Flat-Out Celeste - Jessica Park - E-Book

Flat-Out Celeste E-Book

Jessica Park

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Beschreibung

BE WEIRD. BE YOURSELF.

Für Celeste ist jeder Tag in der Schule eine Herausforderung. Sie ist zu clever, zu eloquent, zu nerdig. Aber am College wird garantiert alles besser werden, richtig? Celeste muss nur noch dieses verdammte letzte Jahr an der Highschool überleben. Als der Student Justin mit ihr Kontakt aufnimmt, um sie für sein College anzuwerben, spürt sie zum ersten Mal in ihrem Leben, wie es sein kann, wenn jemand sie wirklich »sieht«. Genau wie sie ist Justin einfach ein bisschen anders. Aber zusammen sind sie perfekt, zusammen könnten sie funktionieren - wenn Celeste sich nur trauen würde, all die verwirrenden, neuen Gefühle zuzulassen, und es wagen würde, einfach nur sie selbst zu sein.

»Diese Geschichte hat mich ganz tief in meiner Seele berührt. Sie hat mein Herz ein bisschen gebrochen und dann die Tränen wieder fortgespült mit ihrer bewegenden Intensität.« READING AFTER MIDNIGHT

Band 2 der FLAT-OUT-Reihe von Jessica Park

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Danksagung

Leseprobe

Die Autorin

Die Romane von Jessica Park bei LYX

Impressum

Jessica Park

FLAT-OUT CELESTE

Roman

Ins Deutsche übertragen von Bettina Ain

ZU DIESEM BUCH

Für Celeste ist jeder Tag in der Schule eine Herausforderung. Sie ist zu clever, zu eloquent, zu nerdig. Aber am College wird garantiert alles besser werden, richtig? Celeste muss nur noch dieses verdammte letzte Jahr an der Highschool überleben. Allerdings hat sie eines konsequent verdrängt: Auch am College ist soziale Interaktion angesagt. Sie beschließt, dass eine neue Celeste her muss. Ihre unbeholfenen Versuche, sich neu zu erfinden, scheitern jedoch spektakulär (und Hot Yoga ist so was von nicht ihr Ding!). Aber als der Student Justin mit ihr Kontakt aufnimmt, um sie für sein College anzuwerben, spürt sie zum ersten Mal in ihrem Leben, wie es sein kann, wenn jemand sie wirklich sieht«. Genau wie sie ist Justin manchmal einfach etwas »zu viel« für andere Menschen. Doch für Celeste ist seine überbordende Energie, seine Tollpatschigkeit und sein unablässiger Redefluss seltsam beruhigend. Zusammen sind sie perfekt, zusammen könnten sie funktionieren – wenn Celeste sich nur trauen würde, all die verwirrenden, neuen Gefühle zuzulassen, und es wagen würde, einfach nur sie selbst zu sein.

Für Andrew, natürlich.

Jeden Tag bin ich immer wieder aufs Neue

von deiner Freundschaft und von dir überwältigt.

Danke, dass du mir Klarheit bringst.

1. KAPITEL

Was das Beste wäre

»Das ist also mit reductio ad absurdum gemeint.« Celeste strahlte ihre Klassenkameraden an und schloss ihren Laptop. Die Arbeit im vergangenen Monat war es wert gewesen, und die Freude, die sie jetzt empfand, nachdem sich die angestaute Energie und Aufregung über ihren Philosophievortrag gelegt hatte, war ihre Belohnung. Sie hatte keinen einzigen Fehler gemacht. »Wenn ihr euch also das nächste Mal etwas beweisen müsst, indem ihr aufzeigt, dass das Gegenteil nicht zutrifft, werdet ihr ausgesprochen gut vorbereitet sein.«

Ihr Vortrag war in der Tat ausgezeichnet und ausführlich gewesen, auch wenn sich das nicht in den leeren Gesichtern ihrer Mitschüler widerspiegelte. Ein Junge mit einer enganliegenden blauen Mütze sah aus, als würde ein Koma eine stärkere Reaktion hervorrufen, und das Mädchen in dem verboten kurzen Minirock warf ihr einen finsteren Blick zu. Celeste sah zu ihrem Lehrer Mr Gil, um zu sehen, wie er reagierte. Er wirkte sprachlos. Etwas stimmte nicht. Irgendwas war geschehen, aber sie hatte keine Ahnung, was. Kurz schloss sie die Augen und ging die letzten fünfundvierzig Minuten noch mal durch. Hatte sie was vergessen? Aber eigentlich war es doch völlig egal, was die anderen dachten.

Mr Gil schürzte die Lippen, als müsste er sich ein Lächeln verkneifen, und verließ seinen Platz am Fenster. Ihr war nicht klar, was an der ganzen Sache lustig sein sollte. Ihre Laune verschlechterte sich drastisch. »Das war … das war brillant! Sind wir sicher, dass du auf der Highschool bist und nicht bereits deine Doktorarbeit verteidigst?« Er zwinkerte ihr zu, und im selben Augenblick schrillte die Schulglocke. Endlich konnte Celeste wieder atmen.

Die Schüler drängten sich an ihr vorbei, eine stieß gegen ihren Laptop, ein anderer trat ihr nicht gerade versehentlich auf den Fuß. Celeste starrte geradeaus und ließ die Gesichter benommen an sich vorbeiziehen. Es wäre nicht gut, sich jetzt auf sie zu konzentrieren. Aber dass sie die Augen verdrehten, entging ihr ebenso wenig wie das Gemurmel, das sie trotz der lauten Glocke hörte.

»Die spinnt ja. Hat irgendwer auch nur ein Wort verstanden?«

»Mir war noch nie so langweilig!«

»Mir ist egal, wie heiß sie ist, das war doch nicht normal.«

»Freak. Loser. Irre.«

Sie presste sich den Laptop an die Brust, bis sich das Klassenzimmer geleert hatte.

»Celeste?«

Die Glocke verstummte, und das schrille Klingeln wurde durch ein neues Geräusch ersetzt, ein Rauschen wie im Radio oder von Wind.

»Celeste? Alles in Ordnung?«

»Oh? Mit mir? Ja, natürlich. Mir fehlt nichts.« Sie drehte sich um und lächelte Mr Gil an. Sie mochte ihn. Er war nett und sprach immer mit sanfter Stimme. Allerdings roch er nach feuchten Blättern, aber das konnte sie ihm verzeihen. Für die unglückliche Wahl seines Rasierwassers sollte er nicht verurteilt werden.

»Bist du sicher? Dein Vortrag war sehr ausführlich, ich kann mir vorstellen, dass die Präsentation anstrengend war. Du hast wirklich viele Informationen untergebracht, und ich bin wie immer beeindruckt, wie viel Mühe du dir damit gemacht hast.«

»Ich recherchiere gern. Ich empfinde es als anregend und inspirierend.« Ihre Wangen schmerzten, aber sie lächelte tapfer weiter.

»Bist du sicher, dass dir nichts fehlt? Es tut mir leid, dass die Klasse nicht so interessiert war, wie du gehofft hast. Das Thema war vermutlich zu fortgeschritten für sie.«

»Ich hatte durchaus erwartet, dass das Rübenbeispiel besser ankommt, aber anscheinend schätzen nicht alle den Hinweis auf ein in der Philosophie verankertes Wurzelgemüse.« Celeste lief zu ihrem Tisch und steckte den Laptop und den Schnellhefter in ihre rote Umhängetasche.

»Ich fand ihn goldrichtig und clever.« Er schwieg kurz. »Nur weil das hier eine hervorragende Privatschule mit größtenteils intelligenten und aufmerksamen Schülern ist, heißt das nicht, dass ihnen das gelingen würde, was du gerade getan hast. Oder dass sie es verstehen würden. Aber das ist kein Problem, weißt du? Du spielst in einer ganz anderen Liga als deine Klassenkameraden, das solltest du wissen. Deswegen musst du dich überhaupt nicht schämen.«

»Ich schäme mich nicht«, sagte sie hastig. »Entschuldigen Sie, aber ich mag komplexere Themen, und ich hatte gehofft, ich könnte Ihnen meinen Enthusiasmus für dieses Thema vermitteln, was mir auch gelungen ist.«

»Du hast gute Arbeit geleistet, und ich möchte dich gern einem College empfehlen. Ich nehme an, dass du dich an den Elitehochschulen bewirbst?«

»Ja, danke, über ein Empfehlungsschreiben würde ich mich freuen.«

»Ich weiß, es ist erst Oktober, aber ich dachte, du bewirbst dich vielleicht schon für die ersten Entscheidungsrunden. Bewirbst du dich auch an einigen außerhalb der Ivy League? Ich hätte ein paar Vorschläge für alternative Hochschulen, falls du dich dafür interessierst.«

»Alternativen? Warum sollte ich nach Alternativen suchen?« Sie schob sich die Umhängetasche auf die Schulter und trat einen Schritt vor. Auf einmal drehte sich das Zimmer leicht, sie blieb abrupt stehen und senkte den Blick. »Ich muss mich entschuldigen. Wie es scheint, hat mich der Adrenalinrausch nach dem philosophischen Vortrag etwas überwältigt.«

Mr Gil runzelte die Stirn. »Brauchst du Wasser?«

»Ich habe eine freie Stunde, da werde ich etwas trinken und mich sammeln.« Ihre Tasche wog schwer auf ihrer Schulter, und kurz befürchtete sie, dass sie sie durch den Boden bis in die Tiefen der Erde ziehen würde.

»Ich gratuliere dir jedenfalls zu deinem herausragenden Vortrag. Du kannst stolz auf dich sein.« Mr Gil knöpfte seine Strickjacke zu und steckte sich einen Kaugummi in den Mund, bevor er sich an seinen Schreibtisch setzte. »Bis morgen.«

Celeste hob den Kopf und atmete tief durch. Die Tür zum Gang erschien ihr ungewöhnlich schwer, und sie seufzte, als sie das Klassenzimmer verließ. Für gewöhnlich fand sie Trost in den dunklen Holzdielen und Messinglampen, die zur Architektur der Schule gehörten, aber das Rauschen in ihren Ohren hatte nicht nachgelassen. Was war das?

Sie sollte glücklich sein. Der Tag war größtenteils so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte einen erfolgreichen Vortrag gehalten, ohne von den anderen eine Reaktion zu erhalten oder mit ihnen interagieren zu müssen. So, wie es ihr gefiel. Ohne eine Wirkung auf andere zu haben und groß von ihnen bemerkt zu werden. Die abfälligen Bemerkungen hätten ihr erspart bleiben können, aber damit hatte sie gerechnet. Lange würden sie auch nicht anhalten. Dennoch empfand sie keine Freude.

Die meisten hatten jetzt Unterricht, und Celeste wollte sich in ihrer freien Stunde in die Bibliothek zurückziehen. Sie hatte keine Hausaufgaben, es wäre also ein guter Zeitpunkt, um Jane Austen noch mal zu lesen. Langsam drehte sie das Zahlenschloss an ihrem Spind, aber er ließ sich nicht öffnen. Sie versuchte es noch mal, doch erst beim dritten Mal wurde ihr bewusst, dass sie wegen der Tränen, die ihren Blick verschleierten, die Zahlen nicht erkennen konnte. Heftig blinzelte sie, bis sich ihre Sicht klärte und sie das Schloss öffnen konnte. Was war heute nur los mit ihr?

Sie schob ihre Umhängetasche in den Spind und zuckte zusammen, als ein Mädchen mit langem pinkem Haar gegen die Schließfächer neben ihr stieß.

»Dein Vortrag war genial!« Grinsend lehnte das Mädchen den Kopf gegen die Metalltüren.

Celeste musterte sie. Ja, sie war in ihrer Philosophieklasse. Dank ihrer Haarfarbe war sie nur schwer zu übersehen, aber Celeste hatte noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Nicht dass Celeste mit allzu vielen Leuten redete. Ihre soziale Isolation war eine Entscheidung, mit der sie sich wohlfühlte, doch jetzt drängte sich dieses Mädchen in ihr Leben. Celeste beschloss, trotzdem höflich zu bleiben.

»Du heißt Dallas, nicht wahr?«, fragte sie. »Du sitzt oft am Fenster und siehst nach draußen, statt dem Lehrer zuzuhören.«

Das Mädchen lachte. »Du bist ja direkt. Ja, ich bin Dallas, aber nein, ich bin nicht gedankenverloren. Ich lerne besser, wenn ich nicht von Mr Gils tragischer Halbglatze abgelenkt werde.«

»Oh. Ich schätze, seine Frisur ist in der Tat nicht perfekt.«

»Einmal ist während des Unterrichts ein Vogel gegen die Fensterscheibe geflogen und gestorben. Es war widerlich, aber jetzt behalte ich das Fenster im Blick, damit mir keine weiteren Selbstmordversuche entgehen.«

»Das ist verständlich.«

»Also, dein Vortrag war unglaublich! Einfach großartig!«

Celeste konnte nicht sagen, ob Dallas das wirklich ernst meinte. Es erschien ihr unwahrscheinlich, weshalb sie nichts sagte.

Dallas wartete einen Augenblick, während Celeste mit ihren Schnellheftern und Papieren in ihrem Spind rumhantierte. »Entschuldige, hab ich was Falsches gesagt? Du wirkst wütend.«

»Es tut mir leid, nein, du hast nichts Falsches gesagt.« Vorsichtig schloss Celeste ihr Schließfach, dann sah sie Dallas an, deren grelles Haar auf eine überraschend angenehme Art mit der braunen Lederjacke im Stil der Siebziger harmonierte. »Mir gefällt deine Jacke. Du hast einen tadellosen und originellen Sinn für Mode.«

»Echt? Danke! Aber sieh dich nur an. Dafür, wie dir die blonden Locken auf den Rücken fallen, würden die meisten Mädchen töten, und dein Outfit sieht aus, als wärst du der Vogue entsprungen.« Sie wedelte mit der Hand vor Celestes Oberteil. »Was ist das? Ein Kapuzenpullover aus Kaschmir? Und Reitstiefel? Heiß! Ich liebe es.«

Celeste sah auf ihre Stiefel runter. Die hatte sie erst letzte Woche mit ihrer Mutter gekauft, um das neutrale Outfit zu ergänzen, mit dem sie in der Menge hatte verschwinden wollen. Heute hatten sie ihr Glück bringen sollen.

»Du hast die Messlatte echt hoch angesetzt, nachdem du als Erste dran warst. Aber so gehört sich das! Schlag ein!« Dallas hob die Hand.

Celeste sah hoch und zog die Augenbrauen fragend nach oben.

»Mach schon, schlag ein. Du hast es dir verdient.«

Zögerlich berührte Celeste Dallas’ Handfläche mit ihrer.

»Ach herrje. Komm schon, schlag fester zu! Du hast was zu feiern!«

Celeste biss sich auf die Lippe und schlug gegen die Hand ihrer Klassenkameradin mit dem pinken Haar.

»Babe.« Eine tiefe Stimme hallte über den Gang.

Dallas drehte sich um und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Da bist du ja!«

Ein gutaussehender Schüler schlenderte zu ihnen. Celeste erkannte Troy sofort. Groß, stramm, wie man sagen würde, und voller Selbstvertrauen. Auf dem Schulgelände war Troy überall bekannt. Er legte einen Arm um Dallas’ Taille und zog sie zu sich, um ihr einen feuchten Kuss auf die Wange zu drücken.

»Lass das!« Dallas kicherte. »Troy, kennst du Celeste? Celeste, das ist mein Freund, Troy.«

Troy streckte ihr eine Hand entgegen. »Freut mich.«

Schüchtern schüttelte Celeste sie. Sein schwarzer Eyeliner passte perfekt zu seinem Haar und bildete einen hübschen Kontrast zu dem schlichten Hemd, das er über einem marineblauen T-Shirt und der Jeans trug. »Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.«

»Celeste hat uns grad in Philosophie aus den Socken gehauen. Jetzt wird niemand mehr was vortragen wollen. Ich bin mir sicher, dass mein Vortrag am Donnerstag eine einzige Katastrophe wird. Sie war fantastisch, das hättest du erleben sollen, Troy. Es hätte dir gefallen.«

»Ja? Cool.« Er schenkte Celeste ein warmes Lächeln.

»Also, Celeste, wir wollen zu dem Diner die Straße runter. Kommst du mit?«

»Habt ihr eine Sondererlaubnis, um das Schulgelände während des Unterrichts zu verlassen?«

Troy lachte. »Haben wir nicht.«

»Skandalös«, hauchte Dallas.

»Macht ihr euch keine Sorgen, dass euch jemand von der Schule erwischt und mit einem Tadel bestraft, der euch für immer anhaften wird?«

»Nicht die geringsten. Das Risiko macht es noch aufregender, meinst du nicht?«

»Oh … also, sicher. Das verstehe ich durchaus.« Celeste nickte eifrig.

»Das ist ja der Spaß an der Sache. Komm mit!« Dallas lehnte sich an Troy und legte ihren Kopf an seine Brust.

»Ich bedanke mich für die Einladung, aber ich wollte zur Bibliothek gehen, um Jane Austen zu lesen.«

»Ich liebe Jane Austen, aber …« Dallas kramte in ihrer Tasche. »Lies das mal.« Sie hielt ihr ein Buch hin. »Das ist auch ein Liebesroman, aber weniger gestelzt.«

Celeste nahm das Buch. Auf dem schwarzweißen Titelbild sah sie den kräftigen Oberkörper eines halbnackten Mannes, der fast vollständig tätowiert war und eine Frau in einer sichtlich intimen Umarmung in den Armen hielt. »Ich kann erkennen, dass sie auf einem Motorrad sitzen. Aber ich mache mir Sorgen darum, wo der Lenker enden könnte.«

»Mach dir keine Gedanken, mit dem Lenker passiert nichts Schlimmes.«

»Ich bin mit dem Genre nicht vertraut. Solche Bücher habe ich noch nie gelesen.«

»Versuch’s mal.«

»Ich habe keine hohen Erwartungen.«

»Dann ist das Risiko, dass du enttäuscht wirst, drastisch gesunken.«

»Ich werde es mit Begeisterung und einer positiven Einstellung lesen.« Celeste nickte.

»Geile Sache. Wir sollten uns beeilen. Wenn ich mich für Mathe verspäte, bin ich erledigt, aber ich brauch mein Schinkenomelett! War schön, mit dir zu plaudern, Celeste.« Dallas nahm Troys Hand und führte ihn durch die Tür nach draußen.

Was für eine unerwartete Begegnung. Wie befremdlich! Und gab es überhaupt noch Leute außer Dallas, die geile Sache sagten?

Celeste betrachtete den Liebesroman in ihrer Hand. Auch wenn sie sich nicht besonders für das Buch interessierte, spürte sie ein Ziehen in der Brust. Es war unwahrscheinlich, dass sie selbst jemals eine Romanze erleben würde, weder auf einem Motorrad noch woanders.

Sie atmete tief durch. Sie würde dem Buch eine Chance geben. Vielleicht würde sie von dieser Liebesgeschichte etwas über die reale Welt lernen.

Diese verwirrende, überwältigende, beängstigende Welt.

Die sie eines Tages verschlucken würde.

2. KAPITEL

Der Schlag, der um die Welt ging

Celeste lief in ihrem Zimmer auf und ab. Als sie merkte, dass sie die Hände knetete, nahm sie sie runter und lief weiter. Aus dem Esszimmer drangen Geräusche zu ihr hoch, und sie versuchte, das schlechte Gewissen zu verdrängen, weil sie das Abendessen ignorierte, mit dem ihre Familie ihren erfolgreichen Philosophievortrag hatte feiern wollen. Es war schlimm genug gewesen, dass sie ihre Eltern angelogen hatte, nachdem sie von der Arbeit nach Hause gekommen waren. Die Klasse hat jeden klugen Kommentar geliebt! Ich hatte gar keine Zeit, auf all ihre Anmerkungen und Fragen zu reagieren! Sie aber während einer ganzen Mahlzeit mit einer enthusiastischen Nacherzählung ihres Vortrags zu unterhalten war ihr unmöglich erschienen. Also hatte sie behauptet, sie wäre erschöpft und würde sich lieber mit den Formularen für die Collegebewerbungen entspannen, damit sie in ihr Zimmer flüchten konnte.

Ihr Spiegelbild starrte sie aus dem großen Spiegel finster an. »Sei still. Wen kümmert es, dass ich eine abscheuliche, schamlose Lügnerin bin, die es nicht wert ist, dass man ihr jemals wieder vertraut?«

Sie trat ein paar Schritte näher. Nach gesellschaftlichem Standard war sie attraktiv, das wusste sie, aber ihr war nicht klar, wie dieser Standard überhaupt zustande gekommen war. Ihr Erscheinungsbild hatte nichts mit ihrem seltsamen Wesen zu tun. Ihre Größe hatte sie von ihrer Mutter geerbt, ihre Beine waren lang und schlank, aber in ihren Augen wirkte sie dadurch nur schlaksig und ungelenker, als sie sich ohnehin schon fühlte. Und diese neuen Kurven an ihren Hüften und ihrer Brust? Die waren ihr zutiefst unangenehm. Männer starrten sie an. Selbst unter den losen Oberteilen, die sie trug, ließ sich ihre Figur nicht verbergen. Ihr gefielen schlichte Naturtöne, Kleidung aus strukturiertem Stoff, Tücher, die sie um sich wickeln konnte, und bequeme Pullover. Weite Kleidung. Kleidung, die ironischerweise eine romantische Ästhetik hatte.

»Lüsterne Blicke sind aufgrund meines anormalen Charakters ungerechtfertigt«, blaffte sie ihr Spiegelbild an.

Soziale und romantische Bemühungen waren nicht ihre Stärke. In ihrer Zukunft lag das Studium an einer Elitehochschule, das war der einzige Bereich in ihrem Leben, in dem sie sich hervortun würde. Sie wusste, dass kein Junge sie jemals wollen würde, wenn er einmal hinter ihre äußere Fassade geschaut hatte. Das war die schlichte Wahrheit.

Es war niederschmetternd. Noch niederschmetternder war, dass es sie überhaupt kümmerte. Ihr Wertesystem basierte nicht darauf, dass das Glück einer Frau von einem märchenhaften Liebesleben abhing.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus, während sie die bereits gut sortierten weißen Ablagen neu ordnete. Ihr Computer piepste, und sie öffnete die E-Mail.

Hi Celeste,

mein Name ist Justin Milano, und ich studiere im zweiten Jahr am Barton College in San Diego. An das warme Wetter hier hab ich mich gut gewöhnt, aber ich stamme eigentlich aus Needham in Massachusetts, was gar nicht so weit weg ist von Cambridge, wo du gerade bist. Nachdem wir von dir gehört haben, würden wir hier am Barton gern Kontakt zu dir aufnehmen. Dafür bin ich zuständig. Ich »werbe« um neue Studierende und beantworte ihre Fragen. Demnächst bin ich auf einer Veranstaltung für Leute, die sich für Barton interessieren, und wir hoffen, du kommst auch! Ich nehme an, dass du mit Collegebewerbungen beschäftigt bist, aber hast du dir schon die Materialien angesehen, die Barton dir geschickt hat?

Ich studiere hier total gern und kann mir keine bessere Ausbildung in den Geisteswissenschaften vorstellen.

Ich hoffe, du kommst zum Treff!

Danke, Justin

Barton College? Celeste wusste überhaupt nichts über dieses Barton College. Woher wussten sie von ihr? Und wann sollte dieser Treff stattfinden? Für gewöhnlich nahm sie nicht an solchen Treffen teil.

Ihr Computer piepste erneut.

Hi Celeste,

oh Gott, entschuldige. Der Treff ist nächsten Samstagnachmittag um 17.00 Uhr.

Justin

Bevor sie die E-Mail löschen konnte, schrieb er ihr wieder.

Ehrlich, ich muss mich entschuldigen! Mit »nächsten Samstag« meinte ich den nach dem kommenden Wochenende. Also den Samstag der nächsten Woche, nicht den nächsten Samstag, der jetzt kommt. Warte kurz, ich such das Datum raus.

Okay, es ist am Samstag, den 15.

Justin

Celeste starrte die E-Mails an. Dieser Justin hatte es nicht so mit den Einzelheiten. Zumindest nicht kurz und bündig. Wohin sollte sie denn nun gehen, falls sie an dem Treff dieses unbekannten Colleges teilnehmen wollen würde?

Celeste, es tut mir wahnsinnig leid! Ich schicke einfach wild E-Mails und passe nicht immer auf. Der Treff ist auf dem Harvard Square im Border Cafe. Da war ich schon ewig nicht mehr, aber da gab’s früher ein fantastisches Camptown-Garnelen-Gericht. Magst du Garnelen? Die Hälfte vom Menü sind Cajun-Gerichte, die andere Hälfte ist Tex-Mex.

Entschuldige die ganzen E-Mails. Dabei hat das so gut angefangen!

Justin

So gut hatte es gar nicht angefangen, fand sie. Sie mochte Garnelen, aber das war kein Grund, ein soziales Event eines Colleges zu besuchen, das gar nicht auf ihrer Liste stand. Sie würde auch nicht hingehen, nur um dieser Person zu gefallen, die ihr völlig unnötig eine Nachricht nach der nächsten schickte. Es war jedoch ziemlich dreist von Barton, dieses Treffen mitten auf dem Gebiet von Harvard zu veranstalten, und dieses Selbstvertrauen weckte ihr Interesse zumindest ein wenig. Doch das Ganze lag ihr nicht. Sie würde Gespräche führen müssen, ungelenke Unterhaltungen, die völlig unnötig waren, weil sie sich bei anderen Universitäten bewerben wollte. Schriftlich und mit Bewerbungsgesprächen, die sie nur mit akademischen und professionellen Menschen von diesen Hochschulen führen würde. Menschen, die ihre Intelligenz schätzen und sie nicht danach beurteilen würden, wie gut sie Smalltalk beherrschte, während sie Krustentiere aß.

Jemand klopfte, und Matt steckte den Kopf durch die Tür. Er hielt eine braune Papiertüte in der Hand. »Ich habe gehört, dass Mum heute Abend gefüllte Paprika gemacht hat. Letztes Mal bin ich von den Blähungen fast gestorben. Ich nehme an, dass sie sie mit ihrem üblichen Mix aus Hühnchengehacktem, Quinoa, Rosenkohl und Granatapfelkernen gefüllt hat.«

Beim bloßen Klang von Matts Stimme entspannte sich Celeste. Sie lächelte ihn an. »Dem Geruch nach hast du wohl recht.«

»Du hast also noch nichts gegessen? Ich hatte recht!« Matt ließ sich auf ihr Bett fallen und legte sich hin. Mit seinem langen Körper brachte er die weiße Überdecke durcheinander, die sie zehn Minuten lang gerichtet hatte, bevor sie heute Morgen zur Schule gegangen war. »Ich dachte, ich mache eine Lernpause und bringe dir was Genießbares zu essen.«

»Es riecht wie die schmackhaften Burger von Mr. Bartley’s.« Sie stand auf und setzte sich neben Matt. »Reich ihn rüber, mein lieber, fürsorglicher Bruder.«

Er hielt die Tüte fest. »Erst musst du raten, welchen Burger ich mitgebracht habe.«

»Woher soll ich das wissen?«

»Schließ die Augen.«

Sie folgte der Aufforderung und spürte, wie er ihr die Tüte unter die Nase hielt. Es duftete süß und würzig und ein bisschen nach Knoblauch. »Aha! Boursin-Käse und Bacon! Der köstliche Mark-Zuckerberg-Burger!«

»Und Süßkartoffelpommes und eine Flasche Eistee, aber du hast recht. Es ist der Burger, der seinen Namen von dem sogenannten ›reichsten Geek von Amerika‹ hat.«

»Wenn du deinen Abschluss gemacht hast, wirst du der reichste Geek in Amerika werden«, sagte Celeste mit dem Mund voller Pommes.

»Falls mich das MIT nicht vorher in die Klapse bringt.«

»Du musst nur noch dieses Jahr durchhalten. Außerdem brauchst du keine psychiatrische Hilfe, Matthew. Du schlägst dich großartig.«

»Ich komme zurecht.« Matt griff in die Tüte, holte eine Handvoll Pommes raus und öffnete ihren Eistee.

»Du kommst nicht nur zurecht. Du gibst wichtige Kurse, tust dich in deinen eigenen schwierigen Seminaren hervor und übertriffst sogar die hohen Erwartungen, die deine strenge Mutter in dich gesetzt hat.« Sie runzelte die Stirn, als er die Pommes aß. »Hast du nichts gegessen?«

»Doch. Einen Big-Papi-Burger und ein Fiscal Cliff. Aber man kann nie genug Süßkartoffelpommes essen.«

»Ich habe nur eine begrenzte Menge für mich, und du klaust sie mir. Aber ich werde mich nicht beklagen, denn das war sehr nett von dir.«

Matt betrachtete sie. »Alles in Ordnung?«

»Warum fragst du?«

»Adjektive. Wenn du gestresst bist, nutzt du zu oft Adjektive.«

»Ich weiß. Meistens möchte ich sie nutzen, und wenn es anstrengend ist, sie wegzulassen, dann zwinge ich mich nicht dazu.«

»Okay, das verstehe ich.« Er kaute eine Weile. »Wie ich höre, lief dein Vortrag gut. Hat er deinen Freunden gefallen?«

»Er lief blendend. Meine Freundin Dallas hat mir anschließend eine ausführliche Liste an Komplimenten entgegengebracht.«

»Das freut mich.« Er trank die Hälfte ihres Eistees.

»Und dann habe ich ihr eine geknallt.«

Matt verschluckte sich an dem Eistee und schnappte verzweifelt nach Luft. »Wie bitte? Was hast du gemacht?«

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ich habe ihr eine geknallt.«

»Das … das kann nicht stimmen«, stammelte er. »Ich meine, ich hoffe es.«

»Ich habe meine Hand gegen ihre geschlagen. In der Luft.« Sie musterte Matt. »Ist das nicht der richtige Begriff?«

»Gott sei Dank nicht. Ich glaube, du meinst, dass ihr abgeklatscht habt. Ein High five.«

»Wenn du meinst. Wir haben jedenfalls die Hände zusammengeschlagen. Du weißt, dass ich mit umgangssprachlichen Ausdrücken große Schwierigkeiten habe, deine erschrockene Reaktion halte ich daher für unangemessen.«

»Das weiß ich, und es tut mir leid.«

»Da wir gerade davon reden, es gibt da noch etwas anderes, bei dem ich mir unklar bin.«

»Schieß los.«

»Was ist damit gemeint, dass jemand spinnt? Bezieht es sich auf das Tier oder das Spinnrad?«

Matt stöhnte. »Diese Unterhaltung nimmt ziemlich merkwürdige Formen an. Können wir nicht über … Moment mal. Warum fragst du das? Hat jemand das zu dir gesagt?« Er wirkte wütend.

Celeste zerdrückte ihre Pommes. »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe den Begriff gehört, und das hat meine natürliche Neugierde geweckt.«

»Also gut …« Ihr Bruder zerknüllte die Papiertüte und glättete sie dann mit den Händen. Anschließend zerknüllte er sie wieder. »Es ist dasselbe wie eine Schraube locker haben. Irre sein.«

»Danke für die Definition.« Sie aß ihren Burger auf und wischte sich die Hände an einer der Papierservietten ab. Es sollte ihr egal sein, was die anderen aus der Klasse von ihr hielten. Sie würde deshalb nicht schwach werden. Sie würde stark bleiben. »Ich habe von einem College in San Diego eine E-Mail bekommen.«

»Ach so?« Matt vermied es noch immer, sie anzusehen.

»Ja. Vom Barton College. In San Diego«, wiederholte sie betont.

»Ich habe dich schon gehört.«

»Julie ist in Los Angeles.«

»Ich weiß, wo Julie ist.«

Sie wartete, aber Matt redete nicht weiter. »Vielleicht werde ich dort studieren, dann wärst du gezwungen, mich zu besuchen, und ihr beide wärt im selben Bundesstaat.«

Matt richtete sich auf und warf die Tüte quer durch das Zimmer in den Papierkorb. »Celeste … lass es, okay?«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als wieder jemand klopfte und im selben Moment die Tür aufschob.

»Celeste? Oh, hallo, Matt! Was machst du denn hier?« Ihr Vater Roger trat ins Zimmer. Er trug noch immer die Kordhose und den Strickpullover, die er zur Arbeit getragen hatte. »Ich habe gar nicht gehört, wie du dich ins Haus gestohlen hast, aber … Oh, du hast etwas zu essen mitgebracht? Wonach duftet das nur? Burger?« Leise schloss er die Tür und schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer. »Her damit!«

Darüber musste Celeste lachen. »Wir haben schon alles aufgegessen.«

»Ach, wie nett von dir, Celeste, dass du mich mit der Couscous-Lasagne deiner Mutter allein lässt. Ich habe nichts dagegen, zu experimentieren, aber das war ein Fehlschlag.«

»Ich habe Matthew nicht darum gebeten, mir einen Burger zu bringen, und es tut mir leid, dass deine Mahlzeit nicht nach deinem Geschmack war. Wir hatten befürchtet, sie hätte heute Abend gefüllte Paprika gemacht, aber das klingt ja noch schlimmer.«

Matt machte ein würgendes Geräusch. »Wie genau macht man aus Couscous Lasagne?«

»Ich weiß es nicht … Indem man den Couscous verkocht und dann zu etwas Scheibenähnlichem zusammenpresst … Egal. Habt ihr wenigstens noch ein paar Pommes übriggelassen?« Roger wirkte verzweifelt.

»Matthew hat sie gegessen, sonst hätte ich gern geteilt.«

»Also gut. Wenn Erin schläft, schleiche ich mich runter und suche mir etwas Essbares. Ich hoffe nur, dass sie mich nicht erwischt. Ich will nicht, dass sie sich schlecht fühlt. Nachdem ich heute schon abgelehnt habe, sie zum Hot Yoga zu begleiten, kann ich mir keinen weiteren Fehltritt leisten.« Er schob die schmale Brille mit dem Silberrahmen höher und reichte Celeste einen großen Briefumschlag. »Das ist vorhin für dich angekommen. Noch mehr Collegeunterlagen, nehme ich an.«

Celeste sah auf den Absender. Barton College. »Wie seltsam. Mich hat heute einer ihrer Studierenden angeschrieben.«

»Dem Gewicht des Umschlags nach zu urteilen, würde ich behaupten, dass sie großes Interesse an dir haben.« Ihr Vater zwinkerte ihr zu. »Wie es sich auch gehört. Vergiss nicht, dass wir am nächsten Wochenende nach Yale fahren. Deine Mutter ist schon ganz aufgeregt, wie du dir vorstellen kannst.«

»Vermutlich wegen all der grotesken Snacks, die sie mitnehmen wird«, murmelte Matt. »Was bin ich froh, dass ich nicht mitmuss.«

»Sei nett, sonst zwinge ich dich dazu mitzukommen«, fuhr Celeste ihn an. »Unsere Mutter versucht sich an kulinarischen Abenteuern, und ich zolle ihr Anerkennung dafür. Zumindest theoretisch.«

»Ich würde euch gern auf einem Familienausflug begleiten, ehrlich, aber ich habe zwei Arbeitsgruppen und eine Hausarbeit, die ich noch fertigschreiben muss.« Matt stand auf. »Apropos, ich muss los, ich habe noch einiges zu tun.«

»Ich bring dich zur Tür«, sagte Roger.

»Glückwunsch noch mal zu deinem Vortrag, Celeste.« Matt legte ihr eine Hand auf die Schulter, bevor er rausging.

»Danke, Matthew.«

»Kein Ding. Ruf mich an, wenn du was brauchst, okay? Ich meine es ernst.«

»Das werde ich.«

Sobald sie wieder allein war, öffnete Celeste den Umschlag vom Barton College. Es würde nicht schaden, sich die Sachen mal anzusehen. Die Universität für Geisteswissenschaften erschien zumindest auf dem Papier nicht anders als viele andere Hochschulen in den Broschüren, die sie in den vergangenen Monaten gesammelt hatte, auch wenn sie deutlich kleiner war und an ihr nur zweitausendfünfhundert Leute studierten. Trotzdem verbrachte Celeste eine halbe Stunde damit, sich die Kurse anzusehen, die Geschichte der Schule zu lesen und die Farbfotos vom Campus und den Studierenden zu bewundern. Ihr eigenes Foto könnte in einer Broschüre auftauchen. Niemand würde den Unterschied erkennen. Niemand würde sehen, dass sie nicht wie die anderen war.

Sie griff nach ihrem Smartphone. Wie so oft schien die Suchleiste im Browser unerbittlich nach ihr zu rufen, und sie fing an, das Wort einzugeben, zu dem sie sich verpflichtet fühlte. Asper… Doch dann löschte sie die Buchstaben wieder, wie sie es immer tat.

Was stimmt nicht mit mir?, tippte sie stattdessen sarkastisch.

Sie schnaubte. Das erste Ergebnis war ein Test für »emotionale Intelligenz«, den sie mit Sicherheit nicht bestehen würde.

Später saß sie auf ihrem Bett und tippte gerade für den Französischunterricht ihre Gedanken zu Flaubert nieder, als sie eine E-Mail erhielt.

P. S.: Als ich dir versichert hatte, dass das Event am Samstag, den 15., stattfinden würde, meinte ich, dass das Event am Samstag, den 22., stattfindet. Echt. Das ist mein letztes Angebot.

Du denkst vermutlich, ich spinne, aber das tue ich nicht. Allerdings befürchte ich, dass du in diesem Moment einen Beweis dafür brauchst. Ich kann dir Empfehlungsschreiben zu meinem wundervollen Wesen schicken.

Justin (der wahrscheinlich schon bald keine Kontakte mehr für Barton herstellen darf)

Sie lächelte. Dieser Justin Milano war schon einer. Außerdem fand sie nicht, dass er spann. Es war irgendwie süß, dass er ihr eine E-Mail nach der anderen schickte, und es wäre wohl höflicher, wenn sie ihm antwortete und ihn beruhigte. Sie würde die Sache einfach in ein positiveres Licht rücken.

Lieber Justin,

danke für die Information über das Treffen am 22. Ich muss noch nachschauen, ob der Tag für mich passt, da ich viel mit diversen Aktivitäten beschäftigt bin. Ich weiß Bartons Interesse an mir als Studentin sehr zu schätzen.

Bitte mache dir keine Sorgen über die Anzahl der E-Mails. Ganz offensichtlich wolltest du sichergehen, dass ich die korrekten Informationen habe, und ich bin dir für deine Gründlichkeit dankbar. Barton dürfte von deiner freundlichen Art und Hingabe beeindruckt sein, mit der du Details klarstellst. Aber sei versichert, dass ich keine Einzelheiten über unsere Kommunikation preisgeben werde, sollte sich jemand vom College bemüßigt fühlen, der Sache nachzugehen, da ich nicht wünsche, dass du in Schwierigkeiten gerätst. Ich bin mir sicher, dass deine Stelle nicht in Gefahr ist.

Mit besten Grüßen

Celeste Watkins

Sie schickte die E-Mail ab und starrte auf den Bildschirm, um seine Nachrichten noch mal zu lesen. Ihr wurde mulmig. Ihre eigene Nachricht wirkte lächerlich steif und formell, selbst ihr war das klar. Seine dagegen? Sie hätten sicherlich professioneller sein können, aber sie erkannte darin auch, wie wohl er sich in seiner eigenen Haut zu fühlen schien. Etwas, das sie selbst nicht nachempfinden konnte.

Sie versuchte, sich von der Scham abzulenken, die sie überkam, und las noch mal Politics and the English Language von George Orwell. Danach las sie den aktuelleren Artikel Cyber Neologoliferation von James Gleick, aber der Aufsatz über Lexikographie beruhigte sie nicht so sehr, wie sie gehofft hatte. Sie wurde immer nervöser.

Schließlich klappte sie den Laptop zu und zog sich die Decke über den Kopf. Zwanzig Minuten lang saß sie wie erstarrt da und umklammerte ihr Bettzeug. Doch die Panik wuchs, und sie atmete immer hektischer, bis sie sich vor dem Ersticken retten musste und im dunklen Zimmer aufrecht hinsetzte.

Der Nachthimmel strahlte hell unter dem Mondlicht, und Celeste legte sich wieder hin und konzentrierte sich auf das Fenster. Sie beschloss, die Sterne zu zählen, bis sie verschwinden würde. Doch als sie nach den Sternen suchte, sah sie selbst in dieser sternenklaren Nacht nur einen einzigen.

»Typisch«, flüsterte sie. »Natürlich gibt es nur einen Stern, wenn ich Tausende brauche.«

* * *

Um drei Uhr früh wachte sie auf. Ihre Überdecke, die Wände, die Regale, der Teppich, alles war in der Nacht hell erleuchtet. Sie blinzelte und sah sich um. Etwas hatte sie aufgeschreckt. Dreimal überprüfte sie alles in ihrem Zimmer, aber es war so ordentlich wie immer. Nichts war aus den Regalen gefallen, was hatte sie also geweckt?

Sie glättete die Decke und schloss die Augen, aber fünfzehn Minuten später war sie noch immer wach. Sie streckte den Arm aus und öffnete ihren Laptop neben dem Bett.

Nachdem sie die E-Mails von Justin Milano vom Barton College im fernen San Diego dreimal gelesen hatte, wurde sie noch unruhiger. Ihr missfiel die Vorstellung, dass Justin sich wegen der Nachrichten, die er ihr geschrieben hatte, unwohl fühlen könnte. Und weil sie das störte, schrieb sie ihm eine zweite Antwort.

Lieber Justin,

ich habe über das Camptown-Garnelen-Gericht nachgedacht, das du erwähnt hast, und ich bin neugierig. Das Wort Camptown kann sich auf verschiedene Dinge beziehen, aber ich muss an Städte im Wilden Westen und kurzlebige Camps denken. Vielleicht waren Garnelen-Gerichte unter diesen Leuten beliebt? Ländliche Küche vom Feinsten? Bayou-Flair am Wasser?

Natürlich muss ich auch sofort an das Lied »Camptown Races« denken, das Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Stephen Foster geschrieben wurde. Auch wenn der Text recht albern ist, verstehe ich, warum das Lied bei den Minstrel-Shows im ganzen Land beliebt war. Es ist so optimistisch und fröhlich, meinst du nicht auch?

Celeste

Sie schickte die E-Mail ab und setzte sich sofort an die nächste.

Lieber Justin,

entschuldige, dass ich dir noch einmal schreibe, aber mir ist gerade klar geworden, dass das Wort Camptown auch oft im Zusammenhang mit den Prostituierten verwendet wird, die während des Koreakriegs dem Militär der Vereinigten Staaten gedient haben.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Garnelen-Gericht ihnen zu Ehren benannt wurde. Außer das Wort »Garnele« soll in diesem Zusammenhang eine unangebrachte Kritik an den Männern sein, die solche Dienste in Anspruch genommen haben.

Jetzt habe ich natürlich gemischte Gefühle zu dem Gericht, das in dem Lokal serviert wird, in dem Barton sein Treffen veranstalten wird.

Celeste

Sie fuhr fort.

Lieber Justin,

ich entschuldige mich noch einmal für all diese E-Mails. Wollen wir es der inneren Unruhe wegen der Collegebesuche und Bewerbungen zuschreiben, dass meine Gedanken so zerstreut sind? Vielleicht geben wir auch dem anregenden Namen der zuvor erwähnten Garnelen-Vorspeise die Schuld, was unterhaltsamer wäre und weniger Schamgefühle mit sich bringen würde.

Dass jemand wie ich die Wahl des Restaurants derart ausführlich analysieren würde, hat Barton vermutlich nicht in Betracht gezogen.

Celeste

Und dann schrieb sie eine letzte E-Mail.

Lieber Justin,

ein letzter Gedanke ist mir noch gekommen: Mein Vater hat einmal einen Monat lang Garnelenkulturen studiert. Zwar war seine Arbeit rein wissenschaftlicher Natur, aber mir hat die Vorstellung immer gefallen, dass er sich ganz dem kulturellen Leben der Garnelen gewidmet hat, als ob eine ganze Gesellschaft existieren würde, von der wir nichts wissen. Ich habe mir vorgestellt, wie Garnelen Fotoausstellungen besuchen und Mode für Fashionshows designen. Oder Volkslieder komponieren. Oder einen neuen Jargon entwickeln, an dem sich jugendliche Garnelen bedienen können.

Celeste

Lächelnd stellte Celeste den Laptop auf den Fußboden neben ihrem Bett.

Dann atmete sie erschrocken ein und schlug sich die Hände vor den Mund. Sie hatte sich womöglich völlig verrechnet. Mit ihrem Scherz über »Männer« und »Garnelen« hatte sie die Größe der Männer gemeint. Ihre Körpergröße. Aber vielleicht las es sich, als würde sie sich … über einen anderen Teil ihrer Anatomie lustig machen.

Jetzt konnte sie nichts mehr daran ändern. Aber was kümmerte sie das? Es war ja nicht so, als würde sie Justin jemals treffen und sich nach diesem sexuellen Fehltritt mit ihm auseinandersetzen müssen. Falls ihre E-Mails ihn beruhigt hatten, dann war es ihr auch das wert.

Jetzt konnte sie endlich einschlafen.

Am nächsten Morgen, nachdem sie sich in ihrem Account eingeloggt hatte, entdeckte sie eine neue E-Mail.

Liebe Celeste,

danke. Vielen Dank dafür!

Justin

3. KAPITEL

Kokosnüsse

Das Theaterzimmer der Schule war während Celestes freier Stunde oft leer, weshalb sie sich gern dorthin zurückzog, um allein zu sein. Die Bibliothek war zwar auch eine gute Wahl, da ihr nichts lieber war, als von Büchern umgeben zu sein, aber dort waren auch immer andere. Allein zu sein reizte sie mehr.

Heute ging sie in den kleinen Raum mit den Kostümen für die Theateraufführungen der Schule. Sie saß auf dem Fußboden neben einem Kleiderständer, und die Brise der Lüftung ließ die Federboa einer ausgefallenen Robe über ihren Arm streichen. Sie hatte noch keine der Aufführungen besucht, aber sie nahm an, dass die Robe zu einem König gehörte. Oder zu einem Showgirl aus Las Vegas. Das Kitzeln an ihrem Unterarm gefiel ihr jedenfalls, während sie ihre Gedanken in ihrem Notizbuch zur amerikanischen Geschichte festhielt.

Ihr Smartphone piepste, als sie eine Nachricht von Dallas erhielt.

Dallas Hast du das Buch gelesen, das ich dir gegeben hab? Heiße Romanze, oder?

Celeste seufzte. Ihr missfiel zutiefst, dass die Schule Handynummern sammelte und verteilte. Warum interessierte sich diese Dallas überhaupt für sie? Das verwirrte sie sehr. Auch wenn sie freundlich schien, musste Celeste der Sache einen Riegel vorschieben, da es sonst unweigerlich in einer Katastrophe enden würde, egal, wie nett Dallas wirklich war. Sie versuchte, eine höfliche, aber distanzierte Antwort zu schreiben, beschloss dann aber, dass es klüger war, gar nicht erst zu antworten, um ein Gespräch zu unterbinden. Ihre Unterhaltung mit Dallas letzte Woche war nett gewesen, aber es hatte einfach keinen Sinn, darauf zu hoffen, dass sie beste Freundinnen werden würden.

Die Highschool machte keinen Spaß, musste Celeste sich eingestehen. Sie war sogar recht enttäuschend. Sie kam zurecht, aber das hieß nicht, dass es ihr gefiel. Wenn sie nächstes Jahr an eine Hochschule gehen und Zugang zu allen möglichen akademischen Bildungswegen haben würde, wäre alles viel besser. All die Listen mit den Kursen und die Karten der akademischen Gebäude auf den Universitätsgeländen waren dieses Jahr ihre Rettung. Sie schloss die Augen und träumte von den vielen Stunden, in denen sie alte Bücher in der Bibliothek studieren oder für Seminare mit komplizierten und spezifischen Titeln recherchieren würde …

Sie vermisste Julie. Auch wenn diese schwer enttäuscht von ihr wäre, wenn sie erfahren würde, wie isoliert Celeste wirklich war. Ihre ganze Familie wäre enttäuscht, aber wäre Julie noch hier, würde Celeste ihr nicht vormachen können, dass alles in Ordnung war. Sie alle vor der Wahrheit zu beschützen war ihre einzige Option, also würde sie weiterhin lächeln und von ihrem Tag erzählen, wenn man sie danach fragte.

Natürlich redete sie an der Schule auch mit anderen, ihr blieb nichts anderes übrig, schließlich war sie nicht stumm. Im Gegenteil, sie redete zu viel und offenbar nicht auf die richtige Art oder über die richtigen Dinge. Dallas war nur nett gewesen, aber eine einzelne Mitschülerin, die sich während ihrer philosophischen Analyse nicht zu Tode gelangweilt hatte, zählte nicht. Sie löschte Dallas’ Textnachricht, verspürte dabei aber keine Befriedigung. Wenn Celeste pinke Haare und einen überaus männlichen Freund namens Troy hätte, würde vielleicht auch sie das soziale Leben an der Highschool genießen. Doch dem war nicht so. Also sorgte sie dafür, dass sie so wenig wie möglich mit ihren Mitschülern zu tun hatte.

Sie hatte beschlossen, dass ihr die Highschool nichts bedeuten würde. Es war erstaunlich einfach gewesen, ein Umfeld zu erschaffen, in dem sie sich praktisch unbemerkt bewegen konnte. Und es war nicht so, als müsste sie an jeder Ecke eine Einladung zu sozialen Interaktionen ausschlagen. Dallas war die Ausnahme gewesen.

Es fühlte sich seltsam an, sich unter all diesen Schülern zu bewegen, aber keine Freundschaften zu knüpfen. Ob sie Freundschaften wollte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Sie hatte gelernt, dass es besser war, Fehlschläge gar nicht erst zu riskieren.

Zum Glück hatte sie Matt. Er war zwar nicht ritterlich oder heldenhaft, aber er liebte sie innig und beschützte sie auf seine stille, subtile Art. Matts eigenes Wesen machte es ihm nicht leicht, seine Zuneigung mit Worten oder körperlichen Gesten zu zeigen, aber was er ihr gab, war mehr als genug. Dass er in der Nähe wohnte und oft vorbeikam, linderte den Schmerz nach seinem Auszug. Natürlich hatte er ausziehen müssen. Nachdem er sein Grundstudium abgeschlossen hatte, war das sinnvoll gewesen. Sie konnte nicht erwarten, dass er sein ganzes Leben lang im Zimmer gegenüber wohnen würde. Es wäre auch nicht akzeptabel, wenn ihr Bruder nächstes Jahr im Studentenwohnheim ihr gegenüber wohnen würde. Aber dann würde sie ihn auch nicht brauchen, weil sie endlich die Highschool hinter sich hätte und in einem reiferen akademischen Umfeld leben würde. Wo genau sie landen würde, stand noch nicht fest, aber sie hatte Optionen.

Sie schaltete ihr iPad ein. Noch mehr über die einzelnen Hochschulen zu erfahren würde sie jetzt trösten. Sie konnte von den Kursen einfach nicht genug bekommen, also las sie sich eine Weile deren Beschreibungen durch und suchte nach weiteren Informationen über diese legendären Universitäten. Als sie auf einer der Webseiten landete, atmete sie erschrocken ein.

»Oh nein. Nein, nein, nein.« Sie starrte auf die Worte auf der Seite. Das Leben auf dem Campus.

Details über Partys, Veranstaltungen, lebenslange Freundschaften leuchteten ihr entgegen. Hastig klickte sie auf die Links zu den anderen Hochschulen. Studentenverbindungen, Trinkspiele … etwas Grässliches namens »Frühlingsfest«, auf dem den ganzen Tag lang Bands spielten und Studentenfeiern auf dem Campus stattfanden. Das konnte nicht stimmen.

Sie las weiter.

»In meinem ersten Jahr haben wir uns zu viert ein Zimmer geteilt, und in unserem letzten Jahr sind wir noch immer befreundet«, lautete ein Bericht.

»Mein erster Mitbewohner war schlimm. Total verklemmt und schrecklich. Hat mir das ganze Jahr vermiest, aber die Schule hat nicht erlaubt, dass ich das Zimmer wechsle«, lautete ein anderer.

Grundgütiger, was für ein grauenhafter Gedanke: Sie würde sich nächstes Jahr das Zimmer mit einer anderen Person teilen müssen! Einer fremden Person! Vielleicht sogar mit mehreren Fremden. Mit Leuten, die vermutlich ebenso sozial wie intelligent waren. Und Celeste wäre wahrscheinlich die »verklemmte« und »schreckliche« Mitbewohnerin, über die man sich auf den Seiten der Universität beschweren würde.

Panik stieg in ihr hoch. Sie hatte sich während der Highschool verstecken und dann auf dem College durchstarten wollen, wo das Leben endlich lebenswert sein würde. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie dämlich ihr Plan gewesen war. Das College war noch schlimmer als die Highschool. Auf dem Campus wäre sie in sich immer wiederholenden sozialen Situationen gefangen. In denen sie angemessen reagieren musste. Das war ein enormes Problem!

Versteift saß sie auf dem Betonboden und lehnte den Kopf gegen die Ziegelsteinmauer in ihrem Rücken. Was sollte sie nur tun? Während der Highschool hatte sie mit ihrer Persönlichkeit nicht gerade viele Menschen für sich gewinnen können, es gab also keinen Grund anzunehmen, dass sich ihre zwischenmenschlichen Beziehungen am College auf magische Weise verbessern würden. Warum hatte sie bislang nicht daran gedacht? Dafür, dass sie so klug war, war sie unfassbar dumm gewesen.

Ihr war, als würde das Kostümzimmer schrumpfen und sie würde unter einem Stapel Piratenhüte, Fünfziger-Jahre-Röcken und Koboldmasken verschwinden. Sie starrte einen hässlichen Grasrock an. Vielleicht sollte sie einfach auf eine noch unentdeckte Insel fliehen. Sie würde Kokosnüsse tragen, Fische mit dem Speer aufspießen und nie wieder mit Menschen interagieren müssen. Dort könnte sie sich einen neuen Titel zulegen: Celeste Watkins, intellektuelle Göttin einer verlassenen Insel. Allerdings brauchte sie das Internet, und auf einer verlassenen Insel würde es das nicht geben. Ganz zu schweigen davon, dass sie gar nicht wusste, wie sie eine noch unentdeckte Insel entdecken sollte. Für die Suche würde sie vermutlich ein Boot benötigen und Fachkenntnisse im Lesen von Seekarten, was sie beides nicht besaß.

Da kam ihr ein Gedanke: Wer behauptete denn, dass sie sich nicht einfach eine neue Identität zulegen könnte? Noch hatte sie Zeit. Es gab gar keinen Grund, nächsten Herbst mit derselben alten gestelzten und unterentwickelten Persönlichkeit am College aufzutauchen.

Sie würde sich einfach neu erfinden müssen, und die Zeit lief ihr davon.

4. KAPITEL

Heiß genug für dich?

»Bist du sicher, dass du das tun möchtest?«, fragte Celestes Mutter, als sie am nächsten Samstagmorgen auf dem Parkplatz hielt. »Hot Yoga ist nicht für alle etwas.« Erin schob sich das kurze Haar hinter das Ohr, und Celeste sah ihren skeptischen Gesichtsausdruck. Auch wenn sie die neue Kurzhaarfrisur mehr mochte als das lange Haar, das ihre Mutter jahrelang getragen hatte, hatte diese doch einen Nachteil: Erin konnte ihre Gefühle nicht mehr hinter ihren Haaren verstecken.

»Hot Yoga muss auch nicht für alle etwas sein, aber es wird etwas für mich sein. Ich bin mir sicher, dass ich mich für Yoga begeistern kann.«

»Begeistern? Ich dachte, du wolltest nur mal einen Kurs mit mir testen. Wir werden sehen, ob es dir gefällt.« Erin nickte Celeste zu und lächelte. »Auf geht’s.«

»Ja, auf geht’s«, wiederholte Celeste steifer, als ihr lieb war. Saloppe Redeweisen fielen ihr zurzeit nicht leicht. »Es wird uns als Mutter und Tochter näherbringen.«

»Nicht nur das. Dein Vater hat dich letztes Wochenende nach Yale begleitet, also begleite ich dich im Dezember nach Princeton und zur University of Pennsylvania. Ich freue mich schon darauf zuzusehen, wie sich all diese Hochschulen um dich reißen werden.«

Sie eilten durch den kalten Oktoberwind und betraten das warme Gebäude. »Ich glaube, dass ich gut vorbereitet bin. Ich habe diese Yogamatte, ein rutschfestes Handtuch, von dem die ganzen Onlineseiten für Yoga behaupten, es läge im Trend, und ich habe die letzten Tage genug Wasser getrunken, damit mein Körper unter dem Schweiß nicht leiden wird. Außerdem habe ich noch diese dekorative Wasserflasche. Mein Outfit ähnelt deinem, und ich finde es essentiell wichtig, dass mein äußeres Erscheinungsbild zu meinem neuen Interessensgebiet passt.«

»Ich habe dir gesagt, dass du die Yogamatten vom Fitnessstudio benutzen kannst, Liebes.«

»Erin!«, kreischte Celeste. »Warum um alles in der Welt glaubst du, ich könnte eine Gemeinschaftsmatte benutzen? Ich könnte mir eine widerliche Pilzinfektion einfangen oder Schlimmeres! Das ist keine Art, eine neue Identität zu entwerfen.«

»Eine neue Identität? Wovon redest du?«

Nervös spielte Celeste an ihrer Ausrüstung herum. »Nichts.«

Erin beäugte ihre Tochter. »Du brauchst keine neue Identität. Außerdem denke ich, dass sie die Matten gründlich reinigen. Aber ich bin froh, dass dir die Matte gefällt, die wir für dich besorgt haben. Und bitte, nenn mich Mom. Es stört mich, wenn du meinen Vornamen benutzt.«

Celeste zuckte mit den Schultern und atmete überrascht ein, als sie den Yogaraum betraten. »Ach herrje, ist das warm hier drinnen.«

»Es heißt nicht umsonst Hot Yoga. Ich empfinde es als anregend, und ich denke, dir wird die Erfahrung gefallen.«

Celeste folgte ihrer Mutter durch den großen Saal und ahmte nach, wie sie ihre Sachen anordnete. »Danke, dass du mir all diese wundervollen Anfängersachen für mein neues Abenteuer besorgt hast. Ich weiß, dass die Caprihose teuer war, aber ich habe gelesen, dass die billigen schnell durchscheinend werden, wenn man schwitzt, und das wäre mir peinlich. Ich denke, das ist eine nachvollziehbare Sorge, wenn man bedenkt, dass ich jetzt schon schwitze, dabei habe ich noch gar nicht mit den Yogaposen angefangen.«

Erin legte sich auf die Matte und schloss die Augen. »Das ist normal. Wir sind zwanzig Minuten früher hier, damit wir uns an die Hitze gewöhnen und unseren Kopf und Körper auf den Unterricht vorbereiten können.«

Nachdem sie sich das lange Haar zu einem Dutt hochgebunden hatte, legte Celeste sich ebenfalls auf ihre Matte und schloss die Augen. Obwohl sie sich Sorgen machte, wie sie die eigentlichen Yogaposen ausführen sollte – sie war schon jetzt völlig verschwitzt –, bemühte sie sich, ihren Erfolg zu visualisieren. In diesem Unterricht würde sie eine neue Seite an sich entdecken und ein frisches Feuer in sich entfachen. Ihre Mutter hielt vielleicht nicht viel von einer neuen Identität, aber Celeste war fest entschlossen. Sie würde keine Außenseiterin mehr sein, wenn sie aufs College ging. Dafür würde sie alles tun, sogar Yogistin werden. War Yogistin das richtige Wort? Natürlich nicht! Die vierzig Grad setzten ihr bereits zu. Sie vergaß sonst nie den richtigen Begriff! Yogi würde sie werden. Oder eher Yogini. Was für ein schönes, romantisch klingendes Wort. Sie atmete tief ein und aus und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass sie eins war mit der erdrückenden Hitze.

Celeste, die Yogini, hatte einen herrlichen Klang. Sie stellte sich vor, wie sie am College einen Yogaclub auf die Beine stellen und sich die Studierenden voller Begeisterung dafür einschreiben würden. Sie sah schon die Menschenmenge vor sich, deren Fragen sie beantworten würde, denen sie Tipps geben würde, während sie ihnen versicherte, dass sie ihre Übungen sehr gut durchführten. Ihr Yogakurs würde ihr soziale Anerkennung bringen, da war sie sich sicher.

Doch zwanzig Minuten Yoga genügten, um ihre Hoffnungen auf einen Lifestyle als Yogini einzudämmen. Hot Yoga war grauenhaft. Wahrhaftig grauenhaft. Sie wusste nicht, ob ihr Blick von dem Schweiß verschleiert war, der ihr in die Augen rann, oder von dem Schwindelgefühl, das sie überkam. Jedenfalls ging es ihr hundsmiserabel. Und ihr war heiß. Himmel, war das heiß! Sie hatte gelesen, dass sie ihre Posen halten und ihren Verstand klären musste und dass sie Perfektion erreichen würde, wenn sie sich dabei zutiefst entspannte, aber das fiel ihr immer schwerer. Wenn sie sich richtig erinnerte, bestand das Ziel darin, die sogenannte Unendlichkeit zu erreichen, aber in diesem Moment war unendlich viel Schweiß das Einzige, worin sie Erfolg hatte.

Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie zitterte und nicht gerade eine perfekte Haltung an den Tag legte. Sie linste zu ihrer Mutter, die voller Eifer nach dem Himmel zu greifen schien und vermutlich auf eine beruhigende, heilende Art atmete, während sich die Erde nur noch um sie drehte oder so. Die Körperhaltung, die von der Leiterin »Trikonasana« genannt wurde, strengte sie an. Außerdem erinnerte sie der Name an die vielen Bakterien, denen sie in dieser Schwitzhütte wahrscheinlich gerade ausgesetzt war.