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Eiskalte Spannung aus Finnland - Arto Ratamo ermittelt.
Kaltblütig wird der deutsche EU-Kommissar Walter Reinhart in Helsinki erschossen. Die finnische Sicherheitspolizei aktiviert ihre besten Köpfe, um das brutale Attentat aufzuklären, dem in schneller Abfolge weitere folgen. An vorderster Front kämpfen Arto Ratamo und Riita Kuurma, privat wie beruflich ein Paar. Der alleinerziehende Vater und Ex-Wissenschaftler hat Mut und einen siebten Sinn; Riita verfügt über die nötige Beharrlichkeit, um die Mörder ausfindig zu machen. Doch es sind die Hintermänner, die sich dem Zugriff entziehen - bis sie selbst zuschlagen ...
Finnlands Top-Autor Taavi Soininvaara hat einen rasanten Roman um die Machenschaften eines internationalen Mafia-Kartells geschrieben. Ausgezeichnet als "bester finnischer Kriminalroman des Jahres".
"Arto Ratamo hat Herz, Erfindergeist und einen untrüglichen Spürsinn." Passauer Neue Presse.
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Seitenzahl: 483
Taavi Soininvaara
Finnisches Requiem
Roman
Aus dem Finnischen von Peter Uhlmann
Titel der OriginalausgabeKoston komissio
ISBN E-Pub 978-3-8412-0194-2ISBN PDF 978-3-8412-2194-0ISBN Printausgabe 978-3-7466-2190-6
Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2011© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinDie deutsche Erstausgabe erschien 2004 bei Gustav Kiepenheuer,einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KGCopyright © 2002 Taavi SoininvaaraPublished by agreement with Tammi Publishers, Helsinki
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
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Innentitel
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
SAMSTAG
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SONNTAG
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MONTAG
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DIENSTAG
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MITTWOCH
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DONNERSTAG
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FREITAG
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SAMSTAG
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SONNTAG
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EPILOG
Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.
Georg Christoph Lichtenberg
Pastor war mit der Entscheidung der Organisation sehr zufrieden: Das Schicksal des EU-Kommissars, der für die Erweiterung der Union zuständig war, sollte sich im Atheneum vollenden. Eindrucksvoller konnte seine Rache nicht beginnen.
Am Rande des Rautatie-Platzes gegenüber dem Atheneum hielten der Journalistenbus, der schwarze Mercedes mit EU-Kommissar Walter Reinhart und die Polizeieskorte an. Es war ein klarer Samstagmorgen im September, der Seewind wirbelte den Staub auf. Im Zentrum Helsinkis herrschte auf den Fußwegen schon ein dichtes Gedränge; Busse und Straßenbahnen fuhren ihre Runden. Der Verkehrslärm drang als gleichmäßiges Rauschen in den Pressebus.
Die Journalisten, die vom Finnlandbesuch Reinharts berichteten, hörten der Stadtführerin aufmerksam zu. Ein Mann von »Corriere della Sera« erkundigte sich auf englisch nach der Inschrift »Concordia res parvae crescunt« im Giebeldreieck des Atheneums.
Durch Eintracht wächst Kleines, dachte Pastor, während sich die Stadtführerin noch räusperte. Dieses Motto bezog sich auf Meinungsverschiedenheiten zwischen Künstlern und dem Finnischen Kunstverein in der Projektierungsphase des Atheneums. Er hatte alles über die finnische Nationalgalerie gelesen. Ihm durfte kein Fehler unterlaufen, damit ihr Vorhaben nicht durch sein Verschulden scheiterte. Seine Wangenmuskeln waren angespannt.
Auf dem Namensschild an seiner Jacke war zu lesen: »Alexander de Gadd, Magyar Nemzet«. In Budapest bekam die Organisation problemlos alles, was sie wollte; in den meisten wichtigen Unternehmen und Institutionen hatte sie ihre Helfer, so auch in der Zeitung »Magyar Nemzet«. Pastor stieß seinem serbischen Kollegen, der, als Fotograf getarnt, neben ihm saß, den Ellbogen in die Seite, weil der Mann mit dem Absatz auf den Boden klopfte.
Als der Besuch von Kommissar Reinhart geplant wurde, hatte man größten Wert auf Sicherheit gelegt. Seit dem Herbst 2001 achtete man angesichts der allgegenwärtigen Terrorismusgefahr bei allen Reisen von EU-Kommissaren darauf. Reinhart würde den Polizeikonvoi nur verlassen, um in Begleitung eines Mitarbeiters der SUPO, der finnischen Sicherheitspolizei, die wenigen Meter vom Mercedes bis zum Atheneum zu gehen, das für den Publikumsverkehr geschlossen war. Pastor wußte alles über die Sicherheitsvorkehrungen und den Ablauf im Museum; das fünfzehnköpfige Exekutionskommando hatte diese Liquidierung wochenlang vorbereitet. Alles würde funktionieren, das war so sicher und unausweichlich wie die Wirkung der Schwerkraft.
Er holte ein Handy aus seiner Brusttasche und vergewisserte sich zum wiederholten Male, daß die Verbindung zum Koordinator der Gruppe, die sie unterstützte, noch bestand. Pastor war ungemein stolz auf seine Aufgabe. Nicht das Töten an sich, sondern das Motiv und der Zweck der Tat erfüllten ihn mit Stolz. Die Politiker sorgten dafür, daß Finnland im Eiltempo mit der EU verschmolzen wurde, obwohl nur gut ein Drittel der Finnen die EU-Mitgliedschaft für wünschenswert hielt. So wie einst Schweden und Rußland würde auch die Union Finnland zu ihrem Vasallen machen. Sein Land sollte auf zivilisierte Weise erobert werden. Erst der Beitritt, dann die Verschmelzung. Nur die stärksten Persönlichkeiten waren auserkoren, sich gegen die Okkupanten zu erheben, das war in der Vergangenheit nicht anders als heute.
Pastor bemerkte, daß eine zierliche Journalistin südeuropäischen Typs zu ihm herüberschaute. Doch das beunruhigte ihn keineswegs. Sein Aussehen war völlig verändert: Eine blonde Perücke bedeckte die kurzen Haare, die dunklen Augenbrauen hatte er hell gefärbt, Kontaktlinsen ließen seine blauen Augen braun erscheinen, und eine große Metallbrille beherrschte sein Gesicht. Die Ohren waren mit Tape an der Kopfhaut befestigt, und eine Schaumstoffprothese ließ die Unterlippe vorstehen. Sogar sein kantiges, hakenförmiges Kinn wirkte nun runder, die Haut an Hals und Kinn war so geklebt, daß sich ein kleines Doppelkinn gebildet hatte. Niemand würde ihn auf den Bildern der Überwachungskameras erkennen können. Als ihm bewußt wurde, daß er heftig atmete, lehnte er sich zurück, holte tief Luft und atmete mehrmals betont ruhig aus und ein. Noch ein paar Minuten.
Es war kurz vor halb neun. Gegenüber den EU-Vertretern vor Ort hatte Reinhart den Wunsch geäußert, die finnische Malerei kennenzulernen, deshalb war ein halbstündiger Besuch des Atheneums in seinen straffen Zeitplan eingebaut worden. Die Besichtigung wäre zu Ende, bevor sich die Türen des Museums um neun für das Publikum öffneten. Um halb zehn würde Reinhart die Parlamentspräsidentin treffen, um halb elf den Ministerpräsidenten, um eins hatte die Präsidentin zu einem Mittagessen geladen, und um halb drei würde er ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten und dem Außenminister über den gegenwärtigen Stand der Verhandlungen zur EU-Erweiterung führen. Um vier sollte eine kurze Pressekonferenz folgen. Reinhart war letzte Nacht aus Schweden eingetroffen und würde am Abend nach Holland weiterreisen. In den nächsten Wochen wollte er alle EU-Mitgliedsländer besuchen.
»Das Atheneum wurde vom Architekten Theodor Höijer entworfen und im Jahre 1887 fertiggestellt«, erklärte die Führerin in ruhigem Tonfall zunächst in englisch, anschließend in französisch. Dann setzte sie ihren auswendig gelernten Vortrag fort: »Die Göttin der Kunst im Giebeldreieck, die Karyatiden, jene Frauenskulpturen, die das Hauptportal bewachen, und die Porträts der großen Meister Bramante, Feidias und Rafael, die über dem Haupteingang in Richtung Nationaltheater Ausschau halten, hat C. E. Sjöstrand geschaffen. Die anderen Ornamente sind das Werk von Ville Vallgren und Magnus von Wright.«
Die wärmenden Strahlen der frühlingshaften Morgensonne fluteten den Bus. An diesem Tag hatte der Herbstregen eine Pause eingelegt, als nehme er auf ihre Aktion Rücksicht. Pastor entdeckte auf dem Ärmel seines grauen Anzugs ein Haar, zupfte es weg und holte ein Taschentuch heraus, um einige Staubkörner von seinen Schuhspitzen zu wischen. Ein Gentleman war stets gut angezogen, nicht unbedingt teuer oder modisch, aber immer korrekt und geschmackvoll. Alles mußte stimmen. Seine Handflächen schwitzten, obwohl er ganz ruhig war.
Die Führerin hatte ihren Vortrag beendet und teilte das ihrer Kollegin in Reinharts Wagen mit. Es war Zeit hineinzugehen.
Pastor beobachtete, wie der schwarze Mercedes mit Reinhart zwischen einem Polizeiauto und einem Mannschaftswagen beschleunigte, auf die Kaivokatu fuhr und in die Keskuskatu einbog. Er wußte, daß der Wagen hinter dem Kunstmuseum am Eingang zum Atheneum-Saal halten würde. Im Mercedes saßen außer dem Fahrer und Kommissar Reinhart die Führerin und ein Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung der SUPO. Der würde als erster aussteigen, kontrollieren, ob der Weg sicher war, und dann Reinhart und die Führerin ins Atheneum begleiten. Die Polizeiautos würden hinter dem Museum parken. Wie international üblich, war die Sicherheitspolizei für den Personenschutz Reinharts verantwortlich und die Polizei für die Bewachung der besuchten Objekte.
Der Pressebus kurvte vor das Atheneum, die Journalisten stiegen aus, unterhielten sich lebhaft und folgten ihrer Führerin zum Haupteingang. Neugierig blieben ein paar Passanten stehen und schauten sich die Gruppe an. Pastor und der Serbe liefen direkt hinter der Führerin. Die Anspannung ließ sich jetzt etwas leichter ertragen, weil das Warten ein Ende hatte.
In der unteren Eingangshalle sprach, wie erwartet, ein Sicherheitsbeamter des Atheneums in sein Funkgerät. Als die Führerin ihren Vortrag über die prächtigen Skulpturen Walter Runebergs in der Eingangshalle begann, gingen Pastor und der Serbe schon in Richtung Toilette. Sie hörten noch den Namen der Skulptur von Apollo und Marsyas, dann fiel die WC-Tür ins Schloß. Die Männer öffneten den Boden des metallenen Kamerakoffers und entnahmen ihm ihre Waffen. In der Vertretung der EU-Kommission in Helsinki hatte man sie zwar kontrolliert, aber den doppelten Boden und die Pistolen nicht entdeckt. Dem Serben liefen dicke Schweißtropfen über die Stirn.
Beide kehrten zu den anderen zurück, als die Journalisten, Kommissar Reinhart, die zwei Führerinnen und der SUPO-Mitarbeiter auf halber Höhe des monumentalen Treppenhauses angelangt waren. Die grauen Steinstufen führten zu den Ausstellungssälen im ersten Stock. Pastor blickte hinauf zu den schönen Deckenornamenten. In dem hohen und weiten Treppenhaus konnte nicht einmal das Stimmengewirr von zwei Dutzend Menschen das Klappern der Schuhabsätze übertönen.
Die Gruppe erreichte den Mosaikboden am Ende der Treppe im ersten Stock und betrat den Ausstellungssaal. Hinter ihnen schloß sich leise rauschend die doppelte Schiebetür aus Panzerglas. Die Sicherheitsvorrichtungen in den Ausstellungsräumen waren auf dem neuesten Stand: Wenn jemand ein Gemälde berührte, wurde automatisch der Schließmechanismus der Türen ausgelöst. Außerdem ging in jedem Ausstellungsraum eine Aufsicht umher, die an ihrer dunklen Kleidung und einem Namensschild zu erkennen war. Wenn die Angestellten etwas Verdächtiges bemerkten, informierten sie sofort die Sicherheitsbeamten, die Ausstellungsräume wurden dann augenblicklich geschlossen.
Die Führerin redete pausenlos, und die Journalisten folgten der Frau wie Entenküken ihrer Mutter. Der Serbe lief unmittelbar hinter ihr, Pastor hielt sich am Ende der Gruppe, den Blick auf Kommissar Reinhart und den SUPO-Beamten geheftet. Er hörte, wie Reinharts Begleiterin deutsch sprach. Vor Abscheu überlief ihn ein Schauer, als er Reinharts selbstgefälliges Lächeln sah. Der deutsche Kommissar verkörperte all das, was Pastor haßte.
Endlich betraten sie den Hauptausstellungssaal der Sammlung des Atheneums. Pastor blieb einen Augenblick stehen: Das Gemälde »Kullervo zieht in den Krieg« von Gallen-Kallela beeindruckte ihn immer wieder. Plötzlich schob ihn jemand zur Seite, Pastor wich aus und trat ein paar Schritte zurück. In der Mitte des Saales warf er einen Blick auf die Überwachungskameras an der Decke und wünschte sich, sie würden ihn aufzeichnen und nicht den Journalisten, dessen Rolle er spielte. Die Welt sollte erfahren, wie ein Held aussah. Schon bald würden alle Nachrichtensendungen die Bilder von den Ereignissen im Atheneum zeigen.
Kommissar Reinhart schien sich für das Aino-Triptychon von Gallen-Kallela zu interessieren, dann betrachtete er den »Verwundeten Engel« von Simberg. Der entscheidende Augenblick rückte näher. Pastor und der Serbe bezogen ihre Positionen zu beiden Seiten der Panzerglastür, die zum Treppenhaus führte. Pastor stand vor der »Mutter Lemminkäinens« und der Serbe neben dem »Oktobertag auf den Åland-Inseln« von Victor Westerholm. Erneut kontrollierte Pastor die Telefonverbindung. Wenn sie unterbrochen wurde, war dies das Zeichen für den Koordinator, der dann zwei Motorräder zum Atheneum beordern würde. Pastor überlegte, ob auch die anderen die Bedeutung dieses Augenblicks erkannten.
Reinhart wandte sich der Tür zu. Pastor fühlte, wie ihm das Adrenalin ins Blut schoß. Die Panzerglastüren öffneten sich zischend, Pastor verließ den Ausstellungssaal und ging rasch hinunter in die Eingangshalle. Die Schritte auf den Steinstufen hallten im Treppenhaus wider. Man spürte den Atem der Geschichte.
Die Eingangshalle des Museums war nicht so gesichert wie die Ausstellungsräume, denn hier gab es nichts zu stehlen. Nur eine der drei hölzernen Doppeltüren zur Kaivokatu wurde durch eine Drehtür aus Panzerglas geschützt.
Pastor stellte sich unten in die Nähe des Sicherheitsbeamten und schaute hinauf. Der Kommissar und der SUPO-Mitarbeiter warteten oben an der Treppe, der Serbe stand hinter ihnen. Reinhart unterhielt sich angeregt mit der Führerin. Doch Pastor hörte ihre Stimmen nicht mehr. Er sah nur noch den Kommissar, der nun die Treppe herunterkam. Die Zeit schien stillzustehen, sein Puls schlug schneller.
Als Reinhart die Mitte der Treppe erreicht hatte, schob Pastor seine Hand in die Brusttasche, unterbrach die Telefonverbindung, gab seinem serbischen Partner ein Zeichen und zählte: Eins, zwei … sein Herz hämmerte … drei … jetzt beginnt die Rache … vier …
… fünf. Pastor schlug dem Sicherheitsbeamten mit der Handkante hinters Ohr, während im gleichen Moment der Serbe einen Betäubungspfeil auf den SUPO-Mitarbeiter abschoß. Pastor zog seine Waffe aus dem Hosenbund und war mit einem Satz bei Reinhart. Er schaute in die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und feuerte zwei Schüsse auf Reinharts Kopf und drei auf seine Brust ab. Blut spritzte, ein rötlicher Schleier schwebte durch die Luft. Der Kommissar fiel auf die Stufen, und ein Blutrinnsal floß die Treppe hinab.
Ein Sturm des Entsetzens brach los. Die Reporter und die Führerinnen schrien laut, jemand rannte die Treppe hinauf, und einige Journalistinnen sanken schluchzend zu Boden. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen.
Die Scheiben der mittleren Eingangstüren zerbarsten klirrend: Die Motorräder waren eingetroffen. Pastor und der Serbe stiegen behend durch die zerbrochenen Scheiben und schwangen sich hinter den Fahrern auf die Maschinen. Ganz in der Nähe heulten die Sirenen los.
»Das war der erste«, sagte Pastor.
Arto Ratamos glutrotes Gesicht war schmerzverzerrt. Seine Oberschenkel brannten wie Feuer, das Kreuz tat ihm weh, und beim Atmen spürte er ein Stechen. Am liebsten hätte er sich auf den Asphalt fallen lassen, aber er mußte weiterlaufen. Durch energischen Armeinsatz versuchte er sein Tempo zu erhöhen, damit man ihn nicht einholte. Seine schweißnassen Sachen wogen mindestens eine Tonne, er dampfte in der herbstlichen Kälte wie ein Feuerwehrmann, der gerade aus dem Rauch auftauchte. Er hatte das Gefühl, er könne jeden Moment tot umfallen.
Jetzt bereute es Ratamo, daß er sich nicht intensiver auf den Marathon vorbereitet hatte. Anders als Riitta, seine Lebensgefährtin, quälte er sich lieber einmal ein paar Stunden, statt täglich eine halbe Stunde zu trainieren. Er hatte sich zu diesem Irrsinn überreden lassen, um den Pavarottispeck auf seinen Hüften loszuwerden. Da alle Bekannten und seine Kollegen von der SUPO wußten, daß er den Marathon laufen würde, hatte er nicht gewagt abzusagen. Das unregelmäßige Training war allerdings nicht umsonst gewesen: Er hatte über zehn Kilo abgenommen und sah nun schon genauso schlank aus wie als Gymnasiast. So dürr wie die Lauffanatiker, die an ihm vorbeirannten, würde er allerdings nie werden. Dieser Typ ähnelt auch einem magersüchtigen Aal, dachte Ratamo verärgert, als wieder einer seiner Konkurrenten leichten Schritts an ihm vorbeizog.
Aufgeben kam nicht in Frage, das ließen sein Stolz und sein Kampfgeist nicht zu, also lief er verbissen weiter. Er mußte unbedingt vor Riitta ins Ziel kommen. Wenn er dieses Duell verlor, würden die Kollegen noch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts Witze darüber reißen. Er quälte sich einen steilen Anstieg hinauf und brach oben fast zusammen, als er das Schild sah, auf dem in Großbuchstaben zu lesen war: »30,3 KILOMETER.« Noch mehr als zehntausend Meter! Am Fuße des Hügels erblickte er eine Menschentraube, endlich ein Versorgungspunkt.
Ratamo trank gierig etwa zwei Deziliter isotonischen Getränks, stopfte sich ein Stück Fruchtzucker und zwei Scheiben Salzgurke in den Mund und schüttete sich einen Becher Wasser über den Kopf. Er fuhr mit der Hand durch seine dunklen Bürstenhaare, wischte den Großteil der Flüssigkeit weg und lief mühsam weiter. Die Schmerzen ließen ein wenig nach, aber er hatte schon Angst vor der nächsten Attacke, denn jede neue Schmerzwelle, die ihn überrollte, war heftiger als die vorhergehende. Das Trainingshemd mit dem Aufdruck »MOTOR« aus seiner Zeit als Eishockeyspieler bei den Junioren saugte den Schweiß aus dem Unterhemd auf wie ein Schwamm.
Schweiß floß in seine dichten Augenbrauen und brannte in den Augen und in der alten Narbe auf der Wange. Er kniff die Augen zusammen und schaute dann auf den Saimaa-See, der in der Herbstsonne glitzerte. Hier müßte man die Landschaft genießen und in die Sauna gehen, statt sich zu schinden wie ein Idiot. Er spürte den frischen Duft des Waldes und hatte einen salzigen Geschmack im Mund.
Die Straße machte einen Bogen, hinter dem Hügel tauchte ein schönes Bauernhaus auf. Von dessen Hof hatte man sicher einen wunderbaren Blick auf den Saimaa-See. Das rotocker gestrichene Blockhaus erinnerte ihn an den Bauernhof seiner Mutter in Suviniemi. Dort hatte er die Sommer seiner Kindheit verbracht, bis seine Mutter starb. Danach wollte sein Vater von dem ganzen Ort nichts mehr wissen. Als Erwachsener hatte Ratamo auf der Durchreise einige Male in Suviniemi haltgemacht, um sich alles anzuschauen und seine Erinnerungen aufzufrischen. Das hätte er nicht tun sollen. Fast alle kleinen Bauernhöfe waren aufgegeben worden; nur verfallene Ställe und brachliegende Äcker erinnerten noch daran, daß es hier einst weidendes Vieh und wogende Getreidefelder gegeben hatte. Um ihre Post abzuholen, mußten die Menschen kilometerweit fahren, der längst geschlossene Dorfladen würde irgendwann einstürzen, und ein Büchereiauto oder ein Laden auf Rädern waren weit und breit ebensowenig zu sehen wie Aushänge mit den Zeiten des Schwimmunterrichts für die Kinder.
Ratamo stellte sich vor, wie es wäre, auf dem Lande zu wohnen, und brachte so mehrere Kilometer hinter sich. Der Herbst zeigte sich in seiner schönsten Farbenpracht. Die Laubbäume leuchteten in allen möglichen Nuancen von Gelb, Orange und Rot. Gab es eigentlich in Südkarelien mehr Birken als anderswo in Finnland?
Der Termin des Kullervo-Marathons von Joutseno, der 21. September, hatte ihm und Riitta gut gepaßt. Nach ihrem Sommerurlaub war genug Zeit geblieben, sich auf den Lauf vorzubereiten. Genauer gesagt, Riitta hatte sich vorbereitet. Manchmal wunderte sich Ratamo, wie fanatisch Riitta alles anging, was sie für wichtig hielt. Seine Partnerin nahm das Leben ein wenig zu ernst. So wie er früher. Damals hatte er alles, was er tat, als Pflicht empfunden und das Leben als Wettlauf von einer Aufgabe zur nächsten betrachtet.
Ratamo mußte laut lachen, ihm fiel plötzlich ein, was Riittas Freundin Elina erzählt hatte. Mit vier Jahren war Riitta Vegetarierin geworden, nachdem sie auf dem Lande gesehen hatte, wie einem Huhn der Kopf abgehackt wurde. Sie hatte damals ihre Entscheidung getroffen und bis heute daran festgehalten. Allerdings behauptete Riitta, der Grund sei ein Dokumentarfilm gewesen, in dem gezeigt wurde, daß Schafe in den nicht belüfteten Containern eines LKWs an Hitzschlag gestorben waren und Hühnerküken der Schnabel gebrochen wurde, damit sie sich in den engen Käfigen nicht gegenseitig tothackten.
In den acht Monaten ihrer Beziehung hatte sich herausgestellt, daß Riitta eine verblüffend willensstarke Frau war. Manchmal hatte er Angst, daß ein endgültiger Zusammenstoß ihrer beiden Egos unvermeidlich bevorstand. Kompromisse kamen für ihn nicht in Frage, und Riittas südländisches Blut, das sie von ihrer italienischen Mutter geerbt hatte, geriet leicht in Wallung.
Plötzlich spürte er einen schneidenden Schmerz im Bauch: Das Getränk brachte seinen Magen durcheinander. Schnell kamen andere Beschwerden hinzu; erst wurden seine Beine noch steifer, und dann packte ihn ein Krampf der Rückenmuskulatur. Er beugte sich nach hinten, wechselte vom Straßenbelag auf den Randstreifen und trabte mit langen Schritten weiter wie ein Elch in der Brunftzeit. Auf dem Sand wurden die Beine weniger beansprucht als auf dem Asphalt. Er mußte unbedingt vor Riitta bleiben.
Allmählich gelang es ihm, die Schmerzen zu verdrängen, und er vertiefte sich wieder in seine Gedanken. Ob er und Riitta schon im November Winterurlaub nehmen könnten? Sie hatten den ganzen Sommer geschuftet. Riitta schrieb ihre Examensarbeit, und er war mit der Rolle als alleinerziehender Vater eines Mädchens in der zweiten Klasse und mit seinem Studium an der Polizeifachhochschule ausgelastet. Im Laufe des Sommers hatte er das Grundstudium für den gehobenen Dienst absolviert und das Aufbaustudium in den Studienabschnitten Kriminologie und Rechtssoziologie begonnen. Er staunte, wie schnell er sich an das Studium und die Tätigkeit in der Sicherheitspolizei gewöhnt hatte. An seine frühere Arbeit als Forscher dachte er nur noch selten, und die neue Arbeit als Ermittler der Sicherheitspolizei war für ihn nichts Besonderes mehr. Leider gewöhnte man sich an Gutes zu schnell.
Seine Gedankengänge wurden wieder von Schmerzen unterbrochen. Er konzentrierte sich auf das Laufen, und so gelang es ihm, der Versuchung zu widerstehen, ein paar Schritte zu gehen. Dann erblickte er das Schild »39,2 KILOMETER« und den letzten Versorgungspunkt. Die nächsten Kilometer waren die härtesten und zehrten am meisten an der Substanz: Eigentlich war es fast geschafft, aber trotzdem mußte man sich zwingen weiterzulaufen, obwohl die Muskeln so schmerzten, daß man hätte schreien können.
Ratamo trank vorsichtig einen halben Becher isotonischen Getränks mit Apfelsinengeschmack und stopfte sich ein paar Rosinen in den Mund. Da half kein Jammern, die Schmerzen waren die Strafe für seine Dummheit. Er hatte sich auf dieses Spiel eingelassen, obgleich er genau wußte, daß kam, was kommen mußte, schließlich war er in den neunziger Jahren dreimal einen Marathon gelaufen. Nur ein Dummkopf konnte vergessen, welche Qual zweiundvierzig Kilometer und einhundertfünfundneunzig Meter bedeuteten, wenn man nicht richtig trainiert hatte.
»Hopp, hopp, junger Mann!« Ein rüstiger Opa feuerte ihn an und trabte locker und in gleichmäßigem Rhythmus vorbei. Ratamo schwenkte seinen Becher und antwortete keuchend: »Ich würde ja schneller laufen, aber dann fallen die Eiswürfel raus.«
Endlich tauchte der Sportplatz von Joutseno auf. Die Versuchung, das Tempo zu drosseln, war so stark, daß ihm schwindlig wurde, aber die Gruppe hinter ihm hatte zum Endspurt angesetzt und kam immer näher. Riitta könnte dabei sein. Er mußte die Zähne zusammenbeißen.
Noch eine qualvolle Runde auf dem Sportplatz, dann lag die Zielgerade vor ihm, und Ratamo spürte Freude. Man hatte etwas geschafft, das vollkommen unsinnig war und merkwürdigerweise trotzdem Befriedigung brachte. Er schaute hinüber zu den Zuschauerplätzen und versuchte seine Tochter Nelli zu entdecken; sie wollte die Zielankunft gemeinsam mit ihrer Großmutter Marketta verfolgen.
Im Auslauf bekam Ratamo seine Teilnehmermedaille und einen Plastikbeutel mit einer Dose Saft, einer Banane und Rosinen. Er humpelte zur Zuschauertribüne; es wäre eine Genugtuung, gewissermaßen vom Logenplatz aus zu beobachten, wie Riitta ins Ziel trottete.
Doch plötzlich erstarrte er. Riitta stand vor ihm, topfit und mit glückstrahlendem Gesicht.
»Ich wollte schon anrufen und dich von einer Hundestreife suchen lassen. Warum hast du nicht vorher gesagt, daß du dich mit den Senioren ins Ziel schleichen willst«, spottete Riitta. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz und wischte sich den Schweiß aus ihrem nußbraunen Haar.
Ratamo konnte seinen Ärger nicht verbergen. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der beim Münzenwerfen verloren hat. Wann zum Teufel hatte Riitta ihn überholt? Was sollte er nun sagen? Sollte er ihr gratulieren oder einen Witz machen? Er entschloß sich, lieber zu schweigen. Wer anderen eine Grube gräbt und selbst hineinfällt, sollte nicht noch weiter graben. Wie schaffte es Riitta nur, nach über vierzig Kilometern so frisch auszusehen? Es fiel ihm schwer zu glauben, daß auch sie vor einiger Zeit die Grenze zu den Dreißig überschritten hatte.
»Nun werde nicht gleich wütend, es war ja nur ein Scherz. Du bist ziemlich groß und stämmig. Das sind schlechte Voraussetzungen für einen Marathonläufer.«
Ratamo küßte Riitta auf die Wange, brummte etwas Unverständliches und ging zur Tribüne. Es dauerte eine Weile, bis er Marketta und Nelli entdeckte. Er wunderte sich, warum Marketta mit den Armen fuchtelte wie ein Kapellmeister. Nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren hatte seine Ex-Schwiegermutter fast genausoviel Verantwortung für Nelli übernommen wie er selbst. Deshalb achtete er sie sehr. Vielleicht nahm er ihre Hilfe sogar zu oft in Anspruch. Künftig würde das nicht mehr möglich sein: Marketta hatte im Sommer einen Partner gefunden.
Nelli fiel ihrem Vater um den Hals und zeigte Riitta den erhobenen Daumen. Auf der Bank lagen eine Decke und darauf ein riesengroßer Beutel Bonbons, Comic-Hefte und ein Kinderbuch.
»Jussi Ketonen hat dich zweimal angerufen«, sagte Marketta zu Riitta und reichte den Marathonläufern ihre Jacken. Als sie sah, daß Ratamo zuerst seine Kautabakdose aus der Brusttasche holte, schüttelte sie den Kopf.
Riitta wählte Ketonens Nummer. Der Chef der Sicherheitspolizei mochte es nicht, wenn man ihn warten ließ.
Nach dem fünften Klingeln ging der Vorgesetzte von Riitta Kuurma und Arto Ratamo ans Telefon. »Du wirst hier gebraucht, und zwar sofort. Ihr habt wohl keine Nachrichten gehört?« sagte Jussi Ketonen und schnaufte.
»Ich bin mit Arto gerade einen Marathon gelaufen. Ich bin vor ihm …«
Ketonen unterbrach seine Mitarbeiterin: »Kommissar Reinhart ist im Atheneum erschossen worden.« Riitta glaubte, Ketonen mache einen Scherz. Sie wartete einen Augenblick auf ein befreiendes Lachen, und als ihr klar wurde, daß es ausblieb, spürte sie sofort die Anspannung. Sie war die EU-Expertin der Sicherheitspolizei und schrieb ihre Examensarbeit über die Probleme im Beschlußfassungsprozeß der EU. »Das kann doch nicht wahr sein. Ein politischer Mord …«
»Reg dich nicht auf. Mord ist Mord«, entgegnete Ketonen.
»Ich fahre sofort los. Ich brauche ungefähr drei Stunden.«
»Bring Ratamo mit. Das ist ein Fall für die Sicherheitsabteilung«, befahl Ketonen und beendete das Gespräch.
Riitta erzählte Ratamo die Neuigkeiten. Der Mann, der sonst keine Miene verzog, sah nun endlich einmal verblüfft aus. In seinem Kopf schienen die Räder stillzustehen. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, was er da gehört hatte.
»Fahren wir jetzt endlich?« Nelli zupfte ihren Vater am Ärmel.
Wieder mußte er Marketta um einen Gefallen bitten. Ihm wurde schwindlig, er spuckte den Priem an den Wegesrand.
Marketta ersparte ihm die Mühe, sie bitten zu müssen. »Ich habe heute einen freien Abend und kann mich um Nelli kümmern.«
Ratamo drückte seiner Tochter einen Kuß auf die Wange. »Wir gehen schnell duschen und treffen uns dann am Auto«, rief er Marketta zu.
Ratamo hoffte, daß der alte VW-Käfer die Strapazen durchstehen würde, die er ihm nun zumuten mußte. Ein EU-Kommissar war in Finnland ermordet worden. Die Gelegenheit, in einem solchen Mordfall zu ermitteln, bekam man nur einmal im Leben.
Hannele Taskinen spürte in den Schläfen die ersten Anzeichen der Kopfschmerzen. Die Luft in der Einzimmerwohnung roch verbraucht. Vor drei Tagen hatte sie das letzte Mal gelüftet. Ihr fiel nichts ein, womit sie sich beschäftigen könnte. Das ständige Starren auf den Fernsehbildschirm war nicht gut für die Augen, und die vor einer Woche ausgeliehenen Bücher hatte sie alle gelesen. Vielleicht schaffte sie es, am Montag nach der Psychotherapie in der Bibliothek vorbeizuschauen.
Warten und Untätigkeit lähmen den Menschen. Die neunundzwanzigjährige alleinstehende Invalidenrentnerin wußte das besser als jeder andere. Ihr Blick irrte durchs Zimmer und blieb an ihrem Abiturientenfoto hängen, dem einzigen, das sie aufbewahrt hatte. Das Bild zeigte ein hübsches, zierliches Mädchen mit dichtem Haar. Die ernsten, traurigen Augen verrieten allerdings schon ihre Krankheit.
Hannele zog die Gardine des einzigen Fensters ihrer Wohnung auf und wurde für einen Augenblick vom Licht geblendet. Im September war es selten so sonnig und warm wie jetzt. Sie öffnete das Fenster, spürte den herben Geruch der Stadt und schaute hinunter auf ihre Straße, die Fleminginkatu. Es ärgerte sie, daß man von ihrem Fenster im zweiten Stock aus nur wenige Laubbäume sah.
Am Samstagnachmittag waren auf der Straße wie immer etliche seltsame Gestalten unterwegs. Hannele erblickte eine Gruppe von Drogenabhängigen, die sie schon kannte. Das Trio war während der letzten Monate in wechselndem Zustand kreuz und quer durch den ganzen Stadtteil Kallio geirrt. Hannele wußte, wie das Leben eines Drogensüchtigen verlief. Anfangs konnte man ihn über Jahre fast jeden Tag auf der Straße sehen, und stets machte er einen verwirrten Eindruck. Irgendwann verschwand der Fixer dann für Monate oder Jahre entweder im Gefängnis, zur Entziehungskur, in der Nervenklinik, oder er hatte eine Arbeit. Problemfälle kehrten jedoch meist auf die Straße zurück und durchliefen diesen Zyklus mit jedem Mal schneller. Eines Tages verschwand der Drogenabhängige dann für immer.
Hannele wartete nicht mehr Stunde um Stunde am Fenster auf Pastor; sein letzter Besuch lag Monate zurück. Sie hätte so gern gewußt, was ihm Anfang Juni zugestoßen war. Mit blutigem Kopf und total verwirrt war er damals mitten in der Nacht bei ihr aufgetaucht. Danach änderte sich alles. Er war im Ausland unterwegs und rief sie dann und wann an, bis schließlich vor einigen Wochen auch die Anrufe aufhörten. Doch Hannele wollte ihre Hoffnung nicht aufgeben, Pastor hatte versprochen, zurückzukehren und für immer bei ihr zu bleiben. Vielleicht würden sie dann heiraten. Pastor war anders als alle anderen, er war der einzige Mensch, dem sie vertraute.
Hannele tat es gut, an ihn zu denken. Vor zehn Jahren hatten sie sich im Krankenhaus Hesperia in der Aufnahmestation kennengelernt, damals war Pastor durch den Streß bei seiner Arbeit ausgebrannt und brauchte Ruhe. Im Gegensatz zu ihrem Vater, ihrer Mutter oder den Ärzten mußte er sie nicht ertragen, und er verlangte auch nichts von ihr. Pastor war der erste Mensch, der sie wirklich gern hatte. Sie waren Seelenverwandte, beide wußten, wie das Leben diejenigen demütigte, die aus der Tretmühle herausfielen.
Hannele schloß das Fenster und bemerkte, daß ihr Lieblingsbild schief hing. Die Kopie eines Gemäldes des Renaissancekünstlers Filippino Lippi war ein Geburtstagsgeschenk von Pastor. Das Bild stellte die Verehrung des Stiergottes Apis im alten Ägypten dar. Schon vor einer Ewigkeit auf dem Bauernhof ihrer Eltern hatte ein halbjähriges Kalb Hannele in sein Herz geschlossen; damals hatte sie sich in die Kühe verliebt. Manchmal glaubte sie, die Kuh sei die herrschende Gattung auf dem Planeten Erde: Sie hatte eine größere Fläche für ihre Ernährung erobert als der Mensch. Wenn die Kühe den Menschen verdrängen und die Macht übernehmen würden, dann wäre diese Welt besser. Hannele erinnerte sich nicht, jemals eine boshafte, neidische oder eifersüchtige Kuh gesehen zu haben.
Wasser spritzte auf den Geschirrstapel und in ihr Gesicht, als sie den verrosteten Hahn aufdrehte. Durch die Neuroleptika war sie müde und hatte einen trockenen Mund. Lustlos trank sie ein Glas Wasser und schaltete das uralte Kofferradio ein, das umgekippt in der Kochnische lag. Sie hörte nur Radio Suomi und Yle 1. Die kommerziellen Sender spielten übermäßig viel moderne Musik, die ihr zu aggressiv war. Hannele spürte, daß ihr die Haare an der Stirn klebten, aber sie hatte keine Lust, sich in die Dusche zu schleppen. Was, um Himmels willen, sollte sie heute essen? Nach Pastors Verschwinden war alles nur noch schwieriger geworden.
»Verrückte gibt es überall, auch in den Irrenhäusern. George Bernard Shaw.« Sie las den Text auf dem selbstgerahmten Poster und lächelte. Ihren Sinn für Humor hatte sie noch nicht verloren.
Im Radio erklang das Zeitzeichen, es war vier Uhr. Dann hörte sie die ernste Stimme des Nachrichtensprechers: »Im Kunstmuseum Atheneum in Helsinki ereignete sich heute morgen ein schockierender Zwischenfall, bei dem der in Finnland zu Gast weilende EU-Kommissar Walter Reinhart erschossen wurde. Reinhart führte in unserem Land Gespräche über die Erweiterung der Europäischen Union. Die Täter konnten entkommen und wurden bislang nicht gefaßt. Die Verantwortung für die Bluttat hat laut Reuters eine Gruppe namens Freies Europa übernommen. Der deutsche Bundespräsident Johannes Rau brachte seine Erschütterung über das Geschehene zum Ausdruck. Rau bat Finnland, alles zu unternehmen, um die Schuldigen schnellstmöglich zu finden. Die Polizei hat in der Hauptstadt alle Ausfahrtstraßen gesperrt. Die Sicherheitspolizei und die Kriminalpolizei haben noch keine …«
Hannele rannte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Das erste Programm und Mainos-TV brachten Sondersendungen. Die Moderatoren starrten Hannele mit todernster Miene an.
Würde sich Pastor freuen, wenn er vom Tod des Kommissars erfuhr? Hannele war nie zuvor jemandem begegnet, der die EU und die Politiker so sehr haßte wie Pastor. Unzählige Male hatte er ihr gepredigt, daß die EU auf friedlichem Wege in Finnland das erreichen wolle, was die Sowjetunion im Winterkrieg und im Fortsetzungskrieg gewaltsam versucht hatte.
Es gab nichts Schöneres, als seiner Stimme zuzuhören. Mit seiner Redegewandtheit hatte er sich auch den Beinamen Pastor verdient. So nannten ihn nur seine Freunde. Manchmal redete sich Pastor dermaßen in Ekstase, daß Hannele fürchtete, er könnte auch krank sein. Sie hatte das einmal zur Sprache gebracht, doch auch da hatte er seine Auffassungen so überzeugend begründet, daß sie seine Intelligenz nur bewundern konnte. Pastor war überdies ein perfekter Gentleman: Er stammte aus gutem Hause, war Jurist und ein ehemaliger Firmenchef, der die Welt gesehen hatte. Er wollte nur das Beste für seine Landsleute.
Wäre Pastor froh über den Mord an dem Kommissar? Könnte sich ihr Geliebter über den Tod eines Menschen freuen? Sie erinnerte sich noch sehr genau, daß Pastor einmal gesagt hatte, die EU-Kommissare würden alle den Genickschuß verdienen.
Riitta Kuurma riß die Tür zum schallisolierten Sitzungsraum A 310 der SUPO auf und erstarrte. Erik Wrede hatte die Arme von hinten um die Taille Jussi Ketonens geschlungen und bewegte den Chef der Sicherheitspolizei auf und ab wie einen Stößel im Butterfaß. Wrede bemerkte die Ankömmlinge, gab Ketonen aus dem Ringergriff frei und schaute betreten drein. Wegen seiner roten Haare und Sommersprossen wurde Wrede in der Sicherheitspolizei »Schotte« genannt.
Doch Ketonen ließ sich nicht aus der Fassung bringen: »Die verdammte Bandscheibe tut wieder weh.« Der Chef betrachtete seine Untergebenen und erkundigte sich besorgt: »Ist bei euch alles in Ordnung?« Er strich sich die grauen Haare aus der Stirn und schob die Hände auf seinem runden Bauch unter die Hosenträger.
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