Firnis - Nicole Rensmann - E-Book

Firnis E-Book

Nicole Rensmann

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Beschreibung

Ellen lebt mit ihrer Tochter Jenny in einem alten Haus. Als sie eines Tages von der Arbeit kommt, ist Jenny verschwunden. Die anschließende Suche ergibt keine Hinweise darauf, wo Jenny sein könnte. Auch der Polizist Noah Hansen findet von dem Mädchen keine Spur. Ein Entführer meldet sich nicht. Wo steckt Jenny? Dann geschehen seltsame Dinge in ihrem Haus. Ellen, Noah und das Kindermädchen Tina entdecken, dass ein Gemälde der Zugang zu einer anderen Welt darstellt. Die Reise in das 19. Jahrhundert beginnt völlig überraschend und die Suche nach Jenny nimmt neue Formen an. Doch wie sollen sie Jenny in einer Welt finden, in der es kein Telefon, kein Internet und kein Fernsehen gibt, in der die Zeitung nur alle paar Tage gedruckt wird und auch Autos nicht existieren?

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Nicole Rensmann

 

 

 

FIRNIS

 

 

 

 

3. überarbeitete Ausgabe, 2018

 

Copyright © 2007 / 2011 / 2018 Edition Tilde

 

Nicole Rensmann, Schützenstraße 65, 42853 Remscheid

www.nicole-rensmann.de

 

Lektorat: Hannes Windisch, 2007

Cover: Timo Kümmel, 2018

 

1. Ausgabe, rga.buchverlag, Remscheid 2007

2. Ausgabe, eBook, 2011

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

Gewidmet den Damen und Herren,

die unserer Zeit den Weg geebnet haben

und denen ich meinen Respekt zolle.

 

 

Inhalt

 

ENDE UND ANFANG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

ALTE NEUE WELT

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

52.

53.

54.

55.

56.

57.

58.

EPILOG

Nachwort

Ferdinand Hermann Moritz – Ein Porträt über den Maler aus »Firnis«

Bildergalerie Ferdinand Hermann Moritz

Quellenangaben

Danksagung

Vita Nicole Rensmann

 

 

 

 

 

ENDE UND ANFANG

 

 

 

 

»Alles ist Stille-Stille-Stille um mich her; […]

allein und immer allein; es tut mir wohl,

aber immer möchte ich es nicht so haben.«

(Caspar David Friedrich, 1774-1840)

 

1.

 

Wut nährte die Schläge, mit denen Ellen den Rhythmus des Radiosongs gegen das Lenkrad drosch.

Have you forgotten everything that I wanted, do you forget it now …

Mit jedem Taktschlag vermischte sich ihr Zorn mit Glückshormonen, die durch ihren Körper rauschten. Die Zuschauer in der voll besetzten Theaterhalle hatten die Premiere mit anhaltendem Applaus honoriert. Doch der Streit, den sie mit Thomas, ihrem Agenten, in der Pause ausgefochten hatte, verdrängte die Freude über den berauschenden Auftritt.

Das Radio-Duett mit Avril Lavigne reichte nicht, um Luft abzulassen, zumal der Radiomoderator in den Song hineinquatschte und jegliche Stimmung zerstörte.

Hätte sie geahnt, wie entscheidend sich die nächste Stunde auf ihr weiteres Leben auswirken sollte, wäre nicht nur der Ärger mit Thomas, sondern auch der Beifall des Publikums bedeutungslos gewesen.

Gummi quietschte, als Ellen mit dem rechten Vorderreifen am Bordstein entlang schrammte. Sie schaltete den Motor aus und umklammerte das Lenkrad. Ihre Knöchel zeichneten sich weiß ab. Bevor sie die Kontrolle über ihre Emotionen verlor und in das Steuer biss, löste sie ihren Griff und zog den Zündschlüssel ab. Die Musik erstarb, die Ruhe gab Ellen Gelegenheit zum Nachdenken. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Thomas hatte ihr vor einiger Zeit eine Hauptrolle in einer Telenovela versprochen. Doch kurz vor der Aufführung an diesem Abend hatte sie zufällig erfahren, dass er sich bei dem Casting für Susanne eingesetzt hatte – und das sicherlich nicht wegen deren schauspielerischen Qualitäten. Ellen hatte während des Streitgesprächs vor Enttäuschung und Wut gekündigt. Vielleicht übereilt.

Sie starrte durch die Windschutzscheibe in die Nacht hinaus. Früher hatte sie die Engagements auch ohne Agenten erhalten. Nach der Vertragsunterzeichnung vor drei Jahren hatte sich Ellen größere und bessere Rollen erhofft, vor allem im Fernsehen. Sie liebte die Bühne, aber ihren Bekanntheitsgrad steigerte sie im Theater nicht. Doch mehr als Verträge mit Werbeagenturen, für die Ellen Joghurt, Waschpulver und Zahnpasta vor der Kamera anpries, hatte Thomas ihr nicht verschafft. Außerdem hielt er seine Versprechen nicht, redete viel zu viel, und wenn sie ihn brauchte, blieb er unerreichbar.

Obwohl ihre Wangen noch vor Wut brannten, zwang sie sich, aus dem Wagen auszusteigen und die Fahrertür leise zuzudrücken. Viel lieber hätte sie einmal laut kreischend gegen den Wagen getreten und den aufgestauten Ärger abgelassen, aber sie wollte niemanden in der kleinen Straße wecken. Irgendwann würde sie eine Hauptrolle bekommen, auch ohne, dass sie mit dem Agenten, dem Regisseur oder sonst wem ins Bett ging.

Das schnappende Geräusch der automatischen Türverriegelung hallte über die nachtleere Straße und holte Ellen zurück in die Realität. Erschrocken zuckte sie zusammen und schaute den Weg entlang. Nebelschatten huschten über die von Straßenlaternen erleuchteten Gehwege. Die Menschen in diesem Teil von Solingen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen und saßen bei einem Glas Rotwein mit einem Buch in ihren Lieblingssesseln neben dem Kachelofen oder mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher. Viele schliefen jedoch längst, nur in wenigen Häusern brannte noch Licht. In der Von-Berg-Gasse lebte es sich ruhig. Jeder achtete auf Haus und Garten und befreite die Straße vom Müll, den die nach Schloss Burg pilgernden Touristen jedes Wochenende aufs Neue hinterließen. Wann immer die Zeit es erlaubte, wurde ein freundliches Wort mit dem Nachbarn gewechselt. Und obwohl Frau Meyer mit Frau Seibold über die mit ihren 48 Jahren viel zu junge Witwe Reinard tuschelte, gehörten die Anwohner dieser Seitengasse am Fuße von Schloss Burg zu einer friedlichen und nachbarschaftlichen Gemeinschaft.

Vor einem halben Jahr war Ellen mit ihrer elfjährigen Tochter Jenny von Köln nach Solingen gezogen. Das freistehende Haus mit dem großen Garten hatte ihnen auf Anhieb gefallen. Nur die Nachbarn dürften etwas jünger sein. Bis auf Frau Reinard, deren Mann an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben war, hatten alle die Sechzig überschritten. Den Kauf des Hauses hatte sie nicht bereut, nur die fehlenden Kinder in der Straße bedauerte sie. Alle paar Wochen erhielten die Schneiders, die links von Ellen wohnten, und die Meyers, die drei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite lebten, Besuch von ihren Enkeln. Alle Kinder waren im gleichen Alter wie Jenny, doch Ellens Tochter spielte lieber allein. Sie war schüchtern und ging nur ungern auf fremde Menschen zu. Auch die Kameraden aus ihrer neuen Klasse mied Jenny noch. Ellen hoffte, dass ihre Tochter bald Freundschaften schloss. Und mit neuen Freundinnen auf dem Dachboden spielte, in ihrem Zimmer über Jungs quatschte oder sich über die ungerechten Erziehungsmethoden der Eltern austauschte. Auch der Garten bot Platz zum Spielen und Zelten. Die hüfthohe Mauer, die das Grundstück umgab, schützte zwar nicht vor neugierigen Blicken, doch die dicht stehenden Bäume und Sträucher sorgten für ausreichend Privatsphäre. Vor Jahrzehnten hatte eine schmiedeeiserne Pforte den Eingang gesichert, doch das Schloss funktionierte schon lange nicht mehr. Das Tor lehnte nur an. Die Scharniere quietschten wie in einem billigen Gruselfilm. Tagsüber schmunzelte Ellen, wenn sie das verrostete Eisentor aufstieß. In der Nacht achtete sie gewöhnlich kaum darauf und ging schnellen Schrittes auf die Haustür zu. Heute aber bildete sich eine Gänsehaut auf ihren Armen, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nervös blickte sich Ellen um.

Warum erhellte die Außenbeleuchtung nicht den Weg? Nur das Licht im Inneren des Hauses presste sich gegen jede Fensterscheibe in allen Stockwerken.

Das Fachwerkhaus stammte aus dem 19. Jahrhundert und hatte einst einer wohlhabenden Familie gehört. Mit den grünen Fensterläden, der im gleichen Ton gestrichenen Eingangstür und den schwarzen Balken, die dem weiß getünchten Haus sein typisches bergisches Aussehen verliehen, glich es von außen den angrenzenden Häusern. Doch Ellens Haus hatte mehr Räume und einen größeren Garten.

Nach dem Ersten Weltkrieg war der Besitz an die Stadt übergegangen, die in dem Gebäude verschiedene Ämter untergebracht hatte. Ende 2005 hatten die Stadträte jedoch Sparmaßnahmen gefordert, der Altbau landete auf der Streichliste und sollte an privat verkauft werden. Von da an stand das Haus leer. Fassade und Räumlichkeiten wurden im Laufe der Jahre nur notdürftig renoviert. Niemand wollte das Haus kaufen, außer Ellen. Durch den Erwerb verschuldete sie sich hoch, obwohl der Kaufpreis nur einen geringen Anteil des Kredits in Anspruch nahm. Doch die anhaltenden Reparaturen brauchten jegliche Ersparnisse auf.

Im Keller und auf dem Dachboden fand sie antike Möbel und einige Gemälde, von der Stadt vergessen oder zurückgelassen. Soweit es ihr gelang, besserte Ellen die Möbel aus und schenkte den antiken Stücken eine neue Verwendung. Ein paar Räume musste sie noch renovieren, doch dafür brauchte sie Geld, denn sie versuchte sich an den Originalbauten aus der Zeit des 19. Jahrhunderts zu orientieren, ergänzt mit den technischen Errungenschaften der heutigen Zeit. Die Lampen rings ums Haus hatte sie kurz nach ihrem Einzug anbringen lassen, da sie häufig erst in der Nacht nach Hause kam. Sie hasste die Dunkelheit.

Ellen kämpfte gegen die aufsteigende Panik an und ging schnell. Die Nacht versteckte das schwarz-weiße Mosaikmuster der Pflastersteine. Meterhohe Nadelbäume säumten dicht gedrängt den Weg bis zur Eingangstür. Rauschend tanzten sie im Schein des Mondlichts mit dem stürmischen Wind, der am Nachmittag mit starken Regenschauern Solingen und Umgebung unter Wasser gesetzt, Äste und Blätter von den Bäumen gerissen hatte. Der Regen hatte aufgehört, nur der Sturm tobte noch übers Land.

Hinter den Bäumen, deren Wedel Ellen zuwinkten, erstreckte sich eine Wiese, die beim Kauf des Hauses so verwildert ausgesehen hatte, dass Ellen den Makler scherzend gefragt hatte, ob sie eine Machete zur Besichtigung mitbringen müsse. Vor zwei Wochen – am ersten sonnigen Maiwochenende dieses Jahres – hatte sie dem Rasen seinen Frühlingsschnitt verpasst.

Entgegen dem Rat ihrer Mutter hatte sie sich keinen Aufsitzer gekauft. Auch einen Gärtner lehnte sie ab. Ellen mochte die Gartenarbeit, bei der sie ihre Gedanken fliegen lassen und die Vögel beobachten konnte. In dieser stürmischen Nacht schien jedoch kein anderes Lebewesen außer ihr unterwegs zu sein, dabei war es erst kurz nach elf. Vor gut einer halben Stunde hatte sie das Theater verlassen. Nach dem Streit mit Thomas hatte sie auf die Premierenfeier verzichtet und sich unmittelbar nach dem Fallen des Vorhangs für diesen Abend von den Kollegen verabschiedet.

Der für Mai ungewöhnlich eisige Wind wehte ihr das dunkelbraune, lange Haar aus dem Gesicht und kühlte ihre Wangen. Ihre Wut verflüchtigte sich, es gab keinen Grund, noch weitere Gedanken an ihren Ex-Agenten zu verschwenden. Eine Gänsehaut glitt an ihrer Wirbelsäule hinab, ihre Nackenhärchen richteten sich auf. Rasch strich sie darüber, doch die Furcht blieb, sie krallte sich in ihrem Genick fest wie eine Zecke. Ellen beschleunigte ihre Schritte und zog den Mantelkragen enger um den Hals. Nervös blickte sie über die linke Schulter, dann über die rechte. Hatte sie nicht Schritte hinter sich gehört? War da nicht ein Keuchen? Nur die Schatten der Nacht verfolgten sie. Ellen rannte die letzten Meter auf den Eingang zu, stieß den Schlüssel ins Schloss und die Tür mit zu viel Kraft auf, sodass diese drohte, gegen die Wand zu prallen. Ellen sprang vor und hielt die schwere Holztür fest, bevor die Klinke eine Scharte im verputzten Mauerwerk hinterlassen konnte. Erleichtert drückte sie die Tür zu, sperrte die bedrohliche Finsternis aus und schob den Sicherheitsriegel vor. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief durch. Seufzend betrachtete sie die weiß getünchte, von schwarzen Balken durchbrochene Decke. Ellen schüttelte den Kopf. Die Verfolger existierten nur in ihrer Phantasie. Obwohl sie sich dessen bewusst war, gelang es ihr nicht, die kindliche Furcht vor der Dunkelheit abzulegen. In ihrem Haus fühlte sie sich sicher. Langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie wollte nach Jenny sehen und dann selbst ins Bett gehen, sobald sie Tina verabschiedet hatte. Die 24 - jährige betreute Jenny, wenn Ellen zur Arbeit ging, sie kochte und erledigte den Haushalt. Tina war für Ellen eine zuverlässige Hilfe und für Jenny eine große Schwester.

Die Gänsehaut kehrte zurück, als sie Tina entdeckte, die an dem Türrahmen zum Wohnzimmer lehnte. Sie hatte geweint. »Tina? Um Gottes willen, was ist passiert?« Als Antwort erhielt sie nur ein zittriges Schluchzen. »Was ist passiert?«, wiederholte sie ihre Frage. »Ist etwas mit deiner Familie?« Vielleicht war Tinas Oma gestorben oder ihre Eltern hatten einen Autounfall. Aber daran wollte Ellen nicht denken. Sie umfasste Tinas Kinn, sodass die junge Frau sie ansehen musste. Die Furcht in ihren Augen versetzte auch Ellen in Aufregung. »Sag mir bitte, was geschehen ist!«

»Sie ist weg. Sie ist weg! Oh, es tut mir so leid!« Verzweifelt schlug Tina die Hände vors Gesicht und rutschte am Türrahmen hinab auf den Boden.

»Wer? Von wem redest du? Wer ist weg?«

Ellen blickte sich um. Es war ruhig im Haus, eine seltsame, beängstigende Stille. Wo steckte Grain, Jennys Mischlingshündin, die nur von ihrer Seite wich, sobald Ellen nach Hause kam, und auch dann nur für wenige Minuten, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen? Zu schnell kniete sie sich zu Tina hinunter und stieß sich das rechte Knie am harten Holzboden. Doch sie ignorierte den Schmerz, der durch ihr Bein schoss, und herrschte die junge Frau an: »Sag mir, was los ist! Ist Grain weggelaufen?« Ellen glaubte nicht, dass Grain jemals den Platz neben Jenny freiwillig verlassen würde. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie Grain, eine Mischung aus Jack-Russell-Terrier und aus dem Tierheim geholt hatten. Das war nun drei Jahre her. Von dem Tag an waren Grain und Jenny unzertrennlich. Am ersten Schultag war es Ellen nur schwer gelungen, Grain davon zu überzeugen, nicht hinter Jenny her zu rennen. Den Vormittag über hatte die Hündin jaulend an der Haustür gekratzt, bis Jenny endlich wieder nach Hause gekommen war. Im Laufe der Monate hatte sich Grain an die unumgängliche Trennung gewöhnt, wartete jedoch jeden Tag im Flur.

»Wir haben«, begann Tina stotternd und fuhr sich mit dem Blusenärmel über das nasse Gesicht. »Wir haben Verstecken gespielt. Und auf einmal war sie weg. Mit Grain. Einfach weg.«

»Mit Grain?« Ellens Herz schlug wild. »Du meinst Jenny? Jenny ist weg?« Ihre Tochter sollte verschwunden sein? Das war absurd!

»Ja, ich hab sie nicht mehr finden können. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt!«

Vor Sorge um ihre Tochter, wurde Ellen schwarz vor Augen. Doch dann stellte sich Erleichterung ein. Jenny konnte nicht aus dem Haus verschwunden sein, vermutlich hatte sie sich in der alten Kohlenschütte versteckt und Grain ins Ohr geflüstert, ruhig zu bleiben. Die Hündin gehorchte Jenny aufs Wort. Und dann sind beide in ihrem Versteck eingeschlafen. So muss es sein! Eine andere Erklärung konnte Ellen nicht finden.

»Hast du im Keller nachgesehen?« Ellen lächelte, ihr Herzschlag beruhigte sich. Als sie sich erhob, schien sich eine Pfeilspitze in ihr Knie zu bohren. Sie sog die Luft lautstark zwischen den Zähnen ein, dann ebbte der Schmerz ab. Nach der heutigen Premiere von »Romy & Julius« – eine moderne Inszenierung in Anlehnung an Shakespeares »Romeo und Julia« – fanden am Wochenende vier Aufführungen statt. Ein schmerzendes Knie konnte Ellen nicht gebrauchen.

Doch das war jetzt zweitrangig, zunächst wollte sie Tina beruhigen und Jenny finden. Irgendwo musste das Kind ja stecken. Was dachte sie sich nur dabei, Tina so einen Schrecken einzujagen?

»Komm hoch. Die zwei holen wir uns!«

»Ich habe überall gesucht. Wirklich.« Schwerfällig richtete sich Tina auf. »Im Keller und in der Kohlenschütte und im Kartoffelkeller, auch auf dem Dachboden, hinter dem lockeren Balken. Sie sind weg.« Überrascht riss sie die Augen auf. »Jemand ist gekommen und hat sie mitgenommen.«

Für einen Takt setzte Ellens Herzschlag aus. Ihre Stimme klang dünn: »Jemand ist gekommen? Wie kommst du darauf? War jemand im Haus?«

»Nein, aber wohin soll sie denn gegangen sein?« Fahrig wischte Tina ihre Hände an der Jeans ab. »Jenny verlässt das Haus nie, ohne vorher zu fragen, schon gar nicht nachts.«

»Ich weiß.« Eine bleierne Last legte sich auf Ellens Schultern. Noch vor wenigen Minuten war sie davon ausgegangen, dass Jenny schlafend in ihrem Bett lag. Nun sollte ihre Tochter samt Hund verschwunden sein?

»Jenny!«, schrie sie viel zu laut. Ihr stockte der Atem, als sie die Furcht in ihrer eigenen Stimme wahrnahm. Leiser rief sie: »Jenny, komm raus. Du hast uns einen Schreck eingejagt. Jetzt ist es gut.«

Schweigend horchten sie in das hell erleuchtete Haus.

»Warum brennt die Außenbeleuchtung nicht?«

»Ich hab´s vergessen. Ich suche seit acht Uhr nach Jenny!«

»Aber das sind über drei Stunden!« Entsetzt sah sie Tina an.

Vielleicht lag Jenny verletzt in ihrem Versteck? Aber würde sie dann nicht um Hilfe rufen? Ellen konnte nicht länger stillstehen! Sie riss Tina am Arm herum und stürmte mit ihr ins Wohnzimmer, obwohl es dort nur wenige Versteckmöglichkeiten gab.

Trotz Jennys schmaler Figur hätte sie nicht hinter einem der großen Sofakissen Platz gefunden, dennoch fand Ellen keine Ruhe, bis sie nicht auch das letzte Kissen zur Seite genommen hatte.

Auf dem Weg in den Keller zog Ellen ihren Mantel aus und warf ihn in Richtung Kleiderhaken, den sie jedoch verfehlte. Achtlos ließ sie den Mantel auf dem Boden liegen und eilte hinter Tina die steile Kellertreppe hinab. Ihr Knie marterte sie bei jeder Bewegung, doch Ellen ignorierte den Schmerz. Der modrige Geruch, der ihr entgegenschlug, erinnerte sie daran, den Einbau eines Kellerfensters nicht länger aufzuschieben. Seit ihrem Einzug lagerten in dem feuchten Kellergewölbe Kartons mit Spielen, unwichtigen Unterlagen und Andenken, die Ellen eines Tages wegwerfen wollte. Es gab tausend Verstecke. Die Schatten in dem schlecht beleuchteten Raum boten weitere Möglichkeiten, sich beinahe unsichtbar zu machen. Doch kein Karton blieb geschlossen, kein Schatten unerforscht. Tina wischte sich über die Stirn. »Ich hab das alles schon einmal abgesucht.«

Erschöpft setzte sich Ellen auf die Kellertreppe.

»Grain! Fuß! Sofort!« Sie lauschten, doch die Stille blieb ungebrochen. Kein Jaulen oder Kläffen, nicht einmal ein Rascheln drang an ihre Ohren.

»Suchen wir oben weiter!«, forderte Ellen.

Während Tina die Tür zum Gästeklo aufriss und den kleinen Raum mit einem raschen Blick kontrollierte, inspizierte Ellen die Küche. Nichts!

Eine antike Kommode und ein kleiner, alter Tisch mit drei Stühlen – allesamt aus schwarzer Mooreiche – verliehen dem Raum Wärme und Behaglichkeit. Nur eine schlichte Uhr schmückte die kahlen Wände. Ellen wollte schon seit Wochen eine Bildergalerie mit Familienfotos gestalten, aber bisher hatte ihr die Zeit dazu gefehlt. Ihr Vater war vor zwei Jahren gestorben, und Ellens Mutter lebte aufgrund einer fortschreitenden Multiplen Sklerose in einem gut betreuten Heim in Essen. Jennys Fotos sollten einen großen Teil der Galerie ausfüllen.

Jenny.

Ellen konnte sich nicht vorstellen, dass Jenny das Haus verlassen hatte, ohne Tina um Erlaubnis zu bitten.

»Habt ihr euch gestritten?«, fragte Ellen.

»Nein, das haben wir nicht!«

Gemeinsam stiegen sie die knarrenden Stufen hinauf in den ersten Stock. Hier befanden sich Jennys Zimmer, das Schlafzimmer und das Bad. Außerdem noch zwei Gästezimmer, die weder möbliert noch renoviert waren und somit keine Schlupflöcher boten.

Verdammt noch mal! Wo steckte Jenny?

Mit zittrigen Fingern stieß Ellen die Tür zu Jennys Zimmer auf.

Das dunkelgrüne Bettlaken war verknittert, als habe Jenny noch vor kurzem darauf gelegen. Die Bettdecke ihrer Lieblingsbettwäsche, auf der Feen und Elfen tanzten, hing halb auf dem Boden.

»Dort hat sie sich einmal versteckt«, erklärte Tina und schien genau zu wissen, worauf Ellens Blick haften geblieben war.

Instinktiv faltete Ellen die Decke ordentlich zusammen, kniete sich auf den Boden, lugte unter das Bett, öffnete den Kleiderschrank, blickte in die Kommode und kontrollierte Jennys Kleider, die sich jedoch alle an ihrem Platz befanden. Ellen ging um den Schreibtisch herum.

Der Bildschirm flimmerte.

»Der war eben noch nicht an!«, stellte Tina erstaunt fest. Angst! Schlimmer als die Furcht vor der Dunkelheit. Tiefer und schmerzhafter als alles, was Ellen je empfunden hatte. Noch wusste sie nicht, was all das bedeutete.

»Bist du dir sicher?«

Unschlüssig fuhr sich Tina durch die Haare, schüttelte den Kopf.

»Vielleicht hat sie vergessen, den Rechner auszuschalten, und der Bildschirm hat sich in den Sparmodus gesetzt«, mutmaßte Ellen.

Beschriebene Zettel übersäten den Platz vor der Tastatur. An der Pinnwand hafteten gelbe Post-its. Ein Glas mit einem Rest Wasser stand rechts neben dem Bildschirm, davor lag das Einwickelpapier eines Schokoriegels. Auf dem Monitor prangte in großen Lettern:

 

H E R M A N N

 

Als ich Hermann das erste Mal sah, wusste ich, dass er etwas Besonderes war. Mit einem seltsam geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen spielte er mir auf seiner Gitarre vor.

 

Ellen überlegte, ob es sich bei Hermann um einen Klassenkameraden handelte, in den sich Jenny verliebt hatte. Aber der Name klang unpassend für einen elf- oder zwölfjährigen Jungen. Vielleicht hatte Jenny auch nur eine neue Geschichte zu schreiben begonnen. Schon mit acht Jahren hatte sie kurze Gedichte und Erzählungen verfasst. Eines Tages, da war sich Ellen sicher, würde Jenny einen Roman schreiben und – wenn sie die Lust nicht verlor – die Bestsellerlisten stürmen.

Ellen lächelte und glitt mit den Fingerkuppen sanft über die Tastatur, die Jenny vor wenigen Stunden noch berührt haben musste. Dann riss sie sich los. »Komm, Tina! Vielleicht finden wir sie auf dem Speicher.« Aber Ellen ahnte, dass sie ihre Tochter auch zwischen den dort lagernden Möbeln und Kisten nicht finden würde, in denen die Erinnerungen an ihre eigene Kindheit schlummerten. Jenny war nicht eingeschlafen, sie verharrte nicht kichernd in einem guten Versteck.

Jenny war weg!

 

2.

 

Vorsichtig stiegen sie wieder die steilen Speicherstufen hinab.

»In deinem Arbeitszimmer war ich auch schon.« Tinas Stimme zitterte. »Sie ist nicht im Haus.«

Das Büro lag im Erdgeschoss unter dem Treppenaufgang. Vier eng beieinander liegende Sprossenfenster sorgten bei Tag für ausreichend Licht. Jetzt lag der Raum im Dunkeln. Ellen fröstelte, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und drehte das Ventil der Heizung höher. Zielsicher griff sie nach ihrem Adressbuch und dem Telefonhörer.

»Hier. Ruf du ihre Klassenkameraden an.« Ellen drückte Tina den Hörer in die Hand und zog ein gefaltetes DIN-A4-Papier aus dem Adressbuch. »Ich nehme das Handy und versuche es bei den Nachbarn.« Ellen drückte auf die erste gespeicherte Telefonnummer in dem elektronischen Adressbuch ihres Handys – Frau Koch.

»Aber es geht auf Mitternacht zu.« Die Müdigkeit stand Tina ins Gesicht geschrieben.

»Das ändert nichts daran, dass wir Jenny finden müssen«, antwortete Ellen.

Jenny war an manchen Wochenenden mit Frau Kochs Pudel spazieren gegangen. Danach hatte sie meist einen Kakao bei Frau Koch getrunken und deren Geschichten vom Krieg gelauscht. Doch noch bevor die Leitung ein Freizeichen gab, beendete Ellen die Verbindung.

Auch Jenny besaß ein Handy.

Schnell drückte sie die Zwei, die Kurzwahl, unter der sich Jennys Nummer verbarg. Ihr Herz machte einen Satz, als sich eine Stimme meldete. Doch dann erkannte Ellen, dass es sich dabei nur um die Mailbox handelte.

»Jenny? Wo steckst du? Melde dich! Ich mache mir Sorgen!« Ihre Hände zitterten, als sie die Verbindung beendete. Sie schloss die Augen und rief sich Jennys Gesicht in Erinnerung, als habe sie ihre Tochter seit Wochen nicht gesehen.

Alles schien vergessen: der Streit mit Thomas, die gelungene Premiere des Theaterstücks. Die Angst füllte ihren Geist aus, ließ keinen Platz für andere Gedanken. Ihr Kopf begann zu dröhnen, als sie ein zweites Mal die Telefonnummer von Frau Koch anwählte. Tinas Stimme klang gedämpft aus dem Arbeitszimmer zu ihr herüber.

Niemand hatte Jenny gesehen oder an diesem Abend von ihr gehört. Die Nachbarn, die sie aus dem Bett geklingelt hatte, schienen tief betroffen und boten sofort ihre Hilfe an. Viele der Klassenkameradinnen schliefen bereits, die Eltern versicherten Tina jedoch, sich am Morgen zu erkundigen, ob ihnen an Jenny etwas aufgefallen sei.

Auch Karola, Jennys beste Freundin, die in Köln wohnte, bestätigte, dass Jenny traurig wegen des Umzugs gewesen sei, sich in dem neuen Haus aber sehr wohlfühlen würde.

An den Metallhaken der Garderobe hing Jennys rotblauer Anorak, neben Tinas schwarzem, halblangem Mantel und Ellens Strickjacke, die sie am Abend überzog, wenn sie fror. Auch Grains Leine hing am unteren Haken. Ellens Mantel lag nach wie vor auf dem Boden. Sie beachtete ihn nicht.

Wo konnte Jenny nur hingegangen sein?

Zu Marc? Sie würde ihn anrufen und fragen müssen. Sie hatten sich, kurz bevor sie das Haus gekaufte hatte, von ihm getrennt. Doch Jenny liebte ihn. Noch heute plagte Ellen ein schlechtes Gewissen, ihr den Vaterersatz genommen zu haben, aber die Ehe mit Marc war ein großer Fehler gewesen, eine Flucht vor dem Alleinsein.

»Richards?«, meldete er sich scheinbar hellwach.

»Hier ist Ellen.«

»Ellen? Ich freue mich, von dir zu hören. Und das um diese Zeit. Hast du mich vermisst?«

»Marc, bitte. Hör auf damit«, unterbrach sie ihn entnervt und ärgerte sich darüber, ihren Exmann überhaupt angerufen zu haben. »Jenny ist nicht zu Hause. Ich möchte nur von dir wissen, ob sie bei dir ist oder sich bei dir gemeldet hat.«

»Nein. Ich habe letzte Woche mit ihr telefoniert. Seitdem habe ich nichts von ihr gehört. Was soll das heißen – Jenny ist nicht zu Hause?« Es raschelte am anderen Ende der Leitung. Eine weibliche Stimme flüsterte unverständliche Worte. »Mein Gott, es ist ein Uhr morgens«, rief Marc entsetzt. »Und Jenny ist nicht da? Was ist denn mit Tina? Hat sie nicht auf Jenny aufgepasst?«

»Natürlich hat sie das.«

»So was hätte nicht passieren dürfen! Wenn wir noch…«

»Bitte«, unterbrach Ellen ihn. »Nicht schon wieder diese Leier. Jenny ist weg, und dir fällt nichts Besseres ein, als auf unserer Trennung herumzureiten.« Wütend biss sich Ellen auf die Unterlippe. Sie hasste seine Überheblichkeit. Wenn er doch nur aus ihrem Leben verschwinden würde.

»Bei einem Termin heute Mittag hat mir ein Familienvater von einem Typen erzählt, der die Grundschulen abfährt und die Kinder mit Geld und Süßigkeiten ins Auto lockt.«

Oh bitte, nur das nicht. »Hier in Solingen?« Ihre Stimme klang gefestigt, doch sie fühlte sich alles andere als ruhig.

»In Remscheid. Die Polizei hält sich offenbar bedeckt mit Informationen, auch die Schulen machen es noch nicht offiziell.« Im Hintergrund hörte Ellen das Schließen eines Reißverschlusses, anscheinend zog sich Marc an.

»Aber Jenny geht nicht mehr in die Grundschule, und sie war ja hier zu Hause. Sie war hier!« Das durfte nicht wahr sein! Nicht Jenny. Niemals!

»Wenn solche Typen nicht das kriegen, was sie brauchen, dann holen sie es sich irgendwann. Das ist doch klar.«

»Hör auf damit! Ich will das nicht hören!«, herrschte Ellen ihn an. Er wollte ihr absichtlich Angst einjagen.

»Ich fahre gleich los«, sagte Marc.

»Nein! Bleib da! Ich rufe jetzt die Polizei.«

Marc war der Letzte, den sie jetzt um sich haben wollte.

»Ich bin in einer Stunde bei dir.« Er legte auf und ignorierte, wie immer, Ellens Wünsche. Wieso hatte sie ihn auch angerufen? Als ob er wüsste, wo Jenny steckte.

Ihr wurde mit einem Schlag klar, dass ihrer Tochter etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte und sie Jenny vielleicht nie wiedersehen würde. Sie kämpfte gegen die Schwäche an, die sie in die Knie zu zwingen drohte, und redete sich ein, dass es Jenny gut ginge, dass alles in Ordnung sei. Aber Jenny würde niemals das Haus verlassen, ohne vorher Bescheid zu geben. Niemals! Abrupt wandte sie sich Tina zu. Sie lehnte am Türrahmen zum Büro, kaute am Fingernagel ihres rechten Daumens und fixierte den Boden.

»Tina!« Erschrocken zuckte sie zusammen, als Ellen dicht vor sie trat. »Was ist genau passiert? Ich will, dass du mir alles sagst. Verstehst du? Alles. Ich will die ganze Wahrheit wissen.«

»Aber es war nichts. Es ist nichts passiert.« Nun weinte Tina wieder. »Wir haben Verstecken gespielt, wie immer. Sie hat sich in ihrem Bett versteckt, mit Grain zusammen, und einmal hier im Arbeitszimmer unter dem Schreibtisch.«

Ellen drehte sich um, doch der Platz unter ihrem Schreibtisch war leer.

»Dann war sie im Bad, in der Dusche. Ich hab noch geschimpft mit ihr, wegen der Hundehaare. Und beim vierten Mal habe ich sie nicht mehr gefunden.«

Erschöpft verbarg Tina ihr Gesicht in den Händen und schluchzte lautstark. Auch Ellen kämpfte gegen die Tränen an, trat auf Tina zu und umarmte sie. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid, ich wollte dich nicht beschuldigen. Ich habe nur solche Angst.«

Ohne ein weiteres Wort ließ sie von Tina ab, trat ans Fenster des Arbeitszimmers und drückte die Notfalltaste ihres Handys. Während sie darauf wartete, dass die Polizei abnahm, starrte sie in die Dunkelheit, die sich drohend gegen die Scheiben presste. Doch Ellen zog die Rollos nicht vor. Vielleicht kam Jenny in diesem Moment nach Hause, dann würde sie ihre Tochter sehen können und ihr sofort die Tür öffnen.

»Polizei Wuppertal. Bremer.«

»Wuppertal? Wieso Wuppertal?«, fragte Ellen irritiert.

»Sie sind hier in der Polizeizentrale des Städtedreiecks Wuppertal-Solingen-Remscheid«, erklärte der Beamte.

»Ich muss meine Tochter vermisst melden.« Sie fühlte sich wie ein hilfloses Kleinkind, das zum ersten Mal telefonierte.

»Und wo wohnen Sie?«

»In Solingen.«

»Dann verbinde ich Sie mit der Solinger Hauptwache.«

Eine mechanische Stimme sagte: Bitte warten! Bitte warten!

Wieso landete sie erst in Wuppertal, wenn sie in Solingen den Notruf betätigte? Kostbare Sekunden verstrichen.

»Polizei Solingen. Conrad. Was kann ich für Sie tun?«

Ellens Hand zitterte stark, ihr Ohrring klapperte gegen das Handy. Mit der rechten Hand umfasste sie ihr linkes Handgelenk, doch das Zittern verringerte sich nicht. Sie vergaß ihr Anliegen, ihren Namen, tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Es musste ein Albtraum sein. Hier zu stehen, die Polizei in der Leitung, der sie das Verschwinden ihrer Tochter melden musste, fühlte sich seltsam irreal an.

»Hallo? Ist dort jemand?«, fragte der Polizist.

»Ja. Ja ... Entschuldigung.« Tröstend legte Tina ihren Arm um Ellens Schulter, Tränen verschleierten ihren Blick. Sie schloss die Augen und spürte die warmen, salzigen Perlen ihre Wange hinabrollen. »Mein Name ist Ellen Weber. Ich muss …« Sie stockte, grausame Bilder spulten sich vor ihrem geistigen Auge ab. »Meine Tochter ist nicht zu Hause.«

»Nun, liebe Frau Weber, das muss nicht unbedingt Besorgnis erregend sein.« Der Polizist klang gelangweilt, beinahe erheitert, und Ellen fühlte erneut Wut in sich aufsteigen. Wut, die aus der Erniedrigung erwuchs, nicht ernst genommen zu werden.

»Wie alt ist denn Ihre Tochter?«

»Elf. Sie ist elf Jahre alt und seit acht Uhr nicht mehr auffindbar.«

»Nicht mehr auffindbar? Was genau … oder besser, kommen Sie doch vorbei, dann nehmen wir die Personenbeschreibung auf.«

»Nein!« Sie wollte keinesfalls das Haus verlassen, vielleicht kehrte Jenny in wenigen Minuten zurück, oder sie tauchte aus einer Ecke auf, die sie übersehen hatten.

Aber es gibt keinen Ort in diesem Haus, den ihr nicht geprüft habt, flüsterte eine bösartige Stimme in ihrem Kopf.

»Nein, ich möchte zu Hause bleiben. Meine Tochter ist seit acht Uhr verschwunden, sie ist nicht erreichbar und hat sich auch nicht gemeldet. Was passiert ist, wissen wir nicht.«

»Gut, dann schicke ich Ihnen gleich zwei Kollegen. Bitte suchen Sie vorab ein Foto Ihrer Tochter heraus, das Sie uns überlassen können. Außerdem Namen der Bezugspersonen. Alles Weitere besprechen dann die Kollegen vor Ort mit Ihnen.«

»Glauben Sie.« Eine Panikwelle überrollte Ellen schlagartig. Sie sprach viel zu laut. »Glauben Sie, dass ihr etwas passiert ist? Dass ihr jemand etwas angetan hat?« Sie war nicht in der Lage, weiter zu sprechen, presste die Lippen aufeinander und lauschte der Stimme des Beamten: »Frau Weber, beruhigen Sie sich. Geben Sie mir bitte Ihre Adresse. Es wird gleich jemand bei Ihnen sein.«

Monoton antwortete Ellen und beendete das Gespräch. Sie löste sich aus Tinas Umarmung. Trost schien ihr unangemessen in diesem Moment. Jenny drehte nur eine Runde mit Grain und hatte vergessen, Bescheid zu sagen. Ganz sicher! Doch als sie sich zu Tina wandte, las sie in deren ängstlich blickenden Augen dieselben Schlagzeilen über entführte und getötete Kinder, die auch ihr durch den Kopf spukten.

Nein! Jenny ging es gut.

Aber Jenny verlässt das Haus nicht, ohne Bescheid zu geben, schon gar nicht nachts.

»Willst du nicht deine Mutter anrufen?«, fragte Tina leise und reichte Ellen das Telefon. Als wisse sie nicht mit dem Hörer umzugehen, starrte Ellen ihn nur an und rührte sich nicht.

»Nein, sie schläft jetzt, ich will sie nicht aufwecken. Vielleicht wenn die Polizei da war. Die werden jeden Augenblick kommen.«

Zögerlich verließ Ellen ihr Arbeitszimmer. Sie musste weiter nach Jenny suchen.

Ihr Mantel lag noch auf dem Boden, auch jetzt hob sie ihn nicht auf, stattdessen schaltete sie die Außenbeleuchtung ein und riss die Haustür auf. Zum Gruß heulte der Wind auf und fegte durch den Flur. Die Bäume sangen Melodien auf einer rauschenden Frequenz. Ellen zitterte.

»Wo willst du hin?«, fragte Tina, als Ellen einen Schritt nach draußen trat.

Sie wusste es nicht. Eben noch hatte Ellen eine Idee gehabt. Nun stand sie unschlüssig in der Tür. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich, atmete tief ein und aus, dann fiel ihr wieder ein, warum sie die Tür geöffnet hatte: »Ich schaue, ob Jenny im Garten ist.« Ihr Gehirn war ein Karussell, das sich gefährlich schnell drehte.

»Dann komme ich mit.« Tina berührte Ellen zaghaft an der Schulter. Sie lächelte gequält. Beide wussten, dass Jenny nicht im Garten sein würde, aber sie klammerten sich an jegliche Möglichkeit, auch wenn sie noch so unwahrscheinlich schien.

Tiefe Schatten huschten im Garten umher, die Ellen Angst einjagten. Dennoch überwand sie ihre Furcht vor der Dunkelheit und trat in die Nacht hinaus. Tina in ihrer Nähe zu wissen, beruhigte sie nicht.

In den gegenüberliegenden Häusern brannte nun vermehrt Licht. Doch Ellen hatte kein schlechtes Gewissen, ihre Nachbarn geweckt zu haben.

»Jenny?«, rief sie, dann lauter: »Jenny?« Langsam ging sie den Weg entlang, bog hinter einer großen Tanne ab und betrat den kurz geschnittenen Rasen.

»Ist das kalt!« Tina rieb sich über die nur von einer dünnen Bluse verhüllten Arme. Selten trug Tina dem Wetter entsprechende Kleidung. Auch Jenny trug keine Jacke. Oder hatte sie ihren blauen Mantel mitgenommen, den sie nur bei besonderen Anlässen trug? Aber hatte Ellen ihn nicht eben noch in Jennys Schrank hängen gesehen?

Es zog Ellen zurück ins Haus, um sich zu vergewissern, doch sie besiegte den Drang, ins Helle zu flüchten. Ihre Beine zitterten, als sie den Garten abschritt.

Ellen hatte nach ihrem Einzug in Abständen von knapp einem Meter acht Strahler unterhalb der Regenrinne anbringen lassen. Der Glühfaden einer Birne brannte nur noch schwach, dann erstarb das Glimmen und hinterließ an dieser Stelle eine klaffende Schwärze.

---ENDE DER LESEPROBE---