Finstermoos 1 - Aller Frevel Anfang - Janet Clark - E-Book

Finstermoos 1 - Aller Frevel Anfang E-Book

Janet Clark

5,0

Beschreibung

"Finstermoos" ist die neue Thrillerserie von Bestseller-Autorin Janet Clark, die neben ihren Jugendbüchern auch erfolgreiche Spannung für Erwachsene schreibt ("Ich sehe dich" und "Rachekind"). Atemberaubender Nervenkitzel und Spannung für alle Fans von Krystyna Kuhns "Das Tal"! Auf der Baustelle seines Vaters findet Valentin den Körper eines vor vielen Jahren verstorbenen Babys. Sofort strömen Journalisten in das idyllisch gelegene Bergdorf, darunter auch Armina Lindemann mit ihrer 19-jährigen Tochter Mascha. Schon bald werden Valentin und Mascha Opfer seltsamer und lebensbedrohlicher Unfälle, dann verschwindet Maschas Mutter spurlos. Mascha glaubt nicht an einen Zufall - hat die Journalistin bei der Recherche für ihren Artikel etwas herausgefunden, was sie nicht wissen soll? Gemeinsam mit Valentin und zwei weiteren Freunden sucht sie nach ihrer Mutter und rührt damit an ein lange verborgenes Geheimnis, das jemand um jeden Preis zu schützen versucht. "Aller Frevel Anfang" ist der erste Band der Finstermoos-Reihe. Mehr Infos rund um Finstermoos unter: finstermoos(Punkt)de

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Für Bärbel   Danke für deinen Einsatz, wann immer es brennt.

7.August – 15:33Uhr

1

Was immer es ist, lass es keinen Toten sein!

Der süßliche Geruch setzt sich in seiner Nase fest, lässt ihn würgen. Valentin vergräbt das Gesicht im Kragen seines T-Shirts. Wie soll er bei diesem Gestank denken können? Wenn er wenigstens sehen könnte, was hier so stinkt. Verwesende Knochen? Winzige, zarte Babyknochen? Er schüttelt den Kopf, will das Bild loswerden. Vergeblich. Er sieht den verschlissenen Teddybären. Den stummen Wächter des Babys. Er hätte ihn als Warnung begreifen sollen. Werden ihre Skelette jetzt ebenso unbemerkt verwesen?

»Val, wie weit bist du?« Bastis Stimme hallt durch das undurchdringliche Schwarz des Bunkers.

»Keine Ahnung.« Er lässt seine Finger wieder über die kalte Wand gleiten. Der nächste Schritt. Und noch einer. Gleich müsste er die Tür erreichen. Seine Finger streifen etwas Weiches, Klebriges. Er zieht sie zurück. Reiß dich zusammen! Das sind nur Spinnweben. Er atmet tief ein und aus. Spürt, wie die warme Luft sich feucht in seinem T-Shirt sammelt. Zögerlich berühren seine Finger wieder die Wand.

Geh weiter.

Unter seinem Schuh knackst etwas. Valentin reißt den Fuß hoch. Was liegt da am Boden? Eine Assel? Knochenreste?

Weiter!

Tasten. Schritt. Tasten. Schritt.

Endlich. Die Tür. Er tastet den kalten Stahl ab, stemmt sich dagegen.

Nichts.

Verdammt! Was hat er sich gedacht? Dass er die Stahltür wie Superman wegschnippt? Selbst gemeinsam würden sie die Konstruktion seines Vaters keinen Millimeter bewegen können.

Zwei Wochen vorher 24.Juli2

»Im Mittelalter hätten sie dich als Hexer verbrannt.« Luzies Finger strichen über die extraglatte Haut seiner Narbe. Senkrecht nach unten, dann waagerecht von links nach rechts. Ein umgedrehtes Kreuz, etwa fünf Zentimeter groß und so nah am Herzen, dass sie sein gleichmäßiges Pochen spürte.

»Wir leben aber nicht im Mittelalter.« Ohne sich von der Stelle zu rühren, tastete Basti auf den staubigen Holzbohlen nach seinem T-Shirt.

Sie bohrte ihren Finger in seine Brust. »Schon so spät?«

»Zu spät.« Er löste ihren Finger, küsste ihn und legte ihn auf ihren Bauch. Dann stand er auf, sein Kopf verschwand in dem engen weißen T-Shirt. Er streifte es über seinen Oberkörper, streckte eine Hand nach ihr aus und zog sie hoch, zog sie an sich, als wollte er sie küssen. Sie schloss die Augen, doch seine Lippen streiften nur flüchtig ihre Wange, verharrten einen winzigen Moment an ihrem Ohr.

»Morgen um die gleiche Zeit?«

Eine Frage. Auch wenn Basti nicht einmal ihre Antwort abwartete, bevor er sich an den Abstieg machte. Wozu auch, er wusste, dass sie kommen würde. So wie gestern. Und vorgestern. Und die Tage davor. Die Wochen. Monate. Fünf, um genau zu sein.

Ein lautes Knacken, dann ein dumpfer Aufprall – er war also wieder gesprungen.

Sie stellte sich an die Fensteröffnung und sah ihm nach. Mit der Leichtigkeit einer Raubkatze sprintete er zum Waldrand, schwang sich auf sein Mountainbike und raste das gelb schimmernde Sonnenblumenfeld entlang Richtung Dorf. Schon erreichte er die Biegung und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

Luzie seufzte und stieß sich vom Fensterrahmen ab, verharrte in der Bewegung. Warum war das Zwitschern der Vögel verstummt? Sie kniff ihre Augen zusammen, scannte das dichte Unterholz.

Nichts.

Sie drehte sich um und betrachtete das Baumhaus. Die rohen Bretterwände mit den bunten, mannshohen Blumen, die sie über alle vier Seiten gemalt hatte. Die alte Matratze mit den zusammengewürfelten Kissen und Decken.

Ihr Liebesnest.

Sie nahm die verknüllte Decke von der Matratze und schüttelte sie aus. Bastis Käppi fiel auf den Boden. Sie stippte mit dem Fuß dagegen.

Typisch. Warum sollte er mit ihrem Geburtstagsgeschenk schonender umgehen als mit ihr? Sie bückte sich, hob das Käppi auf und setzte es sich verkehrt herum auf den Kopf.

Pah! Liebesnest.

Sie legte die Decke zusammen, Ecke auf Ecke, Rand auf Rand.

Verdammt! Die Decke flog gegen die Holzwand, rutschte zu Boden und blieb gekrümmt wie ein alter Tierkadaver liegen. So lange hatte sie auf ihn gewartet. So lange gehofft und geträumt und nun? So hatte sie sich ihre Beziehung nicht vorgestellt. Sie war siebzehn, er sogar achtzehn und sie versteckten sich wie Kinder, die heimlich ein verbotenes Spiel spielten.

Warum konnten sie nicht richtig zusammen sein, so ganz offiziell? Sie liebten sich doch. Hand in Hand durchs Dorf zu laufen – war das wirklich zu viel verlangt?

Offenbar. Bestimmt litt er schon an Dauermigräne, so oft, wie sie ihm ihre Bitte an den Kopf geworfen hatte. Aber solange ihre Väter sich offen bekriegten, würde Basti sich nicht zu ihr bekennen. Egal, was sie sagte.

Luzie stupste mit dem Fuß gegen die Decke und kickte sie auf die Matratze zurück. Wenn sie sich wenigstens mit jemandem beraten könnte! Jemandem, bei dem ihr Geheimnis sicher wäre.

Valentin zum Beispiel.

Mit ihm könnte sie reden. Er würde sie verstehen. Verdammt, Val, höchste Zeit, dass du deinen Arsch von Berlin nach Finstermoos bewegst! Der Sommer hat schon angefangen!

Mit zwei Schritten war sie an der Tür und schwang sich auf die Leiter. Auf der vierten Sprosse stoppte sie. Nur Zentimeter von ihrer Nase entfernt krabbelte ein Hirschkäfer den zerfurchten Baumstamm nach oben. Ein Prachtexemplar. Was für eine Verschwendung der Natur: fünf Jahre als Larve und dann nur ein Monat Lebenszeit. Ob der Käfer sich bewusst war, wie bald er sterben musste?

Ein Knacken. Im Gehölz.

Viel zu laut für ein Kleintier. Fünfzig Kilo, mindestens. Wahrscheinlich ein Reh. Oder ein Wildschwein. Die beiden Bären würden sich nicht so weit runter ins Tal wagen. Sie sah sich um und lauschte. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, ein Kribbeln zog sich ihre Wirbelsäule entlang. Das war kein Tier. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Jemand beobachtete sie.

Wer immer sie im Visier hatte, es musste ein Mensch sein. Wenn nur Basti noch hier wäre. Ihr Blick wanderte von Baum zu Baum, ihre Hände krampften sich um die Sprosse, ihr linker Fuß zitterte. Wartete dort unten jemand auf sie? Sie hob ihren Fuß, setzte ihn auf die nächsthöhere Sprosse.

Stopp!

Was war nur los mit ihr? Seit wann fürchtete sie sich im Wald? Sie war Förstertochter, verdammt, der Wald ihr zweites Zuhause! Sie waren hier in Finstermoos, nicht in der Bronx. Im Halbdunkel des dichten Unterholzes nahm sie eine jähe Bewegung wahr. Hastig setzte sie ihren Weg nach unten fort und rannte über den fast unkenntlichen Trampelpfad zum nahen Feldweg. Noch immer schlug ihr Herz viel zu schnell. Sie musste Basti davon erzählen. Das war keine Einbildung, jemand beobachtete sie. Sie beide. Jemand musste hinter ihr Geheimnis gekommen sein.

Sie schnappte ihr Fahrrad und raste los. Konnte es eine von Bastis Verehrerinnen gewesen sein? Wurde er mal wieder gestalkt und sie gleich mit dazu?

Eine von Bastis Verehrerinnen.

Und wenn der Streit ihrer Väter nur ein Vorwand war und er sich wegen seines Sonnyboy-Status’ nicht zu ihr bekennen wollte? Schließlich wäre er mit einer Freundin ziemlich uninteressant für seine Touri-Tussis.

Vielleicht schafft er es gar nicht, länger als fünf Monate treu zu sein. Ihr Fuß rutschte vom Pedal ab, sie kam ins Straucheln, fing sich und strampelte weiter, als die alte ausgediente Vogelscheuche an ihr vorbeirauschte. Sie drückte die Bremsen. Sprang vom Fahrrad und riss sich Bastis Käppi vom Kopf. Sie würde ihm gar nicht erst die Gelegenheit zum doppelten Spiel geben. Sie würde nicht hier vorbeischleichen und abends nach flackerndem Kerzenlicht Ausschau halten. Wenn er sich nicht öffentlich mit einer Freundin zeigen wollte – okay.

Aber nicht mit ihr.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und setzte der hässlichen Strohpuppe Bastis Käppi auf. Hier, bitte schön, der letzte Schrei aus Australien. Passen Sie gut darauf auf, war schweineteuer.

Unbeeindruckt starrte die Vogelscheuche weiter auf das gelbe Sonnenblumenmeer. Luzie drehte sich um und stapfte zu ihrem Fahrrad zurück. Jeder Stapfer ein trotziges Nein. Ein Nein an seine enzianblauen Sorglos-Augen, die jedes Problem einfach wegzwinkerten. An seine kräftigen Arme, in denen sie sich selbst am äußersten Rand einer Schlucht noch sicher fühlen würde. An seine warmen, weichen Lippen, auf deren ersten Kuss sie so viele Jahre gewartet hatte.

Ihr Magen zog sich zusammen. War sie wirklich bereit, Basti kampflos den Touri-Tussis zu überlassen?

Sie wollte sich gerade auf den Sattel schwingen, da stob ein Vogelschwarm aus dem Sonnenblumenfeld auf. Sie schrak zusammen, lauschte dem aufgeregten Zwitschern, das sich wie ein Warnruf über das Tal legte und ihren Puls in die Höhe katapultierte. Was hatte die Vögel in solche Aufregung versetzt?

25.Juli3

Die Sprungstelzen rasten auf ihn zu. Valentin warf sich zur Seite, spürte den dumpfen Aufprall, genau da, wo eben noch sein Kopf gelegen hatte, hörte das metallene Knirschen und sah, wie Basti erneut durch die Luft segelte. Blitzartig riss er die Kamera hoch, filmte den doppelten Salto, die Landung, genau auf dem markierten Punkt vor dem Heustadel, zoomte Basti heran, folgte dem nächsten Sprung. Doppelte Spirale, Landung in Sitzposition auf dem Dach des Stadels.

Wahnsinn!

Zoom auf Bastis Gesicht. Auf die blauen Strahleaugen. Basti blies sich eine strohblonde Strähne aus der Stirn und grinste breit.

»Yo!« Seine Daumen zeigten in die Höhe.

Perfekt. Bilderbuch-Sonnyboy in Siegerpose. Langsam wegzoomen, Hintergrund dazunehmen: Almwiese, Waldstreifen, Geröllfeld, Felsmassiv mit Schneehäubchen. Und stopp. Valentins Finger tippte auf den Touchscreen. Ohne Frage, es war das abgefahrenste Video, das sie bisher gedreht hatten, und trotzdem: »Bist du irre? Du wärst mir fast ins Gesicht gesprungen!«

Basti winkte ab. »Was denn? So viel Körpereinsatz muss drin sein. Hast du die Kamera darauf gehalten?«

»Nee, ich hab die Ameisen beim Poppen gefilmt.«

Lachend streifte Basti die Sprungstelzen von den Sneakers und warf sie aufs Gras. Dann sprang er hinterher. »Lass mal sehen.«

Gemeinsam betrachteten sie das Video. Jetzt begriff Valentin, warum Basti darauf bestanden hatte, dass er sich zum Filmen ins Gras legte. Alles wirkte noch höher, gefährlicher, spektakulärer. Ganz besonders die Szene, als Basti und die Sprungstelzen direkt ins Objektiv zu krachen drohten.

»Genial!« Basti spielte das Video noch einmal ab. »Du hast das echt besser drauf als Nic. Gut, dass du wieder da bist!«

Allerdings. Valentin überließ Basti die Kamera. Er hätte Finstermoos schon vor Wochen einen Besuch abstatten sollen, wenigstens für ein Wochenende. Natürlich nicht, um sein Leben als Bastis Kameramann aufs Spiel zu setzen, sondern um Luzie wiederzusehen. Um ihr zu sagen, dass er seit letztem Sommer an kein anderes Mädchen gedacht hatte. Um herauszufinden, ob bloß er so empfand oder ob auch sie in ihm mehr als nur einen guten Kumpel sah.

Basti schaltete die Kamera aus. »Da schneide ich nachher deinen Schwenker raus und leg Musik drunter und dann ab auf YouTube.«

Ab auf YouTube? Typisch Basti. Was bei ihm nach »dann lade ich mal schnell ein 08/15-Video hoch, das eh niemand ansieht« klang, war in Realität ein ziemlich professioneller Kanal mit Hunderten Abonnenten, Werbeeinblendungen und Zigtausend Klicks bei jedem seiner Videos. Und dabei ging es Basti weder um die Werbeeinnahmen noch um die Fangemeinde, er wollte nur die Aufmerksamkeit einer einzigen Person: die des Veranstalters der Free-Runner-Worldtour. Dem Event der Free-Runner-Szene. Fünf Länder, zehn Wochen, zwanzig Irre, die jeden Tag mit waghalsigen Stunts an den ausgefallensten Orten der Welt ihre Schutzengel auf immer härtere Proben stellten.

»Weiß dein Vater, was du vorhast?«

»Nö.« Basti sammelte die Sprungstelzen vom Boden auf und holte seinen Rucksack aus dem Heustadel. »Wozu Stress machen, bevor die Sache überhaupt sicher ist? Das mit der Worldtour weiß übrigens außer Nic niemand. Also …« Basti legte den Zeigefinger an den Mund.

Valentin nickte. Er wusste genau, was Basti mit »Stress machen« meinte: Falls er es schaffte, ins Worldtour-Team aufgenommen zu werden, konnte er seine Ausbildung zum Eventmanager knicken oder musste sie zumindest um ein Jahr verschieben. Dass das Bastis Vater garantiert keine Begeisterungsstürme entlocken würde, war ihm klar. Er musste nur an dessen krasse Abfuhr denken, als sie ihm eröffnet hatten, dass sie nach dem Abi ein Jahr um die Welt reisen wollten. Einerseits verständlich. Denn seit Nic in München studierte und bei jeder Gelegenheit raushängen ließ, wie froh er war, Finstermoos hinter sich gelassen zu haben, schob Bastis Vater Panik, dass es seinen jüngeren Sohn ebenfalls wegzog und keiner von beiden seine Eventagentur übernahm. Andererseits hätte Valentin gerade von Bastis Vater mehr Offenheit für so ein Abenteuer erwartet. Immerhin hieß seine Eventagentur Off Limits und der Name war Programm: Suchte man einen wirklich coolen Outdoor-Trip, war man bei Off Limits definitiv richtig.

Ein Knacken, gefolgt von einem Zischen und Glucken. »Du auch?« Basti hielt ihm eine giftgrüne Dose hin. Gummibärchengeruch verriet den ungefähren Geschmack des Getränks. Valentin verzog seinen Mund und schüttelte den Kopf. In Sekundenschnelle schüttete Basti den Energydrink in sich hinein. Die leere Dose zerknüllte er mit der Faust und ließ sie in den geöffneten Rucksack plumpsen. »Noch was vor heute?«

»Ich wollte an der Baustelle vorbeischauen. Die heben gerade die Baugrube von unserem Ferienhaus aus. Kommst du mit?«

Basti sah auf die Uhr. »Kann nicht, hab noch ein Date, bevor mein Kurs anfängt.«

Auch gut, dann fahr ich gleich zu Luzie.

»Date, aha.« Er zwinkerte Basti zu. »So ein Fanklub ist schon praktisch.«

»Praktisch? Ich trete ihn dir gerne ab.«

»Auch dein Date?«

»Die nicht.« Mit einem energischen Ruck an der Schnur verschloss Basti den Rucksack.

Die nicht? »Jetzt bin ich neugierig.«

Anstelle einer Antwort schob Basti sein Fahrrad aus dem Schober und schwang ein Bein über die Mittelstange. »Morgen Radtour? Ich nehm die Kamera mit, oben am Rüblistein gibt’s ein cooles Gelände.«

»Bin dabei.« Bis er sein Rad ebenfalls aus dem Stadel geholt hatte, war Basti schon losgefahren. Valentin legte die Hände wie ein Megafon um den Mund: »He! Bring dein Date morgen mit! Vielleicht komme ich auch in Begleitung.«

7.August – 15:39Uhr

4

»Wir sitzen also in der Falle?«

Valentin nickt. Er muss was sagen, Basti kann sein Nicken nicht sehen. Auch wenn er so nah bei ihm steht, dass er es spüren müsste.

Aber was soll er ihnen sagen? Die Wahrheit? Dass sie keine Chance haben, weil sie in einem längst vergessenen Bunker eingesperrt sind? Einem Bunker, dessen einziger Ausgang in sechzehn Stunden für immer zubetoniert wird?

Oder soll er sie beruhigen? Ihnen sagen, dass sie nur Geduld haben müssen? Weil man sie spätestens heute Nacht vermissen und nach ihnen suchen wird?

Als ob Basti und Nic nicht wüssten, wie unwahrscheinlich das ist.

Doch sein Schweigen hat schon alles gesagt.

»Du meinst …«, ruft Nic von der anderen Seite des Bunkers herüber. Dann bricht seine Stimme. Er räuspert sich. »Wir kommen hier nicht mehr raus? Das kann nicht sein! Es muss einen Ausweg geben!«

Gibt es nicht. Dank des Geniestreiches meines Vaters. Und wenn er was macht, dann richtig.

Valentin nimmt das feuchtgeatmete T-Shirt von seinem Gesicht. Sofort strömt ihm wieder der süßliche Gestank entgegen. Er bläht die Nasenflügel. Zieht die Luft durch den Mund ein, doch der Gestank lässt sich nicht wegatmen.

Gewöhn dich dran. Das ist das Letzte, was du riechen wirst.

Er hält sich die Nase zu.

»Scheiße, Valentin, kannst du mal was sagen?!« Nics Schuhe schaben über den Boden.

»Was soll ich denn sagen?«

Das Schaben kommt näher. Dann ist Nic neben ihm. Seine Finger klopfen gegen die Tür. Mal stärker, dann schwächer, mal oben, dann unten.

Als ob das was bringen würde. Sie werden hier sterben.

Valentin stößt sich von der Tür ab, tappt beiseite. Zum Glück ist Luzie nicht hier. Zum Glück bleibt ihr dieses Ende erspart.

Sein Hals wird eng. Wie gerne hätte er ihr noch gesagt, dass er nie aufgehört hat, sie zu lieben. Wie leid ihm alles tut.

Ein Ratschen. Dann flammt ein Streichholz auf.

»Bist du wahnsinnig?«, zischt Nic. »Das war das vorletzte!«

»Scheiß drauf!«, faucht Basti zurück. Im zittrigen Lichtschein ist von ihm nur die Hand mit dem Streichholz zu sehen. »Und, Leute? Schon eine Idee?«

Die Flamme flackert, dann schüttelt Basti hektisch die Hand.

Das Licht erlischt.

25.Juli5

»Bitte wenden Sie in fünfzig Metern.«

Valentin ignorierte die monotone Frauenstimme des Navis und drückte aufs Gas. Das Dorf hatte er hinter sich gelassen und wenn er sich nicht komplett täuschte, musste Luzies Haus nach der nächsten Wegbiegung auftauchen.

»Bitte wenden Sie jetzt.«

Als hätte die Blechdame der Bitte seines Vaters gelauscht, sich vom Förster und seiner Familie fernzuhalten, bis sich die Wogen geglättet hatten und der Förster sich mit dem Bau des Ferienhauses abgefunden hatte.

Er schaltete das Navi auf stumm. Niemand würde ihn von Luzie fernhalten. Weder sein Vater noch die Blechdame. Wo immer die ihn hinschicken wollte, sie würde es ab jetzt lautlos tun.

Er erreichte die Wegbiegung. Ha! Das Försterhaus. Genau, wie er es in seiner Erinnerung abgespeichert hatte. Der ausladende Balkon, der üppige Geranienschmuck vor den Fenstern, auf der Hauswand ein überlebensgroßes Tiermotiv.

Ein lauter Knall zerriss die Stille. Valentin fuhr zusammen, nahm reflexartig den Fuß vom Gas. Was war das gewesen? Ein Schuss? Sein Reifen? Er blickte auf das Display des Bordcomputers. Der Reifendruck war normal.

Als er wieder auf die Straße blickte, schoss etwas auf ihn zu. Riesig. Braun. Er stieg mit voller Wucht auf die Bremse. Riss das Lenkrad nach links. Der schwere Geländewagen schlingerte, drehte sich ein Stück um die eigene Achse und blieb schließlich quer zur Straße stehen.

Fuck! Wo kam das Reh so plötzlich her?

Sein Herz hämmerte so hart in seiner Brust, dass es schmerzte. Das Reh hopste nur Zentimeter an seiner Tür vorbei, sprang über die Wiese und verschwand im Wald hinter dem Forsthaus.

Verdammt. Mit zitternder Hand legte Valentin den Rückwärtsgang ein und rangierte das Auto wieder in Fahrrichtung. Doch statt weiterzufahren, blieb er mitten auf der Straße stehen und wartete darauf, dass sein Puls sich normalisierte.

Wenden.

Die Worte der Blechdame. Als hätte sie gewusst, dass gleich ein Reh sein Auto rammen würde. Das war doch ein Witz!

An Ostern war er trotz Abistress zu einem Überraschungsbesuch hierher gefahren, nur um festzustellen, dass Luzie mit ihren Eltern verreist war. Dann legte sich sein Vater wegen des blöden Ferienhauses ausgerechnet mit Luzies Vater an. Und jetzt verschworen sich selbst Rehe und Navigationsgeräte gegen ihn, damit er Luzie nicht traf.

Egal. Er musste sie sehen. Mit ihr reden. Persönlich. Nicht nur hier und da mit ihr chatten. Nicht nur ihr Foto anstarren und von ihr träumen. Das Zittern der Hände ließ nach. Er hatte schon viel zu lange gezögert. Und die Wogen, die sein Vater mit dem Bau des Ferienhauses aufgewühlt hatte, würden sich nicht so leicht glätten lassen. Vielleicht sogar nie.

Ich werde nicht mehr warten. Entschlossen griff er nach seinem Handy und löschte sicherheitshalber ihr Foto, das ihm als Hintergrundbild diente. Bei seinem Glück würde sie es nach spätestens fünf Minuten entdecken. Luzies Gesicht war ohnehin in sein Gehirn eingebrannt: die unglaublich grünen Katzenaugen, das ansteckende Lachen, die süßen Grübchen, die sich dann links und rechts in ihre Wangen bohrten. Er tippte das Gaspedal an und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung.

Da öffnete sich die Haustür – und beinahe wäre er wieder auf die Bremse getreten.

Cool bleiben! Er zwang sich, langsam weiterzufahren. Sie drehte ihren Kopf in seine Richtung.

Sein Herzschlag beschleunigte sich erneut. Jetzt war es eindeutig zu spät, um umzukehren. Er gab Gas, fuhr näher an sie heran. Kein Lächeln. Kein Winken. Erkannte sie ihn etwa nicht?

Konnte sein. Letzten Sommer hatte er noch nicht einmal einen Führerschein gehabt und heute fuhr er in dem fetten Geländewagen seines Vaters vor. Er hielt an. Beobachtete, wie sie zögerlich auf das Auto zutrat. Ihre Haare waren länger. Statt bis zur Schulter reichten sie jetzt bis zur Brust. Das helle Braun vermischte sich mit dem wilden Muster der Hippie-Bluse, die sie über engen Jeans trug. Okay. Cool bleiben! Er atmete tief ein und stieg aus.

»Hallo, Luzie.« War seine Stimme so krächzend oder hörte sie sich nur im Rauschen seines Kopfes so an?

»Valentin!« Ihr Mund verzog sich zu diesem unvergleichlichen Lächeln und die Grübchen bohrten sich genau da in die Wangen, wo sie hingehörten. »Das ist ja eine Überraschung!«

Plötzlich spürte er ihre Hand auf seiner Schulter, ihren Oberkörper an seinem Arm, ihre Wange an seiner. Links, rechts. Und schon war die Begrüßung wieder vorbei. Viel zu kurz, um zu reagieren und die nutzlos herabhängenden Arme um sie zu legen, so wie er es Hunderte Male geträumt hatte.

Verdammt! Stell dich nicht so dämlich an!

»Warum hast du denn nicht angerufen?«

»Ich hatte deine Nummer nicht.« Lüge. Er kannte ihre Nummer auswendig. Sogar rückwärts. »Ich war eben bei Basti, aber er hat keine Zeit. Trifft sich gleich mit einer aus seinem Fanklub.« Er zwinkerte ihr grinsend zu, doch statt auch zu grinsen, runzelte sie die Stirn.

»Einer aus seinem Fanklub?«

»Na ja, du kennst ihn doch. Neue Saison, neue Jagdgründe.«

Die Falte über ihrer Nasenwurzel vertiefte sich. »Jagd?«

Was war nur mit ihr los? Letztes Jahr hatten sie noch gemeinsam über Bastis Fanklub gelacht. Darüber, wie peinlich es wäre, wenn sich all seine Verflossenen im gleichen Kurs treffen würden. »Ist er das nicht immer? Auf der Jagd? Und wenn’s der Kick beim Free-Running ist? Basti, der Unbezwingbare.«

Luzies Stirn war noch immer gerunzelt.

»Jedenfalls hat er keine Zeit.« Sein Gesicht wurde immer heißer. Hör auf mit diesem Gequatsche über Basti! »Ja, und da dachte ich, vielleicht hättest du Lust, ’ne Runde mit mir auszureiten?«

»Du kannst reiten?«

»Hab im Herbst angefangen.« Wegen dir. Damit wir was unternehmen können, worauf Basti bestimmt keine Lust hat.

»Echt?« Die Falten auf ihrer Stirn blieben. »Ich wusste gar nicht, dass du dich für Pferde interessierst.«

»Ich … auch nicht.« Er schluckte. Wenn er jetzt nicht bald die Kurve kriegte, konnte er sich den Rest seines Lebens damit begnügen, ihr Foto anzustarren. »Du … Du hast so davon geschwärmt und als Paps den Vertrag mit einer Reitschule an Land gezogen hat, hab ich die Gelegenheit am Schopf gepackt.«

»Und?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.

Er neigte huldvoll seinen Kopf. »Erbitte untertänigst Einlass in den Klub der Pferdefreunde.«

Endlich verschwanden die Stirnfalten. Dafür machte sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht breit. »Pferdefreund? Eh?« Sie boxte spielerisch gegen seinen Arm. »Eigentlich hatte ich ja was vor, aber … Dann lass uns mal sehen, was du Stadtfuzzi so draufhast.«

Er wies mit einem eleganten Schlenker zum Auto. »Deswegen bin ich hier.«

Das verwitterte Schild war kaum zu entziffern. Moos hatte sich angesetzt und überzog die absplitternde Farbe der Schrift mit grünen Schlieren. O B HL-Ho

Hätte Luzie ihn nicht gerade darauf aufmerksam gemacht, dass dies der Zubringer zum Mosbichl-Hof, dem größten und abgelegensten Hof des Finstermoostals war, wäre er glatt vorbeigefahren. Er bog ab. Der Schotterweg führte durch einen Wald, so schattig und still, dass die Kälte im Auto spürbar war.

»Als Kind hatte ich immer Angst, wenn wir hier durchgefahren sind.« Luzie streifte mit dem Finger über das Fenster. »Ich dachte, der Wald ist verhext, aber er ist einfach nur so dicht, dass die Sonne nicht durchkommt. Deshalb ist das Licht hier so komisch.«

Das Licht war wirklich seltsam. Als hätte jemand den Dimmer auf niedrigste Stufe gestellt und dann noch hellblaues Transparentpapier vor die Glühbirne gehängt. Er gab zwar nichts auf das Geschwätz der Dörfler über die Mosbichls, aber jetzt verstand er, was sie meinten, wenn sie von dem »gottverlassenen Ort« sprachen.

»Sag mal«, fragte Valentin mit einem verstohlenen Seitenblick auf Luzie, »das mit der Brigitta Mosbichl, von wegen Hexe und so, woher kommt das?«

»Brigitta? Hexe? Wie kommst du denn darauf?« Ihr Finger löste sich von der Scheibe. Sie drehte sich zu ihm und runzelte die Stirn.

Bitte nicht schon wieder ein Fettnäpfchen. Trotz der Kühle des Waldes stieg ihm die Hitze ins Gesicht.

»Na ja, du weißt doch, was die Leute reden. Dass Brigitta nachts in den Wäldern ihr Unwesen treibt und so.«

Luzie verdrehte die Augen. »Oh Mann … Das ist so dämlich. Sie sammelt Kräuter und Wildblumen für ihre Tinkturen und manchmal führt sie Rituale durch. Ist auch nichts anderes, als wenn die Omas ihren Rosenkranz runterbeten und auf Erlösung hoffen.«

Rituale? Tinkturen? Das Bild eines alten Medizinmannes mit Kriegsbemalung und federgeschmücktem Speer flammte vor seinem inneren Auge auf.»Sie soll mit Tieren reden können.«

»Sie redet mit Tieren«, sagte Luzie spitz. »So wie Millionen andere Tierbesitzer auch.«

Ja, aber Brigitta soll die Tiere auch verstehen können, nur deshalb gewinnen die Haflinger aus ihrer Zucht angeblich besonders viele Preise. »Dann stimmt das mit dem jüngeren Mosbichlbruder wohl auch nicht?«

Luzie sah ihn fragend an.

»Na ja, also …«, druckste Valentin herum. Hätte er nur die Klappe gehalten. Die Wahrscheinlichkeit, bei Luzie schon wieder auf der Minusskala zu landen, war einfach zu groß. »Die im Dorf sagen, dass er verrückt ist.«

Luzie stöhnte auf. »Dorftratsch. Schon mal was vom Asperger-Syndrom gehört?«

Asperger. In der Dorfkneipe hatten die Geschichten über Toni Mosbichl definitiv anders geklungen. Valentin lenkte den Wagen vorsichtig über den unebenen Weg. War es gerade noch dunkler geworden? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Er sollte nicht hier sein. Halt dich vom Mosbichl fern, hatte sein Vater gesagt und der Unterton war unmissverständlich gewesen. Er hielt Wolferl Mosbichl für einen gefährlichen Mann, einen, den man nicht zum Feind haben sollte.

»Gleich sind wir da. Da vorn beginnen schon die Koppeln. Ich bin gespannt auf deine Reitkünste!« Luzie lächelte und Grübchen bohrten sich in ihre Wangen. Valentins Bedenken zerflossen wie Schokolade im Fonduetopf. Luzie sitzt neben dir. Was interessiert dich der Mosbichl?

Sie erreichten das Ende des Waldes und die Sonnenstrahlen vertrieben nicht nur die Kälte, sondern auch die letzten Zweifel.

Der Schotterweg führte jetzt an Koppeln und eingezäunten Almwiesen vorbei. Im Vergleich zu den Koppeln des Berliner Reitstalls waren diese hier riesig. Manche reichten sogar bis zu den Ausläufern des Bergmassivs auf der rechten Seite. »Ist das alles noch Teil des Mosbichl-Hofs?«

Sie nickte. »Den Mosbichls hat mal das ganze Tal hier gehört. Lange her, so drei, vier Generationen.«

»Wenn die so viel Land haben, warum veranstaltet Wolferl Mosbichl dann so einen Terror gegen meinen Vater?«

»Deinen Vater?« Sie klang erstaunt. »Was hat Wolferl denn mit deinem Vater zu tun?«

»Wir … Er baut hier ein Ferienhaus.«

»Ihr baut das?« Sie drehte ungläubig ihren Kopf zu seiner Seite.

»Wir bauen das, ja.«

»Dann … Mist.« Sie wand sich. »Hör zu, am besten, du sagst dem Wolferl nicht, wer dein Vater ist, okay?«

In seinem Blickfeld tauchte ein riesiger Vierkanthof auf. Das schmutzige Weiß der Mauern verriet, dass sie sich von der Wetterseite näherten. Doch auch wenn das Weiß strahlend neu gewesen wäre, hätte der Hof abweisend wie eine Festung gewirkt. Alles, was die Häuser im Dorf so einladend und hübsch machte, fehlte hier. Keine Geranien, keine adrett bemalten Fensterläden und Fassaden, keine liebevoll verzierten Balkone. Und er sollte nicht hier sein. Sogar Luzie dachte so.

Dabei war das alles so albern.

»Ganz ehrlich, ich versteh die Aufregung nicht. Im Vergleich zu dem Laden hier hat unser Ferienhaus die Dimension einer Puppenstube.«

»Es geht doch nicht um Größe.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist auch dagegen. Wegen des Biotops.«

»Biotop?« Ungläubig wiederholte er ihre Aussage. »Entschuldige bitte, wenn sich das jetzt auch gegen deinen Vater richtet, aber Paps und ich sind inzwischen überzeugt, dass es bei der ganzen Sache vor allem darum geht, uns Städter fernzuhalten.«

Er fuhr in den Hof und hielt auf das Gebäude zu, das dem Berliner Stall am meisten ähnelte. Dort parkte er den Wagen.

»So ein Unsinn! Wir brauchen doch die Touris!«

»Ja, in den Hotels. Aber –«

Plötzlich klopfte es an der Scheibe. Er wandte den Kopf zum Fenster. Zuckte zurück. Unter dichten, zusammengewachsenen Brauen stierte ein Augenpaar feindselig auf ihn herab. Nein, falsch, es stierte an ihm vorbei auf das Display des Bordcomputers. Dann presste der Unbekannte sein Gesicht gegen das Fenster. Wieder klopfte es. Doch nicht die Knöchel des Mannes berührten die Scheibe, sondern Holz. Blutrot verschmiertes Holz. Ein Stiel. An seinem Ende sah Valentin etwas aufblitzen. Stahl. Eine Axt?

Wie gelähmt verharrte Valentin auf dem Fahrersitz, während Luzie aus dem Auto sprang. Sie lief um die Motorhaube herum, direkt auf den Mann mit der Axt zu und zupfte ihn vorsichtig am Ärmel. »Toni! Hör auf damit! Du erschreckst meinen Freund!«

Toni? Das war Toni Mosbichl? Plötzlich ergaben all die Geschichten über den verrückten Toni Sinn. Der Axtstiel klopfte erneut gegen die Scheibe.

»Toni! Schluss jetzt! Sag mir lieber, wo Brigitta ist.«

Das Gesicht löste sich von der Scheibe, wo es einen schmierigen Fleck hinterließ. Endlich richtete dieser Toni sich auf und trat vom Auto zurück. Erst jetzt bemerkte Valentin, wie groß und kräftig er war. Mindestens eins neunzig, eher größer, so zierlich wie Luzie neben ihm wirkte.

Reiß dich zusammen! Valentin atmete tief ein. Er konnte auf keinen Fall noch länger im Auto sitzen bleiben, ohne komplett sein Gesicht zu verlieren. Dieser Toni wollte wahrscheinlich nur nachsehen, welcher Eindringling sich auf seinen Hof verirrt hatte. Pech nur, dass seine Axt dabei nicht sonderlich einladend wirkte.

Hastig stieg Valentin aus. Sofort drehte der Riese sich wieder zu ihm. Sein Oberkörper wippte rhythmisch vor und zurück, während die Axt wie ein Kinderspielzeug vor seiner Brust baumelte und sein Blick unverwandt das Logo auf Valentins Shirt fixierte. Valentin wich zurück. Als er gegen das Auto stieß, sah er, wie Luzie sachte an Tonis grobem Hemd zupfte.

»Wo ist Brigitta?«

»Brigitta ist in den Wald gegangen«, sagte Toni so monoton wie die Zeitansage, ohne auch nur eine Sekunde seinen Blick von Valentins Shirt zu nehmen.

Valentin starrte auf die blutrot glitzernde Axt.

»Toni!« Der Name peitschte hart über den Hof.

Das Wippen stoppte abrupt. Die Axt hörte auf zu baumeln und hing still neben Tonis Hosenbein.

Ein zweiter Mann marschierte auf sie zu. Wohl Wolferl Mosbichl. Er war deutlich älter, kleiner und schmaler als Toni, hatte graue Haare und einen silbrigen Vollbart, der das Gesicht fast völlig verdeckte. Trotzdem war die Ähnlichkeit zu Toni unverkennbar. Die über der Nase zusammengewachsenen Brauen, vor allem aber die stechenden blauen Augen, die sich nun auf ihn hefteten. Ihn, den ungebetenen Gast.

Wolferl Mosbichl schnippte einmal mit den Fingern und streckte den Arm zur Scheune. Der Riese ließ den Kopf hängen wie ein geschlagener Hund und trottete davon.

»Servus, Luzie.« Wie Toni zuvor nahm Wolferl Mosbichl keine Sekunde seine Augen von Valentin, im Gegensatz zu seinem Bruder sah er ihn jedoch direkt an. Von Nahem wirkte er etwas jünger, Valentin schätzte ihn so um die fünfzig. »Brigitta ist nicht da.«

»Ich weiß. Wir wollten uns zwei Haflinger nehmen.«

»Kann der reiten?« Noch immer haftete Wolferl Mosbichls Blick an Valentin.

Sag was. Steh hier nicht rum wie ein Idiot, während dieser Typ dich wie einen behandelt.

Luzie ergriff seine Hand. Drückte sie, so fest, als wollte sie ihm eine stumme Botschaft zukommen lassen. Ihn zum Schweigen bringen, bevor er den Mund öffnen konnte.

»Ich pass schon auf.« Ihre Stimme glockenhell. Ihr Griff wie ein Schraubstock.

»Na dann …« Wolferl Mosbichl löste seinen Blick und marschierte zur Scheune zurück.

Luzies Griff lockerte sich, dann ließ sie ihn los. Leider.

Er wischte seine schwitzige Hand an der Jeans ab. Wenn das nicht passte: Stadtfuzzi, Biotopzerstörer, jetzt auch noch schwitzige Hände wie ein Angsthase.

So war es also, wenn ein Tagtraum zum Albtraum wurde.

Aber: Noch war der Tag nicht vorbei – jetzt würde der gute Teil kommen, der Teil, wo er Luzie endlich davon überzeugen konnte, dass er der perfekte Freund für sie wäre.