Finger, Hut und Teufelsbrut - Tatjana Kruse - E-Book

Finger, Hut und Teufelsbrut E-Book

Tatjana Kruse

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Beschreibung

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wird der indische Kulturattaché mitten auf dem Marktplatz zu Schwäbisch Hall entführt. Siegfried Seifferheld, Kommissar a. D., kennt die Hintergründe, und während die Exekutive noch im Dunkeln tappt, ermittelt Seifferheld mit Gehhilfe und Gefahrhund undercover in einem "Indisch Kochen leicht gemacht"-Kurs. Währenddessen tobt in seiner Familie wieder einmal das Chaos: Seine Freundin MaC ist wutentbrannt ausgezogen, dafür ist seine Schwester Irmgard, auch genannt der General, wieder bei ihm in die Untere Herrengasse eingezogen. Und der heimliche Sticker Seifferheld erhält sogar eine eigene Radiosendung, in der er als Stickexperte mit Rat und Tat berät …

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Seitenzahl: 308

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Tatjana Kruse

Finger, Hutund Teufelsbrut

Kommissar Seifferheld ermittelt.Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Das Who is Who im Seifferheld-UniversumGestatten: Die Leiche!Prolog: Ein … äh … perfekter TagMitternachtEs wird ernstMitternachtDer Tag der WahrheitenMitternachtEs wird noch ernster!MitternachtTag eins danachMitternachtDer Tag, an dem die Erde stillstandMitternachtDie drei Tage des CondorMitternachtDer Tag der toten EnteJudgement Day alias: Epilog
[home]

Das Who is Who im Seifferheld-Universum

Die Familie

Siegfried Seifferheld Kommissar im Unruhestand, leidenschaftlicher Sticker, Männerkochkursmitglied, Stammtischbruder, frischgebackener Opa und Großonkel

Aeonis vom Entenfall Kurz »Onis«, Hovawart-Rüde mit Knickrute

Susanne Seifferheld Tochter, Bausparkassenmanagerin, junge Mutter in der Krise

Karina Seifferheld Nichte, Ex-Aktivistin, junge Mutter, ebenfalls in der Krise

Irmgard Seifferheld seit neuestem Irmgard Seifferheld-Hölderlein, Schwester, Pfarrersgattin, die »Generalin«

 

Die Toyboys und -girls

MaC Marianne Cramlowski, Journalistin, wechseljahrsgeplagt

Olaf Schmüller Physiotherapeut, Pferdeschwanzträger, Partner von Susanne, seit neuestem Vater

Fela Nneka Fotograf, Partner von Karina, seit neuestem ebenfalls Vater

Helmerich Hölderlein Pfarrer mit Reizmagen und Reizdarm und magischen Händen

Der rosa Teddy Namenlos, aber glücklichmachend

 

Die Freunde

Kläuschen liiert mit Gummipuppe Mimi

Bocuse eigentlich François Arnaud, Franzose, Koch

Die VHS-Männerköche: Arndt (Maschinengewehrklempner), Eduard (Buchhändler), Gotthelf (dominant verheiratet), Günther (Pfarrer), Horst (Mathelehrer), Schmälzle (Wanderführerautor)

 

Die Exekutive

Gesine Bauer Polizeichefin

Mord-zwo-Stammtisch: Van der Weyden (aus dem Geburtsland der Pommes), Wurster (der Bärenmarkenbär – wegen der Behaarung, nicht weil er sahnig schmeckt), Dombrowski (der von der Sitte), Bauer zwo (Assistent von Polizeichefin Bauer, Minipli-Dauerwelle, lila Motorradfahrerlederkombi)

 

Die Inder

Rani Chopra betörend schöne Goethe-Institut-Sprachstudentin

Sunil Gupta ebenfalls Sprachstudent, aber eigentlich Tenor

Mohandra Johar Indischer Kulturattaché, »arbiter elegantiarum«

 

In tragenden Nebenrollen

Olga Pfleiderer kasachische Nicht-Putzfrau

Otto Kamerunziegenbock (nein, kein Schaf, eine Ziegenneuzüchtung!)

[home]

Gestatten: Die Leiche!

Tja, sie hatte immer gedacht, sie würde an ihrem 111. Geburtstag sterben, in ihrer Strandvilla an der Ostsee, und ihr vierter Ehemann wäre darüber so bestürzt, dass er die Uni schmeißen würde.

Aber nun lag sie hier, in eisiger Zugluft und auf kalten Holzdielen, mit froststeifen Fingern das Messer in ihrem Bauch umklammernd.

Positiv war nur zu vermerken, dass der Tod eines der wenigen Dinge war, die man auch bequem im Liegen erledigen konnte.

Und dass man als Leiche in Ruhe über all die Dinge meditieren konnte, die im eigenen Leben schiefgelaufen waren. Zum Beispiel, wie es sein konnte, dass man mit einem Schwarzafrikaner im biblischen Sinne »ein Fleisch« wurde, dann aber ein asiatisch-gelbes Baby mit Mandelaugen auf die Welt brachte. Sah so die Strafe des Himmels für vorehelichen Geschlechtsverkehr aus?

»Sie ist tot!« Tayfun Ünsel, der sich über sie beugte, flüsterte es mehr, als dass er es deklamierte. »Tot!«

Er schluchzte auf. Das war so nicht geprobt und einen Tick schmierenkomödiantisch.

Aber die Leiche sagte dazu nichts.

»Nur die Guten sterben jung«, murmelte er erschüttert.

»Lauter!«, rief eine Stimme von fern. »Man hört ja gar nichts!«

Das war jetzt doch des Guten zu viel: Karina Seifferheld schnaubte genervt.

»Pst!«, warnte El Presidente, der in diesem Agatha-Christie-Stück den biederen Colonel gab, und stellte sich vor sie, damit die Zuschauer in der ersten Reihe das zornige Augenbrauenwackeln der vermeintlichen Leiche nicht mitbekamen.

»NUR DIE JUNGEN STERBEN GUT!«, brüllte Tayfun Ünsel seine Textzeile erneut, wenn auch mit leicht sinnentfremdetem Inhalt.

Tayfun spielte die Frau des Colonels (ja, eine Frauenrolle, weswegen er kurz vor der Enterbung durch seinen konservativ-türkischen Vater stand).

»Eine verdammt unschöne Geschichte«, konstatierte der Colonel (alias El Presidente, den alle so nannten, weil er der Leiter des Theaterrings war) und richtete sich auf. Er zog eine Meerschaumpfeife aus seiner Jackentasche. Das heißt, er wollte sie herausziehen, aber sie hatte sich im Innenfutter der Jacke verfangen. El Presidente ruckelte und zerrte – jeder echte Schauspieler hätte längst aufgegeben und einfach weitergespielt, doch der Theaterleiter lernte seinen Text haptisch, konnte sich also ohne die dazugehörigen Bewegungen an keine einzige Textzeile erinnern, und für seinen anstehenden Monolog brauchte er nun mal die Pfeife. Also zog El Presidente unter Einsatz all seiner Kräfte weiter, bis die Jackentasche riss und die Hand mitsamt Pfeife herauskatapultiert wurde, nicht mehr rechtzeitig abbremsen konnte und schwungvoll gegen Tayfun Ünsels Stirn klatschte.

Tayfun torkelte nach hinten, stolperte, drehte sich im Kreis und ging mit dem Gesicht nach vorn zu Boden. Er landete unsanft auf Karina, die als echte Profi-Leiche keinen Mucks von sich gab. Dafür brummte Ünsel senior in Reihe sieben ungnädig, weil die Ünsels ein osmanisches Kriegergeschlecht waren und ein echter Ünsel zurückgeschlagen hätte, auch und gerade auf einer Theaterbühne.

Tayfun rührte sich nicht. Also, er als Gesamtheit rührte sich nicht, gewisse Teile seiner Anatomie aber schon. Er schwärmte bereits seit langem für die ausgeflippte, spontane, in keine Schublade zu steckende Karina, und dass sie ein Kind von einem anderen bekommen hatte, änderte nichts an seinen Gefühlen. Wie sehr hatte er sich immer gewünscht, einmal so auf ihr zum Liegen zu kommen – nicht unbedingt angezogen und nicht unbedingt vor fast 100 fremden Menschen, aber trotzdem …

Jedenfalls blieb er einfach liegen.

Das Publikum verstand das miss. Ein Mann ganz außen rechts in der dritten Reihe sprang auf und rief: »Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!«

Das ging natürlich nicht.

Tayfun, dieser wackere Nachfahre wilder osmanischer Krieger, war zwar volljährig und ausgewachsen, aber auf seinen Wangen spross kein Bart, sondern nur Flaum, was ihn für Frauenrollen geradezu prädestinierte, ihn aber im wirklichen Leben seit neuestem dazu veranlasste, immer einen Tick zu testosteronlastig zu agieren, damit auch ja alle merkten, dass sie es mit einem echten Kerl (!) zu tun hatten. Er rappelte sich auf, zog das hochgerutschte, fluffige Blümchenkleid rasch über die verdächtige Ausbuchtung, stellte sich breitbeinig hin, stemmte die Hände in die Hüften und rief in sonorer Ben-Cartwright-Tonlage: »Nichts passiert, Leute, nichts passiert.« Man meinte fast, von fern ein Wiehern zu hören. Gleich würden Hoss, Adam und Little Joe auf die Bühne geritten kommen. An seiner Frauenstimme musste Tayfun noch arbeiten, weswegen er ursprünglich auch keine Sprechrolle bekommen hatte.

El Presidente atmete dennoch erleichtert auf, der Arzt im Publikum kehrte an seinen Platz zurück.

Die Leiche rollte mit den Augen.

Die einzig echte Leiche war in diesem Moment der Theaterring, diese wunderbare Institution, die über Jahrzehnte in Schwäbisch Hall auch und gerade während der Wintersaison für kulturell hochwertige Theaterstücke gesorgt hatte. Ansonsten war die Stadt ja vor allem für ihr sommerliches Freilichttheater berühmt.

Man hatte diverse Landesbühnen verpflichtet, die in dem großen Neubausaal Goethe-, Schiller- oder Ionesco-Stücke zur Aufführung brachten. Aber der Zahn der Zeit hatte den Theaterring ausradiert, wie Karina immer zu sagen pflegte. Kaum Geld, wenig Zuschauer, dann noch weniger Geld und so gut wie keine Zuschauer mehr – und irgendwann war Sense.

Daraufhin hatten engagierte, junge Theaterringler selbst ein Ensemble gebildet. Sie besaßen zwar alle mehr Leidenschaft als Talent und hatten schon genug damit zu tun, ihre Texte auswendig zu lernen und nicht gegen die spärlichen Requisiten zu stoßen, aber dennoch war der vergleichsweise winzige Theaterkeller, in dem sie seitdem auftraten, immer gut besetzt.

So wie an diesem Abend.

Die Tote in der Bibliothek von Agatha Christie stand auf dem Programm.

Dank einer redaktionellen Vorankündigung im Haller Tagblatt – Anzeigen konnten sich die Theaterringler natürlich nicht leisten – war der Theaterkeller ausverkauft, und das nicht nur mit Hilfe von Verwandten und Freunden der Darsteller.

Karina, die erst vor kurzem Mutter geworden war, agierte als Leiche. Sie starb gleich im ersten Akt und ließ den Schlussapplaus aus, damit sie schnell wieder nach Hause zum Stillen konnte.

Manche suchten das Scheinwerferlicht ja regelrecht, waren zur Rampensau geboren und »meiselten« sich immer wieder ins Bild, will heißen an den vorderen Bühnenmittenrand (wie man es Inge Meisel nachgesagt hatte). Karina hingegen machte es nichts aus, früh zu sterben und im Programm nur unter »ferner lagen tot herum« genannt zu werden.

Als herumliegende Leiche konnte man sehr gut über das Leben im Allgemeinen und kleine, gelbe Babys im Besonderen nachdenken. Das Problem war nur, dass der Theaterkeller furchtbar kalt und feucht war und man am nächsten Tag entsetzlich steife Knochen hatte …

[home]

Prolog:Ein … äh … perfekter Tag

Aus dem Polizeibericht

Einbrecher verleihen sich Flügel

In einem Supermarkt in der Innenstadt wurde Sonntagnacht gegen zwei Uhr ein Einbruchsalarm ausgelöst. Im Rahmen der Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Täter mit rund 1000 Dosen Red Bull verschwunden sind. Sie konnten unerkannt entfliehen. Oder entfliegen? Die Polizei sucht jedenfalls Zeugen: (0791) 4444.

Der frühe Vogel kann mich mal!

Fertig.

Siegfried Seifferheld, Kommissar im berufsunfallbedingten Vorruhestand, drückte auf die »Senden«-Taste seines Laptops. Wie immer hatte er im Morgengrauen – seit seinem 60. Geburtstag litt er unter seniler Bettflucht – in der Küche den Polizeibericht für das Haller Tagblatt geschrieben. Eine ungeliebte Aufgabe, die ihm Polizeichefin Gesine Bauer aufs Auge gedrückt hatte, weil sie glaubte, auf diese Weise würde er sich noch mit seinem alten Job verbunden fühlen und endlich aufhören, jedes Mal seine Nase schnüffelnd hineinzustecken, wenn es irgendwo in Schwäbisch Hall einen spektakulären Kriminalfall zu lösen gab. Doch Seifferheld hasste diese Aufgabe. Er bemühte sich nach Kräften, die Berichte so abzufassen, dass Frau Bauer die Redlichkeit der Polizeiarbeit in Gefahr gebracht sah und ihm den Job wieder entzog, aber bislang war ihm das nicht gelungen.

»Gleich gibt’s Frühstück«, rief er unter die Tischplatte.

Hovawart Onis ließ seinen geliebten rosa Teddy aus dem Maul fallen und wedelte mit dem Schwanz. Besagter Schwanz war eine sogenannte »Knickrute«, weswegen Onis nicht zur Zucht zugelassen wurde, obwohl er mit seinem bernsteinfarbenen Fell ein ausnehmend hübsches Tier war.

Doch erst spitzten beide die Ohren, Herr und Hund. Es war halb sieben Uhr morgens. Noch fünf Sekunden …

Um Schlag halb sieben Uhr setzten jeden Morgen die vollen Glocken der evangelischen Stadtkirche St. Michael zum Morgengeläut ein. Das wuchtige Dröhnen konnte Tote wecken, weshalb die weise vorausschauenden Stadtväter den hiesigen Friedhof auch weit vor die Tore der Stadt in den Wald gelegt hatten. Es pflegte stets genau so lange zu läuten, wie der Durchschnittsbeter brauchte, um ein Vaterunser aufzusagen, dann verstummten die Glocken, und nur die alten Fachwerkmauern der Innenstadt vibrierten noch eine Zeitlang nach.

Noch vier Sekunden … drei … zwei … eins …

Stille.

»Hm«, sagte Seifferheld.

Onis legte den Hundekopf schräg.

Nichts.

Kein Morgengeläut.

Wie sich später herausstellen sollte, hatte ein Fehler in der Elektronik vorgelegen. Die Glocken läuteten erst zur Mittagszeit wieder.

Wäre Siegfried Seifferheld ein abergläubischer Mensch gewesen, er hätte darin ein Omen gesehen.

Und das vollkommen zu Recht.

Das ist kein Speck – das ist eine erotische Nutzfläche.

In circa neun Kilometern Entfernung schubste Seifferhelds Tochter Susanne ihren Lebensgefährten Olaf Schmüller zur gleichen Zeit aus dem gemeinsamen Bett.

Olaf hatte mit ihr zusammen eine wunderschöne Tochter gezeugt und das kleine Häuschen im Vorort Tullau mit eigenen Händen nach ihren Wünschen umgebaut. Außerdem massierte er von Berufs wegen die Hüfte ihres Vaters Siegfried, in der seit einem Banküberfall eine Kugel steckte. Lauter Dinge, die eigentlich für Olaf sprachen.

Und es war ja auch nicht seine Schuld, dass sie sich als frischgebackene Mutter so total unerotisch fühlte. Alles an ihr war fleischig und wabbelig …Wie um alles in der Welt schafften es Promi-Mütter wie Heidi Klum, nach wenigen Wochen schon wieder ihren alten, straffen Körper zu haben? Susanne fand sich hässlich, und dass Olaf mit ihr schlafen wollte, erschien ihr demütigend. Dabei konnte es sich doch nur um eine reine Mitleidsnummer handeln, und Mitleid wollte sie nicht! Sie war kein süßes Frauchen, das man verhätschelte, wenn es Kummer hatte, sie war eine gestandene Karrierefrau, die sich nur mal kurz eine Auszeit genommen hatte, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern (was sie im Übrigen wohl eher nicht aus freien Stücken getan hätte, aber Olaf hatte seinerzeit eine Packung defekter Kondome zum Einsatz gebracht).

»Olaf!«, warnte sie, und in null Komma nichts wurde aus Selbstmitleid ein leises Knurren im hinteren Rachenraum.

»Entschuldige, Liebes, ich wollte dich nur wach küssen, mehr nicht«, säuselte Olaf, der sich mit neuen blauen Flecken vom Teppich aufrappelte. Allmählich sah er aus wie der Blaue Reiter von Kandinsky, zumal mit seinem Pferdeschwanz, und seine Kollegen vom Reha-Zentrum spekulierten schon, ob er sich seit neuestem mitternächtliche Kneipenschlägereien angewöhnt hatte oder ob ihn seine Frau womöglich verprügelte. Dabei hatte er extra zwei zusätzliche Fleecedecken vor seiner Seite des Bettes ausgelegt, seit seine Susanne jedes Mal, wenn er im Bett zärtlich werden wollte, ihren Ellbogen ausfuhr und ihn mit gezielten Fußtritten von der Matratze hebelte.

»Du brauchst einfach noch mehr Zeit«, sagte er und streichelte den abstrakt gemusterten Nachthemdrücken von Susanne.

Es war ihm wirklich ernst. Seine Geduld kannte keine Grenzen. Er liebte seine Frau.

Die wiederum gab einen undefinierbaren Laut von sich und zog sich das Kissen über den Kopf. Dass Olaf so unglaublich verständnisvoll und geduldig war, machte alles nur noch schlimmer.

Im Nebenzimmer wachte klein Ola-Sanne auf und krähte munter. Sie war ein sonniges Kind, das so gut wie nie schrie, und wenn doch, so waren seine Lautäußerungen durchweg angenehm fürs Ohr. Opa Seifferheld antizipierte bereits eine Opernkarriere für die Kleine.

»Ich geh schon«, rief Olaf. »Mach ich gern.«

Susanne stöhnte.

Genervt.

Männer, die keinen Honig kaufen, sondern Bienen kauen

»So, wie wär’s jetzt mit Frühstück, Hund?«, fragte Seifferheld und hinkte ohne Stock zur Küchentheke. Ein schmerzhaftes Unterfangen.

Seine Hüfte bockte. Seit sich seine Tochter Susanne und sein Physiotherapeut Schrägstrich Masseur Olaf in Liebe gefunden und wider alle Probabilität neues Leben gezeugt hatten, gab es für Siggi Seifferheld zwar umsonst Massagestunden, es blieb ja in der Familie, aber dafür fielen diese Stunden erschreckend unregelmäßig aus. Das rächte sich. Nicht nur bei den Schäferstündchen mit seiner Freundin Marianne, genannt MaC, nein, auch beim Gang vom Küchenstuhl zur Küchentheke. Alles tat ihm weh. Auch die Bereiche, wo gar keine Bankräuberkugeln saßen.

Onis kam mitsamt rosa Teddy unter dem Tisch hervor und setzte sich erwartungsvoll neben den Kühlschrank. Seine Knickrute führte mal wieder ein Eigenleben und tanzte den Mambo. Onis und sein Schwanz wussten um die Saitenwürstle im mittleren Regalfach. Pawlow dirigierte, Speichel tropfte auf den Teddy und am Teddy vorbei auf den Fliesenküchenboden.

Um diesen Teddy hatte es anfangs heftige Auseinandersetzungen gegeben. Seifferheld hatte es für einen gestandenen Männerhund unpassend gefunden, mit so einem rosa Teil im Maul herumzulaufen. Aber im Kampf Mann gegen Hund hatte – natürlich – der süße Schnuffel auf vier Beinen gewonnen. Onis war zwar mittlerweile ein ausgewachsener Hovawart, aber ihn umgab noch immer die Aura eines knuffigen Welpen. Und seine welpengleichen Augen sandten in diesem Moment unmissverständlich eine telepathische Botschaft an sein Herrchen: Saitenwürste! Jetzt! Sofort!

Aber Seifferheld schnitt sich erst einmal in Ruhe zwei Scheiben Brot ab, butterte sie reichlich und schraubte das Waldhonigglas auf. Das hatte er seinerzeit in der Hundeschule gelernt: Der Alphahund isst immer zuerst.

Und dass Siggi Seifferheld ein Alpharüde war, stand außer Frage. Mal abgesehen von seiner Hüfte fühlte er sich so prächtig wie lange nicht mehr, obwohl er kein junger Kerl mehr war. Wenn demnächst vorn eine Sechs stand, war er schlicht und einfach alt. Da biss die Maus keinen Faden ab. Doch egal, dies war die beste aller Zeiten, um 60 zu werden. Und er hatte noch einmal etwas völlig Neues gewagt: Er hatte sich geoutet.

Nein, nicht als schwul.

Als Sticker.

Zum letztjährigen Welttag des Stickens war er mit seinem heimlich angefertigten Wandbehang Leda und der Schwan zum Treffen der Schwäbisch Haller Stickgruppe gegangen (wobei man in der Leda unschwer seine Freundin MaC und in dem Schwan ihn selbst erkennen konnte. Ein äußerst gewagtes Unterfangen in einer Stadt von nicht einmal 40000 Einwohnern, wo jeder jeden kannte und Spekulationen zum Thema »wer mit wem« als beliebter Freizeitspaß galten). Auf ihn als einzigen Mann unter einem guten Dutzend Frauen richtete sich fortan natürlich alle Aufmerksamkeit. Wenn er gewusst hätte, wie sehr ihn die Frauen umschwärmen und umgurren und betütteln würden, hätte er sich schon viel eher geoutet.

Allerdings waren leider nur die Fremdfrauen so überaus charmant zu ihm gewesen. Seine eigenen hatten auf sein Coming-out anders reagiert. Sie fanden sein Hobby furchtbar, und es erboste sie vor allem, dass er es ihnen so lange vorenthalten hatte:

 

»Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?« Herzensdame Marianne (vorwurfsvoll)

»Willst du nicht etwas Sinnvolleres mit deiner Zeit anfangen?« Tochter Susanne (verständnislos)

»Wenn schon gestickte Kissensprüche, dann doch bitte was gesellschaftspolitisch Relevantes wie ›Nie wieder Krieg!‹ oder ›Für mich nur Ökostrom!‹.« Nichte Karina (kämpferisch)

»Leda und der Schwan? Siggi, also wirklich, pure Pornographie! Du solltest dich was schämen!« Seine ältere Schwester Irmgard (frisch verehelichte Pfarrersfrau und päpstlicher als der Papst, obwohl Lutheranerin)

 

Für Siegfried Seifferheld war es dennoch ein ganz besonderer Befreiungsschlag gewesen. Nie wieder heimlich sticken! Ein sagenhaft beglückendes Gefühl der Freiheit! Und heute wollte sogar eine SWR-Frau aus Heilbronn vorbeikommen und ihn zu seinem Hobby interviewen. Es hatte sich herumgesprochen, dass es in Schwäbisch Hall einen stickenden Mann gab.

Seifferheld biss beherzt in sein Honigbrot.

Hovawart Onis hob eine Augenbraue, schnaufte, drehte sich zur Seite und kratzte nachdrücklich an der Kühlschranktür. Wenn Telepathie nicht half, musste man eben die Pfoten zum Einsatz bringen.

Menschen.

So was von begriffsstutzig

Verschwende keine Gedanken an die Menschen aus deiner Vergangenheit –es hat einen Grund, warum sie es nicht in deine Zukunft geschafft haben!

 

Tagebuch der Karina Seifferheld:

Was ich brauche, sind zwei Eimer Mut, das Richtige zu tun! Ich weiß, dass ich meinen Fela nicht betrogen habe. Okay, ich habe mit einem elenden Schürzenjäger fremdgeknutscht, mit diesem dämlichen Bullen namens Viehoff, das stimmt. Aber vom Rumknutschen kriegt man keine Babys, auch wenn ich beim Knutschen durchaus mal tiefergerutscht sein könnte. Ich bin doch keine Boris Beckersche Wäschekammeraffäre! Und selbst wenn, wäre mein Baby weiß, also schweinchenrosa, und nicht gelb. Wie kann das angehen? Ist nächtens ein chinesischer Inkubus durch mein offenes Schlafzimmerfenster geflogen und hat mich im Schlaf geschwängert? Ehrlich, warum tut das Schicksal mir das an? Am liebsten würde ich das Diakoniekrankenhaus verklagen, weil die ganz eindeutig mein Baby vertauscht haben müssen. Aber mein Fela war doch bei der Geburt dabei und hat alles im Bild festgehalten. Mein süßer, mandeläugiger Wonneproppen kam aus mir raus, da gibt es keinen Zweifel. Scheiße. SCHEISSE! Was soll ich nur tun? Fela redet kein Wort mehr mit mir. Meine Eltern können mir nicht mehr in die Augen schauen. Alle behandeln mich wie eine moralisch Aussätzige. Und ich weiß doch selbst nicht mal, was ich denken soll! Bin ich im falschen Film? Kann mich mal jemand kneifen?

Ich bin ja so unglücklich!!!

Karina schniefte ein wenig, wischte sich dann die Nase an ihrem Bigshirt-Ärmel ab und zog das Shirt nach oben. Darunter kam Fela junior zum Vorschein, der heiter nuckelnd an ihrer rechten Brust lag. Nackt, wie er war, sah er mit seinem dicken Babybäuchlein aus wie ein junger chinesischer Buddha.

Karina seufzte. Ihre Zukunft war alles andere als rosig. Es würde definitiv nicht leicht werden. Ihr Studium an der Fachhochschule hatte sie noch nicht beendet und als Alleinerziehende musste sie sehen, wie sie über die Runden kam.

Klein Fela saugte kräftig. Er war ein ziemlich großes Baby mit einem gewaltigen Appetit. Ein veritabler Felinator.

Karina musste – trotz allem – glücklich lächeln.

Und bekam gleich darauf Hunger. Wer stillte, brauchte Kraft! Darauf einen Lkw (für Nicht-Schwaben: ein »Leberkäsweckle«).

Mitsamt ihrem Baby an der Brust stapfte Karina die knarzenden Treppen des Seifferheld-Hauses hinunter zur Küche.

Das Wort »Vegetarier« kommt aus dem Indianischen und heißt »zu blöd zum Jagen«.

Mit der Air France von Réunion nach Paris (Bordmenü: Hummerterrine, Lachs Julienne und Gemüsepasta), mit der Lufthansa von Paris nach Frankfurt (hausgemachter Fleischsalat mit Käse im Einmachglas), mit dem ICE der Deutschen Bahn von Frankfurt nach Stuttgart (Sülze vom Gockel nach Alfons Schuhbeck im Bordbistro) und mit der vergleichsweise siffigen Bummelbahn, die hier »Murrbahn« hieß, weiter nach Schwäbisch Hall-Hessental (Sandwich mit Formfleischschinken in der Papphülle vom »mobilen Kaffeemann«).

François Arnaud, gelernter Koch, den Schwäbisch Haller Bürgern besser unter seinem Pseudonym »Bocuse« bekannt, sprang pappsatt und reisemüde aus dem überalterten Regionalzug, holte tief Luft und rief: »Ah, endlisch wiedèr zu Hausé!«

Als Gepäck hatte er nur einen Rucksack mit dem Allernotwendigsten dabei sowie das signierte Autogrammfoto von Starkoch Jamie Oliver, das er wie eine Reliquie verehrte. Mehr hatte er nicht einpacken können, als man ihm zutrug, dass die Polizei sein neueröffnetes, allerdings illegales Wettbüro auf der französischen Insel Réunion im Indischen Ozean stürmen wollte. Aber wenigstens hatte er es geschafft. Er war rechtzeitig geflohen und stand nun als (noch) freier Mann auf deutschem Boden.

Zu Fuß – seine finanziellen Verhältnisse waren mit Fug und Recht »klamm« zu nennen – marschierte er in Richtung Innenstadt zu dem Mann, an den er seit seiner überstürzten Abreise ununterbrochen gedacht hatte, dem Mann, der ihm einen Neuanfang ermöglichen konnte. Bocuse schwebte eine Kneipe vor, ein französisches Bistro, gewissermaßen Pariser Flair in der schwäbisch-hohenlohischen Provinz. Mit ihm, Bocuse, als »Patron«.

 

Eine Dreiviertelstunde später stand er vor dem leicht schiefen Fachwerkhaus im unteren Teil der Bahnhofstraße. Bocuse drückte vorfreudig lächelnd auf die Klingel. Gleich darauf summte ein Summer, und die Haustür sprang auf. Bocuse stieg in den zweiten Stock und stieß die angelehnte Wohnungstür auf.

»Vorsicht! Nicht hinauslassen!«, hörte er eine panische Männerstimme schreien.

»Was? Wen?« Bocuse sah nichts. Er hörte nur ein Summen, das er für den Nachhall des Türöffners hielt. Und dann war es auch schon zu spät.

»Verdammt, Bocuse«, murrte Klaus enttäuscht, der – nur karierte Boxershorts tragend – aus den Tiefen seines Lofts auftauchte, im Arm seine Lebensgefährtin Mimi, die ein weißes Spitzennachthemd trug.

»Quoi?« Bocuse verstand nur Bahnhof.

»Ich hatte es geschafft!« Klaus lächelte mannhaft seine Enttäuschung weg. »Sie haben es tatsächlich getan.«

»Wer hat was getan?« Bocuse drehte sich um, sah aber nichts.

»Meine Drosophilae!« Klaus strahlte über das ganze Gesicht. »Hast du sie denn nicht gesehen? Echt nicht? Ich habe ihnen den Formationsflug beigebracht! Meine Fruchtfliegen sind in einer eins a Pfeilformation an dir vorbei zur Tür hinausgeflogen! Eine Weltsensation!«

Klaus klopfte erst sich auf die Brust, dann Bocuse auf die Schulter. »Na, komm rein, darauf müssen wir einen trinken! Päuschen bei Kläuschen, wie in alten Zeiten!« Er legte Mimi auf die Corbusier-Liege neben dem Garderobenständer.

Mimi, seine langjährige Lebensgefährtin, war kein Weib aus Fleisch und Blut, sondern eine aufblasbare Gummipuppe. Klaus hatte so seine Probleme mit echten Frauen. Die er womöglich nicht hätte, wenn man ihm ansähe, wie reich er war. Aber das sah man ihm nicht an. Fehlanzeige. Bisweilen drückte ihm sogar ein altes Mütterlein verstohlen einen Euro in die Hand und säuselte: »Nicht für Schnaps, sondern fürs Sattessen, gell!«

Bocuse wollte die Tür schließen.

»Nein, lass auf«, bat Klaus. »Ich lasse immer ein paar faule Äpfel herumliegen. Dann kommen meine Kleinen wieder!«

Damit erklärte sich auch, warum im ganzen Loft Dutzende von Duftbäumchen wie kleine Mobiles von der Decke baumelten.

Wunder-Baum® Lufterfrischer Bergbrisearoma …

Das Leben ist wie eine Ketchupflasche – erst kommt nix und dann alles auf einmal.

Während ein kleiner Franzose namens Bocuse aus dem Zug in Richtung Nürnberg stieg, hievte am Gleis gegenüber ein hagerer Geistlicher seinen Koffer in den Zug in Richtung Stuttgart. Dann wandte er sich an seine Pfarrersgattin. »Meine Liebe, wir sind alle in Gottes Hand. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich mache mir auch nicht die leisesten Sorgen um dich.«

Dass sich der Mann, den man von Herzen liebt, nicht die leisesten Sorgen um einen machte, war nicht unbedingt das, was man als liebende Frau hören wollte, aber Helmerich Hölderlein war nun einmal Pfarrer, und was konnte sie da anderes erwarten?

Irmgard Seifferheld-Hölderlein küsste ihren Ehemann dezent auf die Stirn. Bis vor kurzem war sie ein spätes Mädchen gewesen, eine alte Jungfer, ein Blaustrumpf, eine unverheiratete Anfangsechzigerin, doch dann war ihr die Liebe begegnet. In Form von Pfarrer Hölderlein. Das an sich hätte ausgereicht, um sie zur gläubigen Christin zu machen, wenn sie nicht vorher schon aktiv im Kirchenkaffeekomitee und in der Blumenschmuckgruppe von St. Michael gewesen wäre. Aber zwischen Christ und Christ gab es Unterschiede. Sie tat, was man in ihrer Familie seit Erbauung von St. Michael vor achthundert Jahren getan hatte, nämlich jeden Sonntag in die Kirche gehen und eine Münze und keinen Knopf in den Klingelbeutel werfen. Abgesehen davon beschränkte man sich auf ein moralisches Leben. Ihr Bruder Siegfried mochte hin und wieder beten, »Bitte, Herr, mach mich zu dem Menschen, für den mein Hund mich hält«, aber ansonsten war Familie Seifferheld eine glaubensfreie Zone.

Helmerich Hölderlein dagegen war zwar kein wiedergeborener Christus, aber verdammt nah dran. Für ihn war Jesus ein realer Bundesgenosse im widrigen Alltag, und seinem Kumpel Jesus hatte er, lange bevor ihn Amors Pfeil traf und er das Herz seiner Irmi erobert hatte, versprochen, für drei Monate als Missionar dorthin zu gehen, wohin ihn der Herr – in Gestalt des Landesbischofs – schicken würde. Leider war dieses Versprechen im Hochzeitstrubel etwas untergegangen, und er hatte doch tatsächlich vergessen, seine Zukünftige davon in Kenntnis zu setzen.

Als Hölderlein dann vor einer Woche den schriftlichen Bescheid des Bischofs erhalten hatte und er seiner Irmi nachträglich von seinem Missionsversprechen erzählte, war sie ihrem Spitznamen »Die Generalin« mehr als gerecht geworden. In diesem Zusammenhang fielen einem die großen, blutigen Begebenheiten der Geschichte ein: Die Schlacht von Waterloo, mit Irmi als Admiral Nelson und Helmerich als Napoleon, oder die Schlacht bei Marathon, mit ihm als vernichtend geschlagenem Perser und Irmi als griechische Siegesgöttin. Man konnte es nicht wirklich ihren ersten Ehestreit nennen, denn zu einem Streit gehörten zwei Konfliktparteien. Bei Irmi und Helmerich handelte es sich dagegen eher um eine Gerölllawine und eine windschiefe Almhütte, und es war nicht schwer zu erraten, wer was war.

Aber Irmi war auch eine Frau, die sich mit Gegebenheiten abfinden konnte. Sie begriff, dass der Mann, den sie liebte, das Versprechen, das er seinem Herrn und Gott gegeben hatte, nicht brechen konnte.

Außerdem war es verdammt anstrengend, nach 60 Jahren als Single plötzlich eine bessere Hälfte zu haben, und offen gestanden freute sie sich schon auf die drei ehemannlosen Monate. Kein lästiges Hinterherräumen mehr (Helmerich war nicht gerade ein Ordnungsfanatiker, um es mit den Worten der Liebe zu sagen), kein schwieriges Zusammenstellen von Menüfolgen (Helmerich reagierte auf so gut wie alles allergisch und wogegen er nicht allergisch war, das aß er aus moralischen Erwägungen nicht). Natürlich auch keine zärtlichen Gutenachtküsse mehr. Aber Irmi hatte es ohnehin nicht so mit dem fleischlichen Aspekt der Ehe. Sie fand, dass die Libido etwas für junge Paare in der Fortpflanzungsphase war.

Alte Paare wie sie und Helmerich zogen ihr Entzücken schon aus der Tatsache, dass man abends neben jemand sitzen konnte, der einem bei der Antwort auf die Frage »zwölf waagerecht, Fluss in Asien« auszuhelfen vermochte. Die oft belächelte, aber sehr intensive Philemon-und-Baucis-Form der Liebe eben.

»Hast du deine Magentropfen eingepackt?«, fragte sie sicherheitshalber.

Die 12-Kräuter-Tropfen aus der Löwenapotheke waren das Einzige, was Helmerich Hölderleins Reizverdauungsapparat einigermaßen besänftigen konnte. Sein Magen und sein Darm reagierten hochsensibel auf jede noch so harmlose Gegebenheit: Hunde (er hatte eine Hundephobie), Spinnen (er litt unter Arachnophobie), Enten (Anatidaephobie), seinen Bischof (Angst vor Respektspersonen) und natürlich Nah-, Mittel- und Fernreisen. Andere Allergiker reisten nicht ohne ihren Inhalator, Helmerich reiste nie ohne seine Magentropfen. Zwei Kartons davon hatten sie bereits als Überseefracht zu seiner Missionsstation in Kenia geschickt.

»Ja, meine Liebe. Und auch eine Schachtel Apothekers Magenmorsellen. Ich fühle mich gewappnet.« Tapfer hauchte Helmerich seiner Frau einen Kuss auf die Wange. »Ich werde dich vermissen.«

»Ich dich auch«, log Irmi frech, aber zärtlich.

Rubbeldenhund

»Gott, der ist ja so süüüß!«, flötete Frau Söback vom SWR und rubbelte das beigefarbene Fell von Hovawart Onis. »Gell, das magst du? Ja, das magst du!«, gurrte sie in sein Ohr.

Onis schnurrte.

Noch so etwas, was Seifferheld einen Tick peinlich fand: ein schnurrender Rüde. Hatte dieser Vierbeiner denn keine Selbstachtung? Ein rosa Teddy und die Lautäußerungen einer Katze?

Seifferheld atmete resigniert aus.

Onis und Frau Söback lagen vor dem Küchentisch auf dem Fliesenboden und betrieben nun schon seit einer Viertelstunde etwas, das man als intensives Kraulen bezeichnen konnte. Oder als heavy Petting. Onis ignorierte sogar völlig seinen rosa Teddy, dem er normalerweise obsessiv verfallen war. Frau Söback war offenbar gut in dem, was sie da tat.

Siggi Seifferheld kam prompt auf dumme Gedanken. Zur Ablenkung räusperte er sich. Er fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen, aber immerhin waren es sein Hund und seine Küche, und er sah nicht ein, warum ausgerechnet er das Feld räumen sollte.

»Sie hatten Fragen zu meinem Stick-Hobby?«, fragte er schließlich plump.

»O ja.« Frau Söback vergrub ihr Gesicht tief im seidenweichen Hundefell. »Hmm, du riechst gut!«

Onis, der alte Tunichtgut, quittierte das mit neuerlichem Schnurren. Er hatte vor einiger Zeit eine Berner Sennenhündin besprungen, und aus dieser Verbindung war ein Wurf Mischlingshündchen hervorgegangen. Wenn Seifferheld Frau Söback damals schon gekannt hätte, hätte er ihr zu gern einen davon abgegeben. Damit sie ihre olympiareife Streichelkür zu Hause bei ihrem eigenen Vierbeiner austurnen konnte.

Frau Söback seufzte und tauchte wieder aus dem Hundefell auf. Beigefarbene Haare hingen ihr am dunkelbraunen Pony, doch sie schien nichts davon zu merken.

»Wie sind Sie denn zum Sticken gekommen?«, wollte sie wissen, erhob sich, setzte sich Seifferheld gegenüber auf einen der Thonet-Stühle und schaltete ihr kleines, schwarzes Aufnahmegerät ein. Anschließend hielt sie Seifferheld ein Mikro vor den Mund.

»Nachdem ich seinerzeit durch einen tragisch zu nennenden Berufsunfall während eines Bankraubs zum Invaliden geschossen wurde …«, setzte Seifferheld pompös an. Er hatte da einige Worte vorbereitet.

»Stimmt!«, unterbrach ihn Frau Söback. »Sie sind ein Held. Ihre Familie muss sehr stolz auf Sie sein.« Sie strahlte. Sie hatte sich aufgrund hoffnungsloser Überarbeitung null vorbereitet, konnte das aber – Vollprofi, der sie war – exzellent überspielen.

Seifferheld winkte ab. »Alles Teil des Jobs.« Er sammelte sich innerlich und versuchte, an der Stelle weiterzumachen, an der er aufgehört hatte. »… zum Invaliden geschossen wurde und nach dem künstlichen Koma im Krankenhaus aufwachte, wissend, dass ich nie wieder würde arbeiten können, da …«

Im selben Tonfall hatte er früher in seiner Schulzeit am Gymnasium an St. Michael immer Homer deklamiert: Schon zween Tage trieb er / und zwo entsetzliche Nächte / in dem Getümmel der Wogen / und ahnete stets sein Verderben. Und wie damals wurde er auch jetzt ständig unterbrochen, aber Gott sei Dank nur durch Frau Söback und nicht durch die Papierkugelgeschosse seiner Mitschüler, die verdammt gut zielen konnten und immer da trafen, wo es weh tat.

»Ja, ja, furchtbar, ganz furchtbar. Und in diesem Augenblick wurde Ihnen klar, dass es in Ihrem Leben nur noch eines geben konnte: das Sticken.« Frau Söback legte ihm die rechte Hand auf den Unterarm. Beim Sprechen wippte ihr dunkler Pony über den großen, gletscherblauen Augen. Und in dem Pony hingen immer noch die beigefarbenen Hundehaare von Schwerenöter Onis.

Seifferheld konnte seinen Blick kaum abwenden. Es war ein wenig wie bei Loriot und der Nudel. Ob er Frau Söback darauf aufmerksam machen sollte? Er zwang sich, wieder ans Sticken zu denken. Wie sehr er sein für einen Mann doch eher ungewöhnliches Hobby liebte, wie es ihn zutiefst befriedigte, wenn er einen bunten Schriftzug oder ein Motiv auf einen unifarbenen Kissenbezug zauberte und somit aus dem Nichts etwas Schönes, Bleibendes erschuf.

»Sie waren ein Held, die Menschen haben zu Ihnen aufgeschaut, junge Kollegen haben Sie bewundert, und die Bevölkerung hat Sie geliebt!«, deklamierte Frau Söback leidenschaftlich. »Aber dieses Leben der Gefahr war ein für alle Mal vorbei, und so furchtlos, wie Sie sich einst der Welt des Verbrechens gestellt hatten, so furchtlos stellen Sie sich nun Ihrer neuen Lebensaufgabe – dem Sticken!« Frau Söback redete sich richtig in Fahrt. Pony und Hundehaare wippten auf und ab.

Seifferheld hatte nun gänzlich den Faden seiner auswendig gelernten Rede verloren, aber da Frau Söback mindestens so pathetisch klang wie er, nickte er nur, obwohl in seinen fast 30 Dienstjahren kaum jemand je Notiz von ihm genommen hatte. Das Gefährlichste an seinem Job war wahrscheinlich der Kantinenfraß gewesen.

»Ich werde das Interview Ein Mann und seine Mission nennen«, fuhr Frau Söback fort, die immer genaue Vorstellungen davon hatte, wie ihre Sendungsbeiträge zu klingen hatten, und die sich von der tatsächlichen Faktenlage nur ungern beeinflussen ließ. »Das tönt nach James Bond und hat gleichzeitig den Touch der Innovation. Neue Männer braucht das Land. Und Sie sind einer von ihnen.«

Die Hand auf seinem Unterarm drückte fest zu.

Onis, der sich seiner Streicheleinheiten beraubt sah, stand auf und legte Frau Söback seinen riesigen Hundeschädel in den Schoß. Gleich darauf war Seifferhelds Unterarm wieder verwaist.

»So ein süßes Hundihundi«, flötete Frau Söback und rubbelte Onis’ Fell erneut kraftvoll durch.

Hundihundi?

Das war ja wohl eher die passende Bezeichnung für diese knöchelhohen, haarlosen Ratten, die moderne It-Girls fälschlicherweise für Hunde hielten und in ihren Handtaschen herumschleppten. Hovawarts waren dagegen gestandene Gebrauchshunde, die Rüden mit einer durchschnittlichen Widerristhöhe von achtundsechzig Zentimetern und einem Gewicht von gut und gern vierzig Kilo. Da war jedwede Verniedlichungsform ungehörig. Fand Seifferheld. Sprach es aber nicht laut aus, weil sich die gletscherblauen Augen von Frau Söback jetzt wieder scheinwerferartig auf ihn richteten.

»Besonders bewundernswert finde ich persönlich, dass Sie sich in einer Kleinstadt wie Schwäbisch Hall als Sticker geoutet haben. Männer von Ihrem Standing besticken hier doch keine Kissen, oder irre ich mich da? Haben Sie sich damit nicht wissentlich der Gefahr ausgesetzt, belächelt oder sogar ausgelacht zu werden?«

Seifferheld unterdrückte einen Seufzer. Es war ihm weiß Gott nicht leichtgefallen, mit seinem ungewöhnlichen Hobby an die Öffentlichkeit zu gehen. Monatelang hatte er selbst seiner Familie gegenüber so getan, als wäre er seit seiner Pensionierung ein begeisterter Hobbykoch. Er war sogar der Männerkochgruppe der Volkshochschule Schwäbisch Hall beigetreten, nur um diese Fassade aufrechtzuerhalten. Aber irgendwann hatte er einfach die Lüge nicht mehr leben wollen. Das Leben war zu kurz für Heimlichkeiten. Seit seinem Coming-out am Welttag des Stickens wachte er nachts nicht mehr schweißgebadet auf, weil er von Entdeckung und Überführung gealpträumt hatte. Und ehrlich gesagt hatte sich absolut niemand über ihn lustig gemacht, nicht einmal seine Ex-Kollegen vom Mord-zwo-Stammtisch. Okay, sein Harem aus Tochter, Schwester, Nichte und Herzensdame war nicht glücklich gewesen, aber wenigstens tolerierten die Frauen seine Marotte. Und sollte sich irgendjemand trauen, ihm komisch zu kommen, würde er ihm schon zeigen, was man – auch als invalider Senior – mit einem rotierenden Gehstock aus Edelstahl und Hartgummisohle alles bewerkstelligen konnte.

»Man muss das, wovor man sich fürchtet, einfach tun«, zitierte er aus der Aphorismensammlung, in der er abends immer las, wenn er nicht einschlafen konnte.

»Viel mehr Männer sollten Ihrem Beispiel folgen!«, verkündete Frau Söback so vehement, dass Onis seinen Schädel aus ihrem Schoß zog.

Frau Söback beugte sich vor. »Oh, entschuldige, habe ich dich erschreckt? Ist ja alles wieder gut.« Sie drückte dem Hund einen Kuss auf die Stirn. Dann stockte sie plötzlich und richtete sich abrupt auf. »Herr Seifferheld, ich habe da eine geniale Idee!«, rief sie.

Seifferheld hatte jahrelang in einem Frauenhaushalt gelebt. Wenn eine Frau zu ihm sagte, sie habe eine geniale Idee, begannen sämtliche seiner Warnleuchten automatisch zu blinken.

»Ich habe Ihnen ja noch gar nicht erzählt, warum ich so gern sticke«, versuchte er, sie abzulenken. »Wobei ich eigentlich gar nicht so genau weiß, warum mir das Sticken so eine Freude bereitet. Früher habe ich meiner Großmutter dabei zugesehen, aber natürlich nie daran gedacht, es selbst zu versuchen. Aber es ist so ein befriedigendes Gefühl, wenn man ein besticktes Kissen …« Er plapperte. Plappern war oft ein gutes Ablenkungsmanöver.

Doch Frau Söback ließ sich nicht ablenken.

»Ja, genau!«, rief sie und verkrallte sich wieder in seinem Unterarm. Dieses Mal mit beiden Händen.

Onis gab sich geschlagen und legte sich glücklichgerubbelt unter den Küchentisch.

»Herr Seifferheld, mehr Männer sollten den Mut finden, zu ihrem Hobby zu stehen! Ein einziges Interview bringt da nichts. Was wir brauchen … was Sie brauchen … ist eine Stick-Sendung im Radio. Auf SWR4. 15 Minuten pro Woche. Tipps und Tricks für stickende Männer! Interaktiv! Was sagen Sie dazu?«

Seifferheld sagte gar nichts dazu. Er war sprachlos. Bis vor wenigen Wochen noch ein heimlicher Sticker und jetzt gleich eine eigene Radiokolumne? Von null auf hundert in unter einem Monat?

Skeptisch schürzte er die Lippen.

Frau Söbacks Nägel bohrten sich tiefer in sein Unterarmfleisch. »Das ist gar kein großer Umstand für Sie. In Schwäbisch Hall gibt es schließlich ein SWR-Studio! Da können Sie bequem hinlaufen.«

Sie beugte sich weiter nach vorn. Ihre gletscherblauen Augen schienen ihn förmlich zu durchbohren. Die blonden Hundehaare in ihrem dunklen Pony wippten verführerisch.

Seifferheld konnte sich nicht länger in Zurückhaltung üben. Er war ein Mensch, kein Übermensch.

Also hob er seinen freien Arm und zupfte Frau Söback die Fremdhaare aus den Ponyfransen.

Sie kicherte.

Er kicherte.

Und das war – wie könnte es anders sein – natürlich der Moment, in dem die Küchentür aufging und Seifferhelds Freundin-Lebensgefährtin-Herzensdame Marianne Cramlowski auf der Schwelle erschien. Sonst eine österreichische Journalistin mit einer Vorliebe für süße Mehlspeisen im Allgemeinen und einen invaliden Ex-Kommissar im Besonderen. Jetzt aber eine dunkle Göttin des Zorns, der kleine Rauchwölkchen aus den Ohren zu steigen schienen.

Seifferheld schluckte.

Schwer.

Wer Musik liebt, singt bei Liedern auch die Instrumente mit.