchten sich vorsichtig den Weg über einen Sandwall, der zu gleichmäßig war, um natürlichen Ursprungs sein zu können – ein altes Erdbauwerk aus fernen, unergründlichen Zeiten.

»Vielleicht könnten wir sie dazu überreden, hierzubleiben«, überlegte Janet, »indem wir sie mit attraktiven Erlassen ködern. Oder sie einfach an der Grenze aufhalten. Der Königinnenwald ohne Dryaden ist doch Scheiße.«

»Viel Glück«, erwiderte Julia. »Dryaden sind wehrhaft. Ihre Haut ist hart wie Holz. Und sie haben Knüppel.«

»Ich habe noch nie eine Dryade kämpfen sehen«, warf Quentin ein.

»Weil niemand so dumm ist, sich mit ihnen anzulegen.«

Als sei das ihr Stichwort gewesen, nutzte die Zibetkatze den Moment, um loszurennen. Zwei mächtige Eichen neigten sich tatsächlich zur Seite, um Julia durchzulassen. Dann richteten sie sich wieder auf, so dass Janet und Quentin sie umrunden mussten.

»Hast du gehört, was sie gesagt hat?«, fragte Janet. »Sie wird immer mehr zur Einheimischen! Ich habe es satt, dass sie sich ständig als die bessere Fillory-Bewohnerin aufspielt. Hast du gesehen, wie sie mit dem bescheuerten Vogel geplappert hat?«

»Ach, lass sie doch in Ruhe«, entgegnete Quentin. »Sie ist schon in Ordnung, so wie sie ist.«

Doch ehrlich gesagt war sich Quentin ziemlich sicher, dass mit Königin Julia nicht alles in Ordnung war.

Julia hatte die Zauberkunst nicht auf die gleiche Weise erlernt wie die anderen drei, die das reguläre Schulsystem von Brakebills durchlaufen hatten. Sie und Quentin waren zusammen auf die Highschool gegangen, doch sie hatte die Aufnahmeprüfung für Brakebills nicht geschafft und war zu einer Halbhexe geworden: Sie hatte sich die Zauberei selbst angeeignet, ganz nebenbei, abseits der offiziellen, institutionellen Magie. Sie hatte riesige Wissenslücken, und ihre Technik war so schlampig und abstrus, dass Quentin manchmal kaum glauben konnte, dass sie überhaupt funktionierte.

Anderseits besaß sie ein besonderes Wissen, das Quentin und den anderen fehlte. Sie hatte nicht vier Jahre lang unter der Fuchtel der Brakebills-Lehrerschaft gestanden, die darauf geachtet hätte, dass sie auf den vorgezeichneten Wegen blieb. Sie hatte mit Leuten geredet, mit denen Quentin sich niemals eingelassen hätte, und Erfahrungen gesammelt, vor denen Quentins Dozenten ihn sorgsam abgeschirmt hätten. Julias Magie besaß scharfe Kanten und spitze Ecken, die nie abgeschliffen worden waren.

Ihre besondere Ausbildung machte sie andersartig. Sie sprach anders. Brakebills hatte Quentin, Janet und Eliot gelehrt, der Zauberei mit Witz und Ironie zu begegnen, doch Julia nahm sie bitterernst. Sie lebte sie auf düstere Weise aus, in einem schwarzen Hochzeitskleid, mit schwarzem Eyeliner. Janet und Eliot fanden das schräg, aber Quentin gefiel es. Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Sie war seltsam und finster, während Fillory ihn und die anderen so verdammt unbeschwert gemacht hatte. Er mochte es, dass sie nicht ganz normal war und sich nicht darum scherte, wer davon wusste.

Auch den Bewohnern Fillorys gefiel ihre Art. Julia hatte eine besondere Beziehung zu ihnen, besonders zu den exotischeren unter ihnen, den Geistern und Elementargeistern, den Dschinns und den noch seltsameren und extremeren Wesen – den Randgestalten in der Nebelzone zwischen dem Biologischen und dem durch und durch Magischen. Sie war ihre Hexenkönigin, und sie liebten sie.

Doch Julia hatte für ihre Ausbildung einen Preis gezahlt. Welchen genau, war schwer zu definieren, doch was immer es war, es hatte Spuren hinterlassen. Sie schien keine menschliche Gesellschaft mehr zu wollen oder zu brauchen. Mitten bei einem Staatsbankett, einem königlichen Ball oder sogar einer Unterhaltung verlor sie plötzlich das Interesse und ging fort. Das geschah immer häufiger. Manchmal fragte sich Quentin, wie hoch der Preis für ihre Ausbildung genau gewesen war und wie sie ihn bezahlt hatte, doch wenn er sie fragte, wich sie ihm jedes Mal aus. Ob er dabei war, sich in sie zu verlieben? Ein zweites Mal?

In der Ferne erklang ein Jagdhorn – drei klare, silberhelle Töne, gedämpft von der drückenden Stille des Waldes. Eliot blies ein Jagdsignal, den Hunderuf.

Er war kein Jollyby, brachte aber einen absolut glaubwürdigen Hunderuf hervor. Gesetze zu erlassen lag ihm nicht, aber Eliot war pingelig, wenn es um königliche Etikette ging, wozu auch gehörte, das Fillory-Jagdprotokoll strikt zu befolgen. (Obwohl er jede Art des Tötens geschmacklos fand und sich normalerweise davor drückte.) Wildfang genügte sein Ruf. Sie zitterte wie elektrisiert und wartete auf die Erlaubnis loszurennen. Quentin grinste Janet an, und sie grinste zurück. Er stieß einen Cowboyruf aus, ließ sein Pferd vom Zügel, und weg waren sie.

Es war wahnsinnig gefährlich – eine schonungslose Querfeldeinjagd. Gräben taten sich urplötzlich vor ihnen auf, und niedrige Äste peitschen aus dem Nichts herunter, um ihnen den Kopf abzuschlagen (natürlich nicht buchstäblich, aber bei den älteren, verschrobeneren Bäumen wusste man nie). Doch wofür gab es Heilzauber? Wildfang war ein Vollblut. Den ganzen Morgen hatten sie sich ziellos, schrittweise fortbewegt und ständig angehalten; jetzt brannte sie auf einen gestreckten Galopp.

Und wann hatte Quentin schon mal die Gelegenheit, seine königliche Person einem Risiko auszusetzen? Wann hatte er zum letzten Mal gezaubert? Sein Leben war nicht gerade gefahrvoll. Tagsüber fläzten sie sich auf Kissen, und nachts aßen und tranken sie bis zur Besinnungslosigkeit. In letzter Zeit kniff ihn beim Hinsetzen ganz ungewohnt die Gürtelschnalle in den Bauch – er musste sieben Kilo zugenommen haben, seitdem er den Thron bestiegen hatte. Kein Wunder, dass Könige auf Gemälden immer so fett aussahen. Man begann als Prinz Eisenherz und endete im Nu als Heinrich VIII.

Janet übernahm die Führung, geleitet von weiteren gedämpften Jagdhornklängen. Es war eine Freude, wie die Pferdehufe über den festen Lehm des Waldbodens donnerten. Alles Süßliche des Lebens bei Hofe, die Sicherheit und die gnadenlose Bequemlichkeit, verflogen für den Moment. Baumstämme und Dickicht, Gräben und altes Mauerwerk flogen verschwommen vorbei. Sie tauchten abwechselnd in heißes Sonnenlicht und kühle Waldluft, so schnell, dass die fallenden gelben Blätter in der Luft zu schweben schienen. Quentin wartete die passende Gelegenheit ab, und als sie ein offenes Wiesenstück erreichten, schloss er von rechts auf. Eine Weile ritten sie Seite an Seite, lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Dann fiel Janet plötzlich zurück. So schnell er konnte, brachte Quentin sein Ross zum Stehen und wendete keuchend. Hoffentlich lahmte Janets Pferd nicht! Er musste ein ganzes Ende zurückreiten, ehe er sie fand.

Reglos und aufrecht saß sie im Sattel und spähte in die Mittagsschatten des Waldes. Das Jagdhorn war verstummt.

»Was ist?«, fragte Quentin.

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen«, antwortete sie.

Quentin hielt ebenfalls Ausschau. Da war etwas. Schemenhafte Gestalten.

»Ist das Eliot?«

»Was machen die denn da?«, fragte Janet.

Quentin ließ sich aus dem Sattel rutschen, nahm den Bogen wieder von der Schulter und legte einen Pfeil ein. Er ging vorneweg, Janet führte die Pferde. Er hörte, wie sie einen leichten Verteidigungszauber aufwarf, einen dünnen Schutzschild, nur für alle Fälle. Er spürte das vertraute statische Kribbeln.

»Scheiße«, stieß er unterdrückt hervor.

Er ließ den Bogen fallen und rannte los. Julia kauerte auf einem Knie, presste eine Hand an die Brust und keuchte oder schluchzte, er konnte es nicht genau ausmachen. Eliot beugte sich über sie und redete ihr beruhigend zu. Seine Jacke aus Goldstoff war ihm halb von der Schulter geglitten.

»Alles gut«, sagte er, als er Quentins aschfahles Gesicht sah. »Diese Scheißkatze hat gebuckelt und sie abgeworfen. Ich habe versucht, das Vieh festzuhalten, aber es hat sich losgerissen. Ihr ist nichts passiert, nur ein bisschen die Luft weggeblieben.«

»Alles gut.« Wieder dieser Ausdruck. Quentin rieb Julia über den Rücken, während sie rasselnd nach Atem rang. »Alles in Ordnung. Habe ich dir nicht schon immer gesagt, du solltest dir mal ein richtiges Pferd anschaffen? Ich konnte das Biest noch nie leiden.«

»Beruht auf Gegenseitigkeit«, brachte sie hervor.

»Schaut mal.« Eliot zeigte ins Dämmerlicht. »Deswegen hat sie sich erschreckt. Der Hase ist reingelaufen.«

Einige Meter entfernt lag eine runde Lichtung, eine idyllische Rasenrotunde im Herzen des Waldes. Die Bäume wuchsen bis an den Rand und nicht weiter, als hätte jemand die Fläche gerodet und sauber abgegrenzt, wie mit einem Zirkel. Quentin arbeitete sich durch das Unterholz zu ihr vor. Üppiges, leuchtend smaragdgrünes Gras wuchs auf krümeliger schwarzer Erde. In der Mitte der Lichtung ragte eine einzelne, riesige Eiche empor, in deren Stamm eine große runde Uhr eingelassen war.

Die Uhrenbäume waren das Erbe der Wächterin, der legendären – aber durchaus realen – zeitreisenden Hexe von Fillory. Diese Bäume waren ein magischer Aberwitz, gutmütig, soweit bekannt, und auf surrealistische Weise malerisch. Es gab keinen Grund, sie zu zerstören, sofern das überhaupt möglich gewesen wäre, und auch wenn sie sonst keinen Nutzen hatten, so zeigten sie wenigstens stets die genaue Uhrzeit an.

Ein solches Exemplar hatte Quentin jedoch noch nie gesehen. Die Eiche erhob sich an die dreißig Meter hoch, und der Stammumfang am unteren Ende betrug gewiss fünfzehn Meter. Die Uhr war gewaltig, das Ziffernblatt höher, als Quentin groß war. Der Stamm wurzelte im grünen Gras und verzweigte sich oben in ein Gestrüpp knorriger Äste, wie ein aus Holz geschnitzter Krake.

Der Baum bewegte sich. Seine schwarzen, fast blattlosen Äste wanden sich und peitschen den grauen Himmel. Er schien von einem Sturm gebeutelt zu werden, obwohl Quentin keinen Windhauch spürte. Der Tag – jedenfalls der, den er mit seinen fünf Sinnen wahrnehmen konnte – war ruhig. Es schien ein geheimer Sturm zu sein, nicht sichtbar, nicht spürbar. In seiner Agonie hatte der Baum seine Uhr erwürgt. Das Holz hatte sich so fest um sie geklammert, dass sich die Lünette schließlich verbogen hatte und das Glas zerbrochen war. Das Messinguhrwerk quoll durch das geborstene Ziffernblatt bis hinunter aufs Gras.

»Mein Gott!«, stieß Quentin hervor. »Was für ein Ungeheuer!«

»Der Big Ben der Uhrenbäume«, bemerkte Janet hinter ihm.

»So einen habe ich noch nie gesehen«, sagte Eliot. »Glaubst du, es ist der erste, den die Wächterin je erschaffen hat?«

Wie auch immer, es war ein fillorianisches Wunder, ein echtes – wild, großartig und seltsam. Quentin hatte schon lange keines mehr gesehen, oder besser: keines mehr bemerkt. Eine Regung durchfuhr ihn, wie er sie seit Embers Grabmal nicht mehr empfunden hatte: Angst, nein, mehr noch. Ehrfurcht. Sie standen im Angesicht des Mysteriums. Das war das Ursprüngliche, die Hauptlinie, die ur-, uralte Magie.

Sie verharrten alle nebeneinander und blickten über die Wiese. Der Minutenzeiger der Uhr stand im rechten Winkel vom Stamm ab wie ein gebrochener Finger. Einen Meter vom Fuß des Baumes entfernt, dort, wo die Zahnräder aufgeschlagen waren, wuchs ein kleiner Sprössling, wie ein junger Ahorn, der in dem lautlosen Sturm hin und her schwankte. In seinem schlanken Stamm tickte eine Taschenuhr. Ein entzückendes Beiwerk, typisch Fillory.

Das war vielversprechend!

»Ich gehe als Erster.«

Quentin wollte losmarschieren, aber Eliot legte ihm die Hand auf den Arm.

»Lass das lieber.«

»Warum?«

»Weil sich Uhrenbäume normalerweise nicht so bewegen und ich noch nie einen gesehen habe, der derartig zerstört war. Ich wusste gar nicht, dass sie überhaupt kaputtgehen können. Hier ist es nicht geheuer. Der Hase muss uns hergeführt haben.«

»Schon klar. Aber das ist doch klassisch, oder?«

Julia schüttelte den Kopf. Sie sah blass aus und hatte ein trockenes Blatt in den Haaren, war aber wieder auf den Beinen.

»Sieh dir mal an, wie regelmäßig die Lichtung ist«, warf sie ein. »Ein perfekter Kreis oder jedenfalls eine Ellipse. Vom Zentrum strahlt ein kraftvoller Arealeffekt aus. Oder von den Zentren«, fügte sie leise hinzu, »falls es eine Ellipse ist.«

»Wer weiß, wo du da hineingeraten würdest«, gab Eliot zu bedenken.

»Natürlich weiß man das vorher nicht. Deswegen gehe ich ja rein.«

Es war genau das, was er brauchte. Genau darauf hatte er, ohne es zu wissen, gewartet. Mein Gott, war das lange her! Hier winkte ein Abenteuer. Wie konnten die anderen auch nur einen Augenblick zögern? Hinter ihm wieherte Wildfang leise in die Stille hinein.

Hier ging es gar nicht um Mut. Sie hatten einfach vergessen, wer sie waren, wo sie waren und warum sie hier waren. Quentin griff nach seinem Bogen und zog einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. Nur um es auszuprobieren, legte er an, spannte den Bogen und schoss auf den Baumstamm. Doch bevor er sein Ziel erreichte, verlangsamte sich der Pfeil, so als flöge er durch Wasser. Sie sahen, wie er dahinschwebte und wie in Zeitlupe nach hinten abkippte und umgedreht wurde. Schließlich kam er ganz zum Stillstand, fünf Meter über dem Boden.

Dann zerbarst er geräuschlos in weiße Funken.

»Wow!« Quentin lachte unwillkürlich. »Die Lichtung ist hammergeil verzaubert!«

Er drehte sich zu den anderen um.

»Was sagt ihr dazu? Das sieht mir verdammt nach einem Abenteuer aus. Erinnert ihr euch noch an Abenteuer? Wie in den Büchern.«

»Ja, erinnert ihr euch noch?«, erwiderte Janet regelrecht aufgebracht. »Erinnert ihr euch noch an Penny? Lange nicht gesehen, oder? Echt, ich habe keine Lust, dir für den Rest meiner Regierungszeit als Königin das Essen kleinzuschneiden.«

Erinnert ihr euch noch an Alice?, hätte sie genauso gut sagen können. Quentin erinnerte sich noch allzu gut. Alice war gestorben, aber sie hatten überlebt – und verhieß das hier nicht Leben? Er wippte auf den Zehenspitzen. Sie kribbelten und schwitzten in seinen Stiefeln, nur zwei Handbreit vom Rand der verzauberten Lichtung entfernt.

Natürlich hatten die anderen recht. Hier stank es förmlich nach schräger Magie. Es war eine Falle, eine bis zum Anschlag zusammengepresste Sprungfeder, die darauf brannte, loszuschnellen und ihn in ihren Spiralen zu fangen. Aber das war ihm nur recht. Er wollte seinen Finger hineinstecken und sehen, was passierte. Eine Geschichte, eine Suche begann hier, und er war bereit zum Aufbruch. Bereit für etwas Frisches, Klares, Unsicheres im Kontrast zu dem trägen, weichen, fetten Palastleben. Die schützende Plastikfolie war entfernt worden.

Er fragte: »Wollt ihr wirklich nicht mitkommen?«

Julia sah ihn nur an. Eliot schüttelte den Kopf.

»Ich bleibe lieber in Sicherheit. Aber ich kann dir von hier aus Rückendeckung geben.«

Eifrig murmelte er einen einfachen Demaskierungszauber, um magische Einflüsse sichtbar zu machen. Magie knisterte und sprühte Funken rund um seine Hände, während er sie zu seinen Worten bewegte. Quentin zog sein Schwert. Die anderen hänselten ihn dafür, dass er es trug, aber es verlieh ihm Zuversicht, wenn er es in der Hand hielt. Er fühlte sich wie ein Held. Oder zumindest sah er aus wie einer.

Julia fand es nicht lustig. Im Grunde konnte sie in letzter Zeit über kaum noch etwas lachen. Ach, notfalls konnte er das Schwert ja einfach fallen lassen, falls er Magie einsetzen musste.

»Was hast du eigentlich vor?«, fragte Janet, die Hände in die Hüften gestemmt. »Mal im Ernst? Willst du etwa raufklettern?«

»Im richtigen Moment werde ich schon wissen, was zu tun ist.« Quentin lockerte seine Schultern.

»Das gefällt mir nicht, Quentin«, flüsterte Julia. »Diese Lichtung. Dieser Baum. Wenn wir uns auf dieses Abenteuer einlassen, wird es unser Schicksal entscheidend beeinflussen.«

»Vielleicht würde eine Veränderung uns ganz guttun.«

»Dir vielleicht«, erwiderte Janet.

Eliot beendete seinen Zauber und bildete ein Quadrat aus Zeigefingern und Daumen. Er kniff ein Auge zusammen, spähte mit dem anderen hindurch und suchte die Lichtung ab.

»Ich kann nichts erkennen …«

Ein düsteres Läuten ertönte von hoch oben aus dem Geäst. Nahe der Krone waren dem Baum zwei riesige, hin- und herschwingende Bronzeglocken gesprossen. Warum nicht? Elf Schläge: Offenbar ging der Uhrenbaum noch immer richtig, trotz des geborstenen Uhrwerks. Dann flutete die Stille wieder herein wie Wasser, das kurzzeitig verdrängt worden war.

Alle beobachteten Quentin. Die Äste des Uhrenbaums knarrten im nicht wahrnehmbaren Wind. Quentin rührte sich nicht. Er dachte über Julias Warnung nach, dass ihr Schicksal nachhaltig beeinflusst werden könne. Dabei meinte es das Schicksal im Augenblick ausgesprochen gut mit ihm. Er besaß ein waschechtes Schloss komplett mit stillen Höfen, luftigen Türmen und goldenem fillorianischem Sonnenlicht, das hereinströmte wie warmer Honig. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, dass er das alles aufs Spiel setzen wollte. Dort hineinzugehen konnte ihn das Leben kosten. Alice war gestorben.

Außerdem war er jetzt ein König. Hatte er überhaupt das Recht, hinter jedem x-beliebigen magischen Hasen herzureiten, der ihm mit seinem Puschelschwanz zuwedelte? Auf einmal kam er sich egoistisch vor. Der Uhrenbaum ragte vor ihm auf, pulsierend und peitschend vor Macht und der Verheißung von Abenteuer. Doch seine Erregung ebbte ab, und Zweifel beschlich ihn. Vielleicht hatten die anderen recht, und sein Platz war hier. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, sich auf die Lichtung zu wagen.

Der Drang, die Wiese zu betreten, verflog wie ein Drogenrausch, und er wurde wieder nüchtern. Wem wollte er etwas vormachen? König zu sein war nicht der Anfang, sondern das Ende einer Geschichte. Er brauchte keinen magischen Hasen, der ihm die Zukunft voraussagte, denn die Zukunft hatte bereits begonnen. Das hier war der Sie-lebten-glücklich-und-zufrieden-bis-an-ihr-Ende-Teil. Klapp das Buch zu, leg es hin, geh weg.

Quentin trat einen Schritt zurück und schob sein Schwert mit einer geschmeidigen Bewegung zurück in die Scheide. Das war das Erste gewesen, was sein Fechtmeister ihm beigebracht hatte. Zwei Wochen lang nichts anderes als Schwert ziehen, Schwert zurückstecken, bevor ihm erlaubt wurde, es durch die Luft zu schwingen. Jetzt war er froh über die Übung. Nichts ließ einen mehr wie einen Idioten dastehen, als wenn man wie blöd mit der Schwertspitze fummelte, um die Öffnung der Scheide zu finden.

Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter. Julia.

»Lass es gut sein, Quentin«, sagte sie. »Das ist nicht dein Abenteuer. Verfolge es nicht weiter.«

Am liebsten hätte er seinen Kopf gegen sie gedrückt und seine Wange an ihrer Hand gerieben wie ein Kater.

»Ich weiß«, sagte er. Er würde nicht gehen. »Ich hab’s kapiert.«

»Was, du gehst tatsächlich nicht?« Janet klang fast enttäuscht. Wahrscheinlich hätte sie ihn auch gerne zu Glitzerstaub explodieren sehen.

»Nein, tatsächlich nicht.«

Sie hatten recht. Sollte doch ein anderer den Helden spielen. Er hatte sein Happy End. In diesem Moment wusste er nicht einmal mehr, was er dort drinnen eigentlich gesucht hatte. Jedenfalls nichts, für das es sich zu sterben gelohnt hätte.

»Kommt, es ist schon fast Zeit zum Mittagessen«, sagte Eliot. »Suchen wir uns eine weniger aufregende Lichtung für unser Picknick.«

»Gerne!«, stimmte Quentin zu. »Darauf stoßen wir an.«

In einem der Deckelkörbe befand sich magisch gekühlter Champagner. Jedenfalls so etwas Ähnliches wie Champagner – sie arbeiteten noch an einem fillorianischen Äquivalent. Schon allein diese Deckelkörbe, die innen mit speziellen Lederlaschen für die Flaschen und Gläser versehen waren! Quentin erinnerte sich daran, solche in den Katalogen für teure, nutzlose Dinge gesehen zu haben, die er sich damals in der realen Welt nicht leisten konnte. Und nun konnte er so viele Deckelkörbe haben, wie er nur wollte!

Das Getränk war zwar kein Champagner, aber es perlte und berauschte, und Quentin war entschlossen, sich während des Mittagessens ordentlich zu betrinken.

Eliot stieg wieder in den Sattel und schwang Julia hinter sich auf sein Ross. Es schien, als sei die Zibetkatze über alle Berge. Julia hatte durch den Sturz auf die feuchte schwarze Erde noch immer einen großen dunklen Schmutzfleck auf dem Mieder. Quentin hatte gerade den ersten Fuß in den Steigbügel gesetzt, als sie jemanden rufen hörten.

»Hi!«

Alle blickten sich um.

»Hi!« Das sagten die Fillorianer anstelle von »hey«.

Der Fillorianer, der ihnen zugerufen hatte, war ein robuster, kräftiger Mann Anfang dreißig. Er marschierte auf sie zu, quer über die kreisrunde Lichtung, ein Ausbund von Überschwänglichkeit. Als er sie fast erreicht hatte, ging er in einen Laufschritt über. Die peitschenden Äste des kaputten Uhrenbaumes über seinem Kopf ignorierte er einfach, sie waren ihm völlig egal, nach dem Motto: typisch Zauberwald. Der Mann hatte eine üppige blonde Mähne und einen mächtigen Brustkorb, und er ließ sich einen buschigen blonden Bart stehen, um sein etwas rundliches Kinn zu verbergen.

Es war Jollyby, der Jagdmeister. Er trug enganliegende, violett-gelb gestreifte Beinkleider, und seine Oberschenkel und Waden waren wirklich imponierend, und das, obwohl er bisher noch nie auch nur im selben Universum wie Beinpressen, Stepper und ähnliche Trainingsgeräte gewesen war. Eliot hatte recht – er musste ihnen die ganze Zeit gefolgt sein.

»Hi!«, rief Janet fröhlich zurück. »Jetzt wird’s lustig«, flüsterte sie den anderen zu.

In einer seiner riesigen, mit Lederhandschuhen geschützten Fäuste hielt Jollyby einen kapitalen, wild zappelnden Hasen an den Ohren.

»Der Scheißkerl hat ihn erwischt«, sagte Wildfang. Sie war ein sprechendes Pferd, jedoch ein wenig wortkarg.

»Sieht ganz so aus«, bemerkte Quentin.

»Glück gehabt!«, rief Jollyby, als er nahe genug herangekommen war. »Er saß putzmunter auf einem Stein, knapp hundert Meter von hier entfernt. Er hat euch beobachtet, und da habe ich ihn in die falsche Richtung gelockt und ihn mit der bloßen Hand gefangen. Kaum zu glauben, was?«

Quentin glaubte ihm aufs Wort. Obwohl er sich fragte, wie das hatte vonstatten gehen können. Wie schlich man sich an ein Tier heran, das die Zukunft voraussehen konnte? Vielleicht sah es nur die anderer voraus und nicht die eigene. Der Hase rollte wie wild mit den Augen.

»Armes Ding«, sagte Eliot. »Schaut mal, wie sauer der ist.«

»Ach, Jolly!«, seufzte Janet mit gespielter Empörung. »Du hättest warten sollen, bis wir ihn fangen! Jetzt sagt er nur dir die Zukunft voraus!«

Sie klang nicht mal enttäuscht darüber, doch Jollyby – ein hervorragender Jagdmeister, aber keine große Leuchte – runzelte gereizt die Stirn.

»Vielleicht sollten wir ihn herumgehen lassen«, schlug Quentin vor. »Dann könnte er uns der Reihe nach prophezeien.«

»Das ist keine Wasserpfeife, Quentin«, erwiderte Janet.

»Halt!«, warnte Julia. »Ihr dürft ihn nicht danach fragen!«

Doch Jollyby genoss es, im Mittelpunkt zu stehen.

»Ist das wahr, du nichtsnutziges Vieh?«, fragte er. Er drehte den Sehenden Hasen um, so dass er jetzt Nase an Nase mit ihm hing.

Der Hase hörte auf zu zappeln und ließ sich schlapp herunterhängen, die Augen vor Panik weit aufgerissen. Er war ein beeindruckendes Tier, einen Meter lang von der zuckenden Nase bis zum Schwanz, mit weichem, graubraunem Fell in der Farbe trockenen Wintergrases. Er war nicht niedlich. Das war kein zahmer Hase, kein Zaubererkaninchen, sondern ein wildes Tier.

»Und, was siehst du, hä?« Jollyby schüttelte den Hasen, als sei das alles seine Idee und damit sein Fehler gewesen. »Was siehst du?«

Die Augen des Sehenden Hasen wurden starr. Er blickte Quentin mitten ins Gesicht. Dann entblößte er seine orangefarbenen Schneidezähne und krächzte heiser: »Tod!«

Alle standen da wie angewurzelt. Die Drohung klang weniger furchteinflößend als deplatziert, als hätte jemand einen schmutzigen Witz auf der Geburtstagsparty eines Kindes erzählt.

Jollyby zog die Augenbrauen zusammen und leckte sich die Lippen. Quentin sah Blut an seinen Zähnen. Jollyby hustete einmal, wie probeweise, und dann knickte sein Kopf nach vorne ab. Der Hase glitt aus seinen gefühllosen Fingern und schoss über das Gras davon wie eine Rakete.

Jollybys Leiche kippte nach vorn auf den Boden.

»Tod und Vernichtung!«, kreischte der Hase im Fortlaufen, als hätte er sich nicht klar genug ausgedrückt. »Enttäuschung und Verzweiflung!«

Kapitel 2

Auf Schloss Whitespire gab es einen besonderen Raum für die Konferenzen der Könige und Königinnen. Auch das gehörte zum Königsein dazu: Alles war ganz speziell für dich gemacht.

Es war ein wundervoller Raum: quadratisch, hoch oben auf einem quadratischen Turm, mit vier Fenstern zu allen Himmelsrichtungen. Der Turm drehte sich, ganz langsam, ebenso wie einige andere Türme des Schlosses – Schloss Whitespire war auf dem komplizierten Fundament eines gigantischen Bronzeuhrwerks erbaut, ein raffinierter Entwurf der genialen Baumeisterzwerge. Der Turm drehte sich einmal pro Tag um die eigene Achse, kaum wahrnehmbar in seiner Bewegung.

In der Mitte des Raums stand ein besonderer quadratischer Tisch mit vier Stühlen – Throne oder jedenfalls thronähnliche Sitzgelegenheiten. Es saß sich ziemlich bequem darauf; nach Quentins Erfahrung eine Seltenheit, wenn Stühle wie Throne aussahen, doch dieser Tischler hatte wohl den Bogen rausgehabt. Der Tisch war mit einer Karte von Fillory bemalt, versiegelt mit vielen Lackschichten, und Herrscher und Herrscherinnen fanden an ihren jeweiligen Plätzen ihre Namen ins Holz eingelegt, begleitet von typischen Attributen. Quentin hatte ein Bild des weißen Hirschs und des besiegten Martin Chatwin sowie ein Kartenspiel. Eliots Platz war am üppigsten verziert, wie es dem Oberhaupt der Runde geziemte. Trotz der quadratischen Form des Tisches bestand kein Zweifel daran, wo sich das Kopfende befand.

Heute fühlten sich die Stühle nicht bequem an. Der Moment von Jollybys Tod stand Quentin noch immer klar und deutlich vor Augen, tatsächlich wiederholte sich die Szene mehr oder weniger alle dreißig Sekunden von neuem. Als Jollyby umfiel, war Quentin rasch einen Schritt nach vorn getreten, hatte ihn aufgefangen und sanft zu Boden gleiten lassen. Hilflos hatte er auf Jollybys gewaltigem Brustkasten herumgetastet, als hätte dieser sein Leben irgendwo an seinem Körper versteckt, vielleicht in einer geheimen Innentasche, und als könnte Quentin es ihm zurückgeben, wenn er es nur fände. Janet stieß einen Schrei aus, ein gellendes, unkontrollierbares Horrorfilm-Kreischen, das ganze fünfzehn Sekunden anhielt, bis Eliot sie an der Schulter fasste und von Jollybys Leiche wegdrehte.

Zugleich wurde die Lichtung von einem gespenstischen grünen Leuchten erfüllt – ein düsterer, fremdartiger Zauber Julias, den Quentin selbst im Nachhinein noch nicht durchschaut hatte, nicht mal ansatzweise, und der ihnen bösartige Angreifer verraten sollte. Ihre Augen färbten sich vollständig schwarz, so dass kein Weiß und keine Iris mehr erkennbar waren. Sie war die Einzige, die daran dachte, zum Gegenangriff überzugehen. Doch es gab kein Angriffsziel.

»Na schön«, begann Eliot. »Zur Sache. Was könnte heute passiert sein?«

Nervös und betroffen sahen sie einander an. Quentin spürte den Drang, etwas zu tun oder zu sagen, doch ihm fiel nichts ein. In Wahrheit hatte er Jollyby nicht besonders gut gekannt.

»Er war so stolz auf sich«, sagte er schließlich. »Er dachte, er hätte uns eine Riesenfreude bereitet.«

»Es muss das Kaninchen gewesen sein«, fuhr Janet fort, deren Augen vom Weinen gerötet waren. Sie schluckte. »Stimmt’s? Oder der Hase, wie auch immer. Der hat ihn getötet. Was sonst?«

»Davon können wir nicht ausgehen. Der Hase hat seinen Tod vorausgesagt, aber nicht unbedingt verursacht. Post hoc ergo propter hoc. Ein logischer Trugschluss.«

Hätte er nur einen Wimpernschlag gewartet, wäre ihm aufgefallen, dass Janet nicht an dem lateinischen Ausdruck für den logischen Trugschluss interessiert war, dem sie aufgesessen war oder auch nicht.

»Entschuldigung«, sagte er, »mein Asperger hat mir mal wieder einen Streich gespielt.«

»Das war also nur ein Zufall«, entgegnete sie schnippisch, »dass er gestorben ist, unmittelbar nachdem der Hase den Tod verkündet hat? Vielleicht irren wir uns, und der Hase sagt gar nicht die Zukunft voraus, sondern kontrolliert sie.«

»Vielleicht mag er einfach nur nicht gefangen werden«, entgegnete Julia.

»Es fällt mir schwer zu glauben, dass die Geschicke des Universums von einem sprechenden Hasen gelenkt werden«, bemerkte Eliot, »obwohl es einiges erklären würde.«

Es war fünf Uhr nachmittags, die übliche Zeit für ihr Zusammentreffen. In den ersten Monaten nach ihrer Ankunft auf Schloss Whitespire hatte Eliot die anderen drei sich selbst überlassen in der Annahme, sie würden schon von allein ihren Platz als Herrscher finden und die Aufgaben übernehmen, für die sie aufgrund ihrer jeweiligen Talente am besten geeignet waren. Das hatte zu einem totalen Chaos geführt, vieles war liegengeblieben, anderes dagegen doppelt erledigt worden, von zwei verschiedenen Leuten auf zwei verschiedene Arten. Daher hatte Eliot ein tägliches Treffen eingeführt, bei dem sie jene Probleme des Königreiches durcharbeiteten, die ihnen allen am dringendsten erschienen. Das Fünfuhrtreffen schloss traditionell den möglicherweise umwerfend-umfassendsten Whiskeyservice ein, den es je auf einer der vermutlich zahllosen Welten des Multiversums gegeben hatte.

»Ich habe seiner Familie versprochen, dass wir uns um das Begräbnis kümmern«, sagte Quentin. »Er hatte nur seine Eltern, er war Einzelkind.«

»Ich sollte ein paar Worte sagen«, meinte Eliot. »Er hat mir das Jagdhornblasen beigebracht.«

»Wusstest du, dass er ein Werlöwe war?« Janet lächelte traurig. »Wirklich wahr. Er folgte dem Sonnenkalender – er verwandelte sich nur zu den Tagesundnachtgleichen und zu den Sonnenwenden. Er sagte, es helfe ihm, die Tiere zu verstehen. Er war behaart – am ganzen Körper!«

»Bitte«, sagte Eliot, »ich möchte nicht wissen, woher du das weißt.«

»Es war in vieler Hinsicht hilfreich.«

»Ich habe eine Theorie«, warf Quentin rasch ein. »Es könnten die Fenwicks gewesen sein. Die haben einen Hass auf uns, seitdem wir hier sind.«

Die Fenwicks waren die älteste jener Familien, die die Herrschaft unter sich aufgeteilt hatten, bevor die Brakebills-Absolventen nach Fillory zurückgekehrt waren. Sie waren nicht sehr erfreut gewesen, Schloss Whitespire räumen zu müssen, besaßen jedoch nicht genügend politischen Einfluss, um sich dagegen wehren zu können. Daher begnügten sie sich damit, Unfrieden am Hof zu stiften.

»Mordanschläge wären eine echte Steigerung für die Fenwicks«, bemerkte Eliot. »Normalerweise beschränken sie sich eher auf Nadelstiche.«

»Und warum sollten sie Jollyby töten?«, fragte Janet. »Jollyby war allseits beliebt!«

»Vielleicht hatten sie es auf einen von uns abgesehen und nicht auf ihn«, erwiderte Quentin, »weil sie davon ausgegangen sind, dass einer von uns den Hasen fangen würde. Wisst ihr, dass sie jetzt schon das Gerücht streuen, wir hätten Jollyby getötet?«

»Aber wie sollten sie es angestellt haben?«, fragte Eliot. »Glaubst du im Ernst, sie hätten ein Kaninchen als Auftragskiller losgeschickt?«

»Niemand kann den Sehenden Hasen beeinflussen«, entgegnete Julia. »Die Einzigartigen Geschöpfe mischen sich nicht in die Angelegenheiten der Menschen ein.«

»Vielleicht war es gar nicht der Sehende Hase, sondern ein verwandelter Mensch in Hasengestalt. Ein Werhase! Ach, ich weiß auch nicht.«

Quentin rieb sich die Schläfen. Wenn sie doch nur stattdessen diese blöde Echse gejagt hätten. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er vergessen hatte, wie Fillory wirklich war. Er hatte sich eingebildet, alles würde sich zum Besseren kehren, nachdem Alice Martin Chatwin getötet hatte – kein Tod mehr, keine Verzweiflung, Enttäuschung und was der Hase noch alles vorausgesagt hatte. Aber nichts hatte geendet. Es war nicht wie in den Büchern. Es ging immer weiter. Et in Arcadia ego.

Obwohl er wusste, dass es verrückt war und einer kindischen Logik folgte, wurde er das vage Gefühl nicht los, dass Jollybys Tod seine Schuld war, dass das alles nicht geschehen wäre, wenn er nicht dieses Abenteuer begehrt hätte. Oder hatte er es nicht genug begehrt? Welche Spielregeln galten? Vielleicht hätte er doch die Lichtung betreten sollen. Vielleicht hätte er an Jollybys Stelle sterben sollen. Es war seine Bestimmung gewesen, auf diese Lichtung zu gehen und dort zu sterben. Aber er hatte es nicht getan, und so musste Jollyby stattdessen sein Leben lassen.

»Vielleicht gibt es gar keine Erklärung«, sagte er laut. »Vielleicht ist es einfach ein Mysterium. Wieder nur eine weitere verrückte Station auf Fillorys Magical Mystery Tour. Ohne Grund, aus heiterem Himmel. Unerklärlich.«

Eliot gab sich damit nicht zufrieden. Zwar war er noch immer derselbe Eliot, der träge Säufer von Brakebills, doch als Oberkönig von Fillory hatte er einen unbekannten Wesenszug enthüllt, nämlich eine erschreckende Strenge.

»Wir können keinen unerklärlichen Todesfall in unserem Königreich dulden«, verkündete er. »Kommt gar nicht in Frage.« Er räusperte sich. »Wir werden folgendermaßen vorgehen: Ich werde den Fenwicks für alle Fälle Angst vor Ember einflößen. Das sollte kein Problem sein, schließlich sind das alles schwule Schlappschwänze. Ich muss es wissen, schließlich bin ich selbst einer.«

»Und wenn es nicht funktioniert?«, fragte Janet.

»Dann, Janet, wirst du die Lorians unter Druck setzen.« Die Lorians waren Fillorys Nachbarn im Norden, und Janet war verantwortlich für außenpolitische Beziehungen. Quentin nannte sie deswegen Fillory Clinton. »In den Büchern stecken die immer hinter allem Bösen. Vielleicht wollen sie die Macht an sich reißen, diese idiotischen, lächerlichen Pseudowikinger. Aber jetzt lasst uns bitte mal für einen Moment über etwas anderes reden.«

Doch sie hatten nichts anderes zu bereden, und so verfielen sie in Schweigen. Keiner war besonders glücklich über Eliots Plan, am wenigsten Eliot selbst, aber sie hatten keinen besseren, ja, nicht einmal einen schlechteren. Sechs Stunden nach dem Vorfall waren Julias Augen noch immer schwarz von dem Zauber im Wald. Der Effekt war beunruhigend. Sie hatte keine Pupillen, und Quentin fragte sich, was sie sehen mochte, das ihnen verborgen blieb.

Eliot kramte in seinen Unterlagen, auf der Suche nach weiteren Tagesordnungspunkten, aber die machten sich rar.

»Es wird Zeit«, sagte Julia. »Wir müssen ans Fenster gehen.« Jeden Tag nach ihrem Treffen traten sie auf den Balkon, um den Menschen zuzuwinken.

»Verdammt«, entfuhr es Eliot. »Na schön.«

»Vielleicht sollten wir es heute lieber seinlassen«, schlug Janet vor. »Ich finde es irgendwie unpassend.«

Quentin wusste, was sie meinte. Der Gedanke, dort draußen auf dem schmalen Balkon zu stehen und mit gefrorenem Lächeln auf ihren Gesichtern majestätisch die Einwohner von Fillory zu grüßen, die sich für das tägliche Ritual zusammengefunden hatten, kam ihm schräg vor. Dennoch.

»Ich finde, wir sollten es tun«, riet er. »Gerade heute.«

»Wir nehmen Huldigungen für das Nichtstun entgegen.«

»Wir vermitteln den Leuten Kontinuität angesichts der Tragödie.«

Nacheinander begaben sie sich auf den schmalen Balkon. Im Schlosshof tief unten, am Fuße des schwindelerregend hohen Turms, hatten sich einige hundert Bewohner Fillorys versammelt. Aus dieser Höhe sahen sie unwirklich aus wie Puppen. Quentin winkte ihnen zu und seufzte: »Ich wünschte, wir könnten mehr für sie tun.«

»Was denn?«, erwiderte Eliot. »Wir sind Könige und Königinnen eines magischen Utopias.«

Jubel stieg zu ihnen auf, schwach, blechern und fern wie das Geschepper einer musikalischen Grußkarte.

»Wie wäre es mit einigen Reformen zur Modernisierung? Ich möchte den Menschen gerne irgendwie helfen. Wäre ich einer unserer Untertanen, würde ich mich als aristokratischen Parasiten absetzen.«

Als Quentin und die anderen den Thron bestiegen hatten, besaßen sie nur eine vage Vorstellung dessen, was sie erwartete. Quentin war irgendwie davon ausgegangen, sie hätten zeremonielle Pflichten zu erfüllen, müssten eine führende Rolle in der Politik spielen und Verantwortung für die Wohlfahrt der Nation tragen, über die sie herrschten. Doch in Wahrheit gab es nicht viel Konkretes zu tun.

Sonderbarerweise vermisste Quentin genau das. Er hatte erwartet, dass Fillory ähnlich wie ein mittelalterliches England aussähe, oberflächlich betrachtet zumindest. Seine Vorstellungen waren von der europäischen Geschichte geprägt, soweit er sich daran erinnern konnte. Er war angetreten, das bewährte aufgeklärte humanistische Weltbild zu vertreten, nichts Außergewöhnliches, nur die Greatest Hits, und als treibende Kraft im Einsatz für das Gute in die Geschichte einzugehen.

Aber Fillory war nicht England. Zum einen war die Population des Landes sehr gering – insgesamt nur etwa zehntausend Einwohner, zuzüglich ungefähr genauso vieler sprechender Tiere, Zwerge, Geister, Riesen und so weiter. Darum waren er und die anderen Monarchen – oder Tetrarchen, wie auch immer – im Grunde nichts weiter als Kleinstadtbürgermeister. Während die Magie zudem auf der Erde etwas sehr Reales darstellte, war Fillory an sich magisch. Und das war ein großer Unterschied. Die Magie war Teil des Ökosystems, des Wetters, des Ozeans, der unbändig fruchtbaren Erde. Hätte man eine Missernte haben wollen, hätte man sich schon gewaltig anstrengen müssen.

Fillory war ein Land des Über-Überflusses. Alles, was angefertigt werden musste, konnte man früher oder später von den Zwergen erhalten, und diese waren beileibe kein unterdrücktes Industrieproletariat, sondern sie liebten es tatsächlich, alles Mögliche herzustellen. Wenn man nicht gerade ein so abscheulicher Tyrann war wie Martin Chatwin, gab es einfach zu viele Ressourcen und zu wenige Menschen, um so etwas wie innere Unruhen auszulösen. Der einzige Mangel, den Fillory zu beklagen hatte, war ein chronischer Mangel an Mangel.

Infolgedessen war jeder Versuch der Brakebills – wie sie genannt wurden, obwohl Julia, wie sie nicht müde wurde zu betonen, niemals in Brakebills gewesen war –, ernsthaft etwas in Angriff zu nehmen, an fehlenden Zielen für ernsthafte Versuche gescheitert. Das ganze Leben bestand aus Ritualen, Glanz und Gloria. Sogar das Geld war nur Show. Es war Spielgeld. Monopoly-Geld. Die anderen hatten bereits ihre Bestrebungen aufgegeben, sich nützlich machen zu wollen; Quentin dagegen konnte sich immer noch nicht ganz damit abfinden. Vielleicht hatte ihn das aufgestachelt, als er am Rand der Lichtung gestanden hatte. Irgendwo da draußen musste es doch etwas Reales geben, aber stets schien es ihm zu entwischen.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Und was nun?«

»Na ja«, sagte Eliot, als sie wieder hineingingen, »da wären noch die Probleme mit der Außeninsel.«

»Der was?«

»Der Außeninsel.« Eliot griff nach einigen königlich aussehenden Dokumenten. »Sie hat keinen anderen Namen. Ich bin ihr König und weiß noch nicht einmal, wo sie liegt.«

Janet schnaubte. »Außen bedeutet: vor der Ostküste. Weit draußen, mehrere Tage zu segeln. Mein Gott, ich fass es nicht, dass sie dich überhaupt zum König gemacht haben. Es ist der östlichste Punkt des fillorianischen Königreichs. Glaube ich zumindest.«

Eliot starrte auf die Karte, die auf den Tisch gemalt war. »Ich sehe sie nirgends.«

Auch Quentin studierte die Karte. Bei seinem ersten Besuch in Fillory war er weit durch die westliche See gesegelt, auf der anderen Seite des Fillory-Kontinents. Sein Wissen über den Osten war hingegen äußerst lückenhaft.

»Die Karte ist nicht groß genug«, bemerkte Janet und zeigte auf Julias Schoß. »Da würde sie liegen, wenn wir einen größeren Tisch hätten.«

Quentin versuchte, sich die Insel vorzustellen: ein kleiner Streifen weißen tropischen Sandes, verziert mit einer dekorativen Palme, eingebettet in einen Ozean blaugrüner Ruhe.

»Bist du jemals dort gewesen?«, fragte Eliot.

»Niemand ist je dort gewesen. Es ist nur ein Punkt auf der Landkarte. Jemand, der vor ungefähr einer Million Jahren dort gestrandet ist, hat darauf ein Fischerdorf gegründet. Warum sprechen wir überhaupt über die Außeninsel?«

Eliot kehrte zurück zu seinen Papieren. »Sieht so aus, als hätten die Bewohner seit ein paar Jahren keine Steuern mehr gezahlt.«

»Wirklich?«, fragte Janet. »Wahrscheinlich deswegen, weil sie gar kein Geld haben.«

»Schick ihnen ein Telegramm«, schlug Quentin vor. »LIEBEAUSSENINSULANERSTOPSCHICKTGELDSTOPWENNIHRKEINGELDHABTSTOPSCHICKTKEINGELDSTOP.«

Ihre Zusammenkunft gewann immer mehr an Belanglosigkeit, während Eliot und Janet versuchten, sich gegenseitig darin zu überbieten, möglichst nutzlose Telegramme an die Außeninsulaner zu entwerfen.

»Na schön«, sagte Eliot schließlich. Der Turm hatte sich so weit gedreht, dass der lodernde Sonnenuntergang Fillorys den Himmel hinter ihm erleuchtete und sich rosafarbene Wolken auf seinen Schultern zu türmen schienen. »Ich werde die Fenwicks wegen Jollyby unter Druck setzen, und Janet knöpft sich die Lorians vor.« Mit einer schlaffen Geste fügte er hinzu: »Und irgendeiner wird irgendetwas wegen der Außeninsel unternehmen müssen. Wer möchte Scotch?«

»Ich gehe«, bot Quentin an.

»Er steht da drüben auf dem Büfett.«

»Nein. Ich meine die Außeninsel. Ich fahre raus und kümmere mich um die ausstehenden Steuern.«

»Wie bitte?«, fragte Eliot leicht gereizt. »Wozu das denn? Die Außeninsel liegt am Arsch der Welt. Außerdem ist es eine finanzielle Angelegenheit. Wir schicken einen Emissär. Dazu sind die schließlich da.«

»Schick mich stattdessen.«

Quentin war sich selbst nicht ganz im Klaren darüber, woher dieser Impuls kam, er wusste nur, dass er irgendetwas tun musste. Er dachte an die kreisförmige Wiese und an den kaputten Uhrenbaum, und der Filmclip mit dem sterbenden Jollyby lief wieder von vorne ab. Welchen Sinn hatte das alles, wenn man jederzeit mir nichts, dir nichts tot umfallen konnte? Das wollte er herausfinden. Worin lag der verdammte Sinn?

»Meine Güte«, warf Janet ein, »wir wollen doch keine Invasion starten. Warum sollten wir einen König zur Außeninsel entsenden? Die haben ihre Steuern nicht bezahlt, na und? Es wären ohnehin nur ungefähr acht Fische – nicht gerade die treibende Kraft unserer gesamten Wirtschaft.«

»Ich bin im Nu wieder da, du wirst sehen.« Quentin wusste bereits, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Seine innere Spannung wich, kaum hatte er seinen Vorschlag ausgesprochen. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn, obwohl er nicht mal genau wusste, weshalb. »Wer weiß, vielleicht lerne ich sogar noch etwas dazu.«

Darin fand er seine neue Herausforderung: Steuern von einem Haufen Fischertölpel einzutreiben. Vor dem Abenteuer mit dem kaputten Baum war er zurückgeschreckt, und das war gut so. Er hatte ein anderes gefunden.

»Es könnte als Zeichen der Schwäche interpretiert werden, nach der Sache mit Jollyby.« Eliot fingerte an seinem königlichen Kinn. »Na schön, aber beim ersten Anzeichen von Ärger machst du dich aus dem Staub.«

»Ich bin ein König. Als würde das Volk mich nicht wiederwählen!«

»Augenblick!«, warf Janet ein. »Du hast Jollyby doch nicht umgebracht, oder? Ist das etwa der Grund?«

»Janet!«, stieß Eliot hervor.

»Das ist mein Ernst. Alles passt zusammen …«

»Nein, ich habe Jollyby nicht umgebracht«, antwortete Quentin.

»Gut. Schön. Großartig.« Eliot strich das Thema von der Tagesordnung. »Außeninsel überprüfen. Das wär’s.«

»Du willst dich doch hoffentlich nicht allein auf den Weg machen«, unkte Janet. »Gott weiß, wie die da draußen gepolt sind. Nicht dass du von den Insulanern niedergemetzelt wirst wie einst Captain Cook.«

»Wird schon schiefgehen«, erwiderte Quentin. »Julia kommt mit. Oder, Julia?«

Eliot und Janet starrten ihn an. Wie lange war es her, dass er die beiden das letzte Mal überrascht hatte? Oder jemand anderen? Er musste auf dem richtigen Weg sein. Er lächelte Julia an, und sie erwiderte seinen Blick, wobei ihr Gesichtsausdruck wegen ihrer vollständig schwarzen Augen unergründlich blieb.

»Natürlich komme ich mit«, sagte sie nur.

 

In jener Nacht stattete Eliot Quentin einen Besuch in seinem Schlafgemach ab.

Als Quentin sein Gemach bezogen hatte, war er mit einem erschreckenden Berg scheußlich unechtem Mittelalterkitsch angefüllt gewesen. Seit Jahrhunderten waren alle vier Throne Whitespires nicht mehr gleichzeitig besetzt gewesen, und in der Zwischenzeit hatte der Krimskrams die leerstehenden königlichen Gemächer belagert und erobert wie eine unaufhaltsam vorrückende Armee: überzählige Kronleuchter und erloschene Lüster, deformiert und geplättet wie gestrandete Quallen, daneben unbespielbare Musikinstrumente, nicht umtauschbare Diplomatenpräsente, Stühle und Tischchen, so üppig verziert, dass sie durch bloßes Anschauen oder auch ganz von alleine zerbrechen konnten, tote Tiere, mitleidlos in der Position ausgestopft, in der sie um Gnade bettelnd den Tod gefunden hatten, Urnen, Krüge und andere, weniger leicht zu identifizierende Gefäße, von denen man nicht wusste, ob man daraus trinken oder reinpinkeln sollte.

Quentin hatte das Zimmer bis in den letzten Winkel leerräumen lassen. Alles musste raus. Nur das Bett, einen Tisch, zwei Stühle, ein paar brauchbare Teppiche sowie einige gefällige und/oder politisch nützliche Wandbehänge hatte er behalten. Das war alles. Ein Wandteppich gefiel ihm besonders: Er zeigte einen kunstvoll ausgearbeiteten Greifvogel gerade in dem Moment, in dem er eine Kompanie von Infanteristen in die Flucht schlug. Die Darstellung sollte wohl den Triumph irgendwelcher längst Verblichener über andere längst Verblichene symbolisieren, die niemand hatte leiden können. Der Greifvogel indes neigte mitten im Angriff den Kopf zur Seite und starrte aus seinem gewebten Universum heraus den Betrachter an, als wolle er sagen: Zugegeben, ich kann das gut. Aber ist das wirklich ein sinnvoller Zeitvertreib für mich?

Vollständig ausgeräumt wirkte das Zimmer dreimal so groß wie zuvor. Es schien aufzuatmen und bot Raum zum Nachdenken. Das Gemach war so groß wie ein Basketballfeld und besaß einen glatten Steinfliesenboden sowie luftige Balkendecken, an deren höchsten Stellen sich das Licht verlor und interessante Schatten warf. In den hohen gotischen Bleiglasfenstern ließen sich einige kleine Scheiben öffnen. So großartig ruhig und leer war das Gemach, dass jeder schlurfende Schritt auf dem Steinboden widerhallte. Es herrschte jene Art gedämpfter Stille, die man auf der Erde nur aus der Distanz erleben konnte, jenseits einer samtenen Absperrkordel. Es war die Stille eines geschlossenen Museums oder einer Kirche bei Nacht.

Die höhergestellten Diener tuschelten, dass ein solch spartanisch eingerichtetes Gemach für einen König von Fillory nicht angemessen sei, doch Quentin gefiel an seiner Rolle als König von Fillory besonders, dass er entscheiden konnte, was für einen König von Fillory angemessen war.

Wenn den Höflingen diese Art von königlichem Stil nicht passte, mussten sie sich an den Oberkönig halten. Eliot war diesbezüglich unersättlich. Sein Schlafzimmer verkörperte das vergoldete, diamantenbesetzte, perlengeschmückte Rokokogemach eines Gottkönigs. Wie immer man es nennen mochte: Es war gänzlich angemessen.

»Wusstest du, dass man in den Fillory-Büchern tatsächlich in die Wandteppiche hineingehen kann?« Es war spät, schon nach Mitternacht, und Eliot stand Auge in Auge mit dem gewebten Greifvogel und schlürfte eine bernsteinfarbene Flüssigkeit aus einem Pokal.

»Ja, ich weiß.« Quentin lag in einem Seidenpyjama ausgestreckt auf dem Bett. »Glaub mir, ich habe es versucht. Wenn es in den Büchern geklappt hat, dann weiß ich nicht, wie. Für mich sehen die Dinger einfach wie gewöhnliche Wandteppiche aus. Die Figuren bewegen sich nicht mal wie bei Harry Potter.«

Eliot hatte auch für Quentin einen Pokal mitgebracht. Quentin war noch nicht danach, etwas zu trinken, aber vielleicht später. Auf keinen Fall wollte er jedoch seinen Becher Eliot überlassen, der ihn todsicher leeren würde, wenn er mit seinem fertig wäre. Quentin formte neben sich in den Bettdecken eine Kuhle für das Gefäß.

»Ich weiß nicht recht, ob ich in diesen hier gehen wollte«, bemerkte Eliot.

»Ich weiß. Manchmal bilde ich mir ein, dass das Vieh versucht auszubrechen.«

»Aber sieh dir den hier mal an«, fuhr Eliot fort und wandte sich dem mannsgroßen Porträt eines Ritters in Rüstung zu. »Ich hätte nichts dagegen, in seinen Wandteppich zu schlüpfen, du weißt schon, was ich meine.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich würde ihm die Klinge blankziehen.«

»Schon klar, Eliot.«

Eliot wollte auf irgendetwas hinaus, aber er hatte es nicht eilig. Wenn es noch lange dauerte, würde Quentin darüber einschlafen.

»Wenn es mir gelänge, würde dann deiner Meinung nach eine kleine Wandteppichversion von mir da drinnen umherlaufen? Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten würde.«

Quentin wartete. Seit er die Entscheidung getroffen hatte, zur Außeninsel zu reisen, fühlte er sich so ruhig wie schon lange nicht mehr. Die Fenster standen so weit wie möglich offen, und laue Nachtluft strömte herein, die nach Spätsommergras und dem nicht weit entfernten Meer roch.

»Um auf deine Reise zu kommen«, sagte Eliot schließlich.

»Meine Reise.«

»Ich verstehe nicht, warum du das tun willst.«

»Ist das wichtig?«

»Ich vermute, es hat irgendetwas mit Sehnsucht und Abenteuer zu tun. Hinter den Sonnenuntergang segeln. Wie dem auch sei: Wir brauchen dich hier nicht wegen der Sache mit Jollyby, und einer von uns sollte tatsächlich mal da rausfahren. Möglicherweise wissen die noch nicht einmal, dass sie wieder Könige und Königinnen haben. Gib schlüpfrige Details aber nur als Staatsgeheimnis weiter.«

»Mache ich.«

»Eigentlich wollte ich aber mit dir über Julia reden.«

»Ah.« Zeit für den Whiskey. Bei dem Versuch, im Liegen zu trinken, verschluckte sich Quentin, und das Zeug brannte ihm wie Feuer in Hals und Magen. Er unterdrückte einen Hustenanfall. »Du bist bloß der Oberkönig, also führ dich nicht auf wie mein Vater. Ich komme prima allein zurecht.«

»Jetzt geh nicht gleich in die Defensive. Ich will nur, dass du genau weißt, worauf du dich einlässt.«

»Und wenn nicht?«

Eliot nahm auf einem der beiden Stühle Platz. »Hab ich dir je erzählt, wie ich Julia kennengelernt habe?«

»Ja, klar.« Hatte er das? Wenn, dann nur andeutungsweise. »Aber nicht sehr ausführlich.«

Tatsächlich hatten sie kaum darüber gesprochen, sondern waren dem Thema ausgewichen. Keiner hatte schöne Erinnerungen daran. Es war die Zeit nach den furchtbaren Ereignissen in Embers Grab gewesen. Quentin war mehr tot als lebendig daraus hervorgegangen und musste in der Obhut nervtötender, aber medizinisch letztlich äußerst erfolgreicher Zentauren zurückbleiben, während Eliot, Janet und die anderen in die reale Welt zurückkehrten. Quentin verbrachte ein Jahr der Genesung in Fillory, bevor er zur Erde zurückreiste und die Magie an den Nagel hängte. Weitere sechs Monate lang arbeitete er in einer Kanzlei in Manhattan, bis Eliot, Janet und Julia ihn schließlich holen kamen. Hätten sie es nicht getan, säße er womöglich immer noch in diesem Büro. Er war ihnen dankbar und würde es immer bleiben.

Eliot starrte aus dem Fenster in die schwarze mondlose Nacht. Er sah aus wie ein orientalischer Herrscher in seinem Hausmantel, der zu reich bestickt war, um bequem sein zu könnten.

»Du weißt aber, dass Janet und ich in ziemlich schlechter Verfassung waren, als wir Fillory verließen?«

»Ja. Obwohl Martin Chatwin dich ja nicht so ungefähr in der Mitte durchgebissen hatte.«

»Natürlich hast du Schlimmeres durchgemacht, aber wir waren wirklich fix und fertig. Wir haben auch an Alice gehangen – auf unsere Art. Sogar Janet. Und wir dachten, wir hätten dich verloren, genau wie sie. Wir hatten die Nase voll von Fillory und sämtlichem Drum und Dran, das kann ich dir sagen.

Josh ist nach Hause zu seinen Eltern in New Hampshire gegangen, und Richard und Anaïs haben da weitergemacht, wo sie vor Fillory aufgehört hatten – wie auch immer, keine Ahnung. Die beiden haben nicht lange die Köpfe hängen lassen. Ich aber konnte weder den Gedanken an New York noch an meine groteske sogenannte Familie in Oregon ertragen. Darum bin ich mit Janet nach L.A. zu ihr nach Hause gefahren.

Das war eine wirklich gute Entscheidung. Wusstest du, dass ihre Eltern Rechtsanwälte sind? Medienrechtsanwälte. Stinkreich, Riesenhütte in Brentwood, arbeiten rund um die Uhr, kein erkennbares Gefühlsleben. Ein, zwei Wochen lang zogen wir durch Brentwood, bis ihre Eltern den Anblick unserer posttraumatischen Leichenbittermienen nicht mehr ertragen konnten, wenn wir uns im Morgengrauen ins Bett schleppten, während sie sich gerade zu ihrem frühmorgendlichen Squashspiel aufmachten. Sie schoben uns also für ein paar Wochen in ein schickes Wellnesshotel in Wyoming ab.

Du hast garantiert noch nie davon gehört – es war so ein Laden, in den man als Normalsterblicher gar nicht erst reinkommt. Absurd teuer, aber Geld spielt für diese Leute keine Rolle, und ich wollte nicht lange rumdiskutieren. Janet ist quasi dort aufgewachsen – das Personal kennt sie von Kindesbeinen an. Stell dir mal vor – unsere Janet, ein kleines Mädchen! Wir beide hatten einen Bungalow für uns allein und geradezu Heerscharen von Bediensteten. Ich glaube, Janet hatte für jeden Fingernagel eine eigene Stylistin.

Und diese Behandlungen mit Schlamm und heißen Steinen – ich schwöre dir, da war Zauberei im Spiel! Nichts Unmagisches kann sich so gut anfühlen!