Rachekind - Janet Clark - E-Book + Hörbuch

Rachekind Hörbuch

Janet Clark

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  • Herausgeber: AUDIOBUCH
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Wie gut kennst du deinen Mann wirklich? Der fesselnde Thriller »Rachekind« von Janet Clark jetzt als eBook bei dotbooks. Wenn ein einziger Moment dein Leben für immer verändert … Als Hanna nach einer Firmenfeier spät nach Hause kommt, ist ihr Mann Steve spurlos verschwunden, die gemeinsame Tochter Lilou liegt leblos in ihrem Bettchen. Hanna kann sie gerade noch retten, doch von nun an benimmt das Kind sich immer merkwürdiger: Sie reagiert kaum auf ihre Mutter, scheint Selbstgespräche zu führen … Hat sie gesehen, was in jener Nacht passiert ist? Verzweifelt versucht Hanna, das Geheimnis um Lilous Veränderung und Steves Verschwinden zu lösen – und stößt dabei auf immer mehr Ungereimtheiten in seinem Leben. Um endlich die ganze Wahrheit herauszufinden, engagiert Hanna den Privatdetektiv Marten Stein., dessen Nachforschungen die beiden schließlich nach England führen – und in ein schreckliches Kapitel von Steves Vergangenheit, das sie bald in tödliche Gefahr bringen wird … »Ein echter Pageturner mit Gänsehaut-Garantie. Dicht, unheimlich, fesselnd.« Buch-Ticker Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der spannende Mystery-Thriller »Rachekind« von Janet Clark wird alle Fans von Joy Fielding und Claire Douglas begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:11 Std. 13 min

Sprecher:Anna Thalbach

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Über dieses Buch:

Wenn ein einziger Moment dein Leben für immer verändert … Als Hanna nach einer Firmenfeier spät nach Hause kommt, ist ihr Mann Steve spurlos verschwunden, die gemeinsame Tochter Lilou liegt leblos in ihrem Bettchen. Hanna kann sie gerade noch retten, doch von nun an benimmt das Kind sich immer merkwürdiger: Sie reagiert kaum auf ihre Mutter, scheint Selbstgespräche zu führen … Hat sie gesehen, was in jener Nacht passiert ist? Verzweifelt versucht Hanna, das Geheimnis um Lilous Veränderung und Steves Verschwinden zu lösen – und stößt dabei auf immer mehr Ungereimtheiten in seinem Leben. Um endlich die ganze Wahrheit herauszufinden, engagiert Hanna den Privatdetektiv Marten Stein, dessen Nachforschungen die beiden schließlich nach England führen – und in ein schreckliches Kapitel von Steves Vergangenheit, das sie bald in tödliche Gefahr bringen wird …

Über die Autorin:

Janet Clark wurde 1967 in München geboren. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin, Dozentin und Marketingchefin in Belgien, England und Deutschland, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, widmete.

Die Website der Autorin: janet-clark.de/

Die Autorin auf Instagram: instagram.com/janetclarkautorin/

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller »Ich sehe dich«, »Black Memory« und »Rachekind«.

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eBook-Neuausgabe August 2023

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Janet Clark

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-753-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Janet Clark

Rachekind

Thriller

dotbooks.

Für MichaelWenn Seelen wandern können, werden wir uns immer wieder finden

Prolog

Er hat meine Augen nicht geschlossen. Mein starrer Blick stört ihn nicht. Er schaufelt Erde auf meinen leblosen Körper, bedeckt ihn Zentimeter für Zentimeter, ohne eine Pause einzulegen. Unwirklich. Alles ist so unwirklich. Selbst die Stille der Nacht. Kein Knacken von Zweigen, kein Rascheln im Gebüsch. Es ist, als zollten die Tiere des Waldes meinem Tod den Respekt, den mein Mörder mir versagt. Oder ist es meine Wahrnehmung, die ausblendet, was nicht mit mir verbunden ist? Die meinen Blick verengt, wie eine Linse, die nur das scharf stellt, was sich in ihrem Fokus befindet? Einzig das Knirschen der kiesigen Erde durchbricht die gespenstische Ruhe und weckt die Geister meiner Kindheit.

Tschk-Schschsch.

Mit jedem Tschk bohrt sich die Schaufel in die aufgehäufte Erde, nimmt eine Ladung auf und gibt sie mit dem schleifenden Schschsch wieder frei. Erde rieselt auf meinen Mund und meine Nase. Ein Klümpchen löst sich und rollt den Nasenrücken entlang, bis es auf mein rechtes Auge kullert und auf dem Augapfel liegen bleibt. Der Dreck müsste mich irritieren, meinen Blick beeinträchtigen, doch ich sehe klar.

So klar wie nie zuvor.

Es ist, als wäre ich losgelöst von der Person mit dem Erdklümpchen neben der Iris, als hätte es nie eine Verbindung zu dem Körper gegeben, der mir so viele Jahre gehört hat. Vielleicht verspüre ich deshalb keine Wut, keinen Hass, nicht einmal Bedauern.

Tschk-Schschsch.

Ein wenig Haut von meiner Stirn und meiner Nase blitzt noch hervor.

Tschk-Schschsch.

Er verteilt die restliche Erde und scharrt altes Laub über mein Grab, macht es unkenntlich für Wanderer, die sich in diesen Teil des Waldes verirren könnten.

Es ist vorbei. Er hat meinen Köder geschluckt, hat sich von mir täuschen lassen.

Er packt seine Schaufel und geht schweigend zum Auto zurück. Ich bleibe bei ihm. Er kann mich nicht sehen. Nicht hören. Nicht spüren. Aber ich folge ihm wie ein unsichtbarer Schatten.

Im Auto sehe ich meinen Schlüsselbund auf der Mittelkonsole liegen.

Dann nehme ich die Richtung wahr.

Er müsste eigentlich nach Norden fahren, doch er fährt nach Südwesten. Er hat sich nicht täuschen lassen. Ich habe gezockt und verloren.

Wieder verloren.

Er fährt zurück zu meiner Wohnung.

Zurück zu Lilou.

* * *

Hanna genoss die Stille in dem Taxi, während in ihrem Kopf die ausgelassene Partystimmung des Kundenevents nachhallte. Der Refrain des letzen Liedes der Liveband schwirrte noch immer durch ihre Gehörgänge, und sie unterdrückte den Impuls, laut mitzusummen. Von Weitem nahm sie die beleuchtete Spitze des Aachener Doms wahr. Ob ihre Faszination je nachlassen würde? Hanna dachte an ihre erste Begegnung mit diesem architektonischen Meisterwerk, als sie die Gassen der Altstadt abgelaufen war, um ihre neue Nachbarschaft zu erkunden. Ihr schneller Schritt über das regennasse Kopfsteinpflaster und die Freude über die bunten Häuserreihen, denen man die Nähe zu den Niederlanden ansah. Enge, mit Stuck verzierte Altbauten, manche nur ein paar Meter breit, deren Erdgeschosse liebevoll dekorierte Schaufenster kleiner Boutiquen beherbergten. Mittendrin der Dom. Wuchtig. Gewaltig. Und doch von einer Eleganz und Verspieltheit, die einen packte und nicht mehr losließ. Anfangs war sie fast jeden Tag die fünf Minuten zum Dom vorgelaufen und hatte nach neuen Details gesucht. Die filigranen Verzierungen an der Brücke zwischen Oktogon und Turm, das Bettlergewand einer Statue an der Südwestfassade, Adam und Eva in den unzähligen bunten Fenstern der Apsis. Wie klein sie sich damals bei der Betrachtung des Gotteshauses gefühlt hatte. Unbedeutend. Einsam. Und heute, keine drei Jahre später?

Sie formte mit ihren Lippen still die Worte »mein Mann«.

So stellte sie ihn am liebsten vor. Nicht: Das ist Steve, nein: Das ist mein Mann. Mit der Betonung auf mein und mit dem gleichen Stolz in der Stimme, mit dem sie ihre Tochter präsentierte. Mein Mann und meine Tochter. Steve und Lilou. Mein Leben.

Sie spürte den Blick des Fahrers im Rückspiegel. Einen prüfenden, fast abwägenden Blick. Als frage er sich, wie alt sie wohl sei. In ihrem schwarzen Minikleid und mit der Hochsteckfrisur wirkte sie älter als neunundzwanzig, seriöser. Perfekt für Events wie heute Abend. Sie strich die blonde Strähne, die sich gelöst hatte, energisch hinters Ohr und richtete sich in den abgewetzten Ledersitzen des Taxis auf. Mit starrem Gesicht fixierte sie den Spiegel und sah, wie die Augen des Fahrers sich hastig abwandten. Hanna lächelte und verweilte mit ihrem Blick auf dem baumelnden Pappbäumchen, dessen künstliches Pinienaroma sich in dem porösen Leder festgesetzt hatte. Sie hasste es, wenn man sie anstarrte. Sie hatte es immer gehasst. Schon als Kind, wenn die Menschen sie unverhohlen anglotzten, sobald sie erfuhren, dass ihr Vater Werner von Ebershausen war. Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, wenn Blicke unangemessen lang auf ihr verweilten. Doch im Gegensatz zu früher hatte sie sich heute unter Kontrolle, wenn es geschah.

»Ich kenne Sie«, durchbrach der Fahrer die Stille. Seine Stimme war kratzig und dünn.

»Ach?« Hanna konnte sich nicht erinnern, je mit ihm Taxi gefahren zu sein.

»Sie sind Frau Warrington. Vom Schlüsseldienst in der Kleinmarschierstraße.«

»Stimmt.«

»Und«, fuhr er aufgeregt fort, »Sie sind die Frau, die jedes Schloss knacken kann!« Seine Augen suchten die ihren im Rückspiegel. »Ich hab die Sendung damals mit Ihnen gesehen. Das war ein ziemlich starker Auftritt, waren Sie nervös?«

»Dass ich es nicht schaffe?«

»Es war immerhin live im Fernsehen.«

Hanna überlegte. Hatte sie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, alle Schlösser in Rekordzeit knacken zu können? Nein, hatte sie nicht. Sie hatte diese Fähigkeit in sich. Sie erspürte genau den Punkt, an dem der Mechanismus nachgab, erfühlte die Schwachstelle jedes Schließsystems. Als wäre ein Schloss ein Lebewesen, das mit ihr kommunizierte. Seit sie denken konnte, war das so gewesen. Jedenfalls erinnerte sie sich an keine Zeit, an der eine zugesperrte Schublade oder eine verschlossene Tür ihrer Neugier Einhalt geboten hätte. »Natürlich. Wären Sie nicht nervös gewesen?«

»Na klar! Und wie! Ich hab zu meiner Frau gleich gesagt, da schau, das ist die Frau vom Schlüsseldienst. Die wollte das erst gar nicht glauben. Aber ich hab ihr gesagt, Lene, glaub mir, das ist die Warrington, die hat mir die Schließanlage in der Sechzehn eingebaut. Und schon brechen Sie einen Rekord.«

Hanna beugte sich vor und betrachtete den Fahrer im Rückspiegel. Jetzt erinnerte sie sich. Er hatte sie von Wohnung zu Wohnung begleitet und dabei unaufhörlich von seiner Tochter gesprochen. Dass sie studierte und alles so teuer sei. Dass er abends Taxi fahren müsse, um das Studium zu finanzieren.

»Das muss mindestens eineinhalb Jahre her sein. Sie waren dort Hauswart.«

»Bin ich immer noch.«

Hanna lehnte sich entspannt zurück. Eigentlich war er ein netter Kerl, auch wenn er zu viel redete.

»Ich hab Sie schon lange nicht mehr in Ihrem Laden gesehen«, nahm der Fahrer die Unterhaltung wieder auf. »Ich dachte schon, Sie hätten sich getrennt. Zumindest hat sich das so angehört, als ich letztens Ihren Mann vom Flughafen abgeholt hab.«

Hannas Oberkörper schoss vor. Mit beiden Händen ergriff sie die Kopfstütze des Fahrers.

»Getrennt?«, sagte sie ungläubig. »Das hat mein Mann Ihnen erzählt?«

»Nein.« Der Fahrer ließ das Lenkrad los und hob die Hände abwehrend in die Höhe. »Nicht erzählt. Ich dachte nur ... wegen des Telefonats. Aber ... dann habe ich mich wohl getäuscht.«

»Allerdings!« Hanna schob ihr Ohr neben die Kopfstütze des Fahrers, um keines seiner Worte zu verpassen. »Was hat er denn gesagt?«

»Ich weiß nicht mehr genau ...«

»Das glaube ich Ihnen nicht.« Hanna zog an der Kopfstütze. »Sie erinnern sich genau, sonst hätten Sie das eben nicht angesprochen.«

Der Fahrer schwieg. Seine Hände hielten das Lenkrad fest umschlossen, sein Blick war starr auf die Straße gerichtet.

Sie brachte ihren Kopf noch näher an seinen. »Jetzt reden Sie schon!«

Er seufzte und schüttelte den Kopf, als wäre sie ein unartiges Schulmädchen. »Er hat gesagt, dass es ihm leidtäte und dass man manchmal einen Schlussstrich ziehen müsse oder so was.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Das ist alles, woran ich mich erinnere.« Er wandte sich kurz zu ihr um, und sie sah, dass er die Wahrheit sagte. »Das mit dem Schlussstrich, das weiß ich noch ganz genau.«

Hanna löste ihre Hände von den glatten Metallstangen und lehnte sich wieder zurück. Einen Schlussstrich ziehen. Mit wem konnte Steve einen Schlussstrich gezogen haben? Mit einem Lieferanten? Er war seit Lilous Geburt nur einmal am Flughafen gewesen, vor sechs Wochen etwa, als er nach Berlin zu einem Kunden geflogen war. Sie dachte an seinen zärtlichen Abschiedskuss und spürte, wie ihr Körper sich wieder entspannte. Sosehr sie befürchtet hatte, dass das Baby ihre Beziehung gefährden könnte, es war nicht eingetreten. Im Gegenteil. Lilou hatte sie in dem Jahr seit ihrer Geburt noch mehr zusammengeschweißt. Ihr Leben bereichert, ihm eine neue Dimension gegeben. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Früher hatte sie nie verstanden, warum Mütter so vernarrt in ihre Babys waren. Heute musste sie nur an Lilous fröhliches Quietschen denken, wenn sie beim Wickeln gekitzelt wurde, an ihr Brabbeln, wenn sie geschäftig durch die Wohnung wackelte und neue Schätze entdeckte, oder an die Ärmchen, die sie voller Vertrauen um ihren Hals schlang, wenn sie sich an sie kuschelte – und schon breitete sich ein tiefes Glücksgefühl in ihr aus. Ein Leben ohne Lilou war unvorstellbar.

»Ich hoffe, ich hab jetzt ...« Der Fahrer bremste so unerwartet, dass Hanna mit dem Kopf gegen den Vordersitz schlug.

Sie rieb sich die Stirn und beobachtete, wie er das Fenster herunterließ und mit einem Polizisten sprach. Hanna betrachtete die wogende Masse vornehmlich dunkel gekleideter Menschen. Von so einer großen Veranstaltung in Aachens Altstadt hätte sie eigentlich wissen müssen, schließlich wohnte sie nur wenige Minuten entfernt auf der anderen Seite der Fußgängerzone. Vor ihnen war die Straße abgesperrt. Lautes Gegröle, das sich wie ein Schlachtruf anhörte, überdeckte immer wieder die unterschiedlichen Musikfragmente, die aus mehreren Gettoblastern zu stammen schienen. Der Fahrer schloss das Fenster, und der Partylärm drang nur noch gedämpft ins Wageninnere.

»Was ist denn da los?«, fragte sie.

»Ein Flashmob.« Der Fahrer war sichtlich erzürnt. »Da kommen wir nicht durch, ich muss umdrehen und um die Altstadt rumfahren.« Wieder wandte er sich zu ihr um und sah sie bedeutungsvoll an. »Heute ist Freitag, der Dreizehnte. Ich sag Ihnen, da kommt noch was ...«

* * *

Er packt meine Sachen. Er will vortäuschen, dass ich weg bin. Das ist gut. Vielleicht interessiert er sich gar nicht für Lilou. Vielleicht verschwindet er, wenn die Tasche voll ist. Wenn er erkennt, dass er hier nicht finden wird, was er sucht.

Lilou schläft. Die blonden Locken leuchten im Halbdunkel wie ein Heiligenschein und umrahmen ihr engelsgleiches Gesicht mit den immer rosigen Pausbäckchen, während alles um sie herum in grauen Schwaden verschwimmt, als würde dichter Nebel die Möbel verschlucken. Ihr Atem ist regelmäßig, ihre Gesichtszüge sind friedlich. Um ihren Mund deutet sich ein Lächeln an, das selbst im Schlaf ihre überschäumende Lebensfreude verrät. Vielleicht bemerkt er sie nicht.

Schlaf, Prinzessin, schlaf.

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer geht auf. Sein Kopf, gefolgt von seinem kräftigen Körper, schiebt sich durch die Tür. Seine Hand sucht nach dem Lichtschalter. Findet ihn. Licht flammt auf. Viel zu helles Licht. Es wird sie aufwecken.

Schlaf, Prinzessin, schlaf.

Seine Hände reißen die Türen des Kleiderschranks auf und durchsuchen ihn, heben Stapel für Stapel hoch und legen sie zurück, schütteln Handtücher aus und falten sie wieder zusammen. Wie durch eine Lupe sehe ich die Hände, die sich durch den Inhalt des Schrankes wühlen. Erkenne den Schmutz unter den Fingernägeln, der die Geschichte meines einsamen Grabes erzählt.

Ich bewache Lilous Atemzüge, konzentriere mich auf die leisen Schlafgeräusche, als könnte ich sie davon abhalten, aufzuwachen.

Die Schranktür knallt zu.

Lilou rührt sich. Ihr Kopf dreht sich von links nach rechts.

Schlaf, Prinzessin, schlaf.

Die Hände wühlen sich durch eine Schublade. Außer Babyunterwäsche und Strumpfhosen ist dort nichts zu finden.

Lilous Kopf hebt sich. Ihre himmelblauen Augen zwinkern, das Licht tut ihr weh.

Sei still, Prinzessin, sei still.

Ich möchte sie hochnehmen und mit ihr davonschweben, sie in Sicherheit bringen, bevor sie sich bemerkbar macht. Doch ich muss hilflos mit ansehen, wie sie sich an den Gitterstäben hochzieht. Gleich wird sie reagieren, wie sie immer auf Fremde reagiert. Sie wird anfangen zu weinen.

Sei still, Prinzessin, sei still.

Ihr Mund öffnet sich. Doch es bleibt still, als hätte sie meine stumme Beschwörung gehört. Dann läuft ihr Gesicht rot an, der Kiefer zittert, und ohne dass ich eingreifen kann, zerreißt ihr Schrei die Stille.

Die Schublade fliegt zu, Hände verharren kurz in der Luft, die Nebelschwaden im Raum verfärben sich dunkel. Ich sehe Lilous Bärenkissen. Es tanzt durch die dunklen Schwaden, getragen von fleischigen Händen. Von Händen, die sich in den Stoff krallen, bis sich das freundliche Lächeln des Bären zu einer Grimasse verzerrt.

* * *

Hanna sah auf den Taxameter und reichte dem Fahrer einen Zwanzigeuroschein. »Sehen Sie, wir sind angekommen, obwohl es Freitag der Dreizehnte ist ...«

Er nahm das Geld und kruschte umständlich in seinem Portemonnaie.

»Behalten Sie den Rest.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. Als sie schon auf der Straße stand, ließ der Fahrer sein Fenster herunter und streckte den Kopf heraus.

»Würden Sie mir bitte ein Autogramm geben?« Er hielt Hanna einen abgewetzten Stadtplan hin, wie man ihn seit dem Vormarsch der Navigationssysteme nur noch selten sah. »Jetzt mit dem Rekord, da sind Sie doch so was wie eine Berühmtheit, oder?«

Hanna signierte den Stadtplan. »Nicht wirklich. Und, ganz ehrlich, ich will auch keine sein.«

»Ach, kommen Sie schon, jeder will berühmt sein.« Der Fahrer betrachtete zufrieden ihre Unterschrift und stopfte die Karte dann zwischen Sitz und Mittelkonsole.

»Gut, dass ich nicht jeder bin«, grinste sie und nickte ihm zum Abschied zu.

»Sie sind aber berühmt, sonst hätte ich Sie ja nicht erkannt, oder?«, rief er ihr hinterher. Hanna winkte mit der Hand, ohne sich noch einmal umzudrehen, und stieg die Stufen zu der schweren, alten Haustür hoch, deren Farbe sich im Laufe der Jahre dem dunklen Klinker der Wand angepasst hatte. Während sie aufschloss, erfüllte sie eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit. Wie schön es war, nach Hause zu kommen und zu wissen, dass Steve auf sie wartete. Sie konnte seine Nähe schon fast spüren. Seine warme, weiche Haut, wenn sie beim Einschlafen ihren Rücken an seinen Bauch schmiegte und er seinen Arm um ihren Körper legte. Sie freute sich darauf, ihm von dem Abend zu erzählen, von der Liveband und den makrobiotischen Nachspeisekreationen, und gemeinsam zu vergleichen, ob der Event dieses oder doch letztes Jahr das größere Spektakel gewesen war. Ich dachte schon, Sie hätten sich getrennt. Hanna konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wie schnell Gerüchte entstanden. Sie erreichte den Treppenabsatz. In wenigen Sekunden würde Steve sie in seine Arme nehmen. Dann würde sie ins Kinderzimmer schleichen, sich über das Gitterbett beugen, Lilous unvergleichlichen Duft einatmen und wissen, dass ihr Glück auch am Freitag, dem Dreizehnten vollkommen war. Eilig stieg sie die knarzenden Stufen in den zweiten Stock hinauf und schloss die Wohnungstür auf. Sie hängte ihre Handtasche an die Garderobe, schlüpfte aus den hochhackigen Pumps und genoss das Gefühl, barfuß über die alten Holzdielen zu laufen. Doch dann blieb sie abrupt stehen. Vor ihr lag das Bärenkissen aus Lilous Zimmer. Was Steve wohl mit Lilou gespielt haben mochte, dass ihr Kissen im Flur lag? Lächelnd hob Hanna es auf. Er würde immer ein Chaot bleiben.

»Steve?«

Erst jetzt fiel ihr das Lichtermeer auf. Alle Zimmertüren standen offen, überall brannte Licht. Sogar in Lilous Zimmer war die Deckenbeleuchtung eingeschaltet, als hätte sie plötzlich Angst, im Dunklen zu schlafen. Dafür musste es einen Grund geben. Selbst Steve ließ sonst nicht alle Lichter brennen. Hanna beschleunigte ihren Schritt. War er mit Lilou gemeinsam vor dem Fernseher eingeschlafen?

»Steve?«

Sie trat ins Wohnzimmer und überblickte den Raum. Der Fernseher lief, aber der Ton war abgestellt. Das riesige Ecksofa war unberührt, die bunten Kissen noch genauso angeordnet wie vor sechs Stunden, als sie die Wohnung verlassen hatte. Auf dem Plexiglaskubus, der als Sofatisch diente und dessen Innenleben aus Dutzenden von Zeitschriften und Zeitungen bestand, lagen die Fernbedienung, Steves Zigarettenetui und sein Feuerzeug. Lilous Spieltruhe war geschlossen, und der Stoffhund thronte wie immer auf dem Deckel, in Vorbereitung auf den nächsten Morgen, wenn Lilou über den weichen, weißen Berberteppich laufen und ihn an sich drücken würde.

Hanna verließ das Wohnzimmer. Steve musste mit Lilou eingeschlafen sein. Er hätte sie längst hören müssen. Sie horchte in die Stille, lauschte auf sein Schnarchen. Aber das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war ihr eigener Atem, viel zu laut, viel zu schnell. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während Bilder durch ihren Kopf schossen: Lilou am Boden, von der Wickelkommode gefallen, Steve in Panik, ein Krankenwagen, Steve und Lilou im Krankenhaus. Sie presste Lilous Bärenkissen an sich und hastete über den Flur zum Kinderzimmer.

»Steve?«, rief sie, und ihre Stimme nahm einen unnatürlich hohen Klang an. Sie betrat den hell erleuchteten Raum. Lilou lag in ihrem Bettchen. Sie lief zu ihr. Alles war gut. Lilou schlief.

Vor dem Bett blieb Hanna stehen. Etwas stimmte nicht. Das Kissen in ihren Armen fiel zu Boden, gespenstisch langsam, als bremse ein unsichtbarer Widerstand seinen Fall. Warum war Lilous Gesicht so bleich? Ihre Lippen bläulich? Warum hob und senkte sich der Brustkorb nicht bei jedem Atemzug? Hannas Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch es kam nur ein ersticktes Ächzen heraus. Sie beugte sich über die Gitterstäbe, und ein Adrenalinstoß, so schmerzhaft, dass er ihr den Atem raubte, durchfuhr sie.

»Nein!« Sie riss das leblose Kind aus dem Bettchen und fühlte seinen Puls. Doch sie war viel zu aufgeregt, um irgendetwas außer ihrem eigenen, rasenden Puls zu spüren. Sie lauschte auf Lilous Atemzüge und hörte nur das Rauschen in ihren Ohren. Mit aller Anstrengung unterdrückte sie die aufsteigende Panik und versuchte sich an die Übung aus dem Erste-Hilfe-Kurs für Säuglinge zu erinnern. Sie legte Lilou auf der Wickelkommode ab, überspannte den Hals und beatmete sie so vorsichtig, als wäre sie ein kleines Vögelchen, immer darauf bedacht, die Lunge nicht zu überblähen. Während sie mit zwei Fingern Lilous Herz sanft massierte, hämmerte sie gleichzeitig mit dem Fuß wie verrückt auf den Boden und hoffte verzweifelt, dass Britt in der Wohnung unter ihr reagieren würde.

* * *

Was macht Mami?

Sie versucht dich zurückzuholen, Prinzessin.

Hannas Angst färbt die Nebelschwaden um sie herum tiefrot. Ich sehe die Panik in ihren Augen, spüre die Verzweiflung, wenn sie die Luft einsaugt, um sie dann in kleinen Stößen in Lilous Lungen zu pressen. Sie hebt Lilou von der Kommode hoch und läuft mit ihr zur Tür, ohne mit der Beatmung aufzuhören. Sie öffnet die Tür, und jemand tritt ein in den blutroten Nebel, der immer dichter wird, sodass ich nichts erkennen kann. Selbst Hanna verschwindet langsam darin. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, bevor ich den Kontakt zu ihr verlieren werde.

Geh zurück, Prinzessin, geh zurück. Ich brauche dich dort.

Kommst du mit?

Für mich ist es zu spät.

Dann bleibe ich bei dir.

Nein, das darfst du nicht. Du musst zurück. Du musst vollenden, was ich nicht geschafft habe. Mami ruft nach dir, hörst du sie nicht?

Hanna ist fast vollständig im Nebel verschwunden. Ich strenge mich an, doch ich dringe nicht mehr bis zu ihr durch.

Und du?

Ich werde bei dir sein, Prinzessin, jede Minute, jede Sekunde. Ich werde immer bei dir sein.

Die Farbe des Nebels verändert sich, er lichtet sich. Als wäre es mein eigenes, spüre ich das zaghafte Schlagen von Lilous Herz und begreife, dass es ganz und gar nicht vorbei ist. Dass ich eine zweite Chance bekommen habe. Dass es erst vorbei sein wird, wenn ich getan habe, was ich tun muss.

Samstag, 14. Mai

1

Wie benommen saß Hanna auf einer der Bänke des noch menschenleeren Krankenhausvorplatzes. Zum hundertsten Mal wählte sie Steves Nummer. Zum hundertsten Mal hörte sie die Ansage, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei. Sie schluchzte laut auf. Steve! Wo bist du nur?

Ihr Verstand versuchte zu begreifen, was geschehen war, was gerade geschah.

Atemstillstand.

Wiederbelebung.

Zu wenig Sauerstoff im Gehirn.

Intensivstation.

Hochrisikopatient.

Wird sie überleben? Wird sie Schäden davontragen? Wie hatte das passieren können? Lilou war nicht krank. Sie war aus dem Risikoalter für plötzlichen Kindstod bereits heraus.

Wo war Steve?

Fragen. So viele Fragen.

Keine Antworten.

Sie musste an etwas anderes denken, so konnte sie nicht auf die Intensivstation zurückkehren. Durch den Tränenschleier betrachtete sie das Gebäude der Universitätsklinik. Im leichten Morgennebel lag es gespenstisch vor ihr, und die blutroten Gerüste und silbrig schimmernden Rohre, die sich kreuz und quer über die Fassade zogen, gaben Hanna das Gefühl, in einem Science-Fiction-Film mitzuspielen. Es musste ein Traum sein. Ein schrecklicher Traum, der sie gefangen hielt, ihre Glieder lähmte und sie daran hinderte, einfach aufzuspringen und davonzulaufen. Einfach davon. Kilometer um Kilometer. Zurück in die Wirklichkeit, wo Steve und Lilou auf sie warteten.

»Frau Warrington?«

Hanna drehte den Kopf, als eine männliche Stimme zum zweiten Mal ihren Namen rief. Sie fröstelte. Noch immer trug sie das kurze schwarze Kleid, in dem sie sich auf dem Event so wohlgefühlt hatte. Es war viel zu dünn für diesen trüben, kalten Morgen.

Die Böden waren alle grün gestreift. Helles Grün, leuchtendes Grün, dunkles Grün. Hoffnungsgrün. Hanna lief hinter dem Pfleger her. Die Augen auf den Boden geheftet versuchte sie die Streifen zu zählen und so die Gedanken abzuwehren, die sich wie Giftpfeile in ihr Gehirn bohrten. Dass Lilou tot sein konnte. Dass sie ihre letzten Minuten versäumt hatte. Dass sie nie wieder dieses glockenhelle Lachen hören würde, das jeden Raum mit guter Laune füllte und zum Quietschen wurde, wenn Hannas Finger wie eine Armee fleißiger Ameisen ihre Beine hinaufflitzten und zu den Ärmchen ausschwärmten.

Hannas Blick wanderte zu den weißen Schuhen des Pflegers. Das Knirschen der Plastiksohlen auf dem Linoleum vermischte sich in ihrem Kopf mit den drolligen Patschgeräuschen von Lilous nackten Füßen auf dem Parkett, als sie ihr am frühen Abend in die Küche gefolgt war, ihren Breiteller aus der Plastikschublade geholt und voller Ungeduld gegen ihre Wade gestupst hatte.

»Da wären wir.« Der Pfleger deutete auf die Schleuse zur Intensivstation 11. Er läutete und kündigte sie an. Die Zeit, bis Hanna Schritte auf der anderen Seite der Tür vernahm, kam ihr endlos vor. So endlos wie die Zeit in ihrer Wohnung, als sie mit Britt auf den Notarzt gewartet hatte. Endlich wurde die Tür geöffnet. Eine Krankenschwester drückte Hanna einen Schutzkittel in die Hand. Sie schlüpfte gerade in die Ärmel, als die Oberärztin den Gang betrat. Schon von Weitem versuchte sie im Gesicht der Ärztin zu lesen, den Blick ihrer müden Augen, die gerade, fast steife Haltung des Kopfes zu deuten.

»Frau Warrington«, sagte die Ärztin, und in Hannas Kopf begann es zu rauschen, als stünde sie neben einem Wasserfall. Sie sah, wie der Mund der Ärztin sich bewegte, doch sie hörte nicht, was sie sagte. Schließlich verzogen sich die Lippen der Ärztin zu einem Lächeln. Sie lächelte! Der Wasserfall versiegte abrupt. Die Stille in Hannas Kopf war unbeschreiblich.

»Frau Warrington? Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie können jetzt zu Ihrer Tochter.«

Hanna nickte. Ihr Unterkiefer zitterte. Nach einem weiteren prüfenden Blick drehte sich die Ärztin um und ging den Flur entlang. Hanna folgte ihr. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis die Ärztin endlich vor einer Tür anhielt und sie aufdrückte. Dicht hinter ihr betrat sie das Krankenzimmer. Das gleichmäßige Piepen des Herzmonitors begrüßte sie wie ein alter Freund. Es war das schönste Geräusch auf der Welt.

2

Das Klopfen an der Tür klang zaghaft, als überlege der Besucher, ob er das Krankenzimmer wirklich betreten oder lieber umkehren sollte. Steve! Hanna sprang von ihrem Stuhl und lief zur Tür. Als sie die Hand zur Klinke ausstrecken wollte, wurde ihr bewusst, dass Steve niemals so schüchtern an die Tür geklopft hätte. Sie blieb stehen.

Die Tür öffnete sich langsam, und ein Nest aus toupiertem schwarzem Haar schob sich durch den Spalt. Britt. Natürlich, sie hatte Britt ja selbst darum gebeten, ihr Kleidung zum Wechseln zu bringen.

»Komm rein«, sagte sie leise, um Lilou nicht zu wecken.

Britt öffnete die Tür ein Stück weiter, winkte zur Begrüßung und trippelte ins Zimmer. Sie stellte den kleinen Koffer auf dem Tisch ab und setzte sich auf einen der beiden Stühle.

»Wie geht es Lilou?«

»Sie ist stabil.« Hanna drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Lilou lebt. Es ist alles gut. Sofort meldete sich die Stimme, die sie seit Stunden mit den ewig gleichen Fragen marterte: Was ist in der Wohnung passiert? Wo ist Steve? Warum meldet er sich nicht?

Wie konnte sie denken, dass alles gut war, solange sie keine Antwort auf diese Fragen hatte?

Sie öffnete den Reißverschluss des Koffers und klappte den Deckel auf. »Hast du Steve gesehen?«

Britt legte den Kopf schief und musterte Hanna. »Nein«, sagte sie dann und zog das Wort dabei betont in die Länge. »Habe ich nicht. Hast du nicht mit ihm gesprochen?«

Hanna entnahm dem Koffer die Kleidung, die Britt ordentlich gefaltet hineingeschichtet hatte, und presste sie an ihren Bauch. »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Du weißt nicht, wo er ist?«

»Ich kann ihn nicht erreichen.« Sie wandte sich ab und räumte umständlich den schmalen Spind ein, während sie Britts bohrenden Blick in ihrem Rücken spürte, die nicht gestellten Fragen förmlich hörte. Kommt das öfter vor? Habt ihr euch gestritten?

Sie unterdrückte die Angst, die in ihr hochschwappte, verdrängte die Bilder, die sie quälten. Steve zusammengeschlagen in einer dunklen Gasse. Steve orientierungslos im Wald ...

»Hat das mit dem Schlüssel geklappt?«, wechselte sie schnell das Thema.

»Völlig problemlos. Ich soll dir von Simon schöne Grüße bestellen, und er wünscht Lilou gute Besserung.« Britt kicherte. »Der hat eure Kundinnen ganz schön im Griff ...Wie alt ist das Schmuckstück eigentlich?«

»Sechsundzwanzig.« Hanna schloss den Spind und kam zum Tisch zurück. Dass Simon Britt beeindruckt hatte, verwunderte sie nicht. Mit seinen schulterlangen Haaren und dem offenen Lächeln strahlte er den lässigen Charme eines Surfers aus, dessen einzige Sorge die nächste Welle war. »Steve hat ihn eingestellt, als Lilou auf die Welt kam.«

Die Zimmertür ging auf, und die Schwester kam herein. »Zeit zum Fiebermessen!«

Wie auf Kommando stand Britt auf. »Ich geh dann besser. Melde dich, wenn du was brauchst, ja?«

Sie küsste Hanna auf beide Wangen. »Pass auf euch auf«, flüsterte sie, dann verließ sie auf ihren Stöckelschuhen den Raum.

Hanna sah ihr nach. Wie selbstverständlich sie ihre Hilfe angeboten hatte. Als seien sie seit Jahren befreundet. Dabei kannten sie sich kaum. Wie lange wohnte Britt jetzt unter ihnen? Zwei Monate? Drei? Sie konnte es nicht genau sagen, obwohl sie sich schon so oft im Treppenhaus begegnet waren. Wenn sie es recht bedachte, hatte sie Britt in der kurzen Zeit öfter gesehen als die alte Frau im Erdgeschoss im ganzen letzten Jahr. Und Britt hatte sie immer in eine Unterhaltung verwickelt.

»Ich habe nachgefragt, wegen Ihrem Mann.« Die Schwester sah prüfend auf das Thermometer und nickte dann zufrieden. »Er ist in keinem Krankenhaus in der Umgebung gemeldet. Es ist auch kein Namenloser aufgetaucht, auf den seine Beschreibung passt.«

Die Hoffnung, die Hanna den ganzen Tag über gehegt hatte, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Sie war überzeugt gewesen, die Schwester würde Neuigkeiten über Steves Verbleib mitbringen. Ein Unfall. Ein Überfall. Eine Notsituation. Ein Freund hatte ihn zu Hilfe gerufen. Auf Leben und Tod. Ihre Augen wurden feucht.

»Nun schauen Sie doch nicht so verzweifelt.« Die Schwester lächelte sie aufmunternd an. »Dass er in keinem Krankenhaus liegt, ist doch ein gutes Zeichen.« Sie steckte das Thermometer in ihre Kitteltasche und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ihr Mann kommt sicher bald zurück. Glauben Sie mir, der merkt ganz schnell, dass es zu Hause viel schöner ist. Das ist doch meistens so.«

Hanna zwinkerte, um die Tränen zurückzudrängen. Das waren auch die Worte des freundlichen Polizeibeamten gewesen, bei dem sie Steve als vermisst gemeldet hatte. Dass er Lilou allein gelassen und sie einen Atemstillstand gehabt hatte, hatte sie nicht erwähnt. Sie musste nicht einmal ihre Jurakenntnisse bemühen, um zu wissen, dass sie ihn damit in Schwierigkeiten bringen könnte. Dennoch hatte der Polizist die Personenbeschreibung aufgenommen und ihr versprochen, sie an die Streifenwagen weiterzuleiten. Sie hatte ihm die Nummer der Station gegeben, um immer erreichbar zu sein. Jetzt konnte sie nur noch warten, auch wenn sie es kaum aushielt, nicht ihre Joggingschuhe anzuziehen und sofort die Straßen nach ihm abzulaufen. Sie stellte sich ans Bett neben Lilou. Steve kommt sicher bald zurück. Ja. Er kommt sicher bald zurück.

Freitag, 20. Mai

3

Der Flur sah noch genauso aus wie vor sechs Tagen. Die Schuhe standen ordentlich aufgereiht an der Garderobe, die Briefe, die sie auf der Kommode abgelegt hatte, um sie am nächsten Tag zur Post zu bringen, waren unverrückt. Steve war nicht hier gewesen.

Hanna verharrte einen Moment auf der Schwelle, als verweigere ihr eine unsichtbare Macht den Zutritt. Die Rückkehr nach dem Krankenhausaufenthalt fiel ihr schwer. Sosehr sie gehofft hatte, die Tür zu öffnen und Steves übliches Chaos vorzufinden, so sehr schmerzte sie jetzt der Anblick des ordentlichen Flurs. Schließlich trat sie ein, streifte ihre Schuhe ab und drehte sich zu Britt um. »Vielen Dank fürs Abholen. Bleibst du noch auf einen Kaffee?«

Sie brachte die schlafende Lilou in die Küche und legte sie dort behutsam auf ihr Lammfell. Wie tief und friedlich sie schlief. Hanna schauderte es. Tief und tückisch. Tief und tödlich. Der Schlaf, aus dem die Babys nicht mehr erwachten. Sie beugte sich über sie und neigte ihr Ohr ganz nah an Lilous Mund. Leise Atemgeräusche drangen zu ihr. Beruhigt ging sie zurück und legte ihre Jacke ab. Britt stand noch immer unschlüssig in der Tür. Energisch winkte Hanna sie herein.

Britt zog ihre Pumps aus, und Hanna bemerkte, wie klein ihre neue Nachbarin war. Grob geschätzt einen Meter sechzig, auch wenn sie mit den hohen Absätzen und den hochtoupierten schwarzen Haaren größer wirkte. Hanna fragte sich, wie Britt es schaffte, den ganzen Tag auf diesen Absätzen zu stehen. Sie nahm Britts Jacke und hängte sie zu ihrer.

»Kaffee oder Tee?«

»Wasser. Kaffee ist tödlich für den Teint.« Britt folgte ihr in die Küche und setzte sich auf die Bank unter dem Fenster. Hanna stellte für sie ein Glas Mineralwasser auf den Tisch und machte sich einen Kaffee. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Britt das Gesicht der schlafenden Lilou studierte, als wollte sie sich jeden Zug genau einprägen.

»Ich habe immer noch nicht verstanden, was ihr nun eigentlich gefehlt hat«, sagte Britt, als Hanna sich mit dem Kaffee an den Tisch gesellte.

»Sie hatte einen Atemstillstand. Einfach so. Es wurden alle möglichen Tests gemacht. Aber die Ärzte haben keine Erklärung gefunden ...« Hannas Stimme brach. Sie betrachtete ihre Tochter, deren Lippen im Schlaf ein Lächeln andeuteten.

Britt sah sie mitfühlend an. »Da hast du ganz schön Glück gehabt. Stell dir mal vor, du hättest nicht nach ihr gesehen! Hat sie ... Bleiben irgendwelche ... Schäden?«

»Weiß ich nicht. Die Ärztin meint, es sei zu früh für einen endgültigen Befund. Es kommt darauf an, wie lange ihr Gehirn ohne Sauerstoff war.«

Anstelle einer Antwort legte Britt ihre Hand auf Hannas Arm. Die Geste sagte mehr, als sie mit Worten hätte ausdrücken können, und Hanna spürte die Wärme, die von ihr ausging. Wie man sich täuschen konnte. Sie hatte Britt als oberflächlich eingestuft. Ihr perfektes Styling, der trendige Look, mit dem sie ein wenig an eines dieser Popstarlets erinnerte. Es musste sie Stunden kosten. Sie bat Britt innerlich um Abbitte, sie in eine Schublade gesteckt zu haben, nur weil ihr selbst es genügte, kurz durch die schulterlang gestuften Locken zu kämmen und etwas Mascara und Lipgloss aufzutragen. Inzwischen begriff sie, dass Britts Aussehen Teil ihres Jobs war. Und dass einer Friseurin das Ausfragen und Zuhören zur zweiten Natur wurde, konnte sie nachvollziehen.

»So eine Hübsche«, sagte Britt schließlich in das Schweigen hinein. »Sieht sie Steve ähnlich?«

»Hast du Steve denn noch gar nicht kennengelernt?«, fragte Hanna erstaunt.

»Ich habe ihn nur zwei- oder dreimal kurz im Treppenhaus gesehen.«

Hanna ging zur Pinnwand neben der Küchentür und nahm ihr Lieblingsfoto von Steve herunter. »Hier. Sie hat seinen Mund, findest du nicht?«

Britt vertiefte sich in das Foto. Steve mit zerzausten Haaren an Bord des Segelbootes, das sie vorletzten Sommer an der Nordsee gemietet hatten. Den Mund zu einem breiten Lachen verzogen, die muskulösen Arme spielerisch nach vorne gestreckt, als wolle er den Fotografen davon abhalten, ihn auf den Film zu bannen. Das Bild brachte alles zum Ausdruck, was sie an Steve liebte: die Unbekümmertheit, mit der er sich über Regeln hinwegsetzte, den Humor, die Abenteuerlust. Wie anders die letzte Woche im Krankenhaus mit ihm zusammen verlaufen wäre ... Wäre! Die brennende Ungewissheit meldete sich wieder. Die Bilder, die sie seit Tagen verfolgten. Die sich, genährt von ihrer angstbeflügelten Fantasie, in einer unendlichen Schleife wiederholten. Die sie jeden Abend so lange gequält hatten, bis sie der Schwester Bescheid gesagt und ihre Joggingschuhe angezogen hatte, um mit der gleichen Beharrlichkeit die Straßen nach Steve abzulaufen, mit der sie früher die Unterlagen ihrer Eltern nach Antworten abgesucht hatte. Steves Verschwinden war unerklärlich. Nie hätte er Lilou alleine zurückgelassen. Nie. Das hatte er am Abend vor dem Event erst wieder bestätigt.

Ich vertraue unsere Prinzessin keinem Fremden an.

Es ist doch nur für ein paar Stunden.

Nicht einmal für eine Minute.

Wenn du so weitermachst, wird sie nie aufhören zu fremdeln.

Alle Kinder fremdeln. Das ist ein Schutzmechanismus.

Aber nicht so extrem wie Lilou. Sie fängt schon an zu weinen, wenn sich jemand hinter mir an der Kasse anstellt.

Nächstes Jahr. Wir haben alle Zeit der Welt, um wieder gemeinsam zu solchen Veranstaltungen zu gehen.

Was immer geschehen sein mochte, um Steve aus der Wohnung zu locken, es blieb jenseits ihrer Vorstellungskraft. Sie wandte sich schnell ab und fischte eine Zuckertüte aus einer Schale mit Rosenmuster. Ihre Nachbarin sollte nicht sehen, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.

Britt legte das Foto zur Seite. »Ich finde, Lilou sieht eher dir ähnlich. Die blauen Augen und die blonden Haare hat sie jedenfalls von dir. Hast du mehr Bilder?«

»Natürlich.« Hanna wischte sich verstohlen die Augen, dann zog sie ein Fotoalbum aus dem Regal neben dem Küchentisch. »Unsere Hochzeitsreise.«

Gierig griff Britt nach dem Album und verschlang Seite um Seite, als hätte Hanna ihr exklusive Skandalbilder eines A-Promis offeriert.

»Wie habt ihr euch denn kennengelernt?«

»In einer Kneipe.« Hanna lächelte bei dem Gedanken an ihre erste Begegnung mit Steve. »Er hat mir ein Bier über die Hose geschüttet und mich zur Entschädigung zum Essen eingeladen.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Jahren. Ziemlich genau ein Jahr nachdem ich hierhergezogen bin. Und als ich ihm erzählt habe, dass ich bei einem Schlüsseldienst jobbe, hat er mich sofort abgeworben. Er hat seine Firma kurz zuvor von einem alten Mann übernommen, und es gab ziemlich viel zu tun. Dann bin ich schwanger geworden, und als Lilou kam, habe ich aufgehört zu arbeiten. Abgesehen von dem Bürokram, den ich hier erledige.«

»Hast du ihn inzwischen erreicht?«

»Nein.« Hanna wich Britts Blick aus. Sie setzte sich neben sie und blätterte in dem Album, das noch immer aufgeschlagen vor ihr lag. Jedes Bild bezeugte das unbeschreibliche Glück, das sie damals erfüllt hatte. Abrupt klappte sie es zu.

»Er hat dich verlassen, nicht wahr?« Britts Hand lag auf ihrer, und ihre Stimme war ganz weich.

»Natürlich nicht.« Hanna zog ihre Hand zurück. »Steve ist keiner, der sich heimlich davonschleicht.«

»Er war hier«, fuhr Britt unbeirrt fort. »Vorgestern. Deshalb war ich so verwundert, dass du mit dem Taxi heimkommen wolltest.«

Hanna erstarrte. »Du hast ihn gesehen?«, presste sie hervor.

»Gehört. Er ist von Zimmer zu Zimmer gegangen. Du weißt ja, wie hellhörig das Haus ist ... Ich bin dann hoch ... Ich wollte fragen, wie es Lilou geht.«

»Und dann?«

»Er hat nicht aufgemacht.« Britt tastete erneut nach Hannas Hand, ergriff sie und drückte sie so fest, dass Hannas Ehering sich schmerzhaft gegen Mittelfinger und kleinen Finger drückte »Ich wusste nicht, ob ich dir davon erzählen sollte. So wie du jetzt schaust, hätte ich wohl besser den Mund gehalten.«

Hanna atmete tief durch. Der Schmerz in den Fingern lenkte sie ein wenig von dem Krampf ab, der ihr Herz zerquetschte wie eine Schrottpresse ein ausgemustertes Auto. Britt musste sich getäuscht haben. Das Haus hatte eine seltsame Akustik. Manchmal klang es, als liefe jemand über einem herum, und dabei kam der Lärm aus der Wohnung darunter. Als sie sich verabschiedet hatte, um zu dem Kunden-Event zu gehen, hatte er sie zärtlich geküsst. Erst auf die Stirn, dann auf die Nase, dann auf den Mund, wie er es immer machte. Drei Küsse, symbolisch für ihre kleine Familie. Du hättest Britt die Tür geöffnet und gefragt, wo wir sind.

»Vielleicht hast du dich verhört.«

»Verhört?« Britt zog die Augenbrauen nach oben. »Was gibt’s denn zu verhören, wenn ich vor der Tür stehe und dahinter rumpelt’s?«

Hanna sprang auf. »Warte.«

Sie lief ins Schlafzimmer und riss den Schrank auf. Sofort bemerkte sie die Lücke, wo letzte Woche noch seine Reisetasche gestanden hatte. Übelkeit stieg in ihr hoch. Er hatte seine Tasche gepackt. Mit einem schnellen Blick überflog sie den Inhalt des Schranks. Es fehlten T-Shirts und die schwarzbraun karierte Hose. Mehr registrierte sie nicht, bevor sie zur Toilette rannte und sich übergab.

Obwohl sie sich ihre Gesellschaft vorhin so sehr gewünscht hatte, hoffte sie jetzt inständig, dass Britt in der Zwischenzeit gegangen war. Doch sie hörte ihre Stimme leise aus der Küche durch den Flur wandern und fragte sich, mit wem sie wohl redete. Hanna holte tief Luft, zählte bis drei und trat in die Küche. Lilou saß auf Britts Schoß und sah gebannt auf die Seiten des Bilderbuches, aus dem Britt ihr vorlas. Noch nie hatte Lilou auf dem Schoß eines Fremden gesessen. Sie hätte eigentlich weinen müssen, als sie nach dem Aufwachen nur Britt in der Küche gesehen hatte.

»Alles okay?« Britts Stimme verriet, dass sie genau wusste, dass nichts okay war.

»Ich habe Lilou gar nicht gehört.«

Britt strich eine besonders widerspenstige Locke aus Lilous Stirn. »Sie ist aufgewacht, und da habe ich sie auf den Arm genommen. Das ist doch in Ordnung?«

»Natürlich.« Hanna verharrte auf der Stelle. Sie konnte ihren Blick nicht von den beiden lösen.

Lilou blätterte die Seite des Buches um und hob ihren Kopf zu Britt, als hätte sie Hannas Anwesenheit gar nicht bemerkt. Britt zeigte mit dem Finger auf eine Kuh. »Wie macht die Kuh? Muuuuhhh!«

»Mmmm.« Lilous Hand klatschte auf die Kuh. »Mmmu.«

Hanna schüttelte still den Kopf. War Lilous neue Zutraulichkeit dem Kommen und Gehen der Schwestern und Ärzte im Krankenhaus geschuldet? Oder war es der erste Vorbote einer Veränderung? Einer Veränderung, die Lilous Leben dominieren würde, die auf eine Schädigung eines Gehirnbereichs zurückzuführen war? Hanna spürte ein Ziehen, als säße ihr ein Seilzug zwischen Kehle und Magen.

»Ich mache Lilou einen Brei. Kann sie solange bei dir sitzen bleiben?«

»Gerne.«

Hanna sah, wie Britt Lilou liebevoll durch die Haare blies und gemeinsam mit ihr auf die nächste Seite blätterte.

Sie kochte Wasser und ließ es abkühlen, bevor sie den Brei anrührte. Die Stimmen von Britt und Lilou verschwammen im Hintergrund, während sie versuchte zu realisieren, was Steves verschwundene Reisetasche bedeutete. Er war weggegangen. Hatte Lilou allein gelassen. Mitten in der Nacht. Ohne ein Wort.

»Ich hatte recht, nicht wahr?«

Britts Stimme war so einschmeichelnd, als wollte sie ein Kind trösten, doch Hanna traf jedes Wort wie ein Fausthieb. Als wären Tausende Klumpen in dem glatten Brei, prügelte sie mit dem Löffel auf die gelbliche Masse ein.

»Du brauchst jetzt eine gute Freundin an deiner Seite.«

Der Löffel schlug gegen die Seiten der Breischüssel. Die Masse rutschte daran herunter und warf Runzeln.

»Die einzige Freundin, die mir jetzt helfen könnte, ist nach Australien gezogen.« Hanna setzte sich mit der Breischüssel zu Britt und Lilou. Sie öffnete die Schublade, zog Lilous Zwergenset unter den Korksets hervor und legte es auf den Tisch. »Möchtest du sie füttern?«

Britt nickte und schob das Buch zur Seite. Sie tauchte den Löffel in den Brei und führte ihn an Lilous Mund. Lilou kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Hanna nahm Britt den Löffel aus der Hand.

»Komm, Püppchen. Dein Lieblingsbrei.«

Lilou schlug den Löffel weg, der Brei landete auf Britts Bluse und in ihrem schwarzen Haarnest.

»Lilou!« Hanna sprang auf und nahm Lilou von Britts Schoß. »Entschuldige bitte. Das hat sie noch nie gemacht.«

Britt ging zur Spüle, nahm ein Küchenhandtuch vom Haken und befeuchtete es. »Vielleicht hat sie keinen Hunger.«

Geschickt befreite sie Bluse und Haare von den Breispuren. »Hast du denn keine andere Freundin, die vielleicht ein paar Tage zu dir ziehen könnte?«

»Nein. Zu den Freundinnen, mit denen ich früher durch die Bars gezogen bin, habe ich kaum noch Kontakt, und mit den Müttern aus der Mutter-Kind-Gruppe bin ich noch nicht so weit.« Sie bemerkte Britts skeptischen Blick. »Ich habe mich damals total zurückgezogen. Irgendwie gab es in meinem Leben nur noch Steve und die Firma. Und als Lilou kam ... So ein Baby krempelt deine Welt ganz schön um.«

Hanna setzte sich mit Lilou in die Spielecke und schlug ein Buch auf. »Wollen wir die Maus suchen?«

Lilou ließ ihren Blick über die Seite gleiten, dann stupste sie mit dem Zeigefinger auf die zwischen hohen Grashalmen versteckte Maus.

»Das hast du gut gemacht!« Hanna küsste Lilou auf den Kopf und blätterte um.

»Echte Freunde zu finden ist nicht so einfach, wenn man neu anfängt«, sagte Britt unvermittelt.

Hanna dachte an die vielen Begegnungen im Treppenhaus, in denen Britt versucht hatte, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

»Ich habe es dir nicht gerade leichtgemacht. Entschuldige.«

»Schon gut.« Britt legte das feuchte Handtuch neben die Spüle. »Erst habe ich mich gewundert. Aber dann hat mir die Alte im Erdgeschoss rechts erzählt, dass dein Vater Ministerpräsident Werner von Ebershausen ist. Und da dachte ich, okay, bin vielleicht nicht der richtige Umgang.«

Hanna stand auf, ging zu Britt und umarmte sie. »Unsinn! Ich dachte einfach, du als Single und ich als Mutter, das passt nicht. Aber darauf kommt es nicht an. Das sehe ich jetzt. Es heißt immer, in der Not erkennst du deine Freunde. Danke, dass du für mich da warst.«

4

19. Januar 1991Der Neue heult immer noch. Wir waren alle gespannt, wen der Alte zu uns aufs Zimmer legen würde. Luke hat noch Witze gerissen, heute früh, als das leere Bett neu überzogen wurde, obwohl wir gewusst haben, dass niemand das Loch stopfen kann, das Marcus’ Tod in unsere Clique gerissen hat. Der Neue ist ziemlich übel zugerichtet. Über dem Auge hat er eine frische Naht, da sind noch die Fäden drin, und als er sich vorhin den Schlafanzug angezogen hat, hab ich die blauen Flecken gesehen. Von der Schulter bis zur Hüfte praktisch ein einziger riesiger Fleck und am Oberarm auch. Möchte nicht wissen, womit sein Alter den geschlagen hat. Wieder einer, der seinen Eltern weggenommen wurde, willkommen im Club. Trotzdem wird er bei uns keinen Fuß auf den Boden bekommen, das hab ich Luke angesehen. Sein Blick war eindeutig, wir brauchen keine Worte mehr, um uns zu verstehen. Babyfurzer, hat Luke mir zugeraunt, als wir aus dem Zimmer sind und ihn in seinem Elend zurückgelassen haben. Im Hof haben wir dann Wetten abgeschlossen, wie lange er für seinen Brei brauchen wird. Ich hab auf drei Mahlzeiten getippt, mehr braucht er nicht, dann hat der Alte ihn weich. Zweimal hat er schon verweigert. Wenn er ihn morgen früh nicht isst, ist mein Einsatz futsch. Ich muss ihn mir vor dem Frühstück noch mal krallen und ihm genau erklären, wie das läuft. Du kriegst hier nichts zu essen, bis du deinen Willkommensbrei gegessen hast, der ist scheißeklig, versalzen, angebrannt, und wenn du großes Pech hast, haben sie in der Küche noch ein paar Mehlwürmer gefunden. Je früher du kapierst, dass er wegmuss, und zwar in deinen eigenen Scheißbauch, desto schneller bekommst du was Ordentliches zwischen die Zähne. Initiierung nennt der Alte das. Ich geb ihm also morgen einen freundschaftlichen Tipp, so unter Zimmernachbarn, und gut is. Und mit etwas Glück schnallt er’s, und ich habe die Wette in der Tasche. Muss nur aufpassen, dass Luke das nicht merkt, sonst denkt der noch, ich hätte Mitleid mit dem Neuen.

Dieses Scheißgeflenne geht mir langsam echt auf den Sack. Denkt der, er ist der Einzige hier im Zimmer? Gut, dass Luke schon schläft. Ist kein Paradies hier, das wissen wir alle. Und weg wollen wir auch alle, aber die meisten von uns kommen auch nicht gerade aus dem Paradies. Hier auf dem Zimmer gibt’s keinen, der zu Hause nicht geschlagen worden ist. Manche weniger, andere mehr. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie’s bei mir war. Ich kann mich kaum noch an meinen Vater erinnern, aber geschlagen hat er mich wohl. Ziemlich übel sogar, sonst hätte das Jugendamt mich nicht hierhergebracht, nachdem meine Mutter an einer Überdosis krepiert ist. Is hier also nicht schlimmer als woanders, nur hier kriegt man wenigstens dreimal am Tag was zwischen die Zähne, und man hat immer saubere Klamotten und ein warmes Bett. Ich hatte das früher nicht, weder das Essen noch die sauberen Klamotten und das warme Bett. Ich weiß noch, wie viel Angst ich hatte, als ich hier angekommen bin. Ich hab mir sogar meine Scheißeltern zurückgewünscht. Aber meine erste Nacht in einem warmen Bett, das nicht nach Pisse gestunken hat, war ziemlich beeindruckend.

Endlich ist er still. Wohl eingeschlafen. Dann hör ich jetzt auf zu schreiben, ich muss dringend schlafen, morgen schreiben wirMathe.

Samstag, 21. Mai

5

»Kommt ein Mäuschen ...« Hannas Finger krabbelten über Lilous Beine zu ihrem Bauch hinauf. Lilou lag ruhig auf der Wickelkommode. Als würde sie die Finger ihrer Mutter gar nicht spüren, griff sie nach der Cremedose und betrachtete sie von allen Seiten.

»Was ist nur los mit dir, Püppchen? Willst du gar nicht mehr spielen?«

Hannas Kehle wurde eng. Alles in ihr drängte darauf, Lilou zu packen und mit ihr ins Krankenhaus zurückzufahren, sie erneut untersuchen zu lassen, eine Erklärung für das veränderte Verhalten zu finden. Nur würde es nichts bringen. Die Schwester hatte ihr am Telefon deutlich zu verstehen gegeben, dass es sich bei Lilous Verhaltensänderungen nicht um einen Notfall handle und am Wochenende nur Notfälle aufgenommen werden konnten. Sie solle am Montag kommen, da sei der behandelnde Arzt wieder im Hause. Montag. Es schien unendlich weit weg, während die Angst in ihr mit jeder Minute wuchs, ihre Gedanken überwucherte, wie das Efeu Oma Wilmis Haus, und sie zwang, Lilou mit Argusaugen zu beobachten. Sie nahm Lilou die Cremedose ab und erwartete heftigen Protest. Doch anstatt sie wie sonst festzuhalten, gab sie die Dose freiwillig her und ließ sich anstandslos eincremen. So schnell wie nie zuvor war sie frisch gewickelt. Hanna legte sie zum Mittagsschlaf in ihr Bettchen. Sie schloss die Rollos und dimmte das Licht herunter. Es überraschte sie nicht, dass Lilou zufrieden mit ihren Füßen spielte, anstatt sich im Bett aufzustellen und wütend an den Gitterstäben zu rütteln. Es passte zu der neuen, ruhigeren Lilou. Vielleicht hatte Britt mit ihrer Vermutung recht, und die Medikamente wirkten noch nach. Bald fielen Lilous Augen zu. Hanna verdrängte die Gedanken, die ihre Angst erneut schürten, und machte sich daran, im Halbdunkel die Wäsche zu sortieren. Einen Stapel gefalteter Handtücher in der Hand öffnete sie den Schrank und räumte sie der Größe nach ein. Sie stutzte. Die kleinen Handtücher gehörten nicht auf die linke Seite.

Die Klingel schreckte sie aus ihren Gedanken. Mit einem Blick auf Lilou hastete sie zur Tür.

Es war Britt.

»Ich hoffe, ich störe dich nicht. Ich wollte nur ...« Britts Augen wanderten an Hanna vorbei in die Wohnung. »Ist er zurückgekommen?«

»Nein.«

»Darf ich reinkommen?«

Hanna öffnete die Tür ganz. »Natürlich.«

»Es ist nur... nicht dass du jetzt meinst, dass ich dich belausche oder so«, sie tastete nervös über die toupierten Haare, »aber ich dachte, du bist nicht da, und ich habe vorhin in der Wohnung jemanden hin und her laufen hören, wie letzte Woche, als Steve ...«

»Ich habe versucht nachzuvollziehen, was er mitgenommen hat«, unterbrach Hanna sie.

»Du Arme. Aber glaub mir, du wirst über ihn hinwegkommen.« Britts Finger berührten Hannas Oberarm. Es war eine zarte, fast unmerkliche Berührung, doch Hanna spürte nur das harte Plastik der falschen Nägel und musste an die Krallen eines Raubtiers denken. Sie widerstand dem Impuls, Britts Hand abzuschütteln.

»Ich habe nicht vor, über ihn hinwegzukommen. Glaub mir, ich werde herausfinden, was passiert ist. Wenn Lilou aufwacht, gehe ich mit ihr zur Polizei.«

Britt sah auf ihre Uhr. »Wenn du willst, kannst du gleich gehen. Ich könnte auf Lilou aufpassen.«

Hanna sah Britt an. Sie hatte Lilou noch nie jemandem anvertraut. Ihre Finger griffen nach dem Anhänger um ihren Hals, und ihr Daumen strich so bedächtig über das glatte Edelmetall des Schlüssels, als könnte er die Entscheidung für sie treffen. Sie dachte daran, wie liebevoll Britt gestern Lilou vorgelesen hatte. Wie wohl Lilou sich bei ihr gefühlt hatte.

»Würdest du dich zu ihr setzen, während sie schläft? Du müsstest bei ihr bleiben. Ich habe sonst keine Ruhe.«

Sobald das dichte Gedränge der Fußgängerzone hinter ihr lag, erhöhte Hanna das Tempo. Bis zum Polizeipräsidium waren es knapp vier Kilometer, die Strecke würde sie in fünfundzwanzig Minuten schaffen. Auch wenn sie einen Großteil des Weges an der vierspurigen Krefelder Straße zurücklegen musste, bereute sie nicht, sich gegen den Bus entschieden zu haben. Mit jedem Meter spürte sie, wie ihr Kopf freier wurde und ihr Körper nach einer Nacht voller Albträume Energie tankte. Zum ersten Mal seit einer Woche bemerkte sie, wie der Frühling die Blüte vorantrieb, und genoss die sanfte Wärme der späten Nachmittagssonne. Eigentlich sollte sie jetzt mit Steve und Lilou den kurzen Weg durch die Fußgängerzone zum Hof schlendern und dort gemütlich einen Milchkaffee im Kaisergarten trinken, während Lilou unter Steves wachsamem Blick den bunten Platz mit den vielen Stühlen und Sonnenschirmen, den römischen Säulen und schiefen Stufen erkundete. Und auf dem Rückweg würden sie bei Auguste haltmachen und sich Leckereien für den Abend besorgen und eine Flasche Wein, so wie es seit Lilous Geburt zur Gewohnheit geworden war. Seit sie abends nicht mehr gemeinsam nach Lust und Laune weggehen und die Nähe zu den Altstadtkneipen nutzen konnten.

Steve musste seine Sachen in aller Eile gepackt haben. Er hatte einfach die obersten drei T-Shirts genommen, das wusste sie genau, denn sie hatte sie am Nachmittag vor seinem Verschwinden selbst in seinen Schrank geräumt. Keines der T-Shirts oder Hemden passte zu der karierten Hose, auch nicht der blaue Pullover aus Merinowolle, der für die Frühlingstemperaturen eigentlich zu warm war. Dann die Uhren. Dass die Ingersoll weg war, verstand sie, er hatte sie an dem Tag getragen. Aber warum die Breitling? Er hasste diese Billigkopie aus der Türkei, seitdem bei ihr zweimal hintereinander der Sekundenzeiger abgefallen war. Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. War das ein gutes Zeichen? Oder ein schlechtes? Wenn er extra in die Wohnung zurückgekehrt war, um seine Sachen zu holen, warum hatte er sie dann so wahllos zusammengewürfelt? Oder hatte er jemanden geschickt? Aber warum? Weil er nicht selbst kommen konnte? Oder nicht wollte? Hatte Steve sich in letzter Zeit verändert? Hanna versuchte sich zu erinnern. Die Tage und Wochen vor seinem Verschwinden verschmolzen zu einem Brei, dessen einzelne Zutaten nicht mehr auseinanderzuhalten waren. Hatte er bedrückt gewirkt oder überarbeitet? War er besonders nachdenklich gewesen oder wirklich nur müde?

Ist was? Du bist so still.

Ah ja? Findest du?

Sie stellte sich sein Lächeln vor. Sein Das-geht-dich-nichts-an-Lächeln, wenn sie ihm Fragen stellte, die er nicht beantworten mochte. Fragen zu seinen Eltern. Seiner Jugend. Seinen früheren Freundinnen.

Du weißt, du kannst mit mir über alles reden.

Es ist nichts. Ich bin nur müde.

Als sie in die Hubert-Wienen-Straße einbog, setzte sie zum Vierhundert-Meter-Endspurt an. Sie sah Britts Gesichtsausdruck vor sich, als sie gestern in die Küche zurückgekommen war. Siehst du, er hat dich verlassen, hatte darin gestanden, als hätte es jemand mit Edding auf ihre Stirn geschrieben. Sie steigerte ihr Tempo, bis sie schließlich keuchend vor dem modernen Gebäude des Polizeipräsidiums anhielt.

Noch immer schwer atmend, betrat sie die Wache. Der Raum war hell und großzügig geschnitten, eine große Zimmerpalme brachte etwas Grün in die ansonsten triste, spärlich möblierte Umgebung. Ohne zu zögern, ging sie zu dem Tresen, der den für Besucher zugänglichen Teil von dem Bereich trennte, der Mitarbeitern der Polizei vorbehalten war. Ein Polizist blickte fragend zu ihr auf, stand schwerfällig auf und schlenderte zum Tresen hinüber.

»Was kann ich für Sie tun?« Der Polizist hatte kurze braune Haare und wache, dunkle Augen, die sie sofort an Steve erinnerten.

»Guten Tag. Mein Name ist Hanna Warrington. Ich hatte meinen Mann als vermisst gemeldet.«

»Vermisst?« Der Polizist zog fragend die Augenbrauen hoch. »Wie war der Name? Warrington?«

»Steve Warrington.«

Der Beamte zog eine Computertastatur zu sich heran und tippte etwas. »Hm. Sie haben das letzten Samstag gemeldet. Ehefrau befürchtet Unfall oder Gewaltverbrechen«, las er vor. »Die Personenbeschreibung wurde an die Kollegen weitergegeben.«

Hanna zog ein Foto von Steve aus der Hüfttasche ihrer Trainingshose. »Ich glaube, jemand hält ihn gegen seinen Willen fest.«

Der Polizist runzelte die Stirn. »Haben Sie einen Anhaltspunkt dafür?«

»Er hat sich bis jetzt nicht bei mir gemeldet. Und die Sachen, die er mitgenommen hat, passen nicht zusammen. Als ob jemand anders die Tasche gepackt hätte.«

»Er hat seine Sachen mitgenommen?«

»Ein paar. Aber eine seltsame Auswahl eben.«

»Vielleicht war er in Eile.« Der Polizist lächelte unverbindlich. »Machen Sie sich keine Sorgen, Entführer packen ihren Opfern keinen Koffer. Oder gibt es Kampfspuren in der Wohnung?«

»Nein.«

Der Polizist hob beschwichtigend die Hände. »Haben Sie etwas Geduld, in neun von zehn Fällen taucht der Mann nach kurzer Zeit wieder auf.«

»Er hat die Wohnung nicht freiwillig verlassen. Er sollte auf unsere Tochter aufpassen. Er hätte sie nie alleine zu Hause gelassen.«

»Wie alt ist Ihre Tochter denn?«

»Etwas über ein Jahr.«

»Dann kann er sich glücklich schätzen, dass Ihrer Tochter nichts zugestoßen ist.« Der Polizist sah sie ernst an. »Kann es sein, dass Ihrem Mann vielleicht das Kind und alles drum herum zu viel geworden ist und er eine Auszeit braucht?«

Hanna schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie, das kommt öfter vor, als man denkt. Und jede Frau, die hier steht und ihren Mann als vermisst meldet, ist sich absolut sicher, dass er weder eine Freundin noch die Nase voll vom Alltag hat.«

»Aber ...«, protestierte Hanna.

»Kommen Sie in einer Woche wieder.«

»Verdammt! Haben Sie mir zugehört?«, fuhr Hanna ihn an, als wäre er schwer von Begriff. »Mein Mann hat mich nicht verlassen! Er braucht Ihre Hilfe!«

Der Gesichtsausdruck des Polizisten blieb unverändert freundlich. »Es tut mir leid, aber Ihr Mann darf sich aufhalten, wo er will, und, so schlimm das für Sie sein mag, er ist nicht mal Ihnen Rechenschaft darüber schuldig.«

6

Eigentlich war es zu früh für Alkohol, aber bereits die Wirkung des ersten Schlucks zerstreute ihre Bedenken. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre vom Duschen noch nassen Haare. Als sie verschwitzt und aufgebracht in die Wohnung gepoltert war, hatte Britt sie nur angesehen und ihr wortlos ein Glas von Steves Cognac eingeschenkt.

Hanna merkte, wie sie ruhiger wurde. Sie war nicht machtlos. Wenn die Polizei nichts unternahm, würde sie eben selbst nach ihm suchen. Sie sah sich nach Britt um, die am Küchentisch saß und Lilou fütterte, als hätte sie seit Jahren nichts anderes getan. Jedes Mal ließ sie den Löffel wie einen Propeller vor Lilous Kopf kreisen, bevor sie ihn ihr in den Mund schob. Hanna war froh, jetzt nicht allein zu sein, und sie war froh, nicht reden zu müssen, sondern einfach nur hier stehen zu dürfen, während sie darauf wartete, dass das Nudelwasser kochte. Britt musste einen sechsten Sinn dafür haben, wann man einen Raum mit belanglosem Gerede füllen durfte und wann es besser war zu schweigen.

In keinem anderen Zimmer war Steve so präsent wie hier, wo sein Lieblingsregal mit den Büchern und sein dunkler Holztisch die Küche in einen gemütlichen Wohnraum verwandelt hatten. So wie Steve es ihr versprochen hatte, als sie unterwegs gewesen waren, um die hellen Fronten und die Arbeitsplatte gemeinsam auszusuchen. Hanna strich über die glatte Oberfläche der Schublade und lächelte. Diese Schublade hatte sie damals beim Einbau den letzten Nerv gekostet und ihr bewiesen, dass sie den richtigen Mann gefunden hatte.

»Das Wasser kocht.« Britts Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken.

Sie schüttete die Nudeln ins Wasser und stellte die Eieruhr auf zwölf Minuten. Dann ging sie zum Tisch und setzte sich zu Britt.

Sie zog die Tischschublade auf. Die riesigen Augen des Gnoms starrten sie von Lilous Plastikuntersetzer an. Gestern Abend hatte sie ihn unter die Korksets eingeordnet. Wie immer. Oder war sie so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen, dass sie ihn einfach obenauf gelegt hatte?

Sie griff nach zwei Korksets. Ihr fehlte wahrscheinlich nur etwas Schlaf. Erst die unruhigen Nächte im Krankenhaus, dann dieser schreckliche Albtraum gestern Nacht. Die Schreie der Kinder. Das gehetzte Atmen, die fliegenden Beine in der Dunkelheit. Die großen, haarigen Spinnen, die von überallher zu kommen schienen.

»Den Brei, den du mir für sie hingestellt hast, hat sie übrigens wieder nicht gewollt.«