Fjara: Lied der Dämmerung - Fabienne Zwicker - E-Book

Fjara: Lied der Dämmerung E-Book

Fabienne Zwicker

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Beschreibung

SCHWEDEN UM 1410 Nachdem ihre Mutter, von einem Hexenjäger entführt und ihre Heimat zerstört wurde, muss die junge Hexe Fjara ein riskantes Bündnis mit einem Gott eingehen. Um ihre Mutter zu befreien, ist sie gezwungen die Welt und die Götter selbst mit anderen Augen zu sehen und alles infrage zu stellen, was ihre Mutter sie je gelehrt hat. Dass sie in etwas geraten ist, das weit größer ist als das Leben eines einzelnen, wird ihr erst während ihrer Reise klar. Zudem muss Fjara einsehen, dass die Menschen, die ihr am nächsten waren, nicht die sind, für die sie sie gehalten hat.

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapiel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Bonusmaterial
UNSER SCHICKSAL
Glossar
Über die Runen des Älteren Futhark
DIE AUTORIN
DANKSAGUNG

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

05/2023 2. Auflage

 

Lied der Dämmerung

 

© by Fabienne Zwicker

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Straße 42

79400 Kandern

 

Umschlaggestaltung: © 2021 by Magicalcover

Lektorat: Gerd Hoffmann

Korrektorat: Giusy Ame

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat /Magicalcover

 

 

ISBN 978-3-949640-47-6

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Fabienne Zwicker

 

 

 

Fjara

 

Lied der

Dämmerung

 

 

Band 1

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

 

 

 

 

 

 

 

Wo die Freiheit winkt

Und das Meer erklingt

Wo die Wolken nie vergeh’n

Wo die Nacht erwacht

Zeigt der Mond seine Macht

Und wir werd’n uns wiederseh’n

 

Aus “Heimat” von Equilibrium

Kapitel 1

 

HEIMAT

 

Esas Schlag traf mich mitten am Schienbein, und ohne mein kleines Schutzamulett, das viel von der Wucht abblockte, hätte es vermutlich deutlich mehr wehgetan. Ich wich zurück, während ich fühlte, wie mir der Zauber Kraft entzog und mein Bein zu pulsieren begann, wo Esas Holzschwert mich getroffen hatte.

»Guter Schlag«, meinte ich und hob mein eigenes Schwert wieder. Esa grinste mich von der anderen Seite der Lichtung angriffslustig an und warf seinen langen blonden Zopf zurück über die Schulter. Er war heute wirklich gut in Form. Wo unser Kampf normalerweise sehr ausgeglichen war, konnte ich heute kaum Treffer landen.

Wir umkreisten uns, stets auf der Hut. Esas Blick huschte immer wieder zum Boden, um nach Wurzeln, Steinen oder anderen Stolperfallen Ausschau zu halten, während meine eigenen Füße ihren Weg durch diesen Wald auch im Dunkeln gefunden hätten. Geduldig wartete ich auf meine Chance. Esas Stiefelspitze blieb an einem Zweig hängen. Nur eine Sekunde, in der er abgelenkt war und die nutzte ich zum Angriff. Ich stürzte mich nach vorn und Esa riss sein Schwert hoch.

Schlag um Schlag krachte das Holz aufeinander und die Geräusche hallten durch den lichtdurchfluteten Wald. Schweiß stand mir auf der Stirn und meine Hände begannen zu schmerzen. Dieser Fiesling musste heimlich geübt haben. Er steckte unglaublich viel Ehrgeiz in diese kleinen Kämpfe, die durch unsere Kindheitsträume von großen Kriegern und Helden angefacht wurden. Seine Kampfeslust hatte uns beide über die Jahre schon Myriaden von blauen Flecken eingehandelt.

»Na, Fjara. Wirst du schon müde?«, spottete Esa, als er erneut meinen Angriff abwehrte.

Ich tänzelte ein paar Schritte zurück, um seiner Reichweite zu entkommen. »Wer von uns hat heute den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet? Du ja wohl nicht!«

»Nein«, meinte er und zuckte ganz unschuldig mit den Schultern. »Ich bin ja auch keine Kräuterhexe, die ihr Gärtchen pflegen muss.«

Ich hatte genug. »Nenn mich nicht so«, zischte ich und hieb nach seiner Brust.

Er wich lachend aus. »Aber das bist du doch.«

Unsere Holzklingen kreuzten sich und ich fletschte die Zähne unter der Kraft seines Angriffs. »Dir zeig ich Kräuterhexe!« Mit aller Kraft stieß ich mich von ihm ab, und ließ mich zu Boden fallen. Bevor er wusste, was gerade geschah, hatte ich ihn umrundet und mit meinem Schwert einen groben Kreis um seine Füße gezogen.

»Orbis!«

Alle Farbe verschwand aus Esas Gesicht. Er wollte zurückweichen, prallte aber gegen eine unsichtbare Barriere in seinem Rücken, wobei ihm das Holzschwert aus der Hand glitt. Ich strich mir eine schneeweiße Haarsträhne aus dem Gesicht und sah zu ihm auf, schwer atmend und voller Laub und Dreck, aber zutiefst befriedigt. Ich wurde immer schneller mit meinen Schutzkreisen, und dass der Kreis jetzt schon einen ausgewachsenen Mann wie Esa halten konnte, war ein großer Fortschritt für mich.

Ich stand auf und streifte den Schmutz von meinen mit Flecken übersäten Kleidern, streckte mich ausgiebig und genoss Esas schockierten Blick, als ihm klarwurde, dass er den Kreis nicht ohne meine Erlaubnis verlassen konnte. Eine Maus in der Falle.

»Das ist gemein!«, beschwerte er sich und erinnerte mich wieder an das quengelnde Kind, das er gewesen war, als wir uns zum ersten Mal nicht weit von hier begegnet waren. »Das hast du doch nur gemacht, weil ich sonst gewonnen hätte.« Er presste seine Hand gegen die Barriere, sodass der Strom von Magie, der den Kreis hielt, in mir stärker wurde.

»Das hat damit gar nichts zu tun«, entgegnete ich ruhig und verwischte mit meinem Fuß die Linie, sodass der Schutzkreis in sich zusammenfiel. »Und wer sagt, dass du gewonnen hättest?« Ich stemmte die Hände in die Hüften und hielt seinem ärgerlichen Blick stand, sodass wir uns einen Moment lang nur gegenüberstanden und versuchten, nicht zu blinzeln. Es war leicht, sich auf seine tiefblauen Augen zu konzentrieren und als seine Mundwinkel zuckten, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Auch diesen Kampf hatte ich gewonnen.

»Scheiße«, flüsterte er, blinzelte und lachte. »Na schön, dieses eine Mal.« Er hob in einer spielerischen Warnung den Zeigefinger und ich schickte ihm einen Luftkuss. Sicher, ich hatte mit meinem Schutzkreis geschummelt, aber es war nun mal eine perfekte Gelegenheit gewesen, meine magischen Fähigkeiten in einer Kampf-Situation auf die Probe zu stellen. Nicht, dass ich erwartete, wirklich einmal kämpfen zu müssen. Es machte einfach Spaß. Außerdem: Wenn ich schon eine Hexe war, dann konnte ich das ja auch mal ausnahmsweise zu meinem Vorteil nutzen.

Wir sammelten unsere Schwerter auf und machten uns langsam auf den Rückweg - bergab, zum Fluss. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, obwohl es bereits Nachmittag war. Ich blinzelte versonnen, als sich mein Blick in den Baumkronen über mir verfing. Die Tannen trieben bereits, und zwischen ihrem dunklen Grün leuchteten immer wieder frische hellgrüne Tupfen auf, wenn Sonnenstrahlen durch die Äste brachen. Das Moos, das die Felsen und Wurzeln bedeckte, war noch bräunlich vom Winter, ebenso die Heidelbeerpflanzen, aber hier und da sprossen schon die ersten Blumen.

Ich machte mir eine gedankliche Notiz, später noch Zweige für das kleine Fest zur Tag-und-Nacht-Gleiche zu sammeln, das meine Mutter und ich jedes Jahr feierten. Schließlich war es nur noch eine Woche bis dahin. Die schwedischen Winter waren so lang und dunkel, deshalb war es jedes Jahr aufs Neue schön, den Frühling wieder zu begrüßen.

»Fjara?« Esas Stimme holte mich aus meinen Gedanken zurück. Vor uns lag bereits die seichte Uferwiese, in deren Mitte mein Zuhause, eine kleine, aber ordentlich gebaute Hütte, stand. Davor lagen unsere Beete, mit Weidenzäunen umrandet und dahinter ein riesiger Stapel Feuerholz an der Hauswand. Weiter zu unserer Linken lag der schmale Fluss, an dem Esas Ruderboot schon auf ihn wartete.

»Hm?«, machte ich nur und schob einen tiefhängenden Zweig beiseite.

»Kommst du noch mit, ein Stück mit den Fluss entlang? Es ist doch noch früh und wir könnten ein bisschen fischen gehen«, schlug er vor und ich nickte gedankenverloren.

»Gern, wenn du willst.« Wir traten auf die Lichtung und Sonnenschein wärmte mir die blasse Haut. Meine Hand zuckte zu meinem hochgekrempelten Ärmel, aber ich ließ sie wieder sinken. Nicht mal ich würde mir so spät am Tag noch einen Sonnenbrand einfangen.

Wir passierten die frisch gepflügten Beete, wo ich den gesamten Morgen verbracht und Zwiebeln gesteckt hatte. Meine gute Laune verblasste, als ich mich daran erinnerte, dass die Hälfte der Furchen noch leer und sie zu bestücken meine Aufgabe war. Denn Merethe, meine Mutter, hatte Probleme mit ihrem Rücken. Eigentlich blieben die meisten Aufgaben im Haus an mir hängen, aber ich hätte mich nie darüber beschwert.

Esa grummelte leise und ich hob den Blick. Merethe erwartete uns bereits. »Du kannst schon mal vorgehen«, meinte ich, bevor Esa etwas sagen konnte. »Ich muss noch kurz was erledigen.« Ich legte meine Hand auf seine Schulter und drückte kurz, um meine Worte noch zu unterstreichen.

»Beeil dich«, murmelte er, aber ich war schon losgelaufen. Merethe lächelte sanft, als ich näherkam, und faltete die Hände vor ihrer Schürze, unter der ihr langes dunkelblaues Kleid hervorquoll. Sie hatte wohl schon mit der Zubereitung des Abendessens begonnen, denn ihre schwarzen, von feinen grauen Strähnen durchzogenen Haare waren zu einem strengen Knoten zurückgebunden. Aus der Hütte wehten mir die Düfte von Herdfeuer und Eintopf entgegen.

»Wir gehen noch angeln«, rief ich im Vorbeigehen und duckte mich unter dem niedrigen Türbalken hindurch. Merethe folgte mir. Zum Glück. Esa hasste es, wenn sie versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Eilig ging ich an der Feuerstelle mit dem großen Kessel vorbei und kletterte die Leiter zu meinem Schlaflager nach oben. Es war eher ein Heuboden, als ein Zimmer - auf Kopfhöhe mit dem Raum unter mir, aber völlig ausreichend für mich. Es war mein Ruheort und ich bewahrte hier meine wenigen Besitztümer auf – einschließlich des Jagdmessers, das meinen wertvollsten Besitz darstellte. Heute Morgen hatte ich vergessen, es an meinem Gürtel zu befestigen, aber jetzt zum Angeln wollte ich es mitnehmen. Man konnte ja nie wissen. Die Bodendielen knarzten leise, als ich auf der Stelle trat und überlegte, ob ich noch etwas von hier brauchte.

»Möchtest du Esa nicht fragen, ob er zum Essen bleiben möchte?«, fragte Merethe von unten und ich verzog bei der Vorstellung das Gesicht. »Ihr beiden verbringt so viel Zeit miteinander, da kann er doch sicher einmal einen Abend hierbleiben.«

Mir fiel ein, was ich hatte holen wollen. Ich duckte mich unter die dicken schrägen Balken, die das Hausdach direkt über mir hielten. »Ich glaube nicht, dass seine Eltern das erlauben würden«, log ich mit einem Hauch von schlechtem Gewissen. Esa war immerhin schon achtzehn und kein Kind mehr. Da konnte er tun und lassen, was er wollte. »Außerdem sind wir ja nur Freunde«, schob ich hinterher – nur, falls sie auf schräge Gedanken kam. Ich zog eine kleine Holzkiste unter meinem Bett hervor und schnappte mir den Lederbeutel, den ich dort vor zwei Tagen deponiert hatte. Der Geruch von altem, trockenem Holz wurde jetzt von dem Geruch der Kräuter überlagert, die in dem Beutel aufbewahrt waren.

»Du kannst ihn ja fragen.« Merethe wartete schon, als ich wieder runtergekletterte und ich lächelte flüchtig. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie Esas Abneigung noch nicht bemerkt hatte. Sie war ja nicht blöd und Esa nicht sonderlich subtil, daher machte mich dieser plötzliche Vorschlag ein wenig stutzig.

»Werde ich«, sagte ich brav und drehte mich schon um, als sie mich zurückhielt. Ihre Hand war warm und ihre langen Finger strichen einen Moment lang nur über meine Schulter, während sie zögerte. »Fjara. Es freut mich, dass du dich so gut mit Esa verstehst. Er ist ein netter junger Mann, aber sei bitte dennoch vorsichtig.«

Ich nickte knapp, wandte mich um und ihre Hand glitt von mir ab. Ihr Blick hing mir im Nacken, als ich endlich zum Fluss lief und ebenso diese Worte. Sie sprach oft über Esa, aber das hier war neu. Wenn sie ihn nicht mochte oder ihm misstraute, konnte sie es mir doch auch direkt sagen. Aber ich würde ihn sicher nicht einladen, nur dass sie ihn ausfragen konnte. Er war mein einziger Freund und ich wollte diese Freundschaft nicht aufs Spiel setzen, nur weil meine Mutter fand, dass man Männern nicht trauen konnte. Sie war zwar einmal verheiratet gewesen, aber ihr Ehemann war schon seit Jahrzehnten tot - Jahrhunderten vielleicht - und seitdem hatte sie sich nie wieder mit einem Mann eingelassen. Sie bevorzugte die Gesellschaft von Frauen, zumindest sagte sie das so.

Esa wartete am Steg, das Seil bereits in der Hand und ließ mich zuerst einsteigen, bevor er sich auf die hintere Holzbank setzte. Das Boot schwankte ein wenig, aber die ruhige Strömung brachte es schon bald auf seinen Kurs. Jeder von uns nahm sich ein Ruder und so kamen wir schnell voran. Die Ufer waren von totem Schilf und Bäumen gesäumt und an manchen Stellen gab es kleine Stromschnellen, doch die kannten wir mittlerweile gut genug, um sie problemlos zu meistern.

Während wir schweigend paddelten, gingen mir Merethes Worte durch den Kopf, obwohl ich krampfhaft versuchte, mich stattdessen auf das Frühlingsgrün oder Esas viel zu saubere Kleider zu konzentrieren. Ich hasste es, dass die beiden nicht miteinander auskamen. Sie waren die einzigen Menschen auf dieser Welt, die mir wirklich etwas bedeuteten. Die einzigen, die mich nicht ansahen, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Ich selbst hasste meine schneeweiße Haut, die ebenso weißen Haare und violetten Augen, aber Esa – im Gegensatz zu den anderen Dorfbewohnern – schien das nicht zu stören. Auch Merethe war es gleichgültig, also warum konnten sich die beiden nicht leiden?

»Du siehst wütend aus«, meinte Esa schließlich. Der Steg war schon lange hinter Flussbiegungen verschwunden, als ich über die Schulter schaute und vor uns bereits die Stelle erkannte, an der sich das Ufer ein wenig lichtete. Dort mündete unser kleiner Fluss in den deutlich größeren Arbogaån, der glitzernd den Schatten der Bäume ablöste. »Alles gut«, wich ich Esa aus und glich mit ein paar Ruderschlägen die Schräglage aus, in die ich das Boot mit meiner Grübelei und Unachtsamkeit gebracht hatte. »Ich hab nur nachgedacht.«

»Über Merethe?«

Ich wollte es abstreiten, nickte dann aber. Er wusste es ja sowieso. Nach all den Jahren war es für uns beide schwer, etwas vom jeweils anderen geheim zu halten. Dafür kannten wir uns einfach zu gut.

»Hat sie wieder etwas über mich gesagt?«, hakte Esa nach und ich seufzte leise.

»Sie ist nicht das böse alte Weib, für das du sie hältst.«

»Dann hat sie also etwas gesagt.«

»Können wir einfach aufhören, darüber zu reden?« Ich zog am Ruder, um die Lage unseres Bootes erneut auszugleichen, nachdem Esa für einen Moment ausgesetzt hatte. Wir verfielen wieder in Schweigen.

Esa hatte wahrscheinlich noch einiges zu diesem Thema zu sagen, aber ich wollte mir davon nicht den Tag verderben lassen. Es durfte alles gerne unausgesprochen bleiben.

Wir steuerten auf den großen Felsen am rechten Ufer zu, an dem wir immer an Land gingen. Er lag direkt an der Flussmündung, an der sich das träge Wasser des Seitenarms mit der deutlich stärkeren Strömung des Arbogaåns vermischte. Die Bäume standen dicht am Wasser, das Schilf bildete ganze Wälder und dazwischen breiteten sich Teppiche von Seerosen aus. Mücken tummelten sich in der Sonne und kleine Fische versteckten sich, was diesen Ort zu einem perfekten Angelplatz für uns machte. Ein kleiner Steg war hier erbaut, um das Ufer zu befestigen, aber sonst gab es meilenweit keine Brücke, die auf die andere Seite des Flusses führte, wo Esa in dem Dorf Holma lebte. Aber das war umso besser. So störte uns schon niemand. Diese natürliche Barriere, die der Arbogaån bildete, hielt auch die meisten Dorfbewohner davon ab, Merethe und mich zu behelligen. Nur selten kamen die Dörfler zu uns und suchten Hilfe, wenn ihr Glaube und herkömmliche Medizin nichts mehr nützten. Selbst die Landherren besuchten uns nicht. Wir hatten den Wald für uns.

Wir banden das Boot sorgfältig an einem Baum fest und Esa kümmerte sich um die Angelrute. Ich streckte mich und atmete tief durch, als ich am Ufer stand und zu der Siedlung weiter flussabwärts hinüberschaute. Für den Augenblick genoss ich die Reflexion des Abendhimmels auf den sanften Wellen. Die Wolken hatten bereits eine leicht rosa Färbung angenommen, und wie jedes Jahr im März erstaunte es mich, wie lang die Tage jetzt schon waren. Die Zeit verging so schnell, aber für mich konnte der Sommer gar nicht früh genug kommen.

Esa hatte am Steg bereits die Angel ausgeworfen und zwischen zwei Planken aufgestellt. Ich ließ mich neben ihm nieder und packte meinen Beutel aus.

»Willst du was?«, fragte ich und streckte ihm die Kräuter entgegen. »Ich hab gestern wieder welche gefunden.«

Er nickte und griff gierig zu, schob sich die Blätter in den Mund und kaute genüsslich. »Wo?«, fragte er mit vollem Mund und ich zuckte mit den Schultern.

»Am Ufer. Das waren aber schon alle.« Ich hatte keine Ahnung, wie diese Pflanzen hießen, und wollte Merethe nicht danach fragen - vermutlich würde sie mir sonst verbieten, sie zu nutzen. Aber irgendwas an diesen unscheinbaren Kräutern wirkte unglaublich entspannend, wenn man sie nur lang genug kaute.

Ich lehnte mich an Esas Schulter, während er auf die Angel aufpasste und spürte schon jetzt, wie sich meine vom Kampf verspannten Schultern lockerten. Versonnen schrieb ich mit meinem Finger eine kleine winkelförmige Rune vor mir in ein Fleckchen trockene Erde, flüsterte Feuer und beobachtete dann, wie eine kleine Flamme über dem Zweig flackerte, den ich direkt neben den Runen platziert hatte. Gespannt streckte ich einen Finger aus und hielt ihn vorsichtig über die Flamme, nur um enttäuscht die Hand sinken zu lassen, als ich keine Wärme fühlen konnte. Ich übte diesen Zauber nun schon so lange und kam einfach nicht dahinter, was ich falsch machte. Es fiel mir nicht sonderlich schwer, simple Zauber zu erwirken, bei denen ich vorhandene Dinge veränderte oder Illusionen wie diese kleine Flamme erschuf.

Aber echtes Feuer war etwas vollkommen anderes. Es zu beschwören bedeutete, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Ich verstand nicht, wie es funktionierte, und Merethe weigerte sich, es mir zu verraten. Sie sagte immer nur, ich müsste er selbst herausfinden, um es wirklich zu lernen, aber ich hatte den Verdacht, dass sie mich einfach davon abhalten wollte, versehentlich die Hütte abzufackeln. Feuersteine waren da wesentlich sicherer.

Ich erwog, wie so oft, in ihren Büchern nachzuschlagen, aber normalerweise hatte ich immer schon nach ein paar Zeilen genug. Ich konnte lesen, aber ich wollte es einfach nicht. Diese verstaubten, trockenen Seiten zu durchstöbern langweilte mich.

Vorsichtig hob ich ein verwelktes Blatt auf und hielt ins Feuer. Es verbrannte auch nicht. Natürlich nicht. Ich schnippte es ins Wasser und verwischte die Rune, woraufhin die Flamme verschwand. Eine weitere Möglichkeit lag darin, mir einen kleinen Waldgeist zu fangen und ihn diese Art von Zauber erledigen zu lassen. Merethe nutzte schließlich auch Geister für anspruchsvollere Zauber.

Ich warf Esa einen verstohlenen Blick zu, aber er hatte die Arme um seine Knie geschlungen und betrachtete nachdenklich das glitzernde Wasser. Normalerweise sah er immer gerne zu, wenn ich einen meiner Zauber übte, doch jetzt schienen seine Gedanken in weiter Ferne zu ruhen. Von einem Feld auf der anderen Seite des Flusses drang das entfernte Blöken von Vieh an unsere Ohren und störte damit kurz die Ruhe.

Irgendwo dort lagen auch die Äcker von Esas Familie, die viele Jahre lang reiche Ernte gebracht hatten und es wohl auch in Zukunft tun würden. Von hier aus konnte ich allerdings kaum die ersten Häuser des Dorfes erkennen, denn der Rest wurde von sanften Hügeln und vereinzelten Baumgruppen verdeckt. Die Felder waren jedoch voller Leben, wo alle an diesem Nachmittag beschäftigt waren, ihre Äcker zu bewirtschaften.

»Wie sie alle schuften ...«, meinte Esa plötzlich und klang etwas verächtlich.

Ich sah zu ihm hoch und bemerkte, wie er das Gesicht verzog.

»Den ganzen Tag tun sie nichts anderes. Im Frühjahr sähen und pflügen, im Sommer und Herbst ernten, im Winter Holz sammeln ...« Er spuckte den Rest der Kräuter neben sich auf den Boden. »Bis sie irgendwann sterben. Und dann war alles umsonst.«

»Wieso umsonst? Was meinst du?«, fragte ich. Die Angelleine zuckte kurz, aber wir beide ignorierten sie.

»Genau das, was ich sage«, erwiderte Esa, warf seinen Zopf mit einer Kopfbewegung über seine Schulter und richtete sich auf, sodass auch ich mich wieder aufsetzen musste. »Sie denken nicht einmal darüber nach, wie sinnlos das alles ist und dass es mehr auf dieser Welt gibt als dieses verdammte Dorf! Sie können nicht verstehen, dass dieses Leben einfach nicht genug ist.«

Ich wusste, was er meinte. Wir hatten als Kinder oft darüber gesprochen, zusammen wegzulaufen und uns auf die Suche nach Abenteuern zu machen, anstatt jeden Tag dasselbe zu tun und uns mit alltäglichen Dingen abzumühen, die wir in ein paar Tagen, Wochen, Monaten sowieso wieder tun müssten. Aber wir waren Kinder gewesen und diese Gedanken nichts weiter als alberne Tagträume. Ich hatte sie hinter mir gelassen und bis jetzt hatte ich geglaubt, Esa hätte das ebenfalls getan. Offensichtlich nicht.

»Es ist vielleicht nicht viel, aber schlecht ist es doch auch nicht«, meinte ich und schob mir die Haare hinters Ohr, unruhig, weil ich nicht wusste, wohin diese Unterhaltung führen würde und ich plötzlich das Gefühl hatte, unvorbereitet zu sein. »Das hier ist nun mal unsere Heimat.«

»Na und? Ich hab es satt«, sagte Esa. »Und du solltest das doch am besten verstehen. Sie sehen dich hier ja nicht mal als richtigen Menschen an und dann nennst du es Heimat?«

Ich schwieg, denn an diese Wahrheit hatte ich mich längst gewöhnt. Ich war eine Hexe - noch dazu ein Alb - und daher praktisch eine Aussätzige. Aber die Hoffnung, dass es woanders besser sein könnte, war über die Jahre der Vernunft gewichen. Und Esa hatte sogar noch viel weniger Gründe, wegzugehen. Er hatte eine wohlhabende Familie und eine Altersvorsorge in Form des Hofes. Was wollte er denn noch?

Sein Blick wurde weicher und in seinem gemurmelten »Entschuldige«, konnte ich umso deutlicher erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte. Plötzlich machte es auch umso mehr Sinn, dass er vorgeschlagen hatte, angeln zu gehen. Er wollte reden.

»Worum geht es hier wirklich?«, fragte ich sanft und er sackte ein wenig in sich zusammen, während sein Blick wieder zum Fluss abdriftete.

»Vor zwei Tagen wollte Vater mit mir reden«, begann er zögernd, aber immer noch ohne mich anzusehen. »Er wollte, dass ich …« Er biss sich auf die Lippe und gab ein gequältes Geräusch von sich. Ich griff nach seinen Händen, aber er zog sie weg.

»Was?«

»Er will, dass ich heirate, den Hof übernehme und eine Familie gründe, um sein Erbe weiterzugeben!«, platzte es aus ihm heraus und ich sah ihn entsetzt an. Heiraten?! Ich schluckte trocken und starrte zu Boden. Das würde bedeuten, dass ich ihn kaum noch sehen würde. Denn egal, wen Esas Vater Andri als seine Frau ausgewählt hatte, sie würde es nicht gut finden, wenn ihr Mann sich mit einer Hexe traf.

»Wen?«, fragte ich schließlich tonlos und endlich sah er mir wieder kurz in die Augen.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, sie heißt Almina. Ihr Vater handelt in Arboga mit Eisenerz.« Seine Finger trommelten unruhig auf seinen Knien und seine Haltung war ebenso angespannt wie meine. Wir hatten beide gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, an dem er heiraten musste und unsere gemeinsamen Tage nur noch eine schöne Erinnerung wären. Eigentlich war es eher verwunderlich, dass es nicht schon längst geschehen war. Oft hatte er Witze gemacht, einfach mich zu heiraten, aber Andri hätte das niemals zugelassen. Außerdem hatte ich früh von Merethe und den Dörflern gelernt, dass eine Ehe keine Freundschaft war und ich wollte nicht meinen besten Freund verlieren.

»Also kennst du sie schon?«, fragte ich, um die Stille zu brechen und Esa wirbelte herum.

»Was spielt das denn für eine Rolle?«, fuhr er mich an und ich zuckte zusammen. »Selbst wenn sie hübsch und reich ist, ich will kein Scheiß- Bauer werden. Der Punkt ist doch, dass wir uns vielleicht nie wieder im Wald treffen können. Ist dir das völlig egal?«

»Du weißt ganz genau, dass es mir nicht egal ist, also schrei mich nicht an«, erwiderte ich. Das alles war ja wohl nicht meine Schuld. »Was soll ich deiner Meinung nach machen? Wäre es dir lieber, ich würde heulen?«

Er stand kopfschüttelnd auf. »Du hättest sagen können, dass ich das nicht tun muss, Fjara. Dass ich nicht hierbleiben muss.«

»Warte doch!« Ich stand ebenfalls auf und er wandte sich mit mahlenden Kiefern zu mir um.

»Was?«, fragte er und warf mir einen gereizten Blick zu.

Ich hasste es, wenn er so war. Mir war klar, dass es schwer sein würde, ihn zu beruhigen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich meinen Mund nicht halten. »Meinst du das alles wirklich ernst?«, fragte ich. »Weggehen… das sind doch bloß unsere alten Träume von denen du da redest. Alle müssen irgendwann mal heiraten, willst du deshalb einfach von hier weglaufen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ja.«

Das war deutlich. Ich trat einen Schritt näher und bemühte mich, ernst und gleichzeitig wohlwollend zu wirken. Nicht gerade einfach. »Denk doch mal nach! Was würdest du überhaupt machen? Du hast kein Gold und du hast auch keine Fähigkeiten, mit denen du welches verdienen …« Ich verschluckte mich fast, als mir klar wurde, was ich eben gesagt hatte. Esa blinzelte langsam und ich stand für einen Moment nur wie versteinert da, als er sich erneut in Richtung des Ruderboots umwandte.

Ich eilte ihm nach und hielt ihn am Unterarm fest. »Warte, ich hab es nicht so gemeint.«

Er streifte meine Hand mit einer groben Bewegung ab und stampfte weiter auf sein Boot zu, das sicher vertäut am felsigen Ufer lag. »Ach ja?«

»Ich meine doch nur, dass es nicht gut wäre, allein von zuhause wegzulaufen. Vielleicht wird es ja gar nicht so übel, wie du denkst.«

»Für mich klang es eher so, als würdest du mich für unfähig halten. Außerdem ...« Er wurde langsamer und hielt schließlich an, um mir gegenüberzustehen. »Außerdem hatte ich auch nicht vor, allein fortzugehen.« Seine Stimme war wieder etwas sanfter, doch dafür umso bitterer.

Ich schluckte, um meinen Kloß im Hals loszuwerden, aber vergeblich. »Esa ...«, fing ich an, aber er schüttelte den Kopf. Mit energischen Bewegungen löste er den Knoten des Taus von dem kleinen Baum und rollte es ein, ohne mich auch nur anzusehen. Das Ruderboot schaukelte leicht in der Strömung, bereit, ihn davonzutragen. »Du hast schon deutlich genug gesagt, was du davon hältst«, murmelte er.

Frustration breitete sich in mir aus. »Und du denkst das nicht zu Ende!« Ich versperrte ihm mit einem großen Schritt den Weg, bevor er aufs Boot klettern konnte, und zwang ihn, mir wieder ins Gesicht zu sehen. »Glaubst du wirklich immer noch, wir könnten einfach große Helden werden, wenn wir nur einen Fuß aus diesem Dorf setzen? Ernsthaft? Das waren doch immer nur Märchen!«

»Vergiss es.« Er versuchte, mich aus dem Weg zu schieben, aber ich gab nicht nach.

»Hör mir jetzt zu!«, forderte ich. »Du bist mein einziger wahrer Freund und ich liebe dich. Ich werde dich nicht einfach so ziehen lassen und jeden Tag Angst haben, dass dich irgendwer da draußen umbringt. Und von hier weggehen werde ich ganz sicher nicht. Das ist doch Wahnsinn.«

»Du liebst mich?« Er sah mich abschätzig an und verschränkte mit dem Tau in der Hand die Arme.

»Natürlich. Du bist mein Freund«, sagte ich, aber er schnaubte nur abfällig.

»Du hast keine Ahnung, was Liebe ist. Fjara, du bist schon achtzehn und hast keinen einzigen Verehrer, weil du dich immer nur in deiner Hütte verkriechst und mit dieser alten Hexe zusammen irgendwelche Tränkchen braust.« Er ließ das Tau fallen und stieß mir mit dem Zeigefinger grob ans Schlüsselbein, sodass ich zurückstolperte. »Würdest du mich lieben, dann würdest du mich unterstützen, oder wenigstens versuchen, mich zu verstehen. Stattdessen gehorchst du nur blind dieser Verrückten und plapperst ihr nach. Diese Frau ist noch nicht einmal deine richtige Mutter und trotzdem nennst du sie so.« Seine Stimme wurde immer lauter, bis er fast schon brüllte. Tränen stiegen mir in die Augen und blinde Wut erstickte meine Gedanken. Jetzt war er eindeutig zu weit gegangen.

Esa kam immer näher, während ich langsam vom Ufer zurückwich. »All die Jahre habe ich gehofft, du würdest endlich erwachsen werden. Dass du dich für mich entscheiden würdest, anstatt für sie. Dass du endlich anfängst, für dich selbst zu wählen und wenigstens darüber nachdenkst, was du tust und wie du dich gibst. Aber du bist wohl auch noch stolz darauf, so anders zu sein, mit deinem weißen Haar und diesen hässlichen lila Augen!« Er griff mir in die Haare und ließ sie dann in einer angeekelten Geste wieder fallen.

Ich senkte den Blick und ballte die Fäuste. Jedes einzelne seiner Worte war ein Stich ins Herz. Zu hören, was er wirklich dachte, aber nie zuvor ausgesprochen hatte, tat weh. Ich wollte ihn zum Schweigen bringen – ob durch Magie oder mit der Faust, war egal, aber mein Körper fühlte sich einfach nur leer an, ohne jede Kraft.

Esa schob mich zur Seite, sodass ich zurücktaumelte. Ich hörte seine Schritte, als er ins Boot kletterte, und das Platschen seines Ruders, als er langsam über den Fluss davonfuhr. Selbst, als er schon ein ganzes Stück stromabwärts getrieben war, blieb ich wie versteinert stehen, bevor ich schluchzend auf die Knie fiel.

Esas Stimme hallte mir im Kopf wider, während die Last der Worte mich langsam niederdrückte. All die Wärme des Tages und die Schönheit des Ufers war verschwunden und die Sonne schien mich zu verspotten. Hätte ich doch meinen Mund gehalten. Sollte er doch gehen und sich vom nächstbesten Herumtreiber abstechen lassen! »Verreck«, flüsterte ich und hob den Blick.

»Hörst du?«, schrie ich, zwischen meinen Schluchzern hindurch. »Du sollst verrecken!« Wahrscheinlich hatte er es nicht gehört, denn er drehte sich nicht um.

 

Kapitel 2

 

WEISHEITEN

 

Ich vergrub mein Gesicht tiefer im Kissen und konnte die Feuchtigkeit spüren, wo der Stoff meine Tränen aufgesaugt hatte. Es war bereits dunkel geworden und durch das kleine Fenster gegenüber meines Schlaflagers drang das fahle Licht des abnehmenden Mondes herein. Erschöpft und betäubt starrte ich auf die Wolldecke, auf der ich lag. Seit Stunden tat ich nichts anderes als hier herumzuliegen und abwechselnd zu weinen und – wenn die Tränen langsam versiegten – die Fusseln meiner Decke zu zählen, oder den Mücken zuzuhören, die sich hier unter dem Dach tummelten. Mein Schutzamulett hielt sie auf Distanz und schien mir damit auch noch die letzte Kraft auszusaugen, die in meinem Körper verblieben war.

Merethe hatte mich zwar bemerkt und mit Sicherheit auch gehört, aber sie ließ mich glücklicherweise in Ruhe. Ich würde schon noch zu ihr gehen und Trost oder einen passenden Fluch suchen, wenn ich bereit dazu war. Oder Hunger bekam. Ich konnte hören, wie sich die Eingangstür öffnete und der Saum von Merethes langem Kleid über den Holzboden glitt. Sie schob den Riegel vor und verschwand dann kurz in ihrem Schlafzimmer im hinteren Teil der Hütte. Wie jeden Abend. Ich lauschte und wie erwartet hörte ich sie nur wenige Moment später wieder den Raum betreten, bevor sie sich in der Speisekammer rechts vom Heuboden zu schaffen machte. Dann gesellte sich das leise Scheppern ihres Kochgeschirrs zum Knistern des Feuers dazu.

»Danke für den Fisch«, hörte ich Merethe sagen. »Der kommt direkt in den Topf.« Ein schwacher Versuch, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich sah von der Wolldecke auf und ließ meinen Blick träge über die Regale an der Wand gegenüber meines Heubodens schweifen. Merethe bewahrte dort in allerlei Schränkchen und Kisten ihre Bücher, Gerätschaften und Kräuter auf, weshalb nur weit oben überhaupt noch das Holz der Wald sichtbar war. Sie war eine leidenschaftliche Sammlerin und eine sehr begabte Hexe – zwei Eigenschaften, die hervorragend zueinander passten. Sie hatte praktisch für jedes kleine Gebrechen einen Zauber und brauchte nur wenige Augenblicke, um die benötigten Zutaten und Amulette aus ihrer Sammlung herauszusuchen.

Dennoch bezweifelte ich, dass es dort etwas gab, das mir jetzt hätte helfen können.

»Ich habe die Angelrute neben die Tür gestellt«, fügte sie hinzu, aber ich antwortete noch immer nicht. Sie wusste verdammt gut, dass ich nicht antworten würde und dass es auch besser so war. Esas Angel war mir sowas von egal. Warum ich sie nicht einfach im Fluss versenkt hatte, als er sie samt dem daran zappelnden Fisch am Ufer zurückgelassen hatte, war mir immer noch ein Rätsel. Aber wenn er sie zurückbekommen wollte, musste er schon zu mir kommen. Mit geschlossenen Augen hielt ich meine Wut im Zaum, die sich ein Ventil suchte. Wenn ich jetzt etwas sagte, wäre es entweder eine giftige Bemerkung oder selbstmitleidiges Gejammer und nichts davon war hilfreich. Also blieb ich einfach liegen und lauschte für eine Weile den Geräuschen unter mir, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

Die Trauer und Wut in mir wurden langsam stumpf und meine Gedanken träge, als Merethe eine leise Melodie anstimmte. Grummelnd setzte ich mich auf und starrte eine Weile auf die Dielen des Heubodens, zwischen denen das warme Licht des Feuers hindurchschien. Ein paar Schritte vor dem Bett steckte noch mein Jagdmesser im Holz, wo ich es hingeworfen hatte. Ich musterte den ledernen Griff und die kleinen geschlängelten Ornamente, die ich irgendwann einmal hineingeprägt hatte. Ich hatte keine Lust aufzustehen, aber allmählich knurrte mein Magen und ich wusste, dass es mir besser gehen würde, wenn ich erst mal etwas gegessen hatte. Außerdem breitete sich der Duft des Eintopfes in der ganzen Hütte aus und früher oder später würde ich der Versuchung doch erliegen. Warum sollte ich es also nicht gleich hinter mich bringen?

Langsam kletterte ich die Leiter hinunter. Meine Gliedmaßen waren schwer wie Blei und ich wusste, auch ohne in den kleinen Spiegel neben der Eingangstür zu blicken, dass ich fürchterlich aussah. Besonders meine wirren Haare und geschwollenen Augen. Meine hässlichen lila Augen. Ich schlurfte zum Tisch unterm Heuboden und ließ mich auf einen Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Zwischen den Fingern hindurch sah ich Merethe an dem großen Topf über dem Feuer hantieren, bis sie schließlich näherkam und sich mir gegenüber auf ihren mit blauem Samt überzogenen Sessel setzte. Sie faltete die Hände auf dem Tisch, als sie mich ansah.

»Ist es noch zu früh zum Reden?« fragte sie leise. Ihre Stimme klang jung und weich, was nicht zu den Falten passte, die sich langsam in ihr Gesicht gegraben hatten, vor allem um die Augen herum. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie genau war, aber sie war sicher um einiges älter als sie aussah. Ich schätzte sie auf zwei Jahrhunderte, denn als Hexe hatte man ja so einige Möglichkeiten, das Leben zu verlängern.

Sie war anders als die übrigen Leute dieses Landstrichs. Ihre Haut war dunkler und ihr mandelförmiges Gesicht schärfer geschnitten, besonders ihre Nase, die mich an den Schnabel eines Raubvogels erinnerte. Einmal hatte sie erzählt, dass sie aus einem Land weit im Süden stammte, wo es selbst nachts warm war und weite Gebiete mit Sand bedeckt waren. Ein Land unter einer brennenden, rasch aufgehenden Sonne, in dem die Menschen andere Götter verehrten und selbst in Seide aller Farben gekleidet waren. Oft hatte ich von dort geträumt und mich gefragt, ob ich es wohl jemals mit eigenen Augen sehen würde. Und immer war ich ein wenig betrübt im Hier und Jetzt, im grünen, nassen, kalten Schweden aufgewacht.

»Ich weiß nicht«, murmelte ich schließlich und ließ meine Arme ausgestreckt auf den Tisch fallen. Ich bereute es sofort, weil mein Kopf sich anfühlte, als läge ein Getreidesack auf meinem Nacken, und kreuzte stattdessen die Arme, sodass ich mein Kinn darauf ablegen konnte. Merethe nickte und ergriff meine Hände. Ihre waren rau und trocken nach der vielen Arbeit heute, aber es tat trotzdem gut. Eines der schlichten hölzernen Amulette um ihren Hals pulsierte in sanft-weißem Licht und mein Blick blieb daran kleben, weil es irgendwie beruhigend war; wie ein Mondstrahl, der durchs Fenster fiel. Eine kleine Binde-Rune zierte die Oberfläche, was mir verriet, dass darin eine Art Geist gefangen war, von dessen Kraft der Träger des Amuletts zehren konnte. Sie hatte viele, aber dieses eine trug sie jeden Tag.

»Warum muss er nur so sein?«, fragte ich, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Ich hatte ja noch nicht einmal gesagt, was passiert war.

»Du wirst niemals alles verstehen können, was andere tun«, sagte Merethe leise. »Wichtig ist nur, dass du deine eigenen Entscheidungen triffst und dich weder von Stolz, noch von blindem Vertrauen leiten lässt.«

Ich sah ihr in die Augen. Genau das hatte mir Esa vorgeworfen: dass ich ihr blind vertraute und selbst nicht nachdachte. Aber was war so falsch daran? Merethe hatte sich immer um mich gekümmert. Bei Hel, sie hatte mir das Leben gerettet, als meine wahre Mutter mich kurz nach der Geburt im Wald ausgesetzt hatte. Wie könnte ich ihr also nicht vertrauen? »Warum hast du mich damals im Wald mitgenommen?«, fragte ich einfach, weil es mir gerade durch den Kopf ging.

Sie lächelte sanft. »Aber das weißt du doch, mein Kind. Du warst allein, ich hätte dich niemals zurücklassen können.«

»Dann hat es dich nie gestört, wie ich ausgesehen habe?« Ich kannte die Antwort schon, was sollte sie auch sagen. Aber ich wollte es noch einmal hören. Vielleicht auch nur, um vollkommen sicher zu sein, dass sie die Wahrheit sagte.

»Natürlich nicht.« Sie drückte meine Hände. »Ist es das, worum es geht? Hat Esa etwas darüber gesagt?«

Ich senkte den Blick und sie atmete tief aus. Ihre Finger strichen leicht über meine Haut, während ich weiter das Amulett an ihrem Hals beobachtete, das jetzt noch stärker leuchtete als vor einem Moment. Ich schämte mich. Für mich selbst, mein Aussehen, meine Worte Esa gegenüber. Aber auch für meine Schwäche, die es mir nicht erlaubte, seine Worte einfach als eine Laune abzutun.

Merethes Stimme ließ mich aufschauen. »Du weißt doch, wer immer diesen Zauber über dich gelegt hat, muss einen guten Grund dazu gehabt haben. Vermutlich war es nie als Fluch gedacht. Und wenn es deine Mutter war, bin ich sicher, dass sie dich damit nur behüten wollte.«

»Wovor?«, fragte ich müde. »Und sag nicht, es wäre wegen einem Hexenmal.« Merethe hatte schon einmal diese Vermutung ausgestellt, aber für mich ergab sie einfach keinen Sinn. Selbst wenn beide Eltern Hexen waren, bekamen Kinder erst ihre Male, wenn sie selbst die Hexerei erlernten. Und da ich damals höchstens ein paar Monate alt gewesen war, hätte ich unmöglich eines haben können. Was also hätte meine Mutter unter diesem Fluch, diesem elenden Weiß, verstecken sollen?

»Ich weiß es doch nicht«, sagte Merethe betrübt. »Aber du solltest dich trotzdem nicht für diesen Zauber schämen. Du bist einzigartig.«

Ich zog meine Hände zurück. »Das nützt mir auch nichts.« Vielleicht war ich einzigartig, aber es wäre sicher besser, normal auszusehen. »Alb«, beschimpften sie mich, aber die Sonne verbrannte mich nicht, wie ihre Märchen es sagten. Genauso wenig trank ich Blut, aber auch das hatten sie mir schon vorgeworfen. Ich hatte einfach nur Pech gehabt.

Merethe zog ihre Hände zurück. Sie schob den langen, leicht schmutzigen Ärmel ihres Kleides nach oben und brachte eine blattförmige Stelle dunkelgrün gefärbter Haut knapp unter ihrer Armbeuge zum Vorschein. Ihr Hexenmal. Obwohl sie es normalerweise gut verborgen hielt, hatte ich es schon bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen und wusste auch, was es bedeutete, also sah ich sie nur fragend an.

»Was ist damit?«, fragte ich.

»Es ist das, was uns ausmacht, Fjara. Jede Hexe besitzt ein Mal, das weißt du. Daher ist es selbstverständlich, dass auch du eines hast.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Hab ich aber nicht.« Oft genug hatte ich danach gesucht und mich stundenlang vor dem Spiegel verrenkt. Aber wenn es nicht gerade auf meiner Kopfhaut war, dann hatte ich bisher wirklich jede Stelle erfolglos geprüft.

Sie ließ den Ärmel wieder zurückgleiten. »Natürlich hast du ein Mal. Höchstwahrscheinlich ist es aber weiß.« Sie lächelte, als wäre das eine gute Nachricht.

»Und?«, hakte ich nach. Ihre Aufmunterungsversuche waren bis jetzt verflucht erfolglos. Im Gegenteil, sie hatte mir damit nur noch eine meiner Eigenschaften aufgezeigt, die ich nicht leiden konnte. Ein Hexenmal zeigte an, wie mächtig eine Hexe war: Je größer das Mal, desto stärker ihre magische Kraft. Daher hatten Geistermagier auch meist ausgeprägtere Male, so wie Merethe. Aber egal, wie mächtig ich als Hexe wurde, ich würde mein Mal nie zu Gesicht bekommen.

»Es zeigt deine Aura«, fuhr Merethe fort, und ich runzelte verwirrt die Stirn. Das hatte sie noch nie erwähnt. Ich hatte Auren nie für wirklich relevant gehalten. Sie waren wie Nebelfetzen aus Energie, unsichtbar für die meisten und ich kannte keinen Zauber, für den sie wichtig waren.

»Meine Aura?«, wiederholte ich und sie nickte.

»Wie du aussiehst, spielt keine Rolle. Es geht um deine Seele, dein Herz, all das, was sich in deiner Aura widerspiegelt und dich einzigartig macht. Eine schneeweiße Aura ist doch etwas Wunderschönes.« Sie strich über das weiß pulsierende Amulett an ihrem Hals. Ich zögerte. Das klang wirklich schön. Wie Mondlicht, dachte ich, wie schon vorher bei dem Amulett.

»Also kümmere dich nicht um das, was Menschen denken, die von all dem keine Ahnung haben und wahre Schönheit nicht sehen«, fügte sie dann mit einem Lächeln hinzu und stand auf. »Der Eintopf ist fertig, also warum isst du nicht einfach ein wenig und lässt die dunklen Gedanken für eine Weile ruhen?«

Ich starrte nachdenklich die raue Tischplatte vor mir an. Zahllose Kerben von Messern und Vertiefungen, wo Kessel zu hart abgestellt wurden, bedeckten die Oberfläche wie Narben. Merethe stellte eine Schale voll mit dampfendem Eintopf vor mir ab und als der Duft meine Nase füllte, dauerte es nicht lange, bevor mein Hunger alle anderen Gefühle in den Hintergrund drängte. Gierig begann ich zu löffeln und erzählte währenddessen in groben Zügen, was geschehen war. Merethe schwieg die meiste Zeit, aber ich konnte das Mitleid in ihren Augen sehen.

»Er wird sich nicht entschuldigen, oder?«, fragte ich und schob gleich den nächsten Löffel in den Mund. Es schmeckte so verflucht gut. Möhren, Zwiebeln, Fisch... Ich machte mir nicht die Mühe, jede Zutat einzeln zu identifizieren, dafür war ich viel zu hungrig.

»Wahrscheinlich wird er das«, meinte Merethe ruhig. »Er ist nur aufgebracht, weil er Angst vor dieser neuen Situation hat, aber das wird sich legen und dann vertragt ihr euch sicherlich wieder. Gib ihm nur Zeit.«

So gern ich das geglaubt hätte, es passte einfach nicht zu Esa, klein beizugeben. Und diese neue Situation war ja unser eigentliches Problem. Der Gedanke, dass Esa heiraten würde, verstörte mich immer noch. »Hoffentlich«, sagte ich schulterzuckend. Merethes Antworten schienen zu einfach, zu bequem, aber ich wollte sie trotzdem hören. »Du hast gewusst, dass sowas passiert, oder?«, fragte ich gerade, als sie aufstand, um sich selbst eine Schüssel Eintopf zu nehmen.

»Warum denkst du das?« Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, da sie mir den Rücken zugewandt hatte, aber der Ton ihrer Stimme hatte sich ein wenig verändert. Sie war leiser und tiefer geworden. Dann hatte ich also recht.

»Du hast gesagt, dass ich vorsichtig sein soll und so was. Du hast ihm misstraut.« Ich wusste nicht einmal, warum ich überhaupt danach gefragt hatte. Eigentlich wünschte ich mir nur, die Freundschaft mit Esa wiederherzustellen und nicht noch mehr Misstrauen zwischen uns zu bringen. »Ist es wegen deinem Mann?«, hakte ich nach, als sie sich wieder setzte und immer noch keine Anstalten machte, meine Frage zu beantworten.

Ihre Falten vertieften sich, als sie die Stirn runzelte. »Lars war ein guter Mann«, murmelte sie in ihre Schüssel hinein. »Aber trotzdem war er eben nur ein Mann. Ich bin nicht unbedingt traurig, ihn verloren zu haben.«

»Was hat er getan?«

Merethe lehnte sich erschöpft zurück, löste mit einigen energischen Bewegungen das Amulett von ihrem Hals und ließ es klackernd vor sich auf die Tischplatte fallen. Ich folgte der kleinen Holzscheibe mit den Augen, als sie sich für einen Moment noch drehte und dann reglos liegen blieb. Das weiße Licht in ihren Linien schwand langsam. »Er hat überhaupt nichts getan. Er hat für mich gesorgt und mir niemals wehgetan. Aber er hat mich auch nie verstanden. Er hatte Erwartungen an mich, hat aber nie gefragt, was ich denke oder will. Einen Mann zu haben bedeutet auch, ein Stück Freiheit aufzugeben. Verstehst du?«

Tat ich nicht. Und auf einmal bereute ich es auch, gefragt zu haben. Vielleicht hatte ein kleiner Teil von mir wirklich in Betracht gezogen, Esas Wunsch zu erfüllen, ihn zu heiraten und fortzugehen. Einfach, um ihn nicht zu verlieren. Ich griff nach dem Amulett, aber Merethe fing meine Hand ab, bevor ich es berühren konnte. »Ich will nur nicht, dass du dein Leben an einen Mann verschwendest, der deine Talente nicht zu schätzen weiß«, erklärte sie. »Suche dir jemand, der dir gleichgesinnt ist. Jemand, der versteht, was es bedeutet, eine Hexe zu sein - du zu sein.«

Ich zog meine Hand wieder zurück. Was sie sagte, klang logisch, aber die Art, wie sie es sagte, gefiel mir nicht. Nur, weil ihr Mann eigensinnig gewesen war, hieß das nicht, dass Esa auch so sein musste. Doch ich erwiderte nichts. Ich wollte nicht darüber diskutieren.

»Irgendwann wirst du so jemanden finden«, fuhr Merethe etwas leiser fort. »Für mich war es auch eine lange Suche, aber als es so weit war… Sie ist das Warten wert gewesen.«

Aufmerksam richtete ich mich in meinem Stuhl auf. Es war so selten, dass Merethe mir aus ihrer Vergangenheit erzählte. »Wie heißt sie? Und wo ist sie jetzt?« Ich wollte fragen, warum sie bisher nie diese Frau erwähnt hatte, die ihr offenbar so viel bedeutet hatte, aber ich ließ es sein. Der Schmerz in Merethes Augen war deutlich genug.

»Ferun ... Sie ... Ich habe sie verloren.«

Merethe schluchzte leise, und alle Fragen, die ich noch hatte, blieben mir im Hals stecken. Ich stand auf und umarmte sie, als Tränen in ihren Augen glänzten. Sie hielt meine Hände fest. »Tut mir leid«, flüsterte ich. Sie schluchzte wieder und ich fühlte einen Kloß in meinem Hals. Ich konnte mich nicht erinnern, sie schon einmal weinen gesehen zu haben und es machte mir Angst. Für eine Weile stand ich einfach nur so da, die Arme um sie gelegt und das Gesicht in ihren Haaren vergraben. Sie roch nach Pflanzen und Erde und nach diesem süßlichen Duft, den die Geisterzauber immer in der Luft hinterließen. Irgendwann musste ich sie fragen, was Ferun zugestoßen war, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt.

»Ich habe heute einen Bannkreis gezogen, der stark genug war, um Esa zu halten«, sagte ich leise in dem Versuch, das Thema zu wechseln. »Er hat sich ganz schön erschreckt.«

Merethe lachte, auch wenn es fast wie ein Schluchzen klang. »Du wirst immer stärker.« Sie bewegte sich, und ich löste unsere Umarmung. »Du wärst allerdings noch stärker, wenn du die Bücher lesen würdest, die ich dir gezeigt habe«, fügte sie mit einem Hauch von Vorwurf hinzu.

»Das krieg' ich auch so hin. Irgendwie.« Ich ließ mich gegen den Holzbalken in meinem Rücken sinken und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Ich musterte das Regal, in dem fünf dunkelbraune, ledergebundene Wälzer standen und die Erinnerung an vertane Stunden kamen wieder auf. Stunden, in denen ich viel gelesen, aber nichts gelernt hatte - wo mir die Worte wie Frösche durch die Finger geschlüpft waren. Die Bücher und ich waren einfach nicht füreinander geschaffen.

Merethe lächelte nur. Nichts an ihrem Gesicht zeigte mehr die Trauer, die sie eben noch erfüllt hatte. Mir wurde klar, wie viel Mühe sie sich machte, ihre Gefühle für sich zu behalten. Sie hatte sich über die Jahre eine starke Selbstbeherrschung angeeignet, aber selbst diese war nicht stark genug gewesen, als sie von Ferun gesprochen hatte. Vielleicht hatte Esa recht und ich verstand wirklich nichts von Liebe.

 

Ich beschloss, früh schlafen zu gehen. Es wurde Zeit, dass dieser Tag endete, besonders, weil der nächste genauso anstrengend werden würde. Merethe zog sich ihren Mantel über. Sie hatte nicht gesagt, wo sie hingehen wollte, aber vielleicht brauchte sie ja einfach nur frische Luft. Ich zog mich auf den Heuboden zurück, blieb auf der Kante sitzen und sah ihr zu, wie sie sich das Amulett um den Hals legte. »Was ist das eigentlich?«, fragte ich und zeigte auf ihre Hände. Sie ließ es im Ausschnitt ihres Kleides verschwinden und schloss den Mantel.

»Irgendwann erzähle ich dir davon, Liebes. Schlaf schön.«

»Du auch«, antwortete ich, etwas enttäuscht, dass sie schon wieder mit ihrer Geheimniskrämerei anfing. Merethes Kleid glitt über die hohe Schwelle nach draußen in die Dunkelheit. Die Tür schloss sich leise quietschend, und nachdem der schwere Türklopfer aufgehört hatte, gegen das Holz zu schwingen, wurde es wieder still. Nur das Feuer knackste noch ab und zu, wenn Funken in die Höhe stoben und in der Mitte des Raumes vor mir verglühten. Der Boden um die steinerne Umfassung der Feuerstelle war schon wieder voller Asche, aber obwohl es vermutlich an mir hängen bleiben würde, aufzuwischen, achtete ich nicht darauf. Die Flammen selbst zogen meinen Blick an und beruhigten mich ein wenig. Letztlich konnte ich ja doch nichts tun, als einfach den morgigen Tag abzuwarten. Das hatte bisher immer geholfen. Warum sollte es diesmal anders sein?

Kapitel 3

 

ÜBER DEN FLUSS

 

 

Still glitt mein hölzernes Boot übers Wasser. Da es in den letzten Tagen sehr viel geregnet hatte, war die Strömung des Arbogaån stärker als sonst, aber das war nach dem Winter nichts Ungewöhnliches. Auch heute war der Himmel von grauen Wolken verhangen und die Luft so feucht, dass ich die Kälte der winzigen Tropfen auf meinen Wangen fühlen konnte. Aber wenn es regnen sollte, dann wahrscheinlich erst abends.

Ich hatte den Morgen über erfolglos versucht, nicht mehr darüber nachzudenken, was Esa mir am Tag zuvor an den Kopf geworfen hatte. Doch es wollte mir einfach nicht aus dem Sinn gehen und das machte mich wahnsinnig. An diesem Morgen hätte ich unser Dach ausbessern sollen, aber mir war innerhalb von nur einer Stunde fünfmal das Riedbündel heruntergefallen und zweimal hätte es beinahe Merethe getroffen. Sie hatte mich nach dem zweiten Mal entnervt in den Wald geschickt, um meine Gedanken zu sortieren und mir damit nur noch deutlicher gezeigt, was ich zu tun hatte. Ich musste Esa sehen. Mit ihm zu reden, jetzt, wo wir uns beide ein wenig beruhigt hatten war das einzige, das dieses Chaos in mir lichten konnte.

Geübt drehte ich mein Ruder und hielt es mit aller Kraft fest, sodass sich mein Boot gegen die Strömung stellte und näher ans Ufer getrieben wurde. Das Boot war schmal - kaum groß genug für zwei. Ich hatte es vor ein paar Jahren selbst gebaut, daher war es auch nicht besonders aufwändig oder stromlinienförmig. Aber es erfüllte seinen Zweck, der einzig und allein darin bestand, diesen Fluss zu überqueren, wann immer ich nach Holma gelangen musste. Ich griff mir das Tau und schlang um es einen der Pfähle des Stegs, sobald ich ihn zu fassen bekam. Es war meine ganz eigene Anlegestelle und weit abseits von den Stegen, die sich die Dorfbewohner zum Fischen und Waschen angelegt hatten. Ein paar Jahre lang hatten sie mich dort geduldet, aber ich hatte irgendwann meinen eigenen Steg bauen müssen, nachdem einer der Fischer einfach mein Boot losgebunden hatte. Ich hatte es damals gerade noch einfangen können, bevor der Fluss es weggespült hätte.

Das Dorf lag nicht direkt am Wasser, sondern ein kleines Stück landeinwärts zwischen den Hügeln, wo auch bei Hochwasser keine Überflutungsgefahr bestand. An ein paar Schilfbüscheln zog ich mich an der Uferböschung nach oben und folgte dem Trampelpfad hinauf zu den Feldern. Sie waren durch langgezogene Anhäufungen von Erde und Stein voneinander abgegrenzt, auf denen immer wieder Birken und Kiefern wuchsen und ich hielt mich in deren Sichtschutz, während ich mich dem Dorf näherte.

Bei der letzten Baumgruppe außerhalb verharrte ich, eine Hand gedankenverloren am Griff meines Jagdmessers, und versuchte aus der Ferne, mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Es half nicht viel, weil mich die Leute dennoch sofort bemerken würden, wenn ich einen Fuß ins Dorf setzte, aber über die Jahre hinweg hatte ich so meine Erfahrungen gemacht. Es gab ein paar Leute, denen ich auf keinen Fall begegnen wollte, wie zum Beispiel dem alten Prediger, oder dem Trunkenbold, den alle nur Orm nannten.

Wie immer zur Frühjahrszeit waren alle bei der Arbeit. Ein paar Bauern schoben ihr Saatgut auf Karren durch die Gegend und Frauen trugen Körbe voller Kleider, Tierfutter, oder Nahrung von und zu ihren Häusern. Sie alle wollten mit ihren Arbeiten fertig werden, bevor die Sonne unterging und dem trüben Licht nach zu urteilen, war das schon bald. Ich hörte Nils, den Sohn des Schmieds und Jüngsten im Dorf mit ein paar anderen Kindern spielen. Diese schrille Stimme würde ich überall erkennen. Mein Blick wanderte weiter zum Gasthaus, dem goldenen Kelch, wo eine Gruppe Fremder in dunkler Kleidung stand und dann weiter, dorthin, wo einige junge Männer einen mit Holz beladenen Wagen zur Kirche am Nordrand des Dorfes zogen. Den Fremden wollte ich ausweichen - es waren so viele seltsame Gestalten unter den Wanderern, die im Kelch Rast machten. Die jungen Männer dagegen erweckten meine Aufmerksamkeit.

Ich stieg über den Erdwall hinweg und ging ein Stück um das Dorf herum, bis ich aus dem Schatten eines Hauses die kleine Gruppe genauer betrachten konnte. Mein Herz schlug schneller, als ich Esa erkannte, der mithalf, den Wagen zu schieben. Dann hatte ich Recht gehabt. Die anderen Männer, Mads und Gustaf, erkannte ich ebenfalls, aber die konnte ich nicht leiden. Die beiden Vettern waren Esas Freunde, aber das lag hauptsächlich daran, dass sie alle etwa dasselbe Alter hatten und sie daher nicht sehr viel Auswahl hatten, wenn es um Freunde ging. Jeder kannte hier jeden, und daher musste auch jeder irgendwie mit den anderen klarkommen, wenn er sich nicht das halbe Dorf zum Feind machen wollte. Offene Fehden gab es hier kaum, höchstens kleinere Streitigkeiten. Mich konnte hier allerdings niemand wirklich leiden. Sie akzeptierten mich allerhöchstens und das auch eher deshalb, weil sie sich vermutlich vor mir fürchteten.

»Fjara?«

Ich wirbelte herum und suchte instinktiv Schutz an der Hauswand hinter mir. Beunruhigt erkannte ich Andri, Esas Vater, der mir jetzt ein paar Schritte entfernt gegenüberstand und mich eingehend musterte. Er hatte ebenfalls einen Sack über die Schulter geworfen und die Ärmel hochgekrempelt, die Unterarme und Hände voller Schmutz.

»Was tust du hier?«, fragte er und ich presste die Lippen zusammen, während ich mich fragte, wie viel er wusste. Esa war bei solchen Dingen nicht gesprächig, also hatte er vielleicht überhaupt nichts erzählt. Abgesehen davon war ich mir sicher, dass Andri die Seite seines Sohnes ergreifen würde.

»Ich will nur mit Esa reden.«

Andri runzelte die Stirn. »War er deshalb so wütend gestern? Hast du etwas gesagt? Habt ihr euch gestritten?« Er kam etwas näher und ich verlagerte unruhig mein Gewicht. Der Mann war groß, wenn auch nicht riesig und die Ohrfeigen, die er mir früher manchmal verpasst hatte, waren deutlich genug in mein Gedächtnis gebrannt. Die viele Feldarbeit hatte ihm raue Hände, beachtliche Muskeln und einen richtigen Stiernacken verliehen. Wenn ich ihn so ansah, konnte ich kaum Ähnlichkeit zu seinem Sohn erkennen – von den strohblonden Haaren und blauen Augen einmal abgesehen. Esa hatte eher die Statur und Größe seiner Mutter Linnea geerbt.

»Es war ein Missverständnis«, murmelte ich.

»Du gehst besser wieder. Esa hat genug anderes zu tun im Augenblick. Ich nehme an, er hat dir von seiner Verlobung erzählt und du weißt, was das bedeutet?« Ich nickte nur und er atmete tief ein, erleichtert schon fast. Es bedeutete, dass Andri mich nie mehr auch nur in der Nähe seines Sohnes sehen wollte. Das war nicht das erste Mal, dass er Esa und mir den Umgang verbat, aber dieses Mal glaubte er wohl wirklich, dank dieser Heirat Erfolg gehabt zu haben.

Mit einem Blick zum Gasthaus hinüber kam er näher und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich wäre gern zurückgewichen, aber die Hauswand in meinem Rücken hielt mich davon ab, ebenso wie die Angst davor, diesen Mann zu beleidigen. »Hör zu, du bist im Grunde anständig, also lass mich dir einen gut gemeinten Rat geben. Es sind ein paar Fremde im Dorf angekommen und es wäre besser, wenn du dich ihnen nicht zeigst. Zwielichtige Gestalten sind das. Wenn du dich von Esa verabschieden willst, dann komm nächste Woche noch einmal.«

Ich hatte das Gefühl, als wolle er noch mehr sagen, aber aus irgendeinem Grund tat er es nicht. »Na schön ...« Ich ließ meinen Blick über die benachbarten Häuser schweifen. Die Gruppe Fremder war mittlerweile in den Gasthof gegangen, aber es war unschwer zu erraten, dass sie es waren, von denen Andri gesprochen hatte. Das bunte Holzschild über der Tür schwang leicht im Wind, der den kommenden Regen ankündigte.

»Sei einfach vorsichtig, Mädchen«, sagte Andri und klopfte mir noch einmal auf die Schulter, bevor er zu seinem Hof auf der anderen Dorfseite davonstapfte. Auch Esa und seine Freunde waren verschwunden. Eine Fischersfrau überquerte den Dorfplatz vor mir und warf mir einen schrägen Blick zu, bevor sie sich demonstrativ wieder abwandte und eilig weiterging. Langsam entspannte ich mich. Vielleicht war es wirklich besser, noch zu warten. Abschied, oder nicht.

Widerwillig stieß ich mich von der Hauswand ab. So eine Zeitverschwendung! Ich kehrte dem Dorf den Rücken und schlurfte zurück zu dem Trampelpfad, an dessen Ende ein hoher Strauch die Lage meines Bootes markierte. Aber weit kam ich nicht. Noch vor der ersten Baumgruppe ließ mich eine Stimme hinter mir innehalten.

»Seht mal, wer da ist!«, hörte ich Gustaf rufen und blickte zurück. Die Gruppe um Esa hatte mich bemerkt und folgte mir jetzt den kleinen Weg entlang. Esa ging hinter seinen Freunden, die Hände in seinen Gürtelschlaufen eingehakt und die Schultern angezogen. Wie so oft trug er seine Haare zu einem langen Zopf geflochten, der sich durch die Arbeit des Tages schon ein wenig gelöst hatte. Seine Kleider waren ausnahmsweise einmal schmutzig, ebenso wie die seiner Kameraden und er trug Binden um die Hände, vermutlich zum Schutz vor Holzsplittern. Sein Blick war kalt, als er mich ansah.

Unschlüssig blieb ich stehen. Ich konnte die beiden Vettern nicht ausstehen, doch ich wollte auch nicht einfach gehen, jetzt, wo ich Esa wieder gegenüberstand. »Was führt dich hierher, Hexchen?«, fragte Mads und Gustaf kicherte dämlich. Sie waren sich so ähnlich, sie hätten auch Brüder sein können.

»Ich wollte mit dir reden, wegen gestern«, sagte ich zu Esa und war fest entschlossen, die anderen zu ignorieren. »Tut mir leid, was ich gesagt habe. Ich glaube, du weißt, dass ich es nicht so gemeint hab.«

Esa verschränkte die Arme und starrte zu Boden. Es war wohl nicht seine Idee gewesen, mir zu folgen.

»Redest du jetzt nicht mehr mit mir?« Ich trat einen Schritt näher, aber Mads stieß mich grob zurück. Die beiden genossen es, dass Esa mich nicht mehr verteidigte, wie er es früher getan hätte.

»Es tut mir wirklich leid«, wiederholte ich, auch wenn es meinen Stolz verletzte. Eigentlich müsste er sich entschuldigen.

»Es tut ihr leid«, äffte Gustaf mich nach, aber bevor ich mein letztes bisschen Geduld mit ihm verlor, schob Esa sich an seinen Freunden vorbei, sodass sie endlich die Klappe hielten.

Er klang müde, als er sprach. »Tut es das? Das glaube ich dir nicht. Außerdem dachte ich, ich hätte dir schon gesagt, was ich von dir halte.« Die anderen lachten gehässig und ich presste die Kiefer aufeinander.

»Du benimmst dich wie ein kleines Kind!«, fauchte ich und trat zu ihm hin, was mir ein paar gemurmelte Kommentare der Kerle einbrachte, die sich wahnsinnig gut zu amüsieren schienen. »Schmollst du jetzt wirklich rum, nur weil ich mich einmal blöd ausgedrückt hab?«

Seine Mundwinkel zuckten, und für einen Moment wirkte es, als würde er nach einer passenden Antwort suchen. Hass zeichnete sich in seinem Gesicht ab. »Verschwinde, Fjara!«, fuhr er mich an. »Kriech in dein Loch zurück und lass mich endlich in Frieden, hörst du? Ich habe mich aus Mitleid mit dir abgegeben und du hast es dir mit deiner vorlauten Klappe selbst verbockt!« Er spuckte aus, aber ich wich rechtzeitig zurück und verharrte dann, wie erstarrt von seinen Worten. Bleierne Schwere legte sich über meine Brust, und obwohl ich etwas sagen wollte, brachte ich keinen Ton mehr heraus.