Fine und die Zeit der Veränderung - Ulrike Renk - E-Book
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Fine und die Zeit der Veränderung E-Book

Ulrike Renk

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Beschreibung

»Fine hat schon früh gelernt, für ihre Träume zu kämpfen und für ihre Überzeugung einzustehen. Das hat mir sehr imponiert.« Ulrike Renk.

1931: Der Alltag im von der Wirtschaftskrise gebeutelten Berlin ist schwer. Fines Mutter Ulla Dehmel gelingt es kaum, für ihre Kinder zu sorgen. Schließlich ist sie gezwungen, Fine und ihre Schwestern bei einer Pflegefamilie auf dem Land unterzubringen. Zunächst ist Fine entsetzt, dass sie Berlin verlassen muss, aber nach und nach arrangiert sie sich mit dem neuen Leben. Dann kommen die Nazis an die Macht, und es zeigt sich, dass Ullas Sorge um ihre halbjüdischen Kinder berechtigt war. Schon bald wird Fine ihr Erbe zum Verhängnis. Wird sie es schaffen, dennoch an ihre Träume zu glauben? 

Über eine junge Frau in dunklen Zeiten und den Mut, aus dem Hoffnung gemacht ist.

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Seitenzahl: 685

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Über das Buch

Ulla, ihr Mann Heinrich und die Töchter Fine, Neli und Beate sind endlich wieder nach Berlin zurückgekehrt. Doch ihre Ehe hat unter den Anstrengungen der vergangenen Jahre gelitten, und Ulla fühlt sich ihrem Mann fremd. Heinrich ist Tag und Nacht für seine Patienten da, während sie sich politisch engagiert und für eine bessere Welt kämpft. Dann kommt die Wirtschaftskrise, die Nazis gewinnen mehr und mehr an Macht, und schon bald ist klar, dass Fine und ihre Schwestern in der Großstadt nicht mehr sicher sind. Schweren Herzens stimmt ihre Mutter zu, sie auf dem Land in Pension zu geben. Fine wächst behütet und fern der politischen Wirrnisse auf, sie geht aufs Gymnasium, erlebt ihre erste Liebe und träumt davon, Ärztin zu werden. Doch kann ihr Glück von Dauer sein?

Über Ulrike Renk

Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren Bestsellern Realität mit Fiktion.

Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, ihre Ostpreußen-Saga, ihre Seidenstadt-Saga sowie zahlreiche historische Romane vor. „Fine und die Zeit der Veränderung“ ist nach „Eine Familie in Berlin – Paulas Liebe“ und „Ursula und die Farben der Hoffnung“, „Ulla und die Wege der Liebe“ der vierte Band ihrer großen Saga um die Dichterfamilie Dehmel.

Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

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Ulrike Renk

Fine und die Zeit der Veränderung

Eine Familie in Berlin

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Personenverzeichnis

Teil 1 – Ulla

Kapitel 1 — Berlin, Frühjahr 1926

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4 — Berlin, Dezember 1926

Kapitel 5 — Blankenese, Weihnachten 1926

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil 2 – Fine

Kapitel 9 — Berlin, Sommer 1928

Kapitel 10 — Blankenese, Sommer 1928

Kapitel 11 — Berlin, Sommer 1929

Kapitel 12 — Berlin, Frühjahr 1930

Kapitel 13 — Sommer 1930

Kapitel 14 — Fontana Martina, Sommer 1930

Kapitel 15 — Berlin, Herbst 1930

Kapitel 16 — Tabarz, Ostern 1931

Kapitel 17 — Tabarz Sommer 1931

Kapitel 18 — Tabarz, Herbst 1931

Kapitel 19 — Tabarz, Herbst 1933

Kapitel 20 — Tabarz, Januar 1935

Nachwort

Danksagung

Impressum

Wer von dieser großen Familiensaga begeistert ist, liest auch ...

Für

Regina Polensky

Paulaurenkelin

Ullaenkelin

Finetochter

Danke

Personenverzeichnis

~Ulla Dehmel geb. Stolte

~Verheiratet mit Heinrich Dehmel (geschieden 1927)

~Kinder:

~Fine 1920

~Cornelia 1921

~Beate 1924

~Heinrichs Schwestern:

~Vera (genannt Detta) Tügel, geb. Dehmel

~Ehemann Tetjus Tügel (geschieden 1925)

~Sohn: Tim geb. 1919

~Liselotte Dehmel (genannt Lotti)

~Sohn: Peter (geboren 1924)

~Walter Schleiter (Ehemann ab 1929)

~Heinrichs Stiefmutter Ida Dehmel genannt Isi/Großmutter Isi

~Guste – Idas Mamsell und Köchin

~Hermann Stolte (Großvater Stolte) – Ullas Vater

~Heinrich Vogeler, genannt Mining

~Sonja Marchlewska

~Jan, geboren 1923, Sohn von Sonja und Heinrich

~Marieluise Vogeler (Minings Tochter), genannt Mieke, verheiratet mit Gustav Regler

~Gertrud und Hans Sperling – Pensionseltern in Tabarz

Teil 1 – Ulla

Kapitel 1

Berlin, Frühjahr 1926

»Das Kleid ist phantastisch«, sagte Vera zu Ulla und drehte sich im Kreis. »Es ist eine wahre Pracht, Ullala.«

»Danke. Ich würde es aber noch ein wenig kürzen.« Ulla hielt ihre Schwägerin fest, die immer noch durch den Raum tanzte. »Steig mal auf den Stuhl, dann kann ich es abstecken.«

Vera schaute an sich hinab. »Ja, noch etwas kürzer, dann kommen meine Beine besser zur Geltung. Wobei du natürlich alle Blicke auf dich ziehen wirst. Es ist wirklich eine Wucht. Wie du das nur immer hinbekommst?«

»Ich nähe halt gerne.« Ulla lächelte. Sie freute sich schon auf den Samstag, wenn sie mit ihren beiden Schwägerinnen – Lotti und Vera – zum Tanzen in die Stadt gehen würde. Ein neuer Klub hatte aufgemacht – einer von den vielen neuen Klubs, die in Berlin wie Pilze aus dem Boden schossen. Seit einem Jahr lebten sie nun in dem kleinen Häuschen in der Reinerzstraße. Am Anfang war es ihr schwergefallen, sich wieder an die Stadt zu gewöhnen. In Berlin pulsierte das Leben – auf zweierlei Art. Es gab eine bunte, schillernde, aufregende Seite, das Nachtleben und die Kunstszene. Aber es gab auch die düstere, farblose und triste Seite, der Alltag der Arbeiter, Tagelöhner und Obdachlosen. Nachts wurde gefeiert, als gäbe es kein Morgen, aber tagsüber füllten der Qualm der Fabriken, der Rauch der Öfen und die Abgase der Automobile die vollgestopften Straßen, durch die verzweifelte Menschen liefen. Dieser Kontrast faszinierte Ulla genauso, wie er sie entsetzte.

Sie nahm die Stecknadeln in den Mund und steckte den Saum des Kleides ein wenig höher. Als sie fertig war, ging sie prüfend einmal um den Stuhl herum und nickte zufrieden, bevor ihr Blick nach draußen wanderte. Zu dem kleinen Reihenhäuschen, das sie günstig hatten mieten können, weil es neu gebaut worden war und noch trocken gewohnt werden musste, gehörte auch ein Gartenstück. Eigentlich war es dazu gedacht, dass die Bewohner dort ein wenig Obst und Gemüse zur Selbstversorgung anbauten, doch Heinrich hatte eine Reckstange, einen Sandkasten und eine Bank aufgestellt, von der aus Ulla den Kindern beim Spielen zuschauen konnte.

Fine wurde dieses Jahr sechs und würde nach Ostern in die Schule kommen. Ihre älteste Tochter war so vernünftig, dass Ulla ihr oft die Aufsicht über die beiden jüngeren Schwestern überließ. So auch heute. Tim, Veras Sohn, der fast ein Jahr älter war als Fine, saß rücklings auf der Bank und schaute zu dem großen Sportplatz hinter dem Haus, wo einige Männer Fußball spielten. Beate und Neli hockten im Sandkasten, und Fine hatte, wie meist, ein Buch in der Hand. Sie konnte schon ein paar Wörter lesen, aber noch schaute sie sich meist nur die Bilder an.

Vera trat neben Ulla ans Fenster und blickte nach draußen. »Wie groß die beiden schon sind«, sagte sie leise.

»Ja, es ist so wunderbar, zu sehen, wie aus unseren Babys tatsächlich Menschen werden. Wie die Knospe einer Blüte, die sich langsam und vorsichtig öffnet, dann die zarten, seidenweichen Blütenblätter vorsichtig ins Licht streckt, sich dehnt und wächst. Und schließlich wird aus der Blüte eine kleine Frucht – die schon zeigt, was sie später einmal sein wird.« Ulla lächelte. »Fine ist schon eine kleine Frucht – ein Äpfelchen. Ihr Charakter ist schon angelegt. Sie ist selbstbewusst und fröhlich, bewegt sich gerne. Neli dagegen … da steht noch nicht ganz fest, was sie denn sein wird. Vielleicht eine Birne oder ein Pfirsich. Sie ist weicher und verletzlicher als Fine. Manchmal sieht sie nur in die Luft und scheint zu träumen.«

»Und Beate?«, fragte Vera belustigt nach.

»Beate ist ein Sonnenschein. Wie sie sich weiterentwickelt, wird sich zeigen. Aber ich hoffe, dass sie ihr fröhliches Gemüt behalten wird.«

»Und Tim, er ist ein wenig wie sein Vater – künstlerisch sehr begabt. Ich hoffe aber, dass er auf die Allüren verzichten wird.« Vera seufzte.

»Kümmert sich Tetjus eigentlich um Tim?«, fragte Ulla, ohne sie anzusehen.

»Manchmal. Selten. Er hat ja wieder geheiratet und wird bald Vater – das dritte Kind von der dritten Frau. Ich war die erste und habe nun das Nachsehen. Er sagt, er könne sich ja nicht kümmern, weil ich nach Berlin gezogen bin. Aber in Hamburg hatte ich keine Perspektive. Tim vermisst Blankenese immer noch sehr. Allerdings nicht wegen seines Vaters – eine innige Beziehung hatten die beiden ja nie. Er vermisst Isi und vor allem Guste.«

Ulla lachte leise und legte den Arm um die Schulter ihrer Schwägerin und besten Freundin. »Wir alle vermissen Guste – die beste Köchin der Welt. Ich habe die Zeit im Haus deines Vaters und seiner Frau sehr genossen – Guste hat uns immer verwöhnt. Leider haben wir kaum Zeit, um sie zu besuchen.«

»Isi würde euch immer mit offenen Armen aufnehmen, Ullala, das weißt du doch sicherlich. Warum hast du keine Zeit?« Sie sah Ulla nachdenklich an.

»Gut, es ist nicht die Zeit – auch wenn es schwieriger werden wird, sobald Fine zur Schule geht. Es ist … das Geld.«

»Das Geld?« Vera trat einen Schritt zurück und schaute sie überrascht an. »Bei mir ist das Geld knapp, weil ich keine feste Anstellung habe. Ich habe zwar immer wieder Aufträge, aber ein sicheres Einkommen ist etwas anderes. Natürlich ist es hier in Berlin leichter als in Hamburg – deshalb bin ich ja auch umgezogen. Aber ich wünschte, ich hätte einen Ehemann mit einer festen Anstellung – so wie du.«

Ulla senkte den Kopf. »Nicht mehr«, murmelte sie dann und bis sich auf die Lippe. »Heinrich hat die Stelle als Amtsarzt verloren.«

»Bitte was?«, fragte Vera entsetzt. »Was hat mein Bruder getan? Goldene Löffel geklaut? Wie kann man denn so eine Stelle verlieren?«

»Indem man sich mit der Bezirksverwaltung anlegt und Beschwerden veröffentlicht.«

»Beschwerden? Worüber?«

»Nun, wegen der Wohnverhältnisse in Neukölln. Er hat ja recht, nicht umsonst nennt man einige Straßenzüge dort ›Die Wickelburg‹. Die Wohnverhältnisse sind miserabel«, sagte Ulla. »Zieh mal das Kleid aus, ich nähe es schnell ab.«

Vera wand sich vorsichtig aus dem Kleid und reichte es Ulla. Der Nähmaschinentisch stand neben dem Fenster. Ulla setzte sich an die Maschine, bewegte die Pedale mit dem Fuß und schon ratterte die Nähmaschine.

»Die Verhältnisse dort sind wirklich prekär. Du kennst die Gegend? Ein Hinterhof reiht sich an den nächsten. Die Sonne kann noch so hoch stehen – ihre Strahlen erreichen den Boden der Höfe nicht. Es gibt kaum sanitäre Anlagen – Gemeinschaftstoiletten auf den Zwischenetagen, die sich die Bewohner teilen müssen. Fließend Wasser manchmal nur an den Wänden. Eine Einzimmerwohnung gilt erst ab sechs Bewohnern als überbelegt. Und viele Wohnungen werden geteilt vermietet – tage- und nachtweise.«

»Tageweise?«, fragte Vera verwirrt nach.

»Ja, für die Tagelöhner. Es gibt Tagschläfer und Nachtschläfer, wusstest du das nicht? Wer nachts arbeitet, hat die Wohnung, meist nur ein düsteres und feuchtes Zimmer, tagsüber gemietet und kann dann dort schlafen und sich vielleicht eine karge Mahlzeit bereiten. Abends geht er dann wieder. Und dann kommen die Nachtschläfer, die tagsüber gearbeitet haben. Manchmal ist die Wohnung für die Nachtschläfer auch an Familien vermietet – die Frau mit den Kindern muss die Wohnung aber tagsüber räumen – für den Tagschläfer.«

»Grundgütiger. Das es so etwas gibt. Das ist ja furchtbar. Ich finde ja schon unsere Wohnung schlimm – wir haben keinen Garten, so wie ihr. Aber immerhin bewohnen wir die Wohnung alleine.«

»Es kommen dort so viele Kinder zur Welt. Heinrich verzweifelt daran geradezu. Die Kindersterblichkeit ist immens und natürlich sterben auch viele Mütter im Wochenbett – das Kindbettfieber grassiert dort genauso wie die Ruhr. Es ist schlimm und er hat mehrere Anträge gestellt, um die Überbelegungen verbieten zu lassen. Nur …« Ulla verstummte.

»Nur was?«

»Nun, man kann es ja nicht von jetzt auf gleich ändern«, sagte sie und stand auf, hielt das Kleid mit dem gekürzten Saum hoch. Es war ein ärmelloses Kleid aus einem silbern schillernden Stoff, das gerade geschnitten war. Über der Brust, an der tiefen Taille und ein wenig über dem Saum hatte sie rundherum Bänder mit blauen Fransen angenäht, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen, somit wirkte das Kleid sehr lebendig.

Vera streifte es wieder über, und Ulla schloss die Knöpfe im Rücken, der tief ausgeschnitten war.

»So wirkt es besser«, sagte Ulla zufrieden. Ihr Kleid war ähnlich geschnitten, nur aus blauem Stoff mit silbernen Fransen. Die beiden Freundinnen sahen sich an und lachten verzückt.

»Zu schade, dass ihr kein Grammophon habt. Sonst könnten wir jetzt tanzen.«

»Wir können ja trotzdem tanzen«, sagte Ulla und fing an »Sweet Georgia Brown« zu summen. Vera lachte verzückt auf und hob die Arme, Ulla griff nach ihrer rechten Hand und die linke auf Veras Taille. Summend und lachend tanzten sie einen One-Step. Dann fing Vera an zu singen:

»Du bist zu dick, du bist nicht schick

du bist unmöglich

das seh ich täglich

mein lieber Hans!«

»Was ist das für ein neuer Sport«, stimmte Ulla ein, und gemeinsam sangen sie, »des Kniegelenkes

was für Menkenkes

machst du beim Tanz?«

Und so sangen sie das Lied gemeinsam, Arm in Arm und tanzend. Danach sah Vera Ulla grinsend an.

»Ta‑ta«, machte sie. »Ta‑ta, tatatatata …«

»Ta‑ta, Ta‑ta, tatatatatata«, sang Ulla.

Sie stellten sich nebeneinander, spreizten die Arme und tanzen einen Charleston, laut lachend und gackernd. Sie waren ganz vertieft in ihren Tanz, so dass sie die Tür nicht hörten. Plötzlich stand Heinrich im Raum und sah sie entgeistert und verärgert an.

»Was ist denn hier los?«, sagte er. »Und wie sieht es hier überhaupt aus? Und wie seht ihr aus? Sind wir hier bei den Hottentotten?«

»Hallo, mein Lieblingsbruder.« Vera fiel ihm um den Hals und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Ich finde es auch schön, dich zu sehen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Schau doch nur, was für schöne Kleider Ullala genäht hat. Am Samstag wollen wir in den neuen Klub. Kommst du mit? Lotti kommt auch.«

»Ihr wollt tanzen?« Heinrichs Stirn glich der Borke eines alten Baumes. »Was soll ich denn da?« Mit seinem Gehstock zeigte er auf sein steifes Bein und schüttelte den Kopf, sein Blick war immer noch verärgert. »Wo sind die Kinder und wann gibt es Essen?«

»Die Kinder sind im Garten«, beeilte sich Ulla zu sagen. »Wir haben sie von hier aus gut im Blick.« Eilig begann sie, die Sachen vom Tisch zu räumen – Stoffreste, Fäden, Nähgarn, Kreide und Stecknadeln. Vera schaut zu ihr, dann wieder zu Heinrich und zog die Schultern fröstelnd nach oben.

»Im Blick?«, fauchte Heinrich. »Ihr habt doch nur euch im Blick.«

»Dann kümmere du dich doch um die Mädchen«, zischte Ulla jetzt.

»Während du was tust? Nähen? Basteln? Deine Aufgabe ist der Haushalt – aber das vergisst du ja immer.« Heinrich drehte sich um und ging zur Tür. Knallend warf er sie hinter sich zu. Sie hörten seine humpelnden und stampfenden Schritte, unterstrichen von dem Tok-tok, das sein Stock machte, den er wütend auf die Stufen stieß, nach oben gehen.

»Du lieber Himmel, welche Laus ist ihm denn über die Leber gekrochen?«, fragte Vera verblüfft.

Ulla zuckte nur mit den Schultern.

»Das ist schon länger so mit euch? Ich dachte, ihr hättet wieder Frieden geschlossen und hier einen Neuanfang gemacht?«

»Das hatte ich auch gehofft, aber er wird immer verbitterter. Nach der Währungsreform habe ich Hoffnung geschöpft, dass bald alles besser wird, zumal er ja die Stelle beim Amt hatte – aber jetzt müssen wir wieder jeden Pfennig umdrehen, und ich glaube, er möchte, dass ich auch arbeiten gehe. Er weist mich immer auf mein Studium hin.« Ulla zog sich schnell das Kleid aus, faltete es zusammen und zog ihre Alltagssachen an.

»Arbeiten? Geld verdienen? Dann hätte er dir nicht drei Kinder machen sollen«, schnaubte Vera. »Er ist Arzt, er weiß, wie man das verhindern kann.«

»Du weißt doch, wie sehr er sich einen Sohn gewünscht hat. Und nun hat er nur drei Töchter.«

»Pffft. Dieser dumme Stammhaltergedanke.«

»Es ist der Name. Dehmel. Du und Lotti gebt ihn nicht weiter …«

»Lotti schon. Ihr Sohn Peter heißt natürlich Dehmel – so wie sie auch. Und es ist nicht abzusehen, dass sie heiratet.«

»Ja, aber Heinrich wollte den Namen vererben. Er wollte einen Sohn.«

»Ich hoffe, du gibst seinem Wunsch nicht noch einmal nach. Noch eine Schwangerschaft und Geburt könnte dich umbringen.« Auch Vera hatte sich rasch umgezogen und nahm nun ihre Freundin in die Arme.

Ulla schüttelte den Kopf. »Die drei Mädchen reichen mir. Völlig. Ich würde lieber wieder arbeiten – etwas schaffen, etwas erschaffen. Es geht mir gar nicht so sehr ums Geld, es geht darum, etwas Sinnvolles zu tun.«

»Ich hätte da vielleicht etwas für dich«, sagte Vera nachdenklich. »Aber was wäre mit den Mädchen?«

»In zwei Wochen beginnt die Schule – dann ist Fine zumindest erst einmal betreut. Und ich habe ein neues Dienstmädchen in Aussicht. Die gute Gertie wird mich leider bald verlassen. Sie ist eine wunderbare Köchin und kann gut haushalten. Außerdem kann sie auch noch hervorragend mit den Kindern umgehen. Deshalb hat sie auch eine Stelle gefunden, die besser bezahlt ist. Das kann ich ihr nicht bieten, im Moment zumindest nicht. Aber ein zuverlässiges Mädchen zu finden, ist gar nicht so einfach, auch wenn du an jeder Straßenecke zehn davon aufgabeln könntest. Aber drei von denen trinken, zwei klauen das Haushaltsgeld, zwei weitere sind faul, eine schlägt die Kinder, und der Rest kann nicht kochen.« Ulla seufzte. »Jemanden mit guten Empfehlungen zu bekommen, ist schwer. Zum Glück hat mein Vater eine junge Frau an der Hand. Sie ist geschieden und kommt deshalb nur schwer unter.«

»Ich bin froh, dass ich eine zuverlässige Kraft habe – sie ist noch sehr jung, aber sie kommt gut mit Tim klar. Nur kochen … na ja, das könnte besser sein.«

»Heute Abend esst ihr doch bei uns?« Es war nicht wirklich eine Frage. »Gertie hat einen Eintopf gekocht. Mit Lammfleisch.«

»Ich rieche es schon die ganze Zeit«, gab Vera zu. »Komm, geh und hol die Kinder. Ich räume hier schnell weiter auf. Dann hat Heinrich keinen Grund mehr, zu meckern.«

Ulla drückte Veras Hand und lächelte ihr dankbar zu. Dann ging sie rasch in die Küche, die neben der Stube im Erdgeschoss war. Das Reihenhaus war schmal und hoch – Stube, Küche und Toilette im Erdgeschoss, darüber das Schlafzimmer und das Wohnzimmer, außerdem ein kleines Bad. Im zweiten Stock schliefen die Mädchen, und dort war auch Heinrichs Arbeitszimmer. In der Mansarde im Dach war die Kammer des Mädchens.

»Meine Schwägerin und ihr Sohn essen heute mit uns«, sagte sie zu Gertie, dann ging sie nach draußen in den Garten. An der Tür blieb sie stehen und holte tief Luft. Hier in Wilmersdorf lagen weniger Rauch und Qualm über den Straßen, zum Teil war es fast noch ein wenig dörflich, doch die Bebauung nahm, so wie überall, immer mehr zu. Dennoch roch es hier nach Frühling. Natürlich nicht so, wie auf dem Darß, wo man die Jahreszeiten am Duft erkennen konnte. Ulla hatte ihre Fischerkate auf dem Darß geliebt, aber sie war froh gewesen, umzuziehen, hatte sich mehr Freiheit und vor allem mehr Austausch mit anderen ersehnt. Bisher war es schwierig gewesen, Kontakte zu knüpfen, die Kinder fesselten sie an das Haus. Doch nun war Vera nach Berlin gezogen, und jetzt würde alles anders werden. Besser, so hoffte Ulla.

Da Heinrich wegen seiner Kriegsverletzung, die letztendlich zu einem steifen Bein geführt hatte, nicht tanzen ging, hatte Ulla bisher wenig vom Berliner Nachtleben mitbekommen. Ein paarmal war sie mit Sonja, Lottis bester Freundin, und ihrem Lebensgefährten Heinrich Vogeler, den alle Mining nannten, ausgegangen, aber sie hatte sich wie das dritte Rad am Wagen gefühlt. Das würde sich jetzt ändern, dachte sie und holte tief Luft. Es war noch die klare Luft des Winters, aber jetzt schon vermischt mit dem frischen Duft jungen Grases. Noch waren die Bäume und Büsche trist und graubraun, aber die allerersten Anzeichen und Farbtupfen ließen sich schon erahnen. Die dicken, noch geschlossenen Knospen der Kirschbäume, die sich an der Spitze zaghaft öffneten, so als wollten sie schnuppern, ob die Luft schon lau genug sei für die zarten Blütenblätter. Die Schneeglöckchen und Winterlinge, die tapfere Vorhut des Frühlings, die durch das alte Laub des letzten Jahres brachen und von Wachstum und Erneuerung zeugten. Auch der Boden, noch hart und von einem kargen Braun, roch anders. Wenn die ersten Frühjahrsgüsse ihn aufweichten, würde der Duft ausbrechen und die Luft erfüllen. Es war erst ein Erahnen, ein sanftes Herantasten der neuen Jahreszeit, Ulla sah ihr mit Freude entgegen. Sie hielt an dem Gefühl fest, an dem Freuen auf das Wochenende, auf den Frühling und Sommer, auf die neue Zeit, um das dumpfe Gefühl der Trauer über ihre inzwischen wieder lieblose Ehe zu übertünchen.

»Kinder, kommt rein. Gleich gibt es Essen«, sagte sie bemüht fröhlich. »Vati ist schon da.«

Fine sprang sogleich auf, ihre Wangen leuchteten, und ihre Augen strahlten. Sie lief auf das Haus zu. »Wo ist Vati?«

»Er ist nach oben gegangen. Jetzt darfst du ihn noch nicht stören«, sagte Ulla fest.

Fine blieb stehen und zog die Nase hoch. »Och Mensch«, murmelte sie enttäuscht.

»Er kommt ja gleich zum Essen herunter«, versuchte Ulla ihre Tochter zu trösten. Fine und Heinrich hatten ein sehr inniges Verhältnis zueinander, und nichts liebte Fine mehr, als wenn der Vater ihr Geschichten vorlas.

Neli war Fine gefolgt. »Vati?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Er muss noch arbeiten«, sagte Fine. »Dann dürfen wir ihn nicht stören.«

Auch Neli senkte den Kopf.

»Geht und wascht euch die Hände«, sagte Ulla und hob Beate aus dem Sandkasten, schüttelte sie ein wenig und klopfte den Sand von der Kleidung. Beate lachte begeistert.

»Muss ich auch rein?«, fragte Tim. »Ich will lieber noch den Fußballern zusehen. Hertha BSC trainiert dort hinten, eine klasse Mannschaft.«

»Du musst nur mitkommen, wenn du etwas zu essen haben willst.« Ulla lächelte.

»Oh«, sagte Tim und stand auf. »Eure Köchin ist zwar nicht so gut wie Guste in Blankenese, aber sie ist um Welten besser als unser Mädchen.« Er leckte sich über die Lippen.

»Wie gefällt dir denn Berlin?«, fragte Ulla ihren Neffen.

Tim zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, murmelte er. »Ich fand es in Blankenese schöner. Da konnte ich immer zu Großmutter Isi gehen und zu Guste. Auch Vati habe ich öfter gesehen – aber er hat ja nie viel Zeit. Mutti sagt, die Schule sei hier besser, und ich würde bestimmt bald Freunde finden, da bin ich mir aber nicht so sicher.« Er verzog das Gesicht. »Unser Häuschen in Blankenese war auch viel schöner als die Wohnung hier, und dort hatten wir einen Garten. Aber Mutti sagt, dass sie eine andere Wohnung für uns suchen wird.«

»Du wirst dich schon einleben. Für die Mädchen war es auch nicht leicht.«

»Aber ihr habt am Meer gewohnt, dort war es noch schöner als in Blankenese – aber noch weiter weg von Guste.«

»Das stimmt«, sagte Ulla lachend. »Alles hat seine Vor- und Nachteile, Tim. In der Stadt haben wir aber alle bessere Möglichkeiten.«

Ulla setzte Beate in der Küche in den Kinderstuhl. Gertie würde sie füttern, umziehen und zu Bett bringen.

Die Mädchen hatten sich die dicken Mäntel ausgezogen und sie in der Garderobe achtlos fallen lassen. Vera trat in den Flur, hob die Mäntel auf und hängte sie an die Haken. »Sie kommen ganz auf dich, Ullala«, sagte sie verschmitzt.

Ulla seufzte. »Sehr zu Heinrichs Missfallen.«

»Sie sind noch jung und können noch lernen, du musst es ihnen nur vorleben.«

»Ich schmeiße meinen Mantel ja nicht auf den Boden«, sagte Ulla empört.

»Abe oft genug legst du ihn einfach auf den Stuhl …«

»Mach du mir nicht auch noch Vorhaltungen.«

»Ach, ich meine das ja nicht so, meine liebste Ullala.« Vera umarmte ihre Freundin. »Es wird sich schon alles fügen. Die Mädchen sind großartig, das sieht mein Bruder doch hoffentlich auch?«

»Ich weiß nicht, wie dein Bruder die Dinge sieht. Er spricht mit mir nicht darüber. Aber ganz sicher liebt er die Mädchen.« Sie stockte. »Fine mehr als die beiden anderen, fürchte ich«, fügte sie leise hinzu.

»Ach herrje«, sagte Vera erschrocken. »Merken es die Kinder?«

»Neli merkt es, ja. Sie buhlt so sehr um Heinrichs Liebe, dass es schon wehtut.«

»Du musst mit ihm reden. Das geht nicht. Er muss sich um alle drei kümmern.«

»Ich rede mit einer Wand«, sagte Ulla und drehte sich um, ging in die Stube. Die Kinder hatten schon am Tisch Platz genommen. Das Zimmer war aufgeräumt, Vera hatte ganze Arbeit geleistet. Überrascht sah sich Ulla zu ihr um. »Meine Güte, bis ich das so hinbekomme, vergeht ein ganzer Tag. Wie hast du das geschafft?«

»Es ist ganz einfach«, sagte Vera. »Ich werde es dir zeigen. Aber nun gibt es hoffentlich Essen, mir knurrt schon der Magen, und es riecht phantastisch.«

Der Duft des Essens musste auch bis in die obere Etage gedrungen sein, denn nun ertönten die Schritte und das Tok-tok von Heinrichs Stock auf der Treppe.

»Vati kommt«, sagte Fine glücklich. Nelis Wangen glühten, und sie ließ ihren Blick nicht mehr von der Tür.

»Habt ihr euch die Hände auch gut gewaschen?«, fragte Ulla nervös. »Streckt sie aus.«

Die Mädchen folgten ihrer Anweisung und drehten die Hände hin und her. Ulla nickte zufrieden.

»Was ist denn, wenn sie nicht sauber sind?«, fragte Vera leise.

»Dann ärgert sich dein Bruder.«

»Ach herrje«, sagte Vera wieder. »Was ist denn bloß in ihn gefahren? Es sind doch noch Kinder.«

»Er ärgert sich über mich. Denn ich bin die Mutter und habe mich zu kümmern.«

Vera schüttelte entgeistert den Kopf, sagte aber nichts mehr.

»Es war köstlich«, sagte Heinrich und schob seinen Teller von sich. »Gertie ist eine Wucht.«

»Das stimmt«, antwortete Ulla. »Zu schade, dass sie geht.«

»Sie geht?« Heinrich sah seine Frau entgeistert an. »Warum?«

Ulla verdrehte die Augen. »Natürlich geht sie. Das hatte ich dir doch gesagt. Mehr als einmal. Aber du hörst ja nicht zu. Sie geht, weil sie eine andere Stellung hat, bei der sie mehr Lohn bekommen wird.«

Heinrich schnaufte. »Geld, Geld, alles dreht sich immer um Geld.«

»Von irgendetwas muss man ja leben«, sagte Vera und zündete sich eine Zigarette an, reichte ihr silbernes Etui an Ulla weiter. »Ohne Geld geht es nicht.«

»Doch, das ginge schon«, sagte Heinrich und zog ein Zigarillo aus seiner Westentasche. »Auf dem Barkenhoff haben sie es jahrelang erfolgreich gelebt. Selbstversorgung – Tauschgeschäfte. Alle sind gleich, alles gehört allen. Man arbeitet und lebt gemeinsam.«

»Letztendlich ist das Projekt aber gescheitert. Wie andere Projekte dieser Art auch. Du kannst gerne Mining dazu befragen. Er hat sich vom Barkenhoff zurückgezogen. Oder sprich mit Tetjus. Der hat dort auch eine Weile gelebt.« Vera stieß den Rauch aus.

»Möchte jemand einen Absacker?«, fragte Ulla und stand auf.

»Gerne«, meinte Vera. »Du doch bestimmt auch, Heinrich.«

Heinrich schüttelte den Kopf. »Ich muss noch arbeiten.« Er räusperte sich. »Diese Projekte scheitern nicht an der Idee an sich, sondern an den Menschen, Detta. Es sind die Egoisten, die diese Art des Lebens kaputt machen und nicht führen können. Die Menschheit muss ihren Egoismus ablegen, und wir alle müssen lernen, anders miteinander umzugehen.«

»Wie denn?«, fragte Ulla und zog die Augenbrauen hoch, stellte drei Gläser und eine Schnapsflasche auf den Tisch. »Wie müssen sie miteinander umgehen?« Sie sah ihn herausfordernd an.

Tim und Neli waren nach oben gegangen, um zu spielen, Fine aber saß noch auf ihrem Stuhl und machte sich ganz klein. Niemand beachtete sie.

»Achtsam. Wir müssen achtsam miteinander umgehen. Und uns alle als gleichberechtigt akzeptieren.« Heinrich nickte ernst.

»Das sagt der Richtige«, fauchte Ulla. »Derjenige, der seine Meinung über das Wohl der Familie stellt.«

»Ich bitte euch«, meinte Vera nun und lächelte. »Wir wollen uns doch nicht streiten?« Sie räusperte sich. »Dass sich alle gleichberechtigt ansehen, ist eine schöne Vorstellung, aber mir scheint es – vielleicht noch – eine Utopie zu sein. Das funktioniert noch nicht mal in Russland, wo jetzt die Kommunisten an der Macht sind. Es ist ihr Credo – aber sie müssen es mit Gewalt durchsetzen.«

»So wie sie es machen, ist es falsch«, sagte Heinrich und trank einen großen Schluck von dem Schnaps. »Gewalt ist keine Lösung. Niemals. Ich glaube aber, dass es mindestens eine Generation dauert, bis die Menschen begriffen haben, worauf es ankommt. Mindestens. Vermutlich sogar noch länger.« Er seufzte. »Es sind halt gesellschaftliche Normen, die überwunden werden müssen. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Es dauert, es braucht Übung, Gewöhnung.«

»Und viel, viel Überzeugung«, sagte Ulla. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert. Nicht friedlich. Einen Bürgerkrieg würde ich für das Erreichen dieser Ziele auch nicht in Kauf nehmen wollen. Keine Art von Kampf.«

»Was machst du jetzt eigentlich?«, fragte Vera Heinrich. »Ulla hat mir erzählt, dass du deine Stelle verloren hast.«

Heinrich sah Ulla an, dann seine Schwester. »Ich habe meine Anstellung nicht verloren – das ist ja kein Schlüsselbund –, mir wurde die Stellung gekündigt. Weil ich nicht tatenlos zusehen will, wie Tausende Menschen vor die Hunde gehen, während Politiker sich um Kleinigkeiten streiten. Diese Stadt, das ganze Land, muss reformiert werden. Die Wohnverhältnisse für die Arbeiterschicht sind indiskutabel. Es sterben Menschen – Kinder und Frauen, weil die Regierung zu feige ist, einzuschreiten und die Situation zu ändern.« Er holte tief Luft, trank noch einen Schnaps. »Man muss dringend neue Wohnungen bauen – Wohnungen, die mehr Platz bieten und bessere hygienische Bedingungen haben. Eine Toilette für eine Familie, fließendes Wasser nicht an den Wänden, sondern aus dem Wasserhahn. Mehr Licht und Luft, so dass die Menschen atmen können. Und das wäre nur ein Anfang.« Er sah sich um. »Wir wohnen hier im Vergleich zu den Menschen in Neukölln in paradiesischen Verhältnissen. Wir haben ein Haus, das uns genug Raum bietet, Toilette und Bad. Wir haben sogar einen Garten, den wir dieses Jahr auch bewirtschaften sollten …«

»Bewirtschaften?« Ulla lachte ungläubig. »Wie stellst du dir das denn vor?«

»Wir hatten einen Gemüsegarten in Wustrow. Und auch Obststräucher. Das wird hier ja auch möglich sein. Ich weiß, wir werden nicht genug anbauen können, um uns selbst zu versorgen – aber dazu beitragen, das können wir schon. Außerdem ist es günstiger, als alles einzukaufen.«

»Ja, das stimmt. Dann wirst du also einen Gemüsegarten anlegen? Kartoffeln pflanzen? Salat setzen?«, fragte Ulla.

»Ich? Wann soll ich das denn tun?« Heinrich sah sie ungläubig an. »Dafür habe ich keine Zeit. Aber du, du hast die Zeit. Oder du hättest sie, wenn du nicht versnobte Kleider mit Perlen und Fransen nähen würdest.« Er klang wütend.

»Was machst du denn zurzeit?«, fragte Vera nach. »Hast du eine neue Anstellung?«

»Ich bin dabei, meine eigene Praxis zu eröffnen«, erklärte Heinrich. »Ich habe Räume in der Hardenbergerstraße angemietet und richte sie gerade ein. Außerdem schreibe ich an meiner Doktorarbeit.« Er strafft stolz die Schultern.

»Du machst deinen Doktor? Worüber schreibst du die Arbeit?«

»Ich bin der Meinung, dass chemische Stoffe eingesetzt werden können, um die Psyche des Menschen zu heilen. Es gibt jede Menge neuer Stoffe, die sich gut auf den Geist auswirken – aber noch weiß man nicht genau, wie. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Mittel die Lösung für viele Probleme der Gesellschaft darstellen. Denk nur an die vielen Zitterer, die es seit dem großen Krieg gibt. Männer, die schreckliche Erfahrungen im Schützengraben und an der Front gemacht haben. So furchtbare Erfahrungen, dass sie an der Seele erkrankt sind. Und diesen Männern kann man mit chemischen Stoffen helfen – man kann ihre Leiden lindern.«

»Ich habe gehört, dass sie Rauschmittel nehmen, um das Zittern zu stoppen«, sagte Vera nachdenklich. »Sie zittern dann zwar weniger, aber sie haben andere Erscheinungen.«

»Ja, ja – das stimmt«, sagte Heinrich eifrig. »Weil diese Rauschmittel noch nicht wirklich erforscht sind. Sie wirken auf den Geist – bei dem einen so, bei dem anderen anders. Und diese Mittel können auch noch andere Leiden lindern oder sogar heilen. Hysterie zum Beispiel oder Melancholie. Man weiß noch nicht genau, wie das kommt und was genau diese Mittel bewirken. Aber das will ich herausfinden. Denn wenn man Mittel gegen seelische Beschwerden findet, dann kann man der ganzen Gesellschaft helfen. Sie heilen.«

Vera schluckte. »Du forschst tatsächlich an Rauschmitteln? Wie?«

»Ich suche gerade Probanden, Freiwillige. Mit ihnen werde ich Versuchsreihen durchführen. Es ist eine große Sache, Detta, glaub mir«, sagte Heinrich eifrig.

»Aber … das kostet doch Geld.«

»Ja, ja.« Heinrich machte eine wegwerfende Bewegung. »Ich verhandele noch mit ein paar Konzernen, mit Chemiekonzernen. Die sind natürlich auch daran interessiert, diese Art von Medikamenten herzustellen. Es könnte mein Durchbruch werden.«

»Und du machst diese Tests in deiner Praxis?«

»Nein. Hier. Die Probanden kommen hierher. Oben in mein Arbeitszimmer.«

»Ich bin damit nicht einverstanden«, sagte Ulla. »Schließlich leben wir hier, und die Kinder sind im Haus. Aber darauf will er nicht hören.«

Heinrich sah sie verärgert an.

»Warum nicht in der Praxis?«, fragte Vera.

»Sie ist noch nicht eingerichtet. Und außerdem will ich mir meinen Ruf nicht verderben. Ich habe das so beschlossen und werde nicht mehr darüber diskutieren.«

Kapitel 2

Fine hielt ihre Zuckertüte, die Ulla gebastelt hatte, ganz fest. Neugierig, aber auch ein wenig ängstlich sah sie sich auf dem Schulhof um.

»Heute beginnt der Ernst des Lebens«, sagte Vera und lächelte.

»Warum?«, fragte Fine.

»Weil die Schule der erste Schritt zum Erwachsenwerden ist.«

Fine kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Ulla strich ihr aufmunternd über die Haare.

»Es wird schön werden, meine liebe Fine«, sagte sie. »Du wirst Freunde finden und richtig lesen lernen.«

»Ja, darauf freue ich mich auch schon sehr«, sagte das kleine Mädchen eifrig.

Dann wurden die Kinder aufgerufen und mussten sich mit ihren Klassenkameraden zusammen aufstellen, und schon ging es in das Schulgebäude. Fine sah sich unsicher um. Ulla winkte ihr zu, dann stieß sie die Luft aus. »Meine kleine Große. Sie war doch gerade noch ein Baby.«

»Es geht so schnell. Ich weiß, was du meinst. Eben noch haben wir sie im Kinderwagen durch die Gegend geschoben, und nun gehen sie zur Schule«, sagte Vera und nahm ihre Freundin in den Arm. »Aber lass uns jetzt nach Hause gehen. Wir holen Fine in vier Stunden wieder ab, und dann feiern wir. Ich habe Kuchen mitgebracht.«

Ulla nickte und blinzelte die Tränen weg, dann setzte sie ein zaghaftes Lächeln auf. Sie sah zum Himmel, der hier in Berlin nie so groß und so strahlend war wie im Fischland. Aber nun schien es, als hätte jemand ein leuchtend blaues Laken über den Himmel gezogen, und die Luft roch nach dem gestrigen Regen wie frisch gewaschene Wäsche. Das würde nicht lange anhalten, aber in diesem Moment genoss Ulla es.

Gemeinsam mit Vera machte sie sich auf den Weg nach Hause. Für Tim hatte die Schule schon gestern begonnen, und ab heute galt der Stundenplan, er war schließlich schon in der zweiten Klasse.

»Wie gefällt Tim die neue Schule?«

»Du kennst ihn doch, er sagt nie viel dazu. Ich weiß, dass er gar nicht hier sein will, aber er weiß auch, dass wir keine große Alternative haben. Für seine fast sieben Jahre ist er sehr verständig.« Nachdenklich sah Vera Ulla an. »Ist es jetzt nicht einfacher für dich? Jetzt hast du morgens nur noch Neli und Beate zu Hause. Und Neli wird nächstes Jahr auch schon eingeschult.«

»Neli leidet, und ich weiß nicht, wie ich ihr das nehmen kann.« Ulla verzog das Gesicht. »Sie beneidet Fine darum, dass sie schon in die Schule darf, dass Heinrich Fine bevorzugt, dass alle Beate süß finden. Cornelia fällt immer irgendwie unter den Tisch. Ich gebe mein Bestes, um das auszugleichen, aber es will mir nicht gelingen. Es ist schon so weit, dass Fine sie immer ›Nöli‹ nennt, weil sie so oft quengelt. Und Heinrich wird immer ungeduldiger mit ihr. Es ist ein Teufelskreislauf, aber das will er nicht sehen.«

»Manchmal möchte ich meinen Bruder schütteln. Ihn ganz, ganz fest schütteln. Er war doch früher anders – viel aufgeschlossener, fröhlicher und verständiger.«

»Es ist der Krieg. Der Krieg hat ihn – wie viele andere auch – kaputt gemacht. Er hat immer noch Albträume von den Schlachten.«

»Will er deshalb dieses Medikament finden? Diese chemische Substanz für die Seele?«

»Ja, glaube, das hängt damit zusammen. Andererseits ist er wirklich davon überzeugt, dass man mit diesen Mitteln die ganze Welt verbessern kann. Er sagt, wenn alle Menschen glücklich sind, wird es auch nie wieder Krieg geben.«

»Das klingt wundervoll, leider auch utopisch. Ich bin da eher auf Sonjas Seite – man muss die Umstände verbessern. Menschen, die Arbeit haben, die genug haben, um leben zu können – in guten Verhältnissen, sauber und warm, Menschen die satt und zufrieden sind, die werden nie wieder einen Krieg führen.«

»Beides mag stimmen. Aber ich sehe nicht, wie das so schnell erreicht werden kann.«

»Diese Republik muss erst noch lernen, wie es ohne die Monarchie funktioniert. Das geht nicht von heute auf morgen«, meinte Vera nachdenklich.

Sie hatten die Reihenhäuschen, die in U‑Form um einen Hof gebaut worden waren, erreicht. Ulla schloss die Tür auf, Neli kam ihr entgegengelaufen. »Wo ist Fine?«

»Fine ist doch jetzt in der Schule.«

»Aber … alleine?«, fragte das kleine Mädchen und steckte sich den Daumen in den Mund.

»Nein, sie ist nicht alleine. Es sind ganz viele andere Kinder ebenfalls da. In ein paar Stunden holen wir Fine wieder ab. Du kannst mitkommen, wenn du magst.«

Neli nickte und ging zurück in die Stube. Beate saß dort auf dem Boden und spielte ganz versunken mit einer Zeitung. Sie brabbelte und lachte, knüllte das Papier immer wieder zusammen und zerriss es. Ihre Hände und das Gesicht waren mit Druckerschwärze bedeckt.

In der einen Ecke hatte Neli den Korb mit ihren Puppensachen ausgekippt. In der anderen Ecke lag eine Kiste mit Stoffen. Stoffe waren auch über den Tisch verteilt, ebenso wie Papier und Stifte.

»Zeichnest du wieder?«, fragte Vera und ging interessiert zum Tisch.

»Ein wenig, aber ich habe einfach keine Ruhe hier und kann mich nicht konzentrieren.«

»Ist das neue Mädchen schon da?«

Ulla schüttelte den Kopf. »Sie kommt erst Anfang des nächsten Monats.«

»Aber Gertie kommt doch wunderbar mit den Kindern zurecht. Und jetzt sind es morgens nur noch zwei – die Zeit musst du nutzen.«

»Gertie hat uns schon verlassen«, sagte Ulla traurig. »Sie ist letzte Woche Knall auf Fall gegangen. Nur heute ist sie ausnahmsweise gekommen, weil Fine die Einschulung hat.«

»Knall auf Fall? Einfach so?«, fragte Vera ungläubig.

»Nein, natürlich nicht. Es gab ein paar … Vorfälle.« Ulla biss sich auf die Lippen und ließ die Haare in ihr Gesicht fallen.

»Nun zier dich nicht so – was genau ist passiert?«

»Es lag an Heinrich …«

»Du willst mir jetzt doch hoffentlich nicht sagen, dass sich mein Bruder ungebührlich verhalten hat?« Vera sah sie entsetzt an.

»Nein, nein. Natürlich nicht.« Ulla schüttelte den Kopf. »Aber er führt nun seine Versuche hier durch und … ich weiß nicht, wie ich es erklären soll – die Probanden sind doch meist etwas seltsam.«

»Ich verstehe nicht, warum er das nicht in seiner Praxis macht.«

»Noch ist sie nicht eingerichtet, und er hat dort auch noch keinen Ofen, der wird noch angeschlossen. Also macht er seine Versuche hier. Und Gertie hat das gegruselt. All die fremden Männer hier im Haus. Ich habe sie durchaus verstanden.«

»Ich hoffe, er hat die Praxis bald fertig«, meinte Vera nachdenklich. »Und dass das neue Mädchen bessere Nerven hat.«

Ulla verzog resigniert das Gesicht. »Das wird sich zeigen müssen. Die paar Wochen, bis das neue Mädchen da ist, werde ich sicher noch überstehen. Und dann, ja, das hoffe ich sehr, kann ich endlich wieder etwas für mich und mein berufliches Fortkommen tun.«

»Eventuell hätte ich da etwas für dich. Ein paar Aufträge am Naturkundlichen Museum. Es wären nur kleine Aufträge, kein Festvertrag oder so – aber es könnte ein Anfang sein.«

Ulla sah sie an, dann fiel sie ihrer Freundin um den Hals. »Wirklich? Ich mache es, was auch immer es ist. Jedes noch so kleine Fitzelchen an Arbeit.«

»Es eilt nicht, aber du könntest eine Bewerbungsmappe zusammenstellen – nichts Großartiges. Nur ein paar Arbeitsbeispiele und natürlich deinen Abschluss. Ich habe schon mit dem Leiter gesprochen und dich sehr lobend erwähnt.«

»Du bist ein Schatz, ein Schatz, ein Schatz!« Ulla wirbelte Vera durch den Raum und küsste sie.

»Bin ich auch ’nen Schatz?«, fragte Neli.

»Ja, das bist du!« Ulla nahm ihre Tochter hoch und schwang sie hin und her. Beate, die auf dem Boden saß und dem fröhlichen Treiben zuschaute, juchzte begeistert auf.

»Jetzt wäre mir nach einem Glas Schaumwein«, sagte Vera kichernd. »Und nach Musik. Ihr müsst euch wirklich ein Grammophon anschaffen.«

»Wenn Heinrich das nicht macht, werde ich eines von meinem ersten Gehalt kaufen«, sagte Ulla, ihre Augen strahlten.

»Das wäre wirklich eine gute Investition«, sagte Vera lachend. »Ein Haus ohne Musik erscheint mir so leer.«

»Ein Haus mit Musik erscheint mir frivol.«

»Wirklich?«

»Nun ja.« Ulla stellte Neli wieder auf den Boden und strich sich über ihr Kleid. »Musik gab es im Haus deines Vaters. Dort war ein Grammophon. Oder es kamen Musiker. Im Haus meiner Mutter wurde immerzu Klavier gespielt. Aber das war andere Musik als jetzt der Swing und Jazz, die überall zu hören sind.«

»Ich hatte den Eindruck, dass es dir sehr gefallen hat, als wir in der Stadt zum Tanzen waren.«

»Oh ja, natürlich. Ich habe mich so lebendig gefühlt – wie ein Farbstrudel voller Emotionen. Es war wunderbar. Aber … solche Musik zu Hause hören? In den letzten Jahren auf dem Darß war meine Welt erfüllt von Möwenrufen und Wellenrauschen. Es war nie still – aber es war ganz anders als hier. Und Musik? Dort? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Du lebst nicht mehr dort, du lebst jetzt hier, Ullala. Es ist ein neuer Abschnitt in deinem Leben. Wovor hast du Angst?«

»Ich habe keine Angst«, sagte Ulla leise und nicht sehr überzeugend.

»Wann kommt’n Fine zurück?«, fragte Neli nun.

Ulla sah auf die Uhr. »Das dauert noch ein wenig, aber wir sollten aufräumen. Und dich, mein Spatz, müssen wir sauber machen«, sagte sie zu Beate.

»Wo ist denn mein Bruder?«, wollte Vera wissen. »Kommt er auch gleich?«

»Ja, er hat es versprochen. Gerade ist er wieder in seiner Praxis.«

»Ich hoffe, dass sie laufen wird. Und dass er endlich einen inneren Ruhepunkt findet.« Vera sah Beate an, grinste. »Du nimmst die Kleine, und Cornelia und ich räumen hier schnell auf.«

Einen Moment lang sah Ulla die kleine Beate an und zog die Braunen hoch. »Wie siehst du denn aus?«, sagte sie dann seufzend und nahm das mit Druckerschwärze befleckte Kind vorsichtig hoch. Beate versuchte, Ulla mit den Händchen ins Gesicht zu patschen, doch Ulla hielt sie auf Abstand und lachte. »Erst ins Bad, mein kleiner Spatz – oder bist du eher eine Amsel?«

Beate lachte und nickte, brabbelte vor sich hin. Behutsam trug Ulla sie ins Bad, zog ihr die Kleidung aus und reinigte ihr Gesicht und ihre Hände mit viel Gallseife. Beate ließ das alles über sich ergehen, lachte dabei fröhlich.

Wie unterschiedlich sie doch sind, dachte Ulla. Dabei haben alle drei die gleichen Eltern. Dass Neli momentan so schwierig war, schob Ulla auf die Situation. Heinrich zeigte deutlich, dass er Fine bevorzugte. Ich muss noch einmal mit ihm reden, beschloss Ulla. Er darf das Kind nicht unglücklich machen, sie ist schließlich ja auch seine Tochter.

Sie wickelte Beate in ein großes Handtuch und lief mit ihr nach oben, kleidete sie neu ein. Kleidung für die Kinder hatte Ulla reichlich – fast alles von ihr selbst genäht. Auch ihre eigene Kleidung nähte sie selbst, daran hatte sie große Freude, aber es erfüllte sie nicht. Dennoch war es besser, sich mit schillernden und bunten Stoffen, mit verschiedenen Formen und Schnitten zu beschäftigen, als gar nicht tätig zu sein.

Doch die Aussicht, endlich wieder künstlerisch tätig zu werden, ließen Ullas Herz schneller schlagen. Ja, sie liebte die Kinder, aber sie hasste den Haushalt und alles, was damit zu tun hatte. Sie hoffte sehr, dass das neue Mädchen gut mit den Kindern auskam und sich auch nicht an Heinrichs Studenten stören würde. Ob das neue Mädchen kochen konnte, wusste Ulla noch nicht – aber das erschien ihr auch nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass ihr jemand diese vielen unliebsamen Dinge abnahm, die sich wie ein Berg aus Steinen um sie herum auftürmten. Erst waren es nur ein paar Kiesel gewesen, über die sie steigen konnte, doch mit der Zeit wurde es immer mehr und immer mehr. Eine Wand, die sie nicht überwinden konnte. Und über allem thronte Heinrich und machte ihr Vorwürfe. Es lag nicht nur daran, dass ihr die Hausarbeit nur schwer von der Hand ging. Sie sah die Unordnung einfach nicht, es störte sie nur wenig. Und ihre Gedanken drehten sich, wenn es nicht um die Kinder ging, um andere Dinge. Um Kunst, Kultur, Musik, um das Leben … früher auch um die Liebe. Aber die Liebe in ihrem Leben war vertrocknet wie eine Sommerblume im Herbst. Würde es einen neuen Frühling geben, einen Neuanfang? Sie wünschte es sich so sehr. Aber im Moment konnte sie sich das mit Heinrich gar nicht vorstellen. Er war so weit weg von ihr.

Früher, dachte sie wehmütig, früher war das ganz anders gewesen. Früher hatten sie sich geliebt – innig und leidenschaftlich. Da war ein Band zwischen ihnen gewesen, ein festes Band, und Ulla hatte sich nicht vorstellen können, dass es dünner und dünner werden würde. Könnte es sogar reißen? Sie schüttelte den Kopf, wollte nicht darüber nachdenken.

»Mumi«, nuschelte Beate und lächelte, streckte ihr die Händchen entgegen.

»Ja, mein Spatz.« Ulla nahm sie hoch, schaute schnell in den Spiegel und strich sich über die Haare, dann lief sie wieder nach unten.

»Wie schnell die Zeit doch vergeht«, sagte Vera und schaute auf die Uhr. »Wir müssen gleich los und Fine abholen.«

Ulla sah sich in der Stube um. Wie immer hatte Vera in Windeseile Ordnung geschafft. Darum beneidete Ulla sie sehr. Aus der Küche zog der Duft einer kräftigen Rinderbrühe zu ihnen in den Raum. Rinderbrühe war eine von Fines Lieblingsspeisen. Es würde noch anderes geben, was sie liebte, und zum Abschluss natürlich auch Kuchen.

»Willst du mitkommen und Fine an der Schule abholen?«, fragte Ulla Neli.

»’türlich!« Das Mädchen lächelte und schob sich den Daumen in den Mund.

»Dann musst du deine Schuhe und deinen Mantel anziehen.« Ulla brachte Beate in die Küche, setzte sie in den Kinderstuhl.

»Wann soll das Essen fertig sein, Gnädigste?«, fragte Gertie.

»Das hat noch Zeit. Wir müssen Fine ja erst abholen und dann wieder herkommen. Dann wird sie ihre Zuckertüte auspacken«, sagte Ulla laut nachdenkend.

»Ich gehe von der Schule aus weiter und hole Tim ab«, erklärte Vera. »Dafür werde ich gut eine halbe Stunde brauchen.« Sie sah Gertie an. »Es ist so schön, dass Sie heute noch einmal helfen, Gertie.«

»Es ist doch Fines großer Tag«, sagte das Mädchen. »Darauf hat sie sich schon so lange gefreut. Und ich wollte dabei sei. Hab sie sehr ins Herz geschlossen.«

»Leider nicht so sehr, dass Sie bleiben.«

Gertie senkte den Kopf. »Das hat aber gute Gründe«, murmelte sie.

»Meine Schwägerin mit ihrem Sohn kommt auch gleich noch und mein Mann sowieso – hoffentlich«, sagte Ulla und tätschelte Gerties Arm. »Ich bin sehr froh, dass du dich heute noch einmal überwinden konntest.«

»Ich mache es für Fine«, sagte Gertie. »Und auch nur … solange …«, stammelte sie.

»Ja, ja. Heute wird schon nichts passieren«, sagte Ulla.

»Ich wünschte, ich wüsste, worum es da gerade ging – was vorgefallen ist. Es kann doch nicht nur an Heinrichs Probanden gelegen haben.« Vera nahm Nelis Hand und verließ mit ihr das Haus.

Ulla folgte ihr. »Es ist nichts, was man rückgängig machen könnte.«

»Das mag sein, aber ich wüsste halt gerne, was es gewesen ist, dieser Vorfall.« Vera schaute über ihre Schulter, sah ihre Freundin an. »Du verschweigst mir etwas. Leugne es nicht, ich kenne dich zu gut.«

Ulla drehte den Kopf zur Seite, so dass ihr das Haar ins Gesicht fiel. »Wir müssen uns beeilen, sonst ist die Schule aus, und wir sind nicht da.«

Schon bald standen sie wartend mit einigen anderen Müttern am Tor. Längst nicht alle Eltern hatten die Zeit, ihre Kinder zur Schule zu bringen, und schon gar nicht, sie auch wieder abzuholen. Väter sah man gar nicht, viele Mütter waren mit ihren kleineren Kindern zu Hause oder mussten arbeiten. In diesem Viertel lebte eher das gehobene Kleinbürgertum, Tagelöhner konnten sich die Mieten in der Gegend nicht leisten. Die Kinder waren ordentlich gekleidet und hatten alle einen Ranzen.

Ulla sah den Kindern entgegen, wartete gespannt auf ihre Tochter, beobachtete diejenigen, die schon das Gebäude verlassen hatten.

Einige liefen aufgeregt zu ihren Müttern, andere gingen zum Zaun, sie mussten noch warten, dass auch die höheren Klassen Schulschluss hatten – dann würde die große Schwester, der Bruder oder ein Nachbarskind kommen und das Kind mit nach Hause nehmen. Wieder andere gingen, manche etwas unsicher, auf die Straße und wandten sich dann entweder nach rechts oder links – sie mussten alleine nach Hause gehen. Ullas Herz zog sich zusammen. Die armen Würmchen, dachte sie. Am liebsten hätte sie alle eingesammelt und zu sich nach Hause genommen. Aber nicht für lange, wurde ihr klar – nur, bis jemand sie abholte.

Ich bin keine Übermutter. Mich dauern diese Kinder, deren Mütter arbeiten gehen müssen, die anderen Aufgaben haben, die weder die Muße noch die Zeit haben, ihr Kind am ersten Schultag abzuholen. Aber andererseits habe ich mir vorgenommen, Fine eine Woche lang zu bringen und abzuholen, dann sollte sie es selbst schaffen. Macht mich das zu einer besseren Mutter? Ich liebe meine Kinder, aber ich vermisse auch mein eigenes Leben.

Es war ein Zwiespalt, der sie nun seit Jahren zerteilte. Die Kinder, die sie liebte, die sie aufzog, umhegte … bis zu einem bestimmten Grad. Und dann aber sie selbst, ihre Wünsche, ihre Träume, ihr inneres Drängen nach Eigenständigkeit, nach Selbstständigkeit und Kreativität. Dieser Spagat kostete sie viel Kraft.

Ihre Mutter hatte keine Ausbildung machen können, sich aber, nachdem sie sich von Ullas Vater – damals eine große Schande – getrennt hatte, Aushilfsarbeiten annehmen müssen. Sie hatten in bitterer Armut gelebt und sogar manchmal gehungert. Ullas Mutter hatte geputzt, Spuckbecken ausgeleert, Bahnhöfe gefegt oder Zeitungen verkauft. In der Zeit hatten Ulla und ihre Schwestern in der kalten und feuchten Kellerwohnung gehockt und sich aneinandergeschmiegt. Dann hatten sich die Großeltern erbarmt und ein Internat für die Enkel der geschiedenen und somit missratenen Tochter gezahlt. Es hatte Jahre gedauert, bis sich die Verhältnisse in der Familie wieder normalisiert hatten. Ullas Mutter hatte wieder geheiratet und noch ein Kind bekommen – dieses Kind wuchs behütet und mit Kindermädchen auf, musste nie hungern und nie frieren.

Ulla hatte sich geschworen, dass auch ihre Kinder nie so zu leiden hätten. Hunger, Kälte, Einsamkeit – das sollten ihre Töchter nicht erleben. Auch nicht die Angst, die so eine Existenz mit sich brachte. Dennoch ging sie nicht vollständig in der Mutterrolle auf, so wie ihre eigene Mutter bei dem vierten Kind. Staunend hatte sie ihre Mutter beobachtet, wie sie die kleine Christine umhegte und umsorgte, obwohl es ja das Kindermädchen gab, das alle Aufgaben übernahm.

Vermutlich hat das schlechte Gewissen Mutter getrieben, dachte Ulla nun. Mutter hatte keine Ausbildung. Sie sang gerne, spielte Klavier. Hätte sie nicht so früh geheiratet, wäre sie vielleicht Salonpianistin geworden – gut genug war sie.

Aber das Klavierspielen war für Ullas Mutter nur eine Leidenschaft gewesen, gebrannt hatte sie nicht dafür. Ulla brannte dafür, Sachen, Bilder, Zeichnungen zu gestalten. Sie wollte, musste ihre Hände nutzen, musste etwas hervorbringen. Die Kleidung für die Familie zu nähen war nur eine Art Ersatz für das, was sie wirklich machen wollte. Sie wollte Zeichen setzen, ein Abbild ihrer Ideen erschaffen, sie wollte dauerhafte Spuren ihres Lebens hinterlassen. Ulla hatte das Kinderbuch »Das grüne Haus« ihrer verstorbenen Schwiegermutter, die hinreißende Märchen und Kinderreime geschrieben hatte, gestaltet und illustriert. Es gab sogar eine Sonderauflage mit Handkolorationen, die sie angefertigt hatte. Aber das war nun schon Jahre her. Damals war sie mit Fine schwanger gewesen, und nun stürmte ihre älteste Tochter aus dem Schulhaus und warf sich in Ullas Arme.

»Mutti, Mutti, Mutti!«, rief Fine atemlos. Dann sah sie Cornelia und Vera. Fine umarmte Vera. »Oh, Tante Detta, du bist wieder hier!« Ihre Schwester umarmte sie auch. »Neli, Schule ist so aufregend, warte nur ab!«

»Wie war es denn?«, fragte Ulla.

»Gut. Nun ja, wir müssen die ganze Zeit in unseren Bänken sitzen – das ist langweilig. Und wie man richtig liest, habe ich auch noch nicht gelernt, aber das kommt bestimmt noch.« Fine verzog nachdenklich das Gesicht. »Aber ob ich wirklich jeden Tag zur Schule möchte, weiß ich noch nicht.«

»Du wirst es wohl müssen«, sagte Vera lachend. »Es gibt eine Schulpflicht.«

»Und wenn ich keine Lust mehr habe, zur Schule zu gehen?«, fragte Fine trotzig.

»Dann kommen die Schupos und holen dich ab.«

Fine legte ihren Zeigefinger an das Kinn und dachte nach. Dann lächelte sie. »Das möchte ich sehen«, sagte sie grinsend. »Dann wäre ich eine Attraktion in der Klasse.«

»Ich möchte das aber nicht sehen«, sagte Ulla entsetzt. »Finekind, was ist das denn für eine Einstellung. Pfui. Sei froh, dass du zur Schule gehen kannst. Bildung ist wichtig.«

»Gibbet jetzt Kuchen?«, fragte Neli, die immer von einer zur anderen geschaut hatte. »Tante Detta hat Kuchen mitgebracht.«

»Kuchen? Oh ja!«, rief Fine begeistert.

»Den gibt es später«, versuchte Vera ihre Nichten zu beruhigen. »Ich geh jetzt erst mal und hole Tim von der Schule ab. Dann kommen wir zu euch. Lotti wollte auch kommen.«

»Tante Lotti?« Fines Augen strahlten. »Bringt sie Peterle mit?«

»Bestimmt«, murmelte Ulla. Vera, Lotti und sie hatten nun alle Kinder. Auch Ullas Schwestern hatten Kindern, wobei Ullas Lieblingsschwester Hilde sich vor ein paar Jahren in den Tod gestürzt hatte. Eine Wochenbettmelancholie, sagte Heinrich damals. Ulla war sich sicher, dass ihre Schwester an den überzogenen Vorstellungen ihres Ehemannes gescheitert war – drei Kinder in zwei Jahren, das war einfach zu viel. Die Zwillinge kamen zu früh und waren sehr pflegebedürftig. Hildes Mann war Arzt, aber ohne viel Verständnis für seine Frau. Ihnen ging es nicht anders als Ulla und Heinrich – das Geld war immer knapp. Aber Hildes Mann sah nicht ein, eine Hilfe zu engagieren, Hilde sollte den Haushalt alleine schaffen.

Picobello sollte es sein, dachte Ulla nun. Wo ist es schon jemals Picobello, wenn dort Kinder leben? Sie schüttelte den Kopf, versuchte diese Gedanken von sich zu schütteln. An Hilde wollte sie gerade nun gar nicht denken. Zu ihrer Schwester Anni hatte sie nie einen innigen Kontakt gehabt. Inzwischen sendeten sie sich nur Karte zu den Feiertagen. Aber auch Anni hatte eine Tochter, obwohl sie nicht verheiratet war. Das Kind war nun vielleicht vier Jahre alt. Ullas Mutter schwieg, wenn das Gespräch auf Anni kam.

Sehr oft hatte Ulla sich vorgenommen, Kontakt zu ihrer Schwester zu suchen, aber die Zeit – die Zeit … davon gab es einfach zu wenig. Sie seufzte und sah zu ihren beiden Töchtern hinab. Fine hielt ihre Zuckertüte fest in den Händen, Neli sah immer gespannt zu der Tüte.

»Was mag da drin sein?«, fragte sie.

»Es ist alles meins!« Fine hob das Kinn und drehte sich von ihrer Schwester weg.

»Du kannst aber mit deinen Schwestern ein wenig teilen«, meinte Ulla. »Und mit Tim und Peterle.«

»Aber ich darf das entscheiden«, sagte Fine ein wenig trotzig.

»Natürlich, es ist ja deine Zuckertüte.« Fine und Neli würden nie beste Freundinnen werden, das war Ulla bewusst. Sie hoffte aber darauf, dass sie sich dennoch später einigermaßen vertragen würden. Ihre eigene Kindheit wäre ohne ihre Schwester Hilde sehr viel einsamer und trauriger gewesen. Obwohl Hilde und sie immer grundverschieden gewesen waren, so wie Fine und Neli auch, hatten sie sich innig geliebt und sehr aneinander gehangen. Erst später hatten sie sich auseinanderentwickelt und den herzlichen Kontakt verloren – was sicherlich auch an Hildes Mann gelegen hatte.

»Ist Vati zu Hause?«, fragte Fine. »Ich möchte ihm gleich von meinem ersten Schultag erzählen.«

»Er hat versprochen, dass er kommt«, sagte Ulla und lächelte. »Willst du mir nicht auch von deinem ersten Tag erzählen?«

»Nein. Erst wenn Vati da ist. Dann brauche ich mich nicht so oft wiederholen.«

Ulla lachte. »Da hast du natürlich recht.«

Fine ging mit strammem Schritt, sie lief gerne und viel. Neli aber trödelte wie meist hinterher. Sie beobachtete die Passanten, sah plötzlich ein Gänseblümchen auf dem Gehsteig und pflücke es – es gab immer genügend Dinge, die sie ablenkten. Ulla nahm nun ihre Hand und zog das Kind mit sich. »Geh ein wenig schneller, Schätzchen. Sonst sind Tante Detta und Tim noch vor uns zu Hause.«

»Das wäre doch nicht schlimm«, meinte Neli. »Sie kennen sich doch bei uns aus.«

»Es wäre aber unhöflich«, meinte Fine nun. »Du musst ja nicht immer schleichen wie eine Schnecke.«

»Bin keine Schnecke.« Neli verzog das Gesicht, stülpte die Unterlippe vor.

»Hast du Hausaufgaben auf?«, fragte Ulla, die keinen Streit aufkommen lassen wollte.

»Das sage ich dir, wenn alle da sind.«

Bald hatten sie den Häuserkomplex erreicht. Erst jetzt sah Ulla, dass ihnen ein kleines Mädchen gefolgt war. Das Kind kam ihr vage bekannt vor. Es ging an ihnen vorbei zur anderen Seite des U und schellte dort an einer Tür.

»Ist die Kleine in deiner Klasse?«, fragte sie Fine.

Fine nickte. »Das ist Rahel, sie sind letzte Woche hier eingezogen. Ich habe sie bisher nur einmal auf dem Hof gesehen, und sie wollte nicht mit mir sprechen.«

Natürlich hatte Ulla auch mitbekommen, dass eine neue Familie eingezogen war, aber sie hatte die Leute nur flüchtig gesehen und das Kind war ihr nicht aufgefallen.

»Das ist ja nett, dann könnt ihr ja zusammen zur Schule gehen.«

Fine sah sie an. »Ich weiß nicht, ob ich das will. Schließlich spricht sie ja nicht mit mir, und dann wäre es doch langweilig.«

»Vielleicht ist sie schüchtern?« Ulla schloss die Haustür auf. Ein würziger Duft kam ihnen entgegen, und Fine strahlte über das ganze Gesicht.

»Gertie hat Bratwürste gemacht«, sagte sie. »Mein Leibgericht.«

»Ja, und als Nachtisch gibt es Schokoladenpudding.«

»Ich liebe Gertie!«, rief Fine aus. Sie legte ihre Zuckertüte vorsichtig auf den Tisch, schälte sich dann aus ihrem Mantel, den sie achtlos zu Boden fallen ließ.

»Häng den Mantel auf«, ermahnte Ulla ihre Tochter. Sie hatte einen schnellen Blick auf die Garderobe geworfen, Heinrichs Mantel hing nicht dort, also war er noch nicht daheim. »Und nimm auch gleich Nelis Mantel mit.«

»Neli kann das selbst machen.«

»Bitte, Fine. Du bist doch jetzt das große, vernünftige Schulkind.«

Fine seufzte, tat aber, wie Ulla ihr geheißen hatte, und stürmte dann in die Küche. »Es duftet so, so lecker, Gertie. Bratwürste, nicht wahr? Für Bratwürste könnte ich sterben.«

»Ne, Kindchen, tu das mal nich, wa?«, sagte Gertie lachend. »Wennde tot bis, kannste die Würste ja nich mehr essen.«

»Das stimmt natürlich«, sagte Fine nachdenklich. »Und essen will ich sie auf jeden Fall. Deine Würste sind die besten der Welt. Sie schmecken sogar noch besser als die von Guste.«

»Das ist ein großes Kompliment«, sagte Ulla, die ihrer Tochter gefolgt war. »Ein sehr, sehr großes Kompliment.«

»Det weeß ik. Danke.« Gertie grinste zufrieden.

»Ich mag gar nicht, dass du gehst«, sagte Fine traurig. »Kannst du dir das nicht noch einmal überlegen?«

»Ach, Kleene, dat geht nich. Aber ihr bekommt ja ’ne Neue un die kann bestimmt auch jut kochen, wa?«

»Und was, wenn nicht?«, fragte Fine und legte den Kopf zur Seite, sah Gertie fragend an.

»Dann musset lernen, wa?« Gertie schob Fine sanft zur Seite und rührte in einem der Töpfe. »Muss jetzt nache Kartoffeln kiecken.«

Fine wusste, was diese Worte bedeuteten, und verließ seufzend die Küche. Ulla hatte Beate aus dem Kinderstuhl gehoben und trug sie in die Stube, Fine folgte ihr.

In der Stube saß Neli auf dem Boden und sah ihnen schuldbewusst entgegen. Auf ihrem Schoß lag Fines Zuckertüte – der Inhalt war auf dem Boden verstreut.

»Was … was hast du gemacht?«, schrie Fine entsetzt. »Das ist meine Zuckertüte.« Sie lief zu ihrer Schwester und entriss ihr die bunt beklebte Papptüte.

»Wollt nur mal gucken«, sagte Neli. »Hab nichts genommen.«

Ulla kniff die Augen zusammen, um Nelis Mund war ein deutlicher Schokoladenrand. »Das macht man nicht, Cornelia«, sagte sie scharf. »Es ist nicht deine Zuckertüte, das weißt du genau. Man geht nicht an die Dinge von anderen.«

»Wollte nur gucken.«

»Und lügen soll man auch nicht, Cornelia. Geh auf dein Zimmer.«

Neli sah ihre Mutter mit großen, feuchten Augen an. »Tut mir leid«, murmelte sie. »Wollt doch nur …«

»Geh! Sofort.« Ulla blieb streng.

Nun flossen die Tränen, aber das Kind stand auf und ging nach oben.