Finsteres Glück - Lukas Hartmann - E-Book

Finsteres Glück E-Book

Lukas Hartmann

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Beschreibung

Das Leben des achtjährigen Yves wird in einer einzigen Sekunde brutal entzweigerissen, in ein Vorher und Nachher. Die Psychologin Eliane Hess, die ihm über den Verlust der Eltern hinwegzuhelfen versucht, ist gleichzeitig erschüttert und fasziniert von dem traumatisierten Jungen. Sein Schicksal geht ihr nahe es leuchtet hinein in ihre eigene Vergangenheit. Nach der Begegnung mit Yves kann auch Elianes Leben und das ihrer beiden Töchter nicht mehr dasselbe sein. Ein berührender Roman über Geborgenheit und Verlust; über die Familienbande, die wir nicht lösen können, und diejenigen, die wir selbst knüpfen.

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EPUB

Seitenzahl: 319

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Lukas Hartmann

Finsteres Glück

Roman

Die Erstausgabe erschien 2010

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von Ben McLaughlin

Copyright © Ben McLaughlin / Private Collection / Wilson Stephens Fine Art, London / The Bridgeman Art Library

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24094 8 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60017 9

Inhalt

Hinweis für den Leser

Motto

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil II

Die erste Tafel

Die zweite Tafel

Die dritte Tafel

Die vierte Tafel

Die fünfte Tafel

Die sechste Tafel

Teil III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Autorenbiographie

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Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Hoffnung übt eine Anziehungskraft aus, strahlt als Punkt, dem man nahe sein will, von dem aus man messen will. Zweifel hat keinen Mittelpunkt und ist allgegenwärtig. Daher die Stärke und die Zerbrechlichkeit von Grünewalds Licht.

[7] I

[9] 1

Der Anruf kam nachts um halb elf. Millionen von Menschen hatten sich mittags geschwärzte Gläser vor die Augen gehalten. Sie wollten die Sonnenfinsternis sehen, die bei uns partiell war, im Elsass und in Süddeutschland aber total. Hunderttausende hatten, des wolkenverhangenen Himmels wegen, die schwarze Scheibe mit der flackernden Korona verpasst, nur das Dunkelwerden miterlebt, nächtliche Fahlheit zur Unzeit, das Verstummen der Vögel. Ich hatte mich in meinem Sprechzimmer nicht darum gekümmert, mittags einfach Licht gemacht und mich auf einen schwierigen Fall konzentriert: junge Frau mit Panikattacken, Missbrauchsverdacht, sie hatte helle Augen von milchiger Sanftheit, wie Aquamarin, aber da drang nichts mehr hinein, emotional blindness. Abends, in der Dämmerung, fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause, es regnete kaum spürbar, fadenfein, ich wich den nassen Tramschienen aus, die mich in der Vorwoche zu Fall gebracht hatten. Im türkischen Laden kaufte ich Tomaten, Auberginen, ein paar weiße Pfirsiche.

Alice war nicht zu Hause, sie flüchtete abends vor mir, kämpfte um jede Viertelstunde im Jugendtreff, als ginge es um Leben und Tod. Mit Sechzehnjährigen hat man’s schwer, auch nach einem Vollstudium in Psychologie. Ein Zettel [10] lag da: Um zehn bin ich zurück, garantiert! Helene hingegen, die ältere Schwester, Jurastudentin im dritten Semester, hatte sich bestimmt wieder in ihrer Mansarde vergraben. Sie verkörpert Vernunft und Disziplin auf manchmal unerträgliche Weise, fühlt sich angezogen von Gesetzesparagraphen. Über meine Töchter weiß ich fast nichts, ich habe mein ursprüngliches Wissen verlernt. Dass sie von verschiedenen Vätern stammen, kann niemand verleugnen, der sie genauer ansieht. Die Halbschwestern scheint es nicht zu stören, die Gluckengefühle haben sie mir ohnehin ausgetrieben.

Unsere Küche ist eine Höhle, dunkel selbst an hellsten Sommertagen, denn dicht vor dem Fenster, beinahe mit Händen zu greifen, steht eine alte Rosskastanie, durch deren Laub nur wenig Licht sickert. Trotzdem halten wir uns, seit wir dieses alte Haus bewohnen, am liebsten hier auf, wegen der Gerüche vielleicht, wegen der Herdplattenwärme. Ich hackte eine halbe Zwiebel auf dem Holzbrett, zerkleinerte Auberginen und Tomaten, gab alles der Reihe nach, mit einem Löffel Olivenöl und einer Knoblauchzehe, in die Gusseisenpfanne, ich rührte darin zum Rauschen des Dampfabzugs, goss ein wenig Rotwein dazu, würzte mit Salz und Rosmarinnadeln, ich setzte den Topf mit Wasser auf für die Penne rigate. Solche Dinge brauche ich nach einem Tag mit Verzagten und Verzweifelten.

Der Essensgeruch lockte die Ältere aus ihrem Mansardenversteck hervor. Sie saß schräg neben mir, über den Teller gebeugt, der Vorhang ihrer schulterlangen Haare halb zugezogen: Don’t touch me! Dass bei dieser Haltung bisweilen Haare in die Sauce gerieten, kümmerte sie nicht. [11] Ob sie etwas von der Sonnenfinsternis mitbekommen habe, fragte ich. Sozusagen nichts, sagte sie, man habe sie sowieso kaum gesehen, und das Medienspektakel, das man um dieses zweiminütige Ereignis veranstaltet habe, finde sie abstrus. Alle meine Methoden versagten bei ihr. Sie stritt nicht, entzog sich bloß, wehrte mich ab durch Wortkargheit, nichtssagende Floskeln: Ja, alles in Ordnung, Ma. Kein Kopfweh. Alles wie immer. Der Stimmklang meldete: Und jetzt lass mich bitte in Ruhe, Ma.

Wir aßen die Schüssel aus, hatten uns stillschweigend darauf geeinigt, für Alice, die irgendwann hungrig auftauchen würde, nichts übrigzulassen. Dann würde sie wieder den Kühlschrank plündern, die Milch austrinken, Essiggurken dazu essen und vielleicht einen Rest Kuchenteig. Dass wir, evolutionär gesehen, Allesfresser sind, bewies meine jüngere Tochter jeweils nach zehn Uhr nachts. Helene half, wie immer, beim Abräumen und Saubermachen, sie zeigte sich kooperativ im Tausch gegen meinen Verzicht auf fürsorgliche Fragen. Danach verschwand sie wortlos. Von oben erreichten mich, durch zwei geschlossene Türen, die Vibrationen einer isländischen Band, die Helene sich damals, beim Studium des Aktienrechts, Abend für Abend anhörte. Ich versuchte, den Bass von mir abzuhalten durch die Goldbergvariationen in Glenn Goulds frühster Version. Ich las die Zeitung dazu, halb liegend auf dem alten Ledersofa, das bei jeder Bewegung quietscht wie ein wehleidiges Wesen. Ich las höchst Überflüssiges, nie lasse ich die Meldungen aus, in denen Hollywoodstars oder die englischen Royals vorkommen. Dabei hatte ich mir gerade erst einen neuen Kunstband gekauft, der auf eingehende [12] Betrachtung wartete, und überhaupt wäre es dringend nötig gewesen, meine Patientenblätter nachzuführen.

Kurz vor zehn – ich hatte nichts anderes erwartet – rief mich Alice an und feilschte, beinahe unverständlich mitten im Musikgetöse, mit mir darum, eine halbe Stunde länger wegzubleiben; ein Freund – das sagte sie immer: »ein Freund« – werde sie mit dem Roller um halb elf vor unserer Haustür abliefern, Ehrenwort! Ich bestand auf Viertel nach zehn, verlangte, dass sie sich nicht ohne Helm auf den Roller setze, drohte zudem, genau zu überprüfen, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht habe. Das habe sie, raunzte sie in ihr Handy, ich solle nicht so pingelig sein. »Viertel nach zehn und sonst Ausgangssperre!«, schrie ich sie an. Schon als ich auflegte, beschämte mich mein blinder Zorn. Ich beruhigte mich, schaute von nun an im Minutentakt auf den vorrückenden Zeiger der alten Pendule, die mich auf allen meinen Umzügen begleitet hatte. Sie war mir das liebste Stück aus Großmutters Erbe; manchmal dachte ich mit Rührung an ihren Körper auf dem Totenbett, an ihre fleckigen Kinderhände, die noch einmal nach meiner gegriffen hatten, als rängen wir darum, einander ins eine oder andere Reich zu ziehen.

Zwanzig nach zehn war Alice nicht da, fünfundzwanzig nach immer noch nicht, und ich – welche Mutter kann sich daran hindern? – stellte mir vor, dass sie auf dem Hintersitz des Rollers, ihre Arme um den Oberkörper des Fahrers geschlungen, einen Unfall gehabt hatte und nun schwer verletzt auf dem Asphalt lag. Ich schalt mich selbst für solche Schreckensbilder, griff aber in Panik nach dem Hörer, [13] als das Telefon zum zweiten Mal läutete. Ich war schon nahe daran, in Tränen auszubrechen oder erneut loszuschreien, dann aber wurde mir klar, dass es nicht Alice war, die anrief, sondern der diensttuende Notfallarzt des Zentralspitals, der mich zu einem Termin aufbot. Schwerer Autounfall in einem Tunnel, verstand ich, ein Junge, dessen ganze Familie umgekommen sei, habe wie durch ein Wunder mit leichten Verletzungen überlebt, er brauche dringend psychologische Betreuung, ja, jetzt noch, man schicke ein Taxi an meine Adresse. Ich bin Spezialistin für Psychotraumatologie mit eigener Praxis, habe eine Dissertation über »Bindung und Trauma« geschrieben; ich war damals vom städtischen Krankenhaus in Teilzeit angestellt und daran gewöhnt, bei Notfällen mitten in der Nacht weggehen zu müssen. Die Betreuung traumatisierter Kinder überließ man gerne mir, zuletzt nach einem Eifersuchtsdelikt, da hatte sich ein fünfjähriges Mädchen unter dem Bett verkrochen und zugehört, wie der Vater die Mutter und sich selbst erschoss. Man müsste, meine ich, in solchen Fällen von Mord sprechen und nicht von erweitertem Suizid. Mit diesem Begriff wird die Tat verharmlost, er klingt so, als ob Selbstmord dazu berechtige, Angehörige zum leibeigenen Besitz zu machen und mit in den Tod zu nehmen.

Da ich nicht wusste, ob ich die Nacht im Krankenhaus verbringen würde, packte ich das Nötigste in meine Reisetasche, ein Sommerpyjama, Toilettenartikel, ein paar Brettspiele. Ich rief nach oben, dass ich noch wegmüsse, bekam keine Antwort, ging schließlich die Treppe hinauf ins Dachgeschoss, klopfte an Helenes Tür und vernahm nur Streicherklänge und Björks wimmernden Gesang aus [14]Homogenic. In dieser kalten, seltsam flirrenden Musik schien Helene seit Tagen versunken zu sein; man hörte aus ihrem Zimmer nichts anderes mehr. Die Tür war verschlossen, Helene öffnete erst, als ich an der Klinke rüttelte. Sie hatte rot verweinte Augen, zerzauste Haare, sie roch intensiv nach Jod (es frage mich keiner, warum). Ich sagte, wohin ich ging, ich bat sie, Alice zu informieren, wenn sie endlich heimkäme, und sie gleich ins Bett zu schicken. Freudlos versprach es Helene.

Draußen wartete das Taxi im Nieselregen. Gerade als wir abfuhren, sah ich den Roller herbeikurven, darauf saß ein Doppelwesen. Der eine Kopf, der unbehelmte mit wehendem Haar, gehörte unbestreitbar zu Alice, die aber mein Winken nicht bemerkte. »Da kommt meine Tochter«, sagte ich zum iranischen Taxifahrer mit einem Anflug von Stolz. Er bremste erst und gab dann wieder Gas, er wusste ja, wohin ich wollte. Die Stadt schlief schon halb bei diesem launischen Wetter. Über der Kehrichtverbrennungsanlage hingen, noch im Lichtbereich eines Sportplatzes, mehrere Knäuel dichten Rauchs. Unversehens tauchte das Bettenhochhaus, ein tausendäugiger Kubus, vor mir auf. Die vielen Bäume davor, schwarz in der Nacht, erweckten einen parkähnlichen und dennoch düsteren Eindruck. Dahinter ein Wirrwarr kleinerer Gebäude, überall die Tafeln mit Großbuchstaben, die die verschiedenen Trakte bezeichnen.

Ich wurde bei der Notfallpforte abgesetzt. Eben landete ein Helikopter der Rettungsflugwacht, dessen Rattern die Nacht zerriss, auf dem Hochhausdach. Organtransport oder Ankunft eines Schwerverletzten, dachte ich. Der [15] Junge sei schon in der Kinderabteilung, sagte mir die Rezeptionistin. Sie sei übrigens im Bilde, fügte sie hinzu und machte ein sorgenvolles Gesicht: Entsetzlich dies alles. Mindestens ein halbes Dutzend Journalisten, die sich wie Geier auf das Unglück stürzten, habe sie schon abgewimmelt.

Ich fuhr mit dem Lift nach oben in den sechsten Stock, betrat die Halle, von der aus man zu den Krankenzimmern und zu den Diensträumen gelangt. In einem von ihnen war eine Nachtsitzung des Notfallteams im Gang, die dem verunfallten Jungen galt. Anwesend: Doktor Wieland, der Oberarzt, den man alarmiert hatte wie mich, die Abteilungsärztin, eine Pflegefachfrau, die ich erst flüchtig kannte, und der Polizeipsychologe, der von der Rettungssanität zum Unfallort gerufen worden war, obwohl er sich, wie er sagte, für Kinder nicht zuständig fühle und darum froh sei, den Fall nun einer Fachkraft zu überlassen.

Der Junge, erfuhr ich, war, im Gegensatz zu seinen beiden Geschwistern, bei der Kollision nicht aus dem Auto geschleudert worden. Er hatte sich offenbar hinter den Sitz geduckt und erstaunlicherweise der Fliehkraft widerstanden. Die Eltern auf den Vordersitzen waren, trotz korrekt getragener Gurten, infolge der Aufprallwucht und der stark verformten Frontpartie sogleich tot, die Schwester war noch am Unfallort gestorben, der Bruder lag in hoffnungslosem Zustand auf der Intensivstation.

Wie es zum Unfall gekommen sei, fragte ich.

Der Kollege von der Polizei zeigte anhand einer Skizze, dass der Wagen, ein alter Toyota Kombi – natürlich ohne Airbag –, die Tunnelwand geschrammt habe, mit [16] mindestens hundert, schätze man, dann sei er zurückgeprallt, habe sich überschlagen, sei nach zirka hundertzwanzig Metern zum Stillstand gekommen, man könne von Glück reden, dass es im Belchentunnel keinen Gegenverkehr gebe und die nachfolgenden Fahrzeuge rechtzeitig gebremst hätten. Der Unfallwagen hingegen habe keine Bremsspur hinterlassen, ein halbes Wunder sei es, dass der Wagen nicht in Brand geraten sei. Der Kollege von der Polizei schlug mit der Faust auf die offene Hand: Der Vater müsse das Steuer herumgerissen haben und in einem Winkel von vielleicht sechzig Grad in die Wand gerast sein, anders sei der Unfallhergang nicht zu erklären.

Was dahinterstecke, fragte ich. Ein Sekundenschlaf? Betrunkenheit? Absicht?

Das werde sorgfältig abgeklärt, sagte der Mann von der Polizei, und vielleicht könnten ja meine Fachkenntnisse die Ermittlungen voranbringen.

»Ich bin nicht Ermittlerin«, sagte ich schroff, »ich kümmere mich lediglich um verletzte Psychen.«

Nun ja, entgegnete der Kollege, beinahe verlegen. Man könne in einem solchen Fall ohnehin niemanden mehr belangen. Obwohl es natürlich wünschenswert wäre, den genauen Hergang zu klären.

»Wie geht es dem Jungen?«, fragte ich.

Er habe bloß, sagte Doktor Wieland, ein paar Rippenprellungen davongetragen, eine leichte Gehirnerschütterung, vermutlich ein Schleudertrauma. Keine inneren Verletzungen, wenn man den Röntgenbildern trauen dürfe. Das sei, gemessen an den Kräften, die auf den Körper eingewirkt hätten, weder physikalisch noch physiologisch [17] erklärbar. Gegen die Schmerzen bekomme er Medikamente, man habe ihn mit einer Halskrause stabilisiert.

Er stehe aber nicht unter Schock, nahm die Abteilungsärztin den Faden auf, er sei im Gegenteil sehr redselig, richtig aufgedreht, und das wirke auf sie irgendwie unheimlich. Er erzähle dauernd von der Sonnenfinsternis, die er heute mit der Familie im Elsass gesehen habe, sie seien deswegen extra hingefahren wie viele andere, sechs Stunden hin und acht Stunden zurück. Das lasse eigentlich auf Übermüdung des Vaters schließen.

Diese Redseligkeit, widersprach ich, sei sehr wohl Sym-ptom eines Schocks, sie werde bald abklingen, und was darauf folge, sei nicht vorauszusehen.

»Meinen Sie?«, sagte die Abteilungsärztin irritiert. Sie habe jedenfalls dem Jungen, fuhr sie fort, zu den Schmerzmitteln ein leichtes Schlafmittel gegeben. Das habe nichts genützt, sie frage sich, ob man die Dosis erhöhen müsse, der Körper des Jungen brauche unbedingt Erholung. Was man seinem Geist zumuten könne, wisse sie nicht, für die brutale Wahrheit sei es wohl zu früh.

»Lassen Sie Frau Hess erst mit ihm reden«, sagte Doktor Wieland, wie immer mit grämlicher Miene. »Danach sehen wir weiter.«

Ob inzwischen schon Angehörige benachrichtigt worden seien, erkundigte ich mich, die Großeltern beispielsweise.

»Wir sind daran, die Adressen ausfindig zu machen«, sagte der Polizeipsychologe. »Der Unfall ist erst vor drei Stunden passiert. Wir wollten den Jungen nicht mit solchen Fragen zusätzlich belasten.«

»Wie viel hat er wohl vom Unfall mitbekommen?«

[18] »Schwer zu sagen«, erwiderte der Mann von der Polizei. »Er hat, wie es scheint, das Bewusstsein nie verloren, er lag ein paar Minuten im eingedrückten Wagen, bevor ihn Helfer heraushoben. Dass es sehr schlimm war, muss er realisiert haben. Aber es ist ja bekannt, dass in solchen Fällen das Kurzzeitgedächtnis oft nicht mehr funktioniert, bei Kindern noch häufiger, nehme ich an.« Sein belehrender Ton brachte mich gegen ihn auf; beinahe fiel ich ihm ins Wort. Ob man die Medien informieren werde, fragte ich am Ende der Sitzung. Vermutlich schon, antwortete Dr. Wieland, der Wortlaut müsse mit der Polizei abgesprochen werden.

»Und mit mir, sofern es um den Jungen geht«, ergänzte ich halblaut. Solche Sätze, die den Ablauf der Dinge erschwerten, pflegte Dr. Wieland zu überhören.

[19] 2

Vielleicht wird Yves diese Seiten später einmal lesen, dann soll er wissen, wie es war, als ich ihn kennenlernte. Man hatte für ihn ein Viererzimmer leer geräumt. Er saß aufrecht im Bett, an ein paar Kissen gelehnt, er schaute mir in einer Mischung aus Misstrauen und Neugier entgegen, stark zwinkernd, in großer Unruhe. Etwa achtjährig, notierte ich innerlich, fragiler Körperbau, mediterraner Gesichtstypus mit dunklem Teint, markante Augenbrauen, schwarze Locken. Was mir gleich auffiel: die Farbe seiner Augen, sie waren, selbst unter dem nüchternen Licht der Deckenlampe, von intensivem Dunkelbraun, in dem rötliche Reflexe spielten. An Kastanien dachte ich, an Moorwasser, in dem sich der Herbstwald spiegelt. Mit seiner grünen Halskrause glich er einem englischen Edelknaben auf einem Bild van Dycks. Nur das Weiß des Nachthemds passte nicht dazu, es hätte schillernder Samt sein müssen, meergrün, mit violettem Futter. Er wollte gar nicht wissen, wer ich war, begrüßte mich gleich mit der Frage: »Weißt du, was ein Saroszyklus ist?«

Ich schob den Stuhl beim Bett näher zu ihm hin und setzte mich. »Nein, das weiß ich nicht, weißt du es denn?«

Er versuchte zu nicken, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als es nicht ging. »Ein Saroszyklus dauert genau [20] tausendzweihundertsiebzig Jahre«, sagte er mit leicht nuschelnder Stimme, die Endsilben verschluckend. »Das hat mir Maurice erklärt, mein Bruder, der versteht viel von Astronomie. Und nach tausendzweihundertsiebzig Jahren ist der Mond zwischen Sonne und Erde wieder am gleichen Ort.« Yves zeichnete mit beiden Zeigefingern krumme Linien auf die Bettdecke, die sich über seine angezogenen Knie wölbte; die Finger entfernten sich voneinander, trafen sich wieder. »Und alle achtzehn Jahre und elf Tage, hat Maurice gesagt, gibt es wieder eine Sonnenfinsternis, aber sie verschiebt sich auf der Erdkugel immer um ein paar hundert Kilometer. Das ist kompliziert, nicht wahr? Maurice hat mir eine Zeichnung gemacht, da hab ich’s begriffen.«

»Hast du die Sonnenfinsternis wirklich gesehen?«, fragte ich.

Wieder versuchte Yves zu nicken, griff dann irritiert an die Halskrause, die ihn daran hinderte. »Wir sind auf einen Hügel gefahren«, sagte er. »Im Elsass, in der Nähe einer Stadt, die heißt Wissenburg oder so. Mein Papa hat sie uns auf der Karte gezeigt, sie war genau auf dem Falz. Unterwegs haben wir in einem Bistro Rast gemacht und etwas getrunken. Aber ich hab bloß einen Tee bekommen, weil mir ein bisschen schlecht war vom Autofahren, und dann hat Madlen, das ist meine Mutter, plötzlich gesagt, sie hält es nicht mehr aus in dieser öden Kolonne, da waren wir schon in Wissenburg, und Papa ist auf einen Hügel gefahren, wo es lauter Reben gab, die Trauben waren noch sauer, ich hab sie probiert, und Lisa, das ist meine Schwester, war wütend auf Mama, ich weiß nicht, warum, und wollte erst [21] nicht aussteigen und dann doch, da war das Wolkenloch genau über unseren Köpfen.«

Yves hatte sich beinahe in Atemnot geredet, und mir schien eine Zeitlang, er dulde nicht die geringste Lücke zwischen den Wörtern. Doch nun schnappte er nach Luft, presste zugleich die Hand auf die Brust und sagte: »Das tut weh da drin, es sticht.«

»Die Rippen tun dir weh«, sagte ich. »Du hattest einen Unfall.« Es war der erste Hinweis auf das reale Geschehen, ich wollte einer vollständigen Verleugnung vorbeugen.

Yves zwinkerte. »Tut es morgen schon weniger weh?«

»Bestimmt. Und sonst bekommst du ein stärkeres Schmerzmittel.«

Er schniefte ein wenig, er hatte sich mit seiner bekümmerten Miene für Sekunden in ein Kleinkind verwandelt. Ich legte meine Hand auf sein Knie, aber er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen, und streckte unter der Decke die Beine aus, obwohl diese Lage für ihn unbequemer sein musste.

»Und was habt ihr gesehen im Wolkenloch?«, fragte ich.

»Zuerst noch eine Sichel, ganz schmal, und drum herum Flammen, die haben richtig gezüngelt. Dann war bloß noch eine schwarze Scheibe da mit einem Strahlenkranz. Weißt du, wie der heißt? Das ist die Korona.« Es freute ihn, sich an dieses Wort erinnert zu haben, er zog den Mund in die Breite wie ein Clown, aber es war eher eine Lachgrimasse, die mich erschreckte.

»Unheimlich ist es gewesen, so dunkel, dass wir nicht mal die Schutzbrillen brauchten, die Maurice für uns besorgt hatte. Und kühl war es, ganz plötzlich, ohne Wind. [22] Die Leute haben alle geklatscht, der Hügel war voll von Leuten. Wie ein schwarzes Auge ist die Sonne gewesen, hat Papa nachher gesagt. Aber dann war das Wolkenloch schon zu, man hat nicht mehr gesehen, wie die Sonne wieder hervorkam. Es ist ja der Schatten vom Mond, der die Finsternis macht, weißt du das?«

Ich nickte und schaute auf meine Armbanduhr: knapp vor Mitternacht, zwölf Stunden war es jetzt her seit der totalen Finsternis, die höchstens zwei Minuten gedauert hatte, und Yves zeigte keine Spur von Müdigkeit.

»Und dann? Seid ihr gleich zurückgefahren?«

»Nein.« Er machte mit der Hand eine Bewegung, als fange er eine Fliege. »Später schon. Aber zuerst haben wir uns ins Auto gesetzt für unser Picknick. Dort drin war es schön trocken. Draußen im Gras hab ich sowieso schon nasse Füße gekriegt. Es gab Sandwiches, die hat Mama am Morgen früh gemacht, Sirup gab es auch und nachher einen Apfel.« Er verzog abschätzig das Gesicht, und ich sagte: »Du hättest lieber einen Hotdog gehabt und Eistee dazu. Stimmt’s?« Er versuchte wieder zu nicken und ging auf mein Spiel ein, indem er mit dem Finger verschwörerisch auf die Lippen tippte. »Oder wenigstens Salami im Sandwich und nicht bloß Schmelzkäse. Und zum Dessert einen Schokoriegel. Aber Mama muss sparen, weil Papa nicht so viel verdient. Für drei wär’s genug, sagt Mama, für fünf wird es knapp.«

»Und jetzt?«, fragte ich. »Hast du wieder Hunger? Ich kann sicher irgendwo noch etwas auftreiben für dich.«

Er wedelte abwehrend mit der Hand, über die sich – das sah ich erst jetzt – eine mit Jod überpinselte Schürfung zog. [23] »Ich mag nichts essen. Und getrunken habe ich schon. Sie haben mir ein großes Glas Cola gegeben, und zwei Tabletten hab ich geschluckt.«

Braver Bub, hätte ich am liebsten gesagt und ihm die verschwitzten Haare aus seiner Stirn gestrichen, er war ja so bedürftig nach Bestätigung, nach der Wiederherstellung seines Koordinatennetzes. Dass es zerrissen war, zerfetzt, das wusste er zuinnerst, und ich verwünschte mich dafür, dass mir die Aufgabe zufiel, ihm dies begreiflich zu machen.

»Im Auto drin, beim Picknick«, sagte ich, »da stelle ich mir’s gemütlich vor.«

Er hauchte an seine Hand. »Die Scheiben haben sich beschlagen. Man sah gar nicht mehr hinaus. Mama hat sich geärgert wegen der Krümel auf dem Polster. Es bleibt sowieso alles wieder an ihr hängen, hat sie gesagt. Dabei hat Maurice die Verantwortung fürs Polstersaugen und ich für den Meerschweinchenstall. Wir vergessen viel zu oft unsere Pflichten, sagt Mama. Das ist Maurice egal. Aber als wir im Auto picknickten, hat er gesagt, mit dem Wissen von heute wäre er früher reich geworden. Alle hätten doch bei der Finsternis geglaubt, die Sonne bleibe verschwunden. Er hätte einfach behauptet, er sei ein mächtiger Magier, er hätte ein paar Sprüche gemurmelt, und schon wäre die Sonne wieder hervorgekommen. Das Volk hätte gejubelt, der König hätte ihn belohnt, und wenn er genug Geld hätte, hat Maurice gesagt, würde er es unter uns verteilen, und für sich würde er ein Teleskop kaufen, wegen der Jupitermonde.«

»Und du?«, fragte ich. »Was würdest du dir kaufen mit so viel Geld?«

[24] »Alle Panini-Bildchen«, sagte er, ohne zu zögern. »Mir fehlen noch ein paar vom letzten Jahr. Und ein Trikot von Ronaldo möchte ich. Den Ball vom WM-Endspiel mit allen Autogrammen. Der ist praktisch unbezahlbar.«

»Bist du ein so großer Fußballfan?«

Seine Augen leuchteten auf. »Klar. Ich bin der beste Dribbler in meiner Klasse, ich werde mal Fußballprofi, und dann verdiene ich viel Geld, und damit kann ich den besten Doktor und die besten Medikamente bezahlen. Es kostet nämlich viel Geld, eine Migräne richtig zu behandeln, das haben wir nicht, darum muss Mama so viel liegen, auch tagsüber, und dann müssen die Vorhänge im Schlafzimmer zugezogen bleiben, ganz dicht.«

Bis um Viertel nach eins blieb ich bei Yves. Er redete und redete, der kleinste Anstoß von meiner Seite brachte dieses Reden wieder in Gang, als verlöre die Spannung, die ihn antrieb, gar nichts von ihrer Energie. Es würde, dachte ich, noch lange dauern, Tage und Wochen, bis ihm die Tränen kämen, aber ich selbst war nahe am Weinen, wenn ich daran dachte, was ihm bevorstand, und zugleich ermahnte ich mich zu einer professionellen Haltung. Es nützt unseren Klienten nichts, wenn wir vor Mitleid zerfließen.

Yves erzählte noch mehr, schubweise und sprunghaft. Er erzählte, auf der Rückfahrt habe sich die Mutter hinten halb hingelegt, wegen der Migräne, und er habe ihren Nacken massiert, das könne er gut, auch Fußballer würden massiert, wenn sie Muskelverhärtungen hätten, nur den Hals habe er nicht berühren dürfen – als Yves das sagte, stockte er –, der Hals habe ihr weh getan, sie habe sich an einer [25] Türkante gestoßen, und das habe blaue Flecken gegeben, darum habe sie an diesem Tag den indischen Seidenschal gar nie abgelegt und ihn sogar getragen wie ein Kopftuch, einen langen blauen Seidenschal mit goldenem Muster, Blau sei Madlens Lieblingsfarbe, seine sei Gelb, wie die Trikots der brasilianischen Nationalmannschaft. Madlen habe einen blauen Morgenmantel und er ein gelbes Pyjama, und wenn es ihr zu stickig werde im Schlafzimmer oder wenn Rico, sein Vater, zu arg schnarche, dann komme sie zu ihm, zu Yves, sie lege sich auf die Luftmatratze neben seinem Bett, und am Morgen, beim Erwachen, würden sie sich manchmal eine Kitzelschlacht liefern, nein, keine Kissenschlacht, eine Kitzelschlacht, und die gehe so, dass sie einander an den Fußsohlen oder unter den Achseln kitzelten, und wer zuerst aufhören wolle, habe verloren. Das finde Maurice kindisch, und auch mit dem Vater hätten sie deswegen schon Streit gehabt. Es sei aber nicht gut, dass es so viel Streit bei ihnen gebe, das sage auch Frau Schneider, zu der sie manchmal am Mittwochnachmittag gehen müssten, um Probleme zu besprechen. Probleme hätten alle, sage Frau Schneider, es komme bloß darauf an, ihnen ins Auge zu blicken. Die sei nett, die Frau Schneider, ein bisschen wie ich. Nur der Papa wolle nicht mit zu ihr, das sei Zeitverschwendung, sage er, aber Madlen beklage sich, wenn der Papa nicht mitwolle, und dann gebe es trotzdem wieder Streit.

So redete Yves – ungefähr so –, reihte Einzelheiten aneinander, die allmählich das Bild einer schwierigen Familie ergaben. Er blieb dabei hauptsächlich in der nahen Vergangenheit, nur hin und wieder streifte er die Gegenwart. Alles [26] aber, was die nächste Zukunft anging, hielt er von sich fern. Als ich selbst immer müder wurde, unterbrach ich ihn und fragte, wohin er am liebsten gehen möchte, wenn er unter Umständen nicht nach Hause zurückkönne.

Er zwinkerte und schnüffelte kurz, faltete die Hände, knetete sie, als wolle er die Frage zerquetschen, und schwenkte, ohne eine Antwort zu geben, zurück zur Fahrt ins Elsass und zur Ansicht von Maurice, dass die lange Strecke zwischen Bern und Wissembourg (so heißt das Städtchen korrekt, heute weiß ich es), verglichen mit den Distanzen im Weltall, bloß eine Winzigkeit sei, ein Millionstelmillimeter. Es könne sein, fügte er hinzu, dass sein Bruder einmal Astronom werde oder sogar Astronaut, der wisse so viel über diese Dinge.

Yves begann nun doch zu gähnen, klagte über Schmerzen in der Brust und über Kopfweh. Ich löschte das Deckenlicht, ließ nur noch die Bettlampe brennen, so dass sein Gesicht sich in Schatten und Licht teilte. Ich klingelte nach der Schwester, und als sie nicht gleich kam, erkundigte ich mich vorsichtig nach Yves’ Großeltern; die würden ihn vielleicht morgen oder übermorgen besuchen, wenn er das wolle. Die Nonna schon, sagte er, oder die Tante Julia, aber die Großmutter, die Mutter von Madlen, sei vor zwei Jahren gestorben.

Endlich kam die Nachtschwester herein, ein junges Ding mit einer dieser modischen Stachelfrisuren. Sie wirkte schuldbewusst; vermutlich hatte sie mit ihrem Freund telefoniert. Wie routiniert sie schon sind in diesem Alter! Sie lächelte knapp an mir vorbei, gab Yves die Tabletten, die der Arzt für diesen Fall vorgesehen hatte. Er beruhigte [27] sich rasch, sank ein wenig zurück in seinen Kissenberg, die Schwester rückte die Halskrause zurecht.

»Ich gehe jetzt«, sagte ich, »morgen komme ich wieder.«

Yves winkte mich zu sich, nah an seinen Mund, und während erneut ein Helikopter herandröhnte, flüsterte er mir ins Ohr: »Du musst unbedingt meine Meerschweinchen füttern, jetzt noch, die verhungern sonst.«

»Jetzt noch?«, fragte ich. »Um diese Zeit? Das ist bestimmt nicht nötig. Du brauchst keine Angst zu haben, die überleben länger, als du denkst.«

Er versuchte den Kopf zu schütteln und versteifte sich. »Ich hab’s schon am Morgen vergessen. Jetzt ist es höchste Zeit. Mama hat gesagt, sie nimmt mir die Verantwortung nicht mehr ab, und von den andern hat sie auch keiner gefüttert, weil der Käfig ja in meinem Zimmer steht. Du kannst nebenan bei Vera klingeln. Sie hat einen Schlüssel von uns.«

Ich zeigte auf meine Armbanduhr. »Siehst du hier? Ein Uhr nachts. Da kann man doch nicht einfach Leute aus dem Bett holen. Vielleicht hat Vera die Meerschweinchen schon von sich aus gefüttert.«

»Nein, das macht sie nur, wenn wir sie darum gebeten haben. Bitte,« sagte er in immer dringlicherem Ton. »Sie heißen Nougat und Speedy, es sind zwei Männchen, mit einem Pärchen hätten wir dauernd Junge. Bitte, bitte, geh noch hin.« Er nannte zweimal die Adresse.

Ich nickte, nur weil ich es nicht ein drittes Mal hören wollte, denn Straße und Hausnummer zu nennen bedeutete ja das Einverständnis zwischen uns, dass bei ihm zu Hause niemand war außer den verlassenen Tieren.

[28] »Also gut«, willigte ich ein. »Dir zuliebe.«

Er dankte. Der Helikopter, der inzwischen gelandet war, flog wieder weg. Im sprossenlosen Fenster funkelte eine Handvoll Sterne, darunter lag die Stadt, von einzelnen Lichtpunkten durchstochen. Yves wollte noch etwas sagen, dann aber fielen ihm die Augen zu, er atmete langsamer und flacher.

»Armes Kerlchen«, sagte die Nachtschwester, die sich auf den Bettrand gesetzt hatte und nach Zigaretten roch. »Was wird wohl aus ihm? Ich werde eine Zeitlang bei ihm wachen.«

»Tun Sie das«, sagte ich.

In einem großen Krankenhaus ist es auch mitten in der Nacht nie wirklich ruhig. Patienten geisterten auf den Gängen herum. Der Lift glitt summend durch die Stockwerke. Aus der Cafeteria hörte ich Klirren, halblaute Stimmen. Und im Operationssaal, das sagten die roten Lampen, die den Zutritt verboten, ging es um Leben und Tod. Irgendwo lag Maurice, Yves’ Bruder, angeschlossen an Apparate, die ihn am Leben erhielten, vielleicht war er es, der eben operiert wurde, vielleicht war er schon tot.

Ich fand den Weg ins Freie, ging eine Weile zu Fuß, am Parkplatz vorbei, auf dem nur ein paar Autos standen, versteinerte Amphibien. Von den Pappeln her, die den Platz säumten, roch es eigentümlich streng. Ich zögerte eine Weile, beschloss dann aber, mein Meerschweinchen-Versprechen nicht zu halten. Es würde, sagte ich mir, niemandem nützen, jetzt noch die Nachbarn von Yves zu erschrecken. Morgen früh, bevor ich zu ihm zurückkehrte, würde [29] ich die Tiere füttern. Mit dem Handy, das ich mir von Helene ausgeliehen hatte, bestellte ich ein Taxi, wartete, umgeben vom Rauschen der Stadt, auf einer Parkbank, bis es eintraf.

Die Töchter schienen in ihren Zimmern zu schlafen, sie hatten vergessen, den Fernseher abzustellen, ein blaues Flimmern im Wohnzimmer wie unruhiger Mondschein. Alice – wer sonst? – hatte nach der späten Heimkehr den Kühlschrank geplündert. Halb zerknülltes Käsepapier lag auf dem Küchentisch, Brotkrümel sprenkelten ihn; immerhin hatte Alice dieses Mal die Kühlschranktür nicht offen gelassen. Ich nagte an einem Stückchen Käserinde, das übriggeblieben war, dachte an die Brote, die Yves’ Mutter noch heute Morgen – nein, gestern – gestrichen hatte. Überhaupt gelang es mir nicht, den Jungen mit der Halskrause aus meinen Gedanken zu vertreiben.

Da stand plötzlich Alice vor mir, meine knochige, viel zu schnell gewachsene Tochter im Pyjama. Verschlafen – oder eher übernächtigt – schaute sie mich an, murmelte, sie habe Durst, füllte sich am Hahn ein Glas mit Wasser, trank es in einem Zug wie zu der Zeit, als sie mir bis zu den Knien reichte.

»Du bist zu spät heimgekommen«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.

»Und warum musstest du noch weg?«, fragte sie träge.

 »Ein Unfall auf der Autobahn. Der hat, so wie’s aussieht, einer ganzen Familie das Leben gekostet. Überlebt hat vermutlich nur der achtjährige Junge, zu dem man mich gerufen hat.«

»Ach das.« Alices Ton war beinahe wegwerfend. »Das [30] haben sie in den Nachrichten gemeldet. Weiß er es schon? Der Junge, meine ich.«

»Was heißt Wissen in diesem Zusammenhang? Er ahnt es, denke ich. Und wie lange er sich weigern wird zu wissen, weiß ich nicht.«

Alice wiegte ironisch den Kopf. »Ich habe eine kluge Mutter, dafür sollte ich dankbar sein, nicht wahr?«

»Provoziere mich jetzt nicht«, sagte ich. »Ich bin viel zu müde zum Streiten. Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

Alice bewegte sich nicht vom Fleck, zupfte bloß an ihrem Pyjama herum. »Tu doch nicht so, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, Ma. Du weißt ja selbst, dass das Leben ganz anders ist.«

»Es kann durchaus sein«, sagte ich, »dass du unterschätzt, wie wichtig Hausaufgaben sind. Oder dass du die Härte deines Schädels überschätzt. Sonst würdest du nämlich beim Rollerfahren einen Helm tragen.«

Sie zog eine verächtliche Grimasse, die ich von früh auf an ihr kenne, eine Art Schnute mit linksseitig vorgeschobener Unterlippe, sie starrte mich an, als hätte ich etwas Schlimmes gesagt, und plötzlich liefen Tränen über ihre Wangen. Sie weinte beinahe lautlos, mit hilfesuchendem Ausdruck, ihre Lippen zitterten.

»Um Gottes willen, was hast du denn?« Ich trat auf sie zu und wollte sie, was ich lange nicht mehr getan hatte, in die Arme schließen. Doch sie streckte eine Hand aus, um mich vom Leib zu halten, sie schüttelte den Kopf, schüttelte ihn immer heftiger, stieß plötzlich hervor: »Männer sind schrecklich! Schrecklich!« Dann drängte sie sich an mir vorbei, stampfte auf nackten Sohlen hinauf in ihr Zimmer, [31] ich hörte, dass sie die Tür abschloss. Eine unglückliche Liebe also. Ging es um den Typen auf dem Roller, um den sie die Arme geschlungen hatte? Vielleicht würde ich es später erfahren, und dann eher von Helene als von Alice. Denn immerhin vertrauten sich die Schwestern in der Not einander an, und indirekte Nutznießerin solcher Geschwisterlichkeit war dann manchmal auch ich, sofern die eine weiterschwatzte, was sie von der anderen wusste. Zum Thema Männer hätte ich einiges beitragen können. Wer vom einen Mann verlassen worden ist, den anderen durch plötzlichen Herztod verloren hat, darf sich als Spezialistin in solchen Fragen bezeichnen. Aus eigener Trauerarbeit, so habe ich’s gelernt, schöpfe man die Kraft, fremdes Leid wahrzunehmen, aber man dürfe sich nicht davon überschwemmen lassen. Einfühlung und Abgrenzung, das A und O meiner Berufsarbeit. Nun ja, theoretisch mag das stimmen. Doch an der eigenen Brut versagt das psychotherapeutische Handwerk glorios.

Ich überlegte kurz, ob ich Adrian anrufen sollte, den Vater von Alice. Manchmal – in letzter Zeit wieder häufiger – trieb es mich dazu, meine Sorgen vor ihm auszubreiten. Er hörte mir meistens zu, Alice, die ihn kaum noch treffen wollte, machte ihm ebenso zu schaffen wie mir. Das ergab jeweils, gerade um Mitternacht, genügend Gesprächsstoff. Aber dieses Mal ließ ich es bleiben. Ungetröstet ging auch ich zu Bett und war erleichtert, als mir nach längerer Schlaflosigkeit die beiden Meerschweinchennamen wieder einfielen: Speedy und Nougat.

[32] 3

Ein grauer Morgen. Knuspermüsli. Abweisende Gesichter. (Das stimmt nicht ganz: Als ich Helene die Zuckerdose reichte, lächelte sie mich flüchtig an.) Der Zeitungstitel zur gestrigen Finsternis: Naturspektakel des Jahres. In Stuttgart hatten sich eine halbe Million Schaulustige zusammengefunden, die aber verregnet wurden und beinahe nichts zu sehen bekamen. Die beste Sicht, so las ich, hatte man in einem schmalen Gürtel zwischen Saarbrücken und Metz. Wo Wissembourg lag, hatte ich auf meiner Michelinkarte schon nachgeschaut, nicht weit von Colmar. Dort, im Museum Unterlinden, hatte mich vor vielen Jahren der Isenheimer Altar beinahe dazu gebracht, Kunstgeschichte zu studieren. Sogar jetzt dachte ich einen Augenblick lang an meine damalige Erschütterung. Unter Vermischtem, auf der letzten Seite, gab es zwei Spalten über den Unfall mit einem verschwommenen Bild vom zusammengedrückten Toyota. Es war ein wirrer Haufen Blech. Dass darin jemand überlebt hatte, grenzte in der Tat an ein Wunder. Ich überflog den Artikel, der sich offenbar auf ein behördliches Communiqué stützte. Eine Untersuchung zur Unfallursache, stand im letzten Abschnitt, sei im Gang; man gehe davon aus, dass der Familienvater am Steuer, ein Dokumentalist im Bundesdienst, übermüdet [33] gewesen sei. Von einer Tragödie war die Rede. Die Familie, nahezu ausgelöscht nun, sei in ihrem Wohnquartier äußerst beliebt gewesen. Noch gestern Nacht musste die Journaille ausgeschwärmt sein, um Material zusammenzutragen. Wer hatte ihnen Yves’ Namen verraten? Es entspricht meiner Erfahrung, dass bei der Polizei und beim Krankenhauspersonal regelmäßig jemand plaudert.

Während ich las, repetierte Alice, mit dem Englischbuch neben der Teetasse, murmelnd die Vokabeln, die heute abgefragt wurden, und ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass man genau auf solche Weise das Gymnasium verpatze, womit die Stimmung am Tisch auf null Grad sank. Vielleicht war meine Laune auch nur deshalb so schlecht, weil mir klargeworden war, dass Dr. Wieland mich neuerlich übergangen hatte. Das Communiqué hätte mir vorgelegt werden sollen, es gehörte zu meinen Pflichten, darüber zu urteilen, ob die Veröffentlichung bestimmter Fakten die von mir betreuten Personen psychisch belasten könnte, und hierbei zog ich besonders bei Kindern die Grenzen sehr eng. Man hatte es also im Koordinationsteam von Polizei und Sanität wieder einmal zustande gebracht, die lästige Psychotante auszuschalten. Yves’ Namen hätte ich auf jeden Fall anonymisiert; es würde weiß Gott sonst noch genug auf ihn zukommen.

Trotz der kühlen Temperatur trug Alice nur ein enganliegendes dunkelviolettes T-Shirt mit aufgedrucktem, von Rosen umgebenem Totenkopf. Mein Zureden hatte nichts genützt; sie bestand darauf, dieses T-Shirt auch in der Schule zu tragen. »Stress mich nicht«, sagte sie, und als sie gegangen war, fragte Helene, ob ich die dunklen Ringe [34] unter Alices Augen gesehen habe, das komme vom fehlenden Schlaf.

»Eher vom Liebeskummer«, erwiderte ich, und Helene errötete zu meiner Verblüffung.

Ich hatte versprochen, die Meerschweinchen zu füttern. Doch vorher rief ich im Krankenhaus an und fragte, wie der Junge die Nacht verbracht habe. Er habe kaum geschlafen, meldete mir Melanie, die burschikose Assistenzärztin aus dem Wallis, die den Dienst um sieben Uhr früh angetreten hatte (ich kannte und mochte sie), er habe, laut Nachtschwesterrapport, immer wieder über Schmerzen geklagt. Um drei Uhr morgens habe sich die Großmutter bei der Notfallaufnahme gemeldet, offenbar seien doch nahe Verwandte in der Nacht von der Polizei benachrichtigt worden. Die Frau habe unter Schock gestanden und selbst Hilfe benötigt. Man habe sie nur mit Mühe davon abhalten können, zu Yves vorzudringen und ihn, so sarkastisch drückt Melanie sich manchmal aus, mit Tränen zu überschwemmen. Man habe für sie ein Notbett bereitgestellt.

»Wie geht es dem Bruder?«, fragte ich.

»Er liegt im Sterben«, sagte Melanie. »Eine Sache von Stunden.«

»Dann wird der Kleine der einzige Überlebende sein. Lasst keine Verwandten zu ihm, bis ich da bin.«

»Wir tun unser Möglichstes«, sagte sie.

Wohin ich zuerst noch gehen würde, verschwieg ich ihr. Versprochen ist versprochen.

Das Reiheneinfamilienhaus lag am Hang. Dreißiger Jahre, Typus Genossenschaftssiedlung, die Vorgärten für [35] Selbstversorger sind heute größtenteils in Rasen mit Blumenrabatten verwandelt. Ich war auf dem Rad ins Schwitzen geraten, absteigen wollte ich nicht. Es ging gegen halb neun, Sommermorgengerüche, die Blätter des Rhododendrons noch nass, Pfützen auf dem Gartenweg. Die Fassade machte einen heruntergekommenen Eindruck, die Fenster waren alt, bestimmt undicht. Ganz anders der Hausteil nebenan, in dem nach Yves’ Beschreibung die Nachbarin mit dem Schlüssel wohnen musste. Dort war der Anstrich frisch, es gab einen Wintergarten mit spiegelndem Glas und Aluminiumstreben.

Auf mein Klingeln wurde augenblicklich geöffnet, als hätte man mir aufgelauert. Die Nachbarin Vera wirkte androgyn mit ihren kurzen grauen Haaren, der hageren Figur, dem schlottrigen Pullover.

»Ich gebe keine Auskunft«, sagte sie und wollte die Tür gleich wieder schließen. Sie ließ sie offen, als ich Namen und Funktion genannt hatte. »Entschuldigung. Vorhin waren die vom Fernsehen da. Und am Morgen früh hat, weiß Gott warum, die Polizei das Haus durchsucht.« Sie musterte mich unsicher. »Dürfen die das?«

»Vermutlich schon«, antwortete ich und gab mir Mühe, meinen Ärger herunterzuschlucken. »Die Koordination der beteiligten Teams lässt leider häufig zu wünschen übrig.«

Sie ließ die Türklinke los, die sie bis dahin umklammert hatte, und ihr Arm fiel hinunter wie ein nutzloser Gegenstand. »Es ist schrecklich.« Ihre Stimme klang plötzlich weinerlich. »Einfach schrecklich. Wer hätte das gestern gedacht? Sie waren so fröhlich, als sie wegfuhren.«

[36] Weiter drüben schaute jemand zum Fenster heraus. Schreckensnachrichten verbreiten sich rasch, man weiß manchmal gar nicht, wie. Ich sagte, weshalb ich hier sei und in wessen Auftrag, und kam mir selbst dabei lächerlich vor.

Die Frau – Schärer stand auf dem Türschild – starrte mich entgeistert an. Die Meerschweinchen, ach so? An die habe sie in der Aufregung auch nicht gedacht. Warum ich nicht einfach angerufen hätte? Das wusste ich auch nicht. Aber jetzt war ich hier, ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und das Haus war, wie sich zeigte, von den Behörden noch nicht versiegelt worden.

Vera – ich nannte sie innerlich so – holte den Schlüssel, öffnete die Tür nebenan. Man konnte über den niedrigen Zaun steigen, statt einen Umweg zu machen. Es roch modrig im Haus, nach fauligem Grünabfall und ungelüfteten Betten. Die Kleiderhaken im Vorraum waren vollgehängt mit Jacken und Mänteln, einzelne waren zu Boden gefallen, bildeten Haufen, zwischen denen Schuhe standen. Schuhe füllten auch zwei Gestelle an der Wand, unendlich viele Schuhe, so schien mir, darunter dreckige Stöckelschuhe, abgelaufene Pumps, Schuhe ohne Bändel, Schuhe mit zerrissenen Nähten, Schuhe mit hineingedrückter Zunge, sogar Babyfinken lagen irgendwo. Man musste die Füße heben, um nicht darüber zu stolpern.

»So sieht… so sah es hier leider immer aus«, sagte Vera. »Madlen hat dauernd gegen das Chaos gekämpft. Aber Rico hat sie zu wenig unterstützt.«

Vera folgte mir unaufgefordert, und ich war so konsterniert, dass ich es zuließ. »Haben Sie übrigens einen [37] Ausweis?«, fragte sie plötzlich. »Sie könnten sich ja tarnen, um exklusiv zu Bildern zu kommen.«

Ich zeigte ihr meinen Spitalausweis mit Foto und Titel, das schien ihr glaubwürdig genug.

Am Fuß der Treppe, die in den ersten Stock führte, lag ein Berg Wäsche, darauf ein verbogener Kartonflügel, goldfarben besprayt, mit Glimmer verziert. Wir taten so, als gäbe es ihn nicht. Auch in Yves’ Zimmer herrschte ein Durcheinander, das unter anderen Umständen fröhlich gewirkt hätte. Hier roch es nach Tier. Die Kiste, in der es heftig raschelte, stand neben dem ungemachten Bett. Verstreute Grashalme auf dem Spannteppich, Stofftiere – ein Dutzend oder mehr – auf und neben dem Kopfkissen. Eine aufgepumpte, leuchtend rote Luftmatratze war nachlässig an die Wand gestellt, ihr gegenüber hing ein Poster: die brasilianische Fußball-Nationalmannschaft in kanariengelben Trikots. Den glatt geschorenen Ronaldo erkannte sogar ich. Speedy und Nougat beschnupperten die Hand, die ich zu ihnen hineinstreckte.

»Achtung«, sagte Vera hinter mir, »sie können beißen.«