Flammenteufel - Bernward Schneider - E-Book

Flammenteufel E-Book

Bernward Schneider

4,0

Beschreibung

Berlin im Oktober 1933. Anwalt Eugen Goltz erhält einen Telefonanruf. Eilig sucht er seine Mandantin, die Tänzerin Alice Resow, in einem Hotel in der Lietzenburger Straße auf. Er findet sie tot vor. Im nächsten Moment stürmt die Gestapo in das Hotel, hat aber zu Goltz’ Überraschung nur Interesse daran, Alice’ Tod wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Eugen Goltz beschließt, die Hintergründe des mysteriösen Falls aufzuklären. Eine heiße Spur führt ihn zurück in die Nacht des Reichstagsbrands vom 27. Februar 1933.

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Bernward Schneider

Flammenteufel

Dieses Buch wurde vermittelt von

der Literaturagentur erzähl:perspektive, München

(www.erzaehlperspektive.de).

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

1

Als ich die Lietzenburger Straße erreichte, war es dunkel geworden, und in der wuchtigen Häuserfront, in die sich die schwarzgraue Fassade des Hotels Belvedere einreihte, brannten vereinzelt die Lichter. Es hatte zu regnen begonnen, und der Asphalt, über den die Limousinen rollten, schimmerte in einem finsteren Glanz. Auf der anderen Straßenseite ließ ein schwarzes Mercedes-Cabriolet, das mit laufendem Motor am Bordsteinrand gewartet hatte, die Scheinwerfer aufgleißen und fuhr mit hoher Geschwindigkeit in westlicher Richtung davon.

Die Rezeption in der Hotelhalle war von einer Gruppe Reisender umlagert, und da mich niemand beachtete, wandte ich mich nach links, wo ich nach ein paar Metern auf das Treppenhaus stieß, das sich um das schmiedeeiserne Gitterkleid des Fahrstuhlschachts herum nach oben wand und dessen Stufen ein roter Teppich bedeckte.

Auf dem Flur im dritten Stock brannte eine Art Notbeleuchtung. Einen Lichtschalter gab es nicht; jedenfalls konnte ich keinen finden. Ganz am Ende des Ganges entdeckte ich die Tür mit der Ziffer 303, die Alice Resow mir genannt hatte.

Auf mein Klopfen passierte nichts, und auch nach dem zweiten Anklopfen blieb die Aufforderung zum Eintreten aus. Ich senkte lauschend den Kopf und wartete, dass etwas geschehen würde, aber von drinnen kam kein Laut.

Schon in diesem Moment beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Das Gefühl war dumpf und stärker, als es dem Anlass entsprach. Es war nicht nur eine dunkle Ahnung, sondern die aus einem Wust vager Erinnerungen gespeiste Gewissheit, dass irgendetwas an meiner ganzen Unternehmung nicht stimmte.

Ich klopfte noch einmal lauter, aber alles blieb still.

Der Knauf an der Tür ließ sich drehen, sie war nicht verschlossen.

Ein schwacher Lichtschein fiel in den Flur.

»Frau Resow?«, rief ich und schob die Tür ein Stück weiter auf.

Es war kein kleines, aber dafür einfach und zweckmäßig eingerichtetes Zimmer mit soliden Möbeln, einem großen Doppelbett, einem Kleiderschrank, einer Art Schreibtisch mit Stuhl davor und an den Wänden hingen Bilder, deren Stil an Emil Nolde oder August Macke erinnerte. Das Bett war mit der Tagesdecke bezogen und ein paar Kleidungsstücke lagen darauf. Das Licht im Zimmer kam von der Ecktischlampe gegenüber dem Bett.

Fast war ich erleichtert, dass ich beim ersten Blick in das Zimmer niemanden sah. Schon wollte ich mich zurückziehen, um im Hotelrestaurant nach Alice Resow Ausschau zu halten, da wurde meine Aufmerksamkeit nach rechts zu einem Schatten gelenkt, der von dort unsichtbar nach mir zu greifen schien. Abrupt riss ich den Kopf herum und starrte in den Teil des Raums, der sich hinter meiner Schulter befand.

Alice Resow saß auf dem Boden, gerade aufgerichtet und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Eine Strähne des kastanienfarbenen Haars war ihr in die Stirn gerutscht, ihre grünen Augen blickten weit geöffnet in die Tiefe des Raums; eine gerade Nase, kleine, spitze Ohren, ein langer Hals – um diesen aber war ein Seidenschal geschlungen, dessen Enden an einem Gestänge befestigt waren, das zu einem Heizkörper gehörte, der sich neben ihr befand. Der Schal wirkte straff gespannt und der Glanz in den Augen von Alice Resow war erloschen.

Ich warf einen Blick zurück in den Gang. Überall herrschte schummerige Finsternis. Nichts war zu hören und kein Mensch zu sehen.

Leise zog ich die Tür hinter mir zu; dann trat ich näher an die Tote heran.

Abgesehen von dem Schal war sie vollkommen nackt; und trotz des Schreckens, der mich gepackt hielt, konnte ich nicht übersehen, dass sie einen verdammt schönen Körper hatte.

Ich beugte mich zu ihr hinab. War sie denn wirklich tot? Ihre Augen – Augäpfel, Iris und Pupillen – blickten starr, unbeweglich. Ich hielt mein Ohr nahe an ihre stummen, halb geöffneten Lippen, fühlte den Puls an ihrem Handgelenk, aber es war kein Leben mehr in ihrem Körper; ich hatte mich nicht getäuscht.

Ich richtete mich wieder auf und blickte mich um. Ein Glück immerhin, dachte ich mit einem Anflug verspäteter Bestürzung, dass der Irre, der für dieses Geschehen Verantwortung trug, nicht mehr im Zimmer war.

Die Zeiger der Uhr an meinem Handgelenk zeigten halb acht. Vor einer knappen Stunde hatte Alice Resow mich angerufen. Es gäbe Ärger mit einem Freund, hatte sie mir am Telefon erklärt, und als ich erwiderte, dann solle sie besser die Polizei einschalten, hatte sie fast entrüstet reagiert und vehement bekundet, dass ihr die Polizei nicht helfen könne.

Mit fest aufeinandergepressten Lippen trat ich ans Fenster. Der Regen glitzerte silbern im Schein der Laternen und verschwand im Dämmer über dem Asphalt. Ein einsamer Fahrradfahrer stemmte sich gegen den Wind. Was sollte ich tun?

Noch vor wenigen Monaten hätte ich mir diese Frage nicht stellen müssen. Damals hätte ich die Rezeption verständigt und die Polizei gerufen, hätte den Beamten gesagt, was ich wusste, und wäre meines Weges gegangen; doch in der heutigen Zeit ging das nicht mehr – vor allem nicht, soweit es meine Person betraf.

Seit mehr als einem halben Jahr war Adolf Hitler Kanzler des Deutschen Reiches, und seitdem er im Amt war, wusste man nicht, mit wem man es zu tun bekam, wenn man sich an die Polizei wandte; man konnte nicht sicher sein, ob es die richtige Polizei, die geheime Polizei oder gar die vornehmlich aus Schlägern der SA bestehende Hilfspolizei war, die die Sache übernahm.

Das allein hätte mich nicht schrecken müssen. Schlimmer war, dass mein Name auf einer schwarzen Liste stand. Ich hatte am eigenen Leibe erfahren, was es bedeutete, wenn man sich mit den Leuten anlegte, die nunmehr in Deutschland das Sagen hatten, und als ein gebranntes Kind war ich nicht erpicht darauf, dass sich die Erfahrungen, die ich hatte machen müssen, wiederholten.

Diffuse Gedanken, Fragen und Zweifel nagten an mir. War es ein Zufall, dass ausgerechnet mir diese Sache hier passierte? Konnte das Ganze womöglich eine Falle sein, die meine Widersacher mir stellten? Was, wenn Philipp Arnheim, der furchtbare Bankier, oder wenn mein Schwager Rudolf Mantiss, der ›Pharao der Loge der Brüder und Schwestern vom Licht‹, hinter der Sache steckten? Oder war das bloß ein abwegiger Gedanke? An und für sich war ich kein Mensch, der unter Verfolgungswahn litt, aber ich wusste, dass ich in dieser Stadt von wirklichen Dämonen umgeben war, und deshalb schloss ich inzwischen fast gar nichts mehr aus.

Mein Blick kehrte zu der toten Alice Resow zurück.

Ihr Gesicht war selbst im Tode noch schön, und auch der Hauch von Verruchtheit, der mir bei unserer einzigen Begegnung als Erstes aufgefallen war, haftete ihm noch an. Es sah fast so aus, als lächelte sie.

Sie hatte es hinter sich, ging es mir durch den Sinn, und wieder einmal musste ich daran denken, wie richtig doch der Satz war, dass es nicht selten die Lebenden waren, die die Toten beneideten.

Mir war klar, dass ich schnell eine Entscheidung treffen musste, aber selbst hier im Zimmer, wo ich unbeobachtet war, musste ich aufpassen, dass ich keinen Fehler beging.

Wieder spähte ich durch das Fenster. Der Schein der hohen Laternen tauchte die Straße in ein diffuses Licht. Der Regen war stärker geworden, und die durch die Lichtkegel der Straßenlaternen eilenden Passanten wirkten schemenhaft.

Ein, zwei Minuten verstrichen, dann streiften die Lichter einer schwerachsigen schwarzen Mercedes-Limousine durch den Regen. Kurz darauf hielt der Wagen am Straßenrand; ungefähr an derselben Stelle, wo bei meinem Eintreffen vor dem Hotel das schwarze Cabriolet davongefahren war.

Auf beiden Seiten wurden die Türen aufgestoßen, zwei Männer in langen Mänteln, deren Gesichter durch Velourshüte verdeckt waren, stiegen in den lichterglitzernden Regen hinaus.

Ich blickte mich um. Wo im Raum hatte ich Fingerabdrücke hinterlassen? Aber machte es überhaupt Sinn, sie zu entfernen? Konnte ich ausschließen, dass mich jemand gesehen hatte, als ich hergekommen war? Wenn ich daher meine Anwesenheit im Hotel zu verbergen suchte und man später trotzdem herausfand, dass ich der Toten einen Besuch abgestattet hatte, machte ich alles nur noch schlimmer. Dann musste ich gar damit rechnen, dass man versuchen würde, mir einen Mord anzuhängen. Es gab Leute in meinem Umfeld, die sich für diese Gelegenheit geradezu bedanken würden. Nein, meine Anwesenheit zu vertuschen, wäre die schlechteste Wahl zwischen allen schlechten Alternativen. Es half nichts, ich musste in den sauren Apfel beißen, die Rezeption benachrichtigen und die Polizei anrufen, ganz egal, was für Folgen das für mich hatte.

Schließlich straffte ich mich, ging auf die Zimmertür zu, hielt wieder inne, weil ich von draußen Geräusche vernahm. Kein Zweifel, das waren Schritte – und sie näherten sich der Tür. Verdammt! Sie waren alle so viel schneller als ich!

Ich stand still und starrte auf das weiße Holz, rechnete damit, dass jeden Moment jemand anklopfen würde.

Aber es war nichts zu hören – stattdessen sah ich, wie der Knauf sich drehte und die Tür einfach aufgemacht wurde.

Sie waren zu zweit, und ich war sicher, dass es die Typen waren, die ich eben vom Fenster aus beim Verlassen ihres Wagens beobachtet hatte.

Geheime Polizei! Ich sah es auf den ersten Blick. Mitarbeiter des Geheimen Staatspolizeiamtes! Ledermäntel und Velourshüte, bleiche, hagerere Gesichter – doch woran man sie auf jeden Fall erkannte, waren die Augen. Selbst wenn sie groß und tiefblau waren, immer waren sie kalt und mitleidlos.

Ich war also tatsächlich in eine Falle getappt.

Der eine der beiden war noch jung; ein kräftiger, hoch aufgeschossener Bursche mit Sommersprossen, hellen, eisblauen Augen und blondem Haar. Der andere war älter, ein hagerer dunkler Typ mit bartschattigen bleichen Wangen.

Der Jüngere mit den hellen Haaren richtete den Blick mit anhaltender Neugier auf die nackte Tote; er schien aber nicht wirklich überrascht zu sein, sie zu sehen. Sein Kollege hatte überhaupt nur einen kurzen Blick für Alice Resow übrig, und wandte dann sogleich mir die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner stechenden schwarzen Augen zu.

»Name und Adresse! Haben Sie einen Ausweis?«, sagte er und stieß mir seine Polizeimarke, die er bereits in den Händen hielt, fast in die Augen. Er trug einen stark verknitterten Anzug unter dem Mantel, und sein dunkles Haar, das unter dem Hut sichtbar war, hatte aus der Nähe einen rötlichen Stich.

Ich zeigte ihm meinen Anwaltsausweis, den ich seit einiger Zeit immer bei mir trug, und machte ihm die Angaben, die er hören wollte. Während er das Papier eindringlich betrachtete, fügte ich hinzu: »Die Tote ist meine Mandantin. Sie heißt Alice Resow und rief mich an, weil sie Hilfe brauchte. Leider bin ich zu spät gekommen.«

Der Gestapo-Mann nahm einen Block und einen Stift aus der Innentasche seines Jacketts und machte sich Notizen.

»Wieso brauchte die Frau Hilfe?«

Ich warf einen Blick auf die Tote und sagte nichts.

»Haben Sie mich nicht verstanden?«, wiederholte er.

»Am Telefon sprach Frau Resow davon, dass sie Ärger mit einem Freund hätte.«

Der Bleichgesichtige notierte sich das.

»So, so«, sagte er. »Ärger mit einem Freund? Wer ist denn dieser Freund?«

»Sie hat mir seinen Namen nicht genannt.«

Der Dunkelhaarige sah mich wieder an. »Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«

»Wie meinen Sie das? Von meiner Kanzlei aus?«

»Nein, von hier!«

»Sie sind doch schon da! Ich bin selbst erst kurz vor Ihnen gekommen.«

Ein Schatten fiel über seine Züge.

»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon einmal irgendwo gesehen?«, fragte er und kniff die Augen zusammen.

»Wahrscheinlich im Verbrecheralbum«, ließ sich der Blonde aus dem Hintergrund vernehmen, nachdem es ihm gelungen war, seinen Blick von der Toten loszureißen. »Am besten, wir nehmen ihn mit aufs Revier.«

»Derjenige, der Sie angerufen hat, wird Ihnen bestätigen können, dass ich erst angekommen bin, als Frau Resow schon tot war«, entgegnete ich.

Der Blonde kam näher und baute sich vor mir auf. In seinen Augen zeigte sich ein harter, fiebriger Glanz. »Wer hat uns angerufen?«

»Das wollte ich Sie auch gerade fragen. Ich war ja nicht dabei.«

»Werd nicht frech, Freundchen!«

»Hören Sie auf, mich zu duzen!«

Er packte mich mit beiden Händen am Kragen meiner Jacke und hob mich ein Stück hoch.

»Überlegen Sie sich gut, was Sie sagen, Herr Goltz!«, schaltete sich der Bleichgesichtige ein. »Sie scheinen den Ernst Ihrer Lage zu verkennen.«

»Ein Mord ist eine ernste Sache, allerdings. Aber der Täter befindet sich nicht hier im Raum.«

»Mord?«, raunte der Blonde. »Woher wissen Sie denn, dass die Frau ermordet wurde?«

»Sehen Sie doch mal genau hin!«

»Lassen Sie ihn, Wunram!«, sagte der Bleichgesichtige. »Wir müssen uns um die Tote kümmern.«

Wunram stellte mich wieder auf die Füße.

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte ich in Richtung des Bleichen.

»Nein«, gab dieser scharf zurück.

»Was wollen Sie noch von mir?«

Wunram sah mich mit einem unangenehmen Lächeln an. »Was wohl? Ein paar Auskünfte …«, grinste er frech, »… und den Tod!«

»Wollen Sie schon sterben?«, fragte ich.

»Ich spreche von Ihrem Tod, Goltz«, meinte er.

»Wir kommen wirklich auf keinen grünen Zweig.«

»Ruhe!«, sagte der Bleichgesichtige, der offenbar der Ranghöhere der beiden war. Er hatte jetzt die Augen der toten Alice Resow zugewandt und betrachtete sie ziemlich intensiv.

»Weshalb ist sie eigentlich nackt?«, fragte er, als wäre ihm dieser Umstand bisher entgangen.

»Wahrscheinlich war ihr heiß«, sagte Wunram.

Der Bleichgesichtige beachtete ihn nicht. »Haben Sie irgendetwas hier verändert?«, fragte er mich, ohne mich anzusehen oder auch nur den Blick von der Toten zu nehmen.

»Ich habe nichts angerührt, bis auf die Dame – ich habe ihr nämlich den Puls gefühlt.«

»Und?«

»Nichts.«

Der Bleichgesichtige runzelte die Stirn. »Was denken Sie, ist passiert?«, fragte er und schaute nun wieder zu mir her.

»Darüber lässt sich nur spekulieren«, antwortete ich.

»Dann tun Sie es mal!«

»Es sieht aus, als wäre sie an den Falschen geraten – sie hatten Sex und der Typ ist durchgedreht.«

Der Bleichgesichtige nickte. »Gar nicht schlecht die Theorie – könnte so gewesen sein. Hm, aber vielleicht war es auch ganz anders oder jedenfalls ein wenig anders, nämlich in einem entscheidenden Punkt.«

»Vielleicht waren Sie ja dieser Typ, der durchgedreht ist, wollte mein Kollege damit sagen«, sagte Wunram. »Sie sind hergekommen, um Ihre schöne Mandantin zu vernaschen, und als sie nicht so wollte wie Sie, da hat es bei Ihnen ausgesetzt, da sind Sie durchgeknallt, und das Ergebnis haben wir nun vor Augen.«

Ich schwieg lieber, denn das konnte man nicht kommentieren.

Der Bleichgesichtige, dessen Aufgabe es war, eine Entscheidung zu treffen, rieb sich das Kinn, als dächte er darüber nach, ob er das Wort lieber an seinen Kollegen oder an mich richten sollte.

»Was machen wir mit ihm, Herr Köhler?«, fragte Wunram seinen Vorgesetzten.

»Wir greifen den Dingen besser nicht vor«, erwiderte der Angesprochene. »Seine Personalien haben wir, das reicht uns für den Moment.« Er schaute zu der Toten zurück, und Wunrams Augen folgten seinem Blick, bis wir alle drei auf die am Boden sitzende Alice Resow starrten.

Die Wirkung, die von Alice Resows Erscheinung ausging, ihre Nacktheit und ihre besondere Attraktivität, die ihr durch den Tod nicht genommen worden war, war so stark, dass man sich der voyeuristischen Spannung nur schwer entziehen konnte. Mir war, als würde sie uns mit ihren leblosen Augen sehen, während eigentlich wir drei Lebenden die Blinden waren, und ich spürte ein mit einer seltsamen Beunruhigung gefärbtes Unbehagen, die Frau könne nicht wirklich tot sein, und ihr magisches Bewusstsein würde noch, unsichtbar für uns, in diesem Raume anwesend sein.

»Warum müssen ausgerechnet die Schönen sterben«, sagte der Gestapo-Mann Köhler, »es ist so verdammt ungerecht.«

Eine tote nackte Frau und drei Männer, die sie betrachteten, die Situation hatte etwas Obszönes. Es war fast, als hätten wir uns alle drei gegen Alice Resow verschworen, als trügen wir aufgrund der bloßen Tatsache, dass wir Männer waren, eine Mitschuld an ihrem Tod.

Von draußen prasselte Regen gegen die Fensterscheibe, und in der Ferne grollte der Donner.

Köhler blickte zum Fenster. »Es kommt immer alles Üble zusammen«, sagte er.

»Da haben Sie recht«, sagte ich und dachte im nächsten Augenblick, ich hätte es besser nicht gesagt.

Köhler wandte die kalten Augen zu mir zurück. Sein Gesicht wirkte so blass und leer wie die Spree in einer lauen Sommernacht.

»Was meinten Sie eben?«

»Ich dachte daran, dass ich keinen Schirm dabei habe.«

»Sonst haben Sie kein Problem?«

»Nein.«

»Sie könnten aber eines kriegen – vielleicht sogar einen ganzen Sack voll.« Er schaute mich eindringlich an. »Jedenfalls dann, wenn Sie …«, er machte eine bedeutungsschwere Pause »… wenn Sie uns Ärger machen.«

Ärger? Der Sinn dieser Bemerkung erschloss sich mir nicht. Hatten die beiden etwa Angst vor mir? Etwas an deren Auftreten war mir von Anfang an merkwürdig erschienen. Es wurde mir in diesem Moment deutlich bewusst.

»Warum sollte ich Ihnen Ärger machen? Ich bin ein friedlicher Mensch.«

Köhler trat einen Schritt näher an mich heran, sodass sich fast unsere Nasenspitzen berührten.

»Gut«, sagte er. »Dann bleiben Sie Ihrem Vorsatz treu! Und jetzt werden Sie in die Hotelhalle gehen und sich dort zur weiteren Verfügung halten! Wir werden das Notwendige veranlassen. Der zuständige Staatsanwalt wird entscheiden, was mit Ihnen geschieht. Und unternehmen Sie nicht den Versuch, stiften zu gehen. Es wäre zwecklos. Wir kriegen Sie ohnehin!« Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Tür, und ich zögerte nicht, seiner Aufforderung zum Verschwinden Folge zu leisten.

Über den verschatteten Gang kehrte ich durch das Treppenhaus in die Halle zurück, wo ich mich in einen der schweren Ledersessel fallen ließ, die dort ein paar kleine Tische umstanden. Niemand nahm Notiz von mir; nur der Portier warf mir einen merkwürdigen Blick zu, als hätte er schon eine Ahnung, dass irgendetwas Unangenehmes im Gange war.

Die Sache war fürs Erste besser ausgegangen, als ich befürchtet hatte, und ich wunderte mich etwas darüber. Zwar hatten die beiden Geheimen recht mit ihrer Bemerkung, dass ich ihnen nicht entwischen konnte, aber wenn sie mich wirklich verdächtigten, am Tod von Alice Resow schuldig zu sein, hätten sie mich so ohne Weiteres gewiss nicht ziehen lassen. Wussten die beiden etwas, von dem ich keine Ahnung hatte?

Zwei Minuten nach mir erschien der blonde Wunram in der Halle und ließ sich von dem Portier das Telefon geben. Eine Minute lang sprach er leise in den Hörer, dann legte er auf und entschwand im Treppenhaus, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Fast eine halbe Stunde lang sah ich dem Treiben in der Halle zu. Gäste kamen und gingen, alles war wie immer. Der Todesfall oben im dritten Stock schien hier niemanden zu bekümmern.

Schließlich trafen ein paar Herren ein. Sie sahen aus wie preußische Beamte und waren in Zivil. Letzteres behagte mir im Allgemeinen weniger als der Anblick von uniformierten Polizisten, aber zu meinem Glück war unter den Zivilisten jemand, den ich kannte: Ferdinand Warneke, ein Staatsanwalt, obendrein ein Mann, von dem ich wusste, dass mit ihm zu reden war.

»Herr Goltz«, sagte er, als er sich in der Halle umgeschaut hatte und mich erblickte. »Kommen Sie mit hinauf. Man sagte mir bereits, dass ich Sie hier antreffen würde. Was ist denn geschehen?«

Er war Anfang 40, also in meinem Alter, hatte ein rosiges Gesicht und blondes Haar, das sich bereits lichtete.

»Die Tote auf Zimmer 303 war meine Mandantin«, sagte ich, und während wir über den roten Teppichläufer nach oben gingen, erzählte ich ihm von Alice Resows Anruf und dem, was sich danach ereignet hatte.

»Na, die Kollegen waren aber schnell«, kommentierte er den Auftritt der beiden Gestapo-Leute, doch mehr wollte er nicht hinzufügen.

Oben angekommen, trat er zusammen mit seinen Begleitern in das Zimmer der Toten, während man mir bedeutete, auf dem Gang zurückzubleiben.

Es war mir ganz recht, dass ich die im Zimmer anwesende Männerrunde nicht vergrößern musste, und ich wünschte mir, die arme Alice Resow hätte in einer Situation, da sie den forschenden Männerblicken ausgesetzt war, wenigstens einen einzigen weiblichen Beistand gehabt.

Bald hörte ich sie drinnen miteinander reden. Meistens hatte Köhler das Wort. Es war fast, als würde er den Ton angeben. Was er sagte, war nicht zu verstehen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es dabei um mich ging. Alles in allem, vor allem so wie ich bisher behandelt wurde, hielten sie mich offenbar für eine Randfigur, und damit hatten sie ja auch recht.

Nach zehn Minuten kam Warneke wieder in den Flur.

»Sie können jetzt nach Hause gehen, Herr Goltz«, sagte er. »Man wird eine Obduktion Ihrer Mandantin vornehmen. Kommen Sie morgen Vormittag in mein Büro im Kriminalgericht. Dort können Sie Ihre Aussage zu Protokoll geben, damit alles seine Richtigkeit hat.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Keine Sorge! Ich denke, es liegt nichts gegen Sie vor.«

2

Warnekes freundliche Bemerkung war nicht geeignet, mich zu beruhigen. Auf die Meinung eines Staatsanwalts kam es in Deutschland nicht mehr wesentlich an. Wohin die Dinge sich entwickeln würden, bestimmten ganz andere Leute. Der Gang der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen spielte nur noch eine untergeordnete Rolle dabei.

Judith Singer, meine jüdische Freundin, mit der ich Ende Februar nach Paris hatte fliehen wollen und die ich allein hatte ziehen lassen müssen, als man meine Abreise verhinderte, hatte recht behalten. ›Eugen, du wirst keinen Abend mehr mit der Sicherheit zu Bett gehen können, dass nicht in der Nacht gegen deine Tür geschlagen wird und man kommt, um dich zu holen.‹ Sie hatte meine gegenwärtige Situation richtig vorausgesagt. ›Das grässliche Lebensgefühl, das daraus erwächst, mag dich dann endlich dazu zwingen, freiwillig auf diese Leute zuzugehen oder alle einflussreichen Stellen deiner Loyalität zu versichern, in der trügerischen Hoffnung, dass man dich weiterhin in Ruhe lässt. Das scheint mir, ist das Schicksal, das dir – ebenso wie vielen anderen Menschen – in Deutschland bald blüht.‹

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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