Fleeing From Deep Waters - Julia Hausburg - E-Book

Fleeing From Deep Waters E-Book

Julia Hausburg

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Beschreibung

Den Wellen der Vergangenheit kannst du nicht entfliehen. Nicht einmal auf hoher See ...

Nach einer schmerzhaften Trennung hofft Jules auf einen Neuanfang als studentische Hilfskraft auf der luxuriösen Segeljacht Sapient Sailor. Doch seine Pläne werden von einer unerwarteten Mitbewohnerin durchkreuzt: Durch einen Fehler muss er sich seine kleine Kabine mit Elisa teilen, deren überbordender Optimismus und chaotisches Auftreten Jules zur Verzweiflung treiben. Doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto stärker sprühen die Funken. Als sie eine blinde Passagierin an Bord entdecken, werden ihre aufkeimenden Gefühle füreinander auf eine harte Probe gestellt. Gefangen zwischen Verantwortung und Selbstschutz, Vergangenheit und Zukunft, Leidenschaft und Schuldgefühlen versuchen sie herauszufinden, was ihre Herzen wirklich wollen. Wagen Jules und Elisa gemeinsam den Sprung ins kalte Wasser?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Nach einer schmerzhaften Trennung hofft Jules auf einen Neuanfang als studentische Hilfskraft auf der luxuriösen Segeljacht Sapient Sailor. Doch seine Pläne werden von einer unerwarteten Mitbewohnerin durchkreuzt: Durch einen Fehler muss er sich seine kleine Kabine mit Elisa teilen, deren überbordender Optimismus und chaotisches Auftreten Jules zur Verzweiflung treiben. Doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto stärker sprühen die Funken. Als sie eine blinde Passagierin an Bord entdecken, werden ihre aufkeimenden Gefühle füreinander auf eine harte Probe gestellt. Gefangen zwischen Verantwortung und Selbstschutz, Vergangenheit und Zukunft, Leidenschaft und Schuldgefühlen versuchen sie herauszufinden, was ihre Herzen wirklich wollen. Wagen Jules und Elisa gemeinsam den Sprung ins kalte Wasser?

Die Autorin

Julia Hausburg wurde 1998 geboren und studierte Bildungswissenschaften, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Katzen in Bayern, liebt warmen Sommerregen und Schreibnachmittage im Café. Ihre »Dark Elite«-Reihe landete auf Anhieb auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Wenn die Autorin nicht gerade an ihrem nächsten Buch arbeitet, findet man sie mit einem spannenden Liebesroman in ihrer eigenen kleinen Bibliothek.

Lieferbare Titel

Dark Elite – Revenge

Dark Elite – Regrets

Dark Elite – Redemption

Fighting Through Deep Waters

JULIA HAUSBURG

FLEEING

FROM

DEEP

WATERS

Roman

Band 2 der Deep Waters-Reihe

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 07/2025

Copyright © 2025 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-32021-8V001

www.heyne.de

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich hier eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Julia Hausburg und der Heyne Verlag

Kapitel 1

Jules

Es braucht nur den Bruchteil einer Sekunde und einen Tomatensaft, um mich den Neuanfang bereuen zu lassen.

Fassungslos starre ich auf mein weißes Shirt hinab, während sich meine Sitznachbarin im Flugzeug entsetzt eine Hand vor den Mund schlägt.

»Es tut mir schrecklich leid«, stammelt sie und greift in meinen Schritt. Na ja, nicht wirklich dorthin, sondern nach dem kleinen Plastikbecher, der ihr gerade aus der Hand gefallen ist. Als wäre es so schwierig, einen von der Stewardess angereichten Becher entgegenzunehmen.

Mein Atem geht hektisch, während ich versuche, die Ruhe zu bewahren. Du schreist sie jetzt nicht an, Jules, und heulen wirst du erst recht nicht! Aber es ist wirklich schwer, wenn ich nur auf den riesigen roten Fleck auf meiner Brust starren kann, der mein Lieblingsshirt unwiderruflich zerstört.

»Verzeihung, Sir«, sagt die Stewardess, als wäre es ihre Schuld und reicht mir hastig einen Stapel Servietten.

Bevor ich danach greifen kann, ist die brünette Übeltäterin schneller und reibt mir damit über das Shirt. Statt den klebrigen Saft abzutupfen, vergrößert sie den Fleck dabei nur noch. Mein Kiefer verspannt sich.

»Lass es gut sein«, raunze ich sie an und stemme mich von meinem Gangplatz hoch.

Die Stewardess schenkt mir einen mitleidsvollen Blick, bevor sie hastig den Servierwagen ein Stück weiterschiebt, damit ich auf den engen Gang hinaustreten kann.

Mein Ziel ist die Toilette ein paar Reihen weiter vorne, die zum Glück frei ist. Dabei ignoriere ich, dass ich von allen Passagieren in diesem Kabinenabschnitt angestarrt werde, die das Drama nicht überhören konnten. Als wäre es nicht schon schlimm genug, auf einem Elf-Stunden-Flug nach Los Angeles neben einem Tollpatsch gefangen zu sein.

Ich ziehe die Schiebetür hinter mir zu, verriegele sie und stütze die Hände auf dem Waschbeckenrand ab. Mit hängenden Schultern wappne ich mich dafür, das ganze Ausmaß der Katastrophe im Spiegel zu begutachten. Ich hebe den Blick und spüre ein verdächtiges Brennen in den Augenwinkeln.

Mein Lieblingsshirt ist hinüber, das weiß ich, noch bevor ich versuche, den Fleck mit Wasser herauszuwaschen. Alles, was ich damit erreiche, ist, gleich nichts Trockenes mehr zum Anziehen zu haben.

Warum musste ich es auch unbedingt auf dem Flug tragen? Es ist das einzige Erinnerungsstück, das ich retten konnte, als ich vor ein paar Wochen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Koffer gepackt habe, bevor meine Ex-Freundin Jana mich auf die Straße gesetzt hat.

Keuchend schnappe ich nach Luft, als der Schmerz mich mit der Wucht einer Tsunamiwelle überrollt. Eisern blinzele ich gegen die Tränen an, während das Salzwasser mit zielsicherer Präzision jede einzelne von Jana aufgerissene Wunde findet.

Vielleicht ist es besser so, dass ich das Shirt nach heute nie wieder werde anziehen können. Schließlich befinde ich mich gerade nur deshalb zehntausend Meter über dem Atlantik, weil Jana mich aus unserer gemeinsamen Wohnung geworfen hat. Die Trennung war hässlich und plötzlich – auf einen Schlag habe ich alles verloren. Daher habe ich nicht lange nachgedacht, bevor ich das Angebot meines Professors, als studentische Hilfskraft bei einem exklusiven Auslandssemester auf dem Pazifik zu arbeiten, angenommen habe. Ich muss über Jana hinwegkommen, unsere acht gemeinsamen Jahre abhaken und neu anfangen.

Mit einem Papiertuch versuche ich das Shirt zumindest etwas trocken zu tupfen, bevor ich mir die blonden Haare hinter die Ohren streiche und mir Wasser ins Gesicht spritze. Frischer sehe ich danach leider nicht aus. Es braucht schon ein bisschen mehr, um nach den letzten Monaten die dunklen Schatten unter meinen Augen und die eingefallenen Wangen zu kaschieren.

Seufzend stelle ich das Wasser ab und wappne mich für den Walk of Shame zurück zu meinem Platz. Zum Glück sind die meisten Passagiere mittlerweile dazu übergangen, auf ihren Bildschirmen einen Film anzusehen, und beachten mich kaum.

Meine Sitznachbarin schaut auf, sobald ich mich setze. Der ältere Herr neben ihr auf dem Fensterplatz schläft, seit wir abgehoben haben. Ich hätte mir ein Beispiel an ihm nehmen sollen, andererseits bin ich viel zu aufgewühlt dafür. Sechs Monate auf einem Segelschiff zu verbringen, ist zwar genau das, was ich nach der Trennung brauche, trotzdem vermisse ich Zürich jetzt schon.

»Es tut mir wirklich leid«, sagt meine Sitznachbarin. Ihre Worte sind begleitet vom konstanten Dröhnen der Triebwerke und dem Rauschen der Klimaanlage, die mir kalte Luft in den Nacken pustet. »Selbstverständlich komme ich für den Schaden auf.«

»Nicht nötig«, erwidere ich und will das Gespräch mit ihr so schnell wie möglich beenden. Nicht wegen des Tomatensaft-Dramas, sondern weil ich meine Ruhe brauche.

Sie pustet sich eine widerspenstige Strähne ihres Ponys aus der Stirn, und erst jetzt fällt mir auf, wie hübsch sie ist. Zuvor habe ich sie kaum eines Blickes gewürdigt. Etwas, das ich mir während der Beziehung mit Jana angewöhnt habe, da sie immer schrecklich eifersüchtig auf andere Frauen war. Aber nun bemerke ich die großen, leicht schräg stehenden braunen Augen, die etwas Intensives, Energiegeladenes ausstrahlen, die Stupsnase und ihre vollen Lippen. Alles an ihr wirkt weich, womit sie das genaue Gegenteil von Jana ist.

»Es ist nur ein T-Shirt«, füge ich an, vielleicht auch, um mich selbst davon zu überzeugen.

»Bestimmt geht der Saft mit einem Fleckenstift wieder raus«, erklärt sie optimistisch. »Ich habe vermutet, dass du keine Entschädigung möchtest, deswegen habe ich dir eine andere Wiedergutmachung besorgt.« Sie hält mir eine Tüte M&M’s entgegen.

Perplex starre ich diese an, ohne mich zu rühren.

»Oje, sag bitte nicht, du bist gegen Erdnüsse allergisch?«, fragt sie entsetzt. »Heute scheine ich alle möglichen Fettnäpfchen mitzunehmen. Oder vielleicht bist du es, der sie anzieht?« Sie grinst, was ihr gesamtes Gesicht leuchten lässt. Faszinierend.

Nein, was ist los mit mir, sie hat gerade das letzte Geschenk von Jana zerstört!

Ich lasse mich nicht auf ihren Versuch ein, über den Fauxpas zu scherzen oder sogar ein Gespräch anzufangen. »Danke«, sage ich nur und nehme ihr die Packung ab, bevor ich mir demonstrativ Kopfhörer aufsetze, fest entschlossen, mich die restlichen neun Stunden des Fluges abzulenken. Sobald wir gelandet sind, werde ich meine Sitznachbarin nie wiedersehen. Dass Peanuts meine Lieblingssorte ist, muss sie nicht wissen.

Ich ächze, als ich versuche, mich bequemer hinzusetzen. Meine Knie stoßen gegen den Sitz vor mir, weil ich mit meinen 1,86 Metern viel zu lange Beine für die enge Reihe habe. Jetzt weiß ich wieder, warum mir während der Beziehung mit Jana, die panische Angst vorm Fliegen hat, das Verreisen mit dem Flugzeug nicht gefehlt hat.

Eine Weile tippe ich auf dem im Vordersitz integrierten Bildschirm herum, bis ich beide Teile von Dune finde. Ich starte den ersten Film, lehne mich entspannt zurück und reiße die M&M’s auf. Dabei spüre ich den neugierigen Blick meiner Sitznachbarin auf mir. Falls sie erwartet, dass ich ihr auch welche anbiete, täuscht sie sich. Das Shirt ist unersetzbar, aber die Süßigkeiten heben meine Laune zumindest ein kleines bisschen.

Ich kann es kaum erwarten, auf der Sapient Sailor anzukommen und meinen Neuanfang so richtig zu starten. Nach dieser katastrophalen Anreise kann es nur besser werden.

Kapitel 2

Jules

Das Segelschiff hebt sich majestätisch vor der untergehenden Abendsonne ab. Mein Atem stockt, es ist viel größer, als ich es mir vorgestellt habe. Ich schätze die Länge auf ein Fußballfeld, vielleicht sogar eineinhalb. Die cremefarbenen Segel an den fünf Masten sind ordentlich aufgerollt, das Schiff liegt ruhig im Hafenbecken von Los Angeles. Möwen ziehen gierig ihre Kreise über dem Oberdeck, auf der Suche nach Essensresten. Sie werden keinen Erfolg haben, noch ist kaum jemand auf dem Schiff. Die Crew und die Professoren reisen zwar heute schon an, aber die Studierenden folgen erst morgen.

Erleichtert, nach dem langen Flug endlich anzukommen, steige ich aus dem Taxi aus und lasse mir vom Fahrer mit meinem Gepäck helfen. Ich bedanke mich bei ihm und wende mich zum Schiff um. Sofort breitet sich ein Kribbeln in meinem Innern aus. Durch die tiefstehende Sonne wirft die Sapient Sailor einen großen Schatten auf den Pier, in dem die Hitze des Tages erträglich ist. In der Ferne höre ich das regelmäßige Rumpeln, wenn im Hafen Container verladen werden, und das Tuten von Schiffshörnern.

Ich schlinge mir die Gitarrentasche über die Schulter und greife nach dem Henkel des Koffers, um mich in Bewegung zu setzen, als hinter mir ein weiteres Taxi auf den Pier brettert. Es scheint den Hafenbereich mit einem Fast&Furious-Film zu verwechseln und driftet mit quietschenden Reifen auf mich zu. Erschrocken mache ich einen Satz zurück, während es abrupt vor mir zum Stehen kommt. Die Tür öffnet sich, und eine Frau steigt aus.

Nein. Ich blinzele heftig. Das kann nicht sein, meine Augen müssen mir einen Streich spielen, weil ich seit mittlerweile zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen bin. Doch meine Sitznachbarin aus dem Flugzeug löst sich leider nicht in Luft auf.

Sobald sie auf dem Pier steht, bekreuzigt sie sich. Mir fällt auf, dass sie ein bisschen grün um die Nase ist. Kein Wunder bei dieser Fahrweise. Zum Glück habe ich den Taxirennfahrer nicht erwischt. Dieser stellt einen Koffer neben ihr ab, bevor er sich von ihr verabschiedet und davonrast.

Erst jetzt schaut sie auf, entdeckt mich und hält perplex inne. »Du?«

»Ich bin auch nicht besonders begeistert, dich zu sehen«, erwidere ich, woraufhin sie schuldbewusst den dunkelroten Fleck auf meiner Brust mustert. Es sieht aus, als hätte mich jemand angeschossen. Dass ich nicht von der Polizei angehalten wurde, gleicht einem Wunder. Dafür habe ich am Flughafen haufenweise skeptische Blicke kassiert.

»Arbeitest du auf der Sapient Sailor?«, fragt sie.

»Ja, als studentische Hilfskraft.«

»Ich auch! Wahrscheinlich saßen wir deshalb im Flugzeug nebeneinander. Ich bin übrigens Elisa.«

Na super. Meine Hoffnung, sie nach der Landung nie wieder sehen zu müssen, ist damit offiziell zerschlagen. Schlimmer noch, wir werden die nächsten Monate auf demselben Schiff verbringen. Es hat eine Fläche von knapp 3000 Quadratmetern, was ungefähr einem Supermarkt entspricht. Unsere Wege werden sich demnach häufig kreuzen.

»Jules«, murmele ich.

»Eigentlich hätten wir auch mit demselben Taxi herfahren können. Unverschämte hundert Dollar hat der Fahrer von mir verlangt. Dabei hätte er mir diese Summe als Schmerzensgeld zahlen sollen, weil er gefahren ist, als würde er uns beide umbringen wollen!« Elisa schnaubt, bevor sie zu lächeln beginnt. »Wie auch immer, jetzt sind wir ja hier. Ich freue mich so!«

Euphorisch greift sie nach ihrem Koffer und läuft los. Sie trägt enge Sportleggings, die ihre curvy Figur betonen, ein schwarzes Oversizedshirt, und um den Hals liegen weiße Over-Ear-Kopfhörer.

Ich folge ihr über den Pier bis zur Gangway. Daneben steht ein provisorischer Klapptisch, über den ein Sonnenschirm gespannt ist. Ein Mann sitzt daran und ist in seinen Laptop vertieft. Um ihn herum sind verschiedene Papierunterlagen und Umschläge ausgebreitet.

Er schaut auf, sobald wir näher kommen. »Guten Abend. Ich bin Professor Waldmann, Dekan für Nautik und der Kopf der organisatorischen Leitung. Gehören Sie zur Crew?«

»Nein, wir sind studentische Hilfskräfte«, antwortet Elisa voller Begeisterung. Sie wirkt so energiegeladen, als wäre sie nicht gerade einmal um die halbe Welt geflogen. »Mein Name ist Elisa Wilson.«

»Ich bin Jules Bühler.«

Professor Waldmann tippt etwas in seinen Laptop ein und runzelt dann die Stirn. Er schaut wieder auf und wirft mir einen Blick zu, der mich beunruhigt. »Jules, sagten Sie?«

»Ja.«

»Es tut mir schrecklich leid, aber es sieht so aus, als hätte es einen Fehler gegeben. Sie wurden beide für eine Frau gehalten und dadurch einer Kabine zugeteilt.«

Mir wird schlagartig heiß. Ich kann nicht glauben, dass mir das schon wieder passiert. Regelmäßig werde ich wegen meines Vornamens mit »Frau Bühler« beim Arzt aufgerufen oder in E-Mails angeschrieben. Wann immer ich mich bei meiner Mutter darüber beschwere, präsentiert sie mir ihre halb zerfallene Ausgabe von Die Reise zum Mittelpunkt der Erde des französischen Schriftstellers Jules Verne. Während sie vor knapp vierundzwanzig Jahren mit mir in den Wehen lag, hat sie die Geschichte komplett durchgelesen und sich in jede Zeile verliebt. Ihrer Meinung nach sollte ich mich glücklich schätzen, nach einem so talentierten Mann benannt worden zu sein.

Ich räuspere mich. »Es ist doch sicher möglich, einen von uns beiden auf eine andere Kabine umzuverteilen, oder?«

Er tippt etwas in seinen Laptop ein, bevor er das Gesicht verzieht. »Leider nein. Alle Kabinen auf dem Schiff sind voll belegt.«

»Oje, und jetzt?«, fragt Elisa.

»Ich kann da leider wirklich nichts machen, demnach bleiben uns nur zwei Möglichkeiten. Entweder teilen Sie sich die Kabine oder einer von Ihnen reist wieder ab.«

Mein Magen verkrampft sich. Das ist der schrecklichste Neuanfang aller Zeiten! Anscheinend will mir das Schicksal mit jeglichen Mitteln zeigen, dass ich niemals in dieses Flugzeug nach L.A. hätte steigen dürfen. Dass ich einfach hätte in Zürich bleiben, mein Medien- und Kommunikationsmanagement-Studium ohne Urlaubssemester fortsetzen und mir eine eigene Bleibe suchen sollen, nachdem ich seit drei Monaten auf der Couch meines Kommilitonen Theo geschlafen habe.

»Ich werde auf gar keinen Fall abreisen«, stellt Elisa klar. »Der Job ist mir sehr wichtig, dafür bin ich hier, nicht um Urlaub zu machen. Es ist daher kein Problem für mich, mir mit Jules eine Kabine zu teilen.«

Soll ich auf meinem Platz auf der Sapient Sailor bestehen, selbst wenn ich sechs Monate lang neben einer fremden Frau schlafen muss? Allein der Gedanke sorgt für eine Gänsehaut. Hoffentlich schnarcht sie nicht, denn ich kann mich einfach nicht überwinden, abzubrechen. Ich habe den Job angenommen, um über Jana hinwegzukommen. Jetzt zurückzufliegen, würde sich wie versagen anfühlen. Nein, ich brauche eine neue Umgebung, brauche Abstand, und noch dazu wird sich das Auslandssemester hervorragend in meinem Lebenslauf machen.

»Für mich geht das ebenfalls in Ordnung«, sage ich. Es fühlt sich so an, als würde ich damit endgültig mein Schicksal besiegeln.

Professor Waldmann überreicht uns jeweils einen Umschlag, in dem sich unsere Bordkarten befinden. Diese sind zugleich Ausweise, Kabinenschlüssel und Zahlungsmittel.

»Finden Sie sich morgen früh bitte pünktlich um acht Uhr auf dem Horizontdeck ein. Dort wird es etwas zum Frühstück geben, und anschließend werden Sie in Ihre Aufgaben für die Anreise der Studierenden eingewiesen. Jules, Sie werden in den kommenden Monaten die meiste Zeit unter meiner Führung arbeiten und hauptsächlich für die schiffsinterne App SailUp verantwortlich sein sowie mich administrativ und in der Veranstaltungsplanung unterstützen. Elisa, Sie werden im Studienbereich Sprache tätig sein. Ihre Betreuerin Professorin Roth lernen Sie morgen früh kennen. Teilweise werden Sie beide auch bei den anderen Studiengängen oder auf dem Schiff eingesetzt werden, falls Hilfe gebraucht wird. Ihre Kabine befindet sich auf dem Sprachdeck, hinter den Vorlesungsräumen am Bug des Schiffes. Haben Sie noch Fragen?«

Wir verneinen beide, bevor wir den Tresen hinter uns lassen und die Gangway betreten. Das Metall federt leicht unter meinen Schritten, und mein Puls beschleunigt sich, je näher ich dem Oberdeck komme. Reihen aus Bullaugen ziehen sich über den Schiffskörper. Hinter welchem wohl meine Kabine liegt?

Ächzend hievt Elisa vor mir ihren Koffer auf das Horizontdeck, und ich korrigiere mich in Gedanken. Unsere Kabine. In meinem Magen bildet sich ein Knoten.

Staunend sieht Elisa sich um, und ich folge ihrem Blick. Über das gesamte Deck spannt sich die Takelage – das Konstrukt aus Masten, Seilen und Tauen, welche die Segel tragen. Ich freue mich schon darauf, sie geöffnet zu sehen, wenn sie vom Wind gebläht werden und das Schiff mit voller Kraft über die Wellen treiben.

»Wow, das ist so beeindruckend!«, ruft Elisa aus. »Das edle Holz überall und diese riesigen Masten. Ich kann es kaum erwarten, das Schiff zu erkunden.«

Ich hingegen kann es kaum erwarten, ins Bett zu kommen. Aber auch wenn ich müde und von der Kabinensituation genervt bin, muss ich zugeben, dass Elisa recht hat. Die Größe des Schiffs ist beeindruckend, und die edle Ausstattung setzt dem Ganzen die Krone auf.

Wir setzen uns wieder in Bewegung. Die Kofferrollen klacken auf den glatten Teakholzbrettern, die im warmgoldenen Licht der untergehenden Sonne glänzen. Im Treppenhaus steigen wir in den Fahrstuhl ein. Auch hier hat Elisa einiges zu kommentieren. Sie redet ununterbrochen, scheint dabei nicht einmal Luft zu holen, und nachdem ich ihren Ausführungen zu den verschiedenen Decks gelauscht habe, schalte ich gedanklich ab. Meine Augenlider sind mittlerweile so schwer, dass es brennt, sie offen zu halten.

Auf dem zweiten Deck, dem Sprachdeck, hält der Fahrstuhl und spuckt uns in einen mit dunklem Teppich belegten Gang aus. Kleine goldene Knoten sind darauf gedruckt. Die Wände, an denen sich links und rechts Kabinen reihen, sind holzvertäfelt. Wir gehen immer weiter in Richtung Bug, passieren zwei Wasserschutztüren sowie die Vorlesungsräume, bis wir Kabine 205 erreichen.

Elisa plappert etwas über Sandwiches, und ich habe keine Ahnung, wie sie auf dieses Thema gekommen ist. Ich bin froh, als sie ihre Bordkarte an das Türschloss hält und wir in die Kabine eintreten können.

In einem schmalen Gang gibt es zwei Schränke und ein Badezimmer, dahinter öffnet sich der Raum. Unter einem Bullauge stehen zwei Einzelbetten und jeweils ein Nachtschrank nebeneinander, an der Wand hinter dem Bad entdecke ich einen Tisch mit zwei Stühlen. Groß ist der Raum nicht, aber absolut ausreichend für die nächsten Monate.

Dann fällt mir wieder ein, dass Elisa direkt vor mir steht. Ich werde mir das Bad mit ihr teilen müssen. Und, noch schlimmer, die Betten stehen so dicht beieinander, dass ich in der Nacht sicher ihren Atem hören kann. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter.

Elisa scheint das offenbar ebenfalls klar zu werden, denn sie dreht sich zu mir um. Unsere Blicke kreuzen sich, und ihre braunen Augen brennen sich in meine. Aus einem mir unerklärlichen Grund wird mir schlagartig heiß.

»Ich bin total erledigt und gehe direkt ins Bett«, lasse ich sie wissen.

»Willst du nicht auspacken? Oder das Schiff erkunden? Es ist gerade mal acht Uhr.«

»Nein«, sage ich nur. Dafür ist morgen noch genug Zeit.

Ich rolle den Koffer bis zum linken Bett, lege ihn davor flach auf den Boden und klappe ihn auf. Ich hole meine Waschtasche heraus und will ins Bad, bis mir einfällt, dass ich nicht wie sonst nackt schlafen kann. Weil da eine Frau mitten im Zimmer steht und mich wie versteinert anstarrt.

Wenn Jana davon wüsste, würde sie ausrasten.

Schnell vertreibe ich sie aus meinem Kopf. Das Recht, auf irgendetwas in meinem Leben sauer zu sein, hat sie nach der Trennung verspielt. Schlimm genug, dass sie sich ständig in meine Gedanken schleicht.

Ich schnappe mir Boxershorts. »Falls du noch mal rausgehst, mach bitte leise, wenn du zurückkommst«, sage ich im Vorbeigehen zu Elisa.

»Warum bist du so grantig?«, fragt sie, bevor ich ins Bad schlüpfen kann. »Glaubst du, mir gefällt es, dass wir uns eine Kabine teilen müssen?«

Ich zucke die Achseln. »Du findest sicher was, das du für großartig oder beeindruckend hältst.« Ich äffe ihren überschwänglichen und viel zu optimistischen Tonfall nach, bevor ich die Badtür hinter mir schließe.

Der Raum ist schmal, aber hochwertig eingerichtet mit goldenen Armaturen und marmorverzierter Ablagefläche. Ich leere die Waschtasche darauf aus. Viel Platz ist nicht, und ich benutze genau die Hälfte davon. Nur für Janas überbordendes Sortiment an Schminksachen habe ich auch mal meine Badseite aufgegeben.

Vor der Tür kann ich Elisa im Schrank hantieren hören. Anscheinend ist sie dünn wie Papier und lässt jegliche Geräusche durch, was im Laufe dieses Zusammenlebens nur unangenehm werden kann. Ich verziehe das Gesicht und stelle die Dusche an.

Als ich zurück in die Kabine komme, ist Elisa verschwunden. Soll mir nur recht sein, solange sie mich in Ruhe schlafen lässt. Ich stelle mir einen Wecker und lege mich ins Bett. Die Matratze ist härter als gewohnt, doch das Kissen fühlt sich nach der Anreise weich wie eine Feder an.

Ich schließe die Augen und …

Gedankenchaos beginnt. Mit einem Ohr bin ich die ganze Zeit an der Tür, warte darauf, dass meine Mitbewohnerin zurückkommt. Mit dem anderen nehme ich all die fremden Geräusche in der Kabine wahr. Ein Surren der Lüftung im Bad, das Schlagen des Wassers gegen den Schiffsrumpf knapp unterhalb des Bullauges. Schritte in der Kabine über mir.

Mit jeder verstreichenden Minute werde ich wütender, weil ich so verdammt müde bin.

Kapitel 3

Elisa

Das Schiff liegt ruhig im Hafen, sodass ich fast vergesse, mich nicht an Land zu befinden. Auf den Gängen riecht es leicht nach Citrus-Reinigungsmitteln. Der Teppichboden mit dem hübschen Knotenmuster schluckt meine Schritte, niemand begegnet mir, und von anderen Anwesenden ist kein Laut zu vernehmen. Es hat etwas Beruhigendes, allein durch das verlassen wirkende Schiff zu gehen. Ab morgen wird es von hundertfünfzig Studierenden bevölkert sein.

Zu Hause am Walensee zähle ich mich ebenfalls zu dieser Gruppe, ich habe letztes Semester meinen Bachelor in Sprachwissenschaften abgeschlossen. Doch in den nächsten Monaten werde ich zum ersten Mal Dozentenluft schnuppern. Ich bin ein bisschen aufgeregt, aber vor allem dankbar für diese Chance. An meiner Eliteuniversität habe ich bereits als studentische Hilfskraft gearbeitet und durch Empfehlung meiner Professorin die Stelle an Bord bekommen. Damit ich irgendwann vielleicht selbst einmal Professorin an einer Uni werden kann. Dennoch ist es surreal, jetzt hier zu sein. Ein halbes Jahr auf einem so großen Segelschiff zu leben und verschiedene Inseln im Pazifik anzufahren, ist eine Once-in-a-lifetime-Erfahrung.

Die Sapient Sailor wirkt edel und modern, besitzt aber trotzdem Charme. Ein bisschen erinnert mich die Einrichtung an ein teures Hotel, was ab und an von rustikaler Deko wie einem hölzernen Steuerrad oder einer Windrose durchbrochen wird. Ich sehe mir den geräumigen Speisesaal an, die mit unzähligen Fachbüchern bestückte Bibliothek und den Sportbereich mit Gym sowie Spiegelsaal. In meinem Kopf formt sich die Idee heran, hier einen Zumbakurs zu geben. Dann wäre die Ausbildung zur Trainerin, die ich vor ein paar Jahren zum Spaß absolviert habe, zum ersten Mal nützlich.

Der Erkundungsgang hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und kurzzeitig den grumpy Kerl in meiner Kabine zu verdrängen. Das Missgeschick mit dem Tomatensaft im Flugzeug tut mir immer noch schrecklich leid. Ich war nervös, weil ich ihn irgendwie süß fand, und bin ohnehin manchmal tollpatschig.

Jetzt schläft der süße Kerl im Bett neben mir und macht kein Geheimnis daraus, wie wenig er mich ausstehen kann. Ich kann es ihm nicht mal verübeln. Aber von seiner miesen Laune werde ich mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Morgen ist sie bestimmt fort, und ansonsten stecke ich ihn einfach mit meiner guten Laune an. In den letzten Jahren habe ich gelernt, dass das bei den meisten Menschen hervorragend funktioniert. Kill them with kindness, würde meine Pflegemutter Diana jetzt sagen. Ich lächele bei dem Gedanken an sie, ziehe mein Handy aus der hinteren Hosentasche und schicke ihr eine Nachricht, dass ich gut angekommen bin und es bis auf ein T-Shirt keine Verletzten gab.

Ich muss gähnen und beschließe, mich auf den Rückweg zu machen. Für eine grobe erste Orientierung habe ich genug gesehen. In den nächsten Monaten habe ich noch ausreichend Zeit, das Schiff genauer zu erkunden. Wärme breitet sich bei dem Gedanken in mir aus. Morgen muss ich jedoch fit sein und sollte daher früh schlafen gehen.

Zurück an der Kabine, öffne ich vorsichtig die Tür, hole mir meinen vorbereiteten Stapel mit Anziehsachen und Waschzeug aus dem Schrank und husche ins Bad. Mir ist vorhin aufgefallen, wie geräuschdurchlässig die Tür ist, daher gebe ich mir Mühe, leise zu sein.

Jules hat sich auf der Ablage breitgemacht. Neugierig betrachte ich die aufgestellten Utensilien. Eau de Toilette, Gesichtscreme, Haaröl, verschiedene Kämme, Zahnbürste und Zahnseide, ein elektrischer Rasierer. Alles steht in einer schnurgeraden Reihe, als hätte er sie mit dem Lineal gezogen. Ist er eitel? Oder pedantisch? Ich weiß noch nicht, wie ich ihn einschätzen soll.

Ich putze mir die Zähne, wasche mir das Gesicht, flechte mein Haar zu einem schulterlangen Zopf und schlüpfe in einen locker sitzenden Pyjama. Er ist vom vielen Waschen ausgeblichen und schmeichelt meiner Figur kein bisschen, aber ich konnte ja auch nicht ahnen, mit einem Mann zusammenzuwohnen. Egal. Das Thema hat sich spätestens jetzt, da wir die nächsten Monate für unseren Job auf engstem Raum klarkommen müssen, erledigt. Wenn nicht sogar schon im Flugzeug, nachdem ich ihm den Tomatensaft übergekippt hatte. Da konnten auch die M&M’s nichts mehr retten, mit denen ich seinem gierigen Verschlingen nach offenbar genau ins Schwarze getroffen habe.

Das Duschen verschiebe ich auf morgen, davon würde Jules sicher wach werden. Leise verlasse ich das Badezimmer und schleiche auf Zehenspitzen zum Bett.

Die Situation erinnert mich an früher. Ich bin es aus meiner Kindheit gewohnt, mir ein Zimmer zu teilen. Meine vier Schwestern und ich …

Heftige Schuldgefühle überkommen mich, und hastig würge ich den Gedanken ab. Sofort stelle ich mir stattdessen etwas Schönes vor. Lavendelfelder, in denen es vor Insekten summt, Sonne auf meiner Haut, und oh, in der Hand halte ich, nicht zu vergessen, einen süßen Karamell-Iced-Latte.

Ich schlüpfe unter die Bettdecke und schließe die Augen. Jules’ Atemzüge sind deutlich zu hören. Aber sie wirken nicht tief und ruhig, sondern zu schnell. Ab und an schnauft er, außerdem wälzt er sich im Bett umher.

Er ist noch wach? Dabei wirkte er vorhin total erschöpft.

Auf einmal kommen mir meine eigenen Atemzüge ebenfalls laut vor. Jules scheint mir so nah zu sein, und das macht mich nervös. In der Dunkelheit ist es, als würden wir direkt nebeneinanderliegen. Als müsste ich nur die Hand ausstrecken, um ihn berühren zu können. Ob seine Haut weich ist? Oder ist seine Brust von Haar bedeckt? Keine Ahnung, warum ich überhaupt in diese Richtung denke. Vielleicht, weil der Moment etwas Intimes an sich hat. Er ist voller Nähe und aufregend.

Das Bett knarzt, als Jules sich herumdreht. Er seufzt frustriert.

»Kannst du nicht schlafen?«, frage ich leise.

Sekunden vergehen ohne eine Antwort, sodass ich vermute, keine zu bekommen. Doch dann seufzt er erneut. »Kannst du nicht mal nachts die Klappe halten?«

Er ist also immer noch gemein zu mir. »Wenn du keinen Tipp willst, bin ich ruhig.«

»Soll ich etwa Schäfchen zählen?«

»Nein«, erwidere ich gelassen, ohne auf seinen gereizten Tonfall einzugehen.

Wieder vergehen einige Sekunden. »Was soll’s, ich bin mittlerweile wirklich verzweifelt, also bitte, gib mir den Tipp.«

Mein Herz schlägt schneller, und ich kann mir nicht mal erklären, wieso. Der Raum ist in Dunkelheit getaucht, doch langsam gewöhnen sich meine Augen daran, und ich kann Jules’ Umrisse ausmachen. Das schulterlange Haar breitet sich über dem Kissen und seinen breiten Schultern aus. Darunter erkenne ich seinen sehr nackten Oberkörper. Ich schlucke, weil meine Kehle auf einmal trocken ist. Bis auf sein Kreuz hat Jules eine schmale Figur wie die eines Läufers oder eines anderen Ausdauersportlers.

»Wir denken uns gemeinsam eine Geschichte aus. Jeder von uns erzählt abwechselnd einen Satz und führt sie dadurch weiter. Es hilft dabei, sich zu entspannen, weil es den Kopf beschäftigt und von allen Gedanken befreit, die einen wachhalten.« Meine älteste Schwester Beth hat mir und unseren anderen Schwestern diese Methode vor vielen Jahren in einer Unwetternacht gezeigt. Verängstigt lagen wir im Bett, bis Beth uns mit ihrer warmen Stimme von den Donnerschlägen abgelenkt hat. Ich vermisse sie so sehr, dass sich mein Magen zusammenkrampft. Hastig konzentriere ich mich auf Jules.

»Ich war noch nie gut in so was«, sagt er.

»Sprich einfach aus, was dir in den Sinn kommt.«

»Meinetwegen können wir es versuchen, aber du fängst an.«

»Okay.« Ich denke kurz über einen passenden ersten Satz nach. Ewig habe ich den Einschlaftrick nicht mehr mit jemandem geteilt. Zuletzt mit meiner Mitbewohnerin im Studentenwohnheim. Wie ich ist sie eine Stipendiatin, sodass wir beide viel gelernt und meist aneinander vorbeigelebt haben. Zumindest bis auf diesen einen Abend nach der Sommersonnenwende, an dem ein Mordfall die Uni erschütterte. »Während einer dunklen Nacht in einer altehrwürdigen Universität hörte sie ein knarzendes Geräusch.«

»Wow, du stehst auf Gruselgeschichten, Sunshine?«

»Sunshine?«

»Wegen deines unerträglichen Optimismus. Gehört das mit zur Geschichte?«

»Nein.«

»Hm. Wie war noch mal der Satz?«

Im Ernst? Ich stöhne frustriert in Richtung Kabinendecke. »Die dunkle Universität?«

»Klingt nach Corvina Castle.«

»Du kennst die Uni? Ich studiere da.«

»Seit dort jemand ermordet wurde, ist sie in Zürich in aller Munde«, antwortet Jules. »Hast du was davon mitbekommen?«

»Eine Clique aus meinem Wohnheim ist dem Mord auf die Schliche gekommen.«

»Plötzlich öffnete sich langsam die Tür zu ihrem Zimmer.«

Ich muss kichern. »Du kannst dich ja doch an den ersten Satz erinnern.«

»Eine Gestalt schob sich durch den Spalt.«

»Hey, ich bin dran! Außerdem wird mir dir Geschichte jetzt doch ein bisschen zu gruselig. Findest du nicht auch?«

Ein Grummeln ertönt aus Jules’ Richtung, und ich drehe mich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. Er liegt auf dem Rücken, genau wie ich eben. Seine Arme hat er über dem Kopf verschränkt, sein Gesicht zeigt zur Decke. Er wirkt ruhig, beinahe regungslos.

»Jules?«, flüstere ich.

Er ist eingeschlafen. Sind seine Gedanken einmal von was auch immer abgelenkt gewesen, hat es nicht lange gedauert.

Zufrieden schließe ich die Augen und spinne im Kopf die Geschichte weiter, wie ich es gerne zur Beruhigung vor dem Einschlafen mache. Aber keine Gruselgestalt kommt durch die Tür, sondern eine gute Fee. Im Gepäck hat sie drei Wünsche.

Dabei habe ich seit sieben Jahren nur einen einzigen.

Kapitel 4

Elisa

Sobald der Wecker klingelt, bin ich hellwach. Ich kann es kaum erwarten, meinen ersten Tag auf der Sapient Sailor zu beginnen. Sonnenstrahlen fallen in einem schrägen Winkel durch das Bullauge und tauchen die Kabine in goldenes Licht. Jules hat gestern offenbar vergessen, den Vorhang zuzuziehen.

»Mach den Wecker aus«, knurrt er.

Ich komme seiner Aufforderung nach, bevor ich aus dem Bett springe. In meinem gesamten Körper kribbelt Energie, als hätte ich über Nacht ein ganzes Fass davon getankt.

»Guten Morgen«, flöte ich.

Grummelnd dreht sich mein unfreiwilliger Mitbewohner zur Wand um und zieht sich das Kissen über den Kopf. Offenbar hat er immer noch miese Laune. Oder er ist ein Morgenmuffel. Vielleicht auch beides.

Ich laufe ins Bad und nehme endlich die Dusche, auf die ich gestern Abend Jules zuliebe verzichtet habe. Danach putze ich mir die Zähne, bändige meinen widerspenstigen Pony mit einem Glätteisen und lege ein dezentes Make-up auf.

Als ich zurückkomme, liegt Jules immer noch im Bett.

»Du solltest aufstehen, es ist schon halb acht«, sage ich.

»Mir bleibt also noch eine Viertelstunde. Die könnte ich zum Schlummern nutzen, wenn du mich nicht nerven würdest.«

Ich verziehe das Gesicht. Wird er die gesamten sechs Monate über derart unfreundlich zu mir sein? »Was ist mit Frühstück?«

»Geh allein, ich frühstücke ohnehin nie.«

»Der Tag wird sicher anstrengend, du solltest etwas essen, um …«

»Wie ich mein Leben gestalte, geht dich nichts an, Sunshine.« Er spuckt den Spitznamen so giftig aus, dass ich mir sicher bin, er macht sich damit über mich lustig.

Meine Nasenflügel beben, aber ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. Ich stelle mir die Oberfläche eines Sees vor. Jules’ Worte sind wie Kieselsteine, die kurz das Wasser kräuseln, bevor sie darin versinken. »Wie du meinst.«

Ich packe eine Umhängetasche und gebe mir dabei keine Mühe mehr, leise zu sein. Aus Prinzip. Vielleicht macht mich das zu einer schlechten Verliererin, doch es ärgert mich, wie unhöflich Jules seit dem Flug zu mir ist. Ich habe mich mehrfach für das Tomatensaftunglück entschuldigt, war die ganze Zeit freundlich zu ihm. Was erwartet er denn noch? Und ist das wirklich sein Anspruch an unser Zusammenleben?

Ich unterdrücke ein Schnauben. Soll er sich ruhig über mein sonniges Gemüt lustig machen, aber ich werde mich nicht von ihm herumschubsen lassen. Schwungvoll werfe ich die Sonnenbrille zu Lippenpflege, Wasserflasche, Handy und Cap in die Tasche. Das Klappern ist befriedigend.

Zur Krönung rufe ich Jules laut einen Abschied zu, bevor ich die Kabine verlasse.

Es überrascht mich nicht, dass ich keine Antwort bekomme.

***

Ich betrete das Horizontdeck und bin ein bisschen überfordert von dem Gewusel, das dort herrscht. Auf einem provisorischen Tisch ist ein Büfett aufgebaut, um das mehrere Personen herumstehen. Manche tragen die blaue Uniform der Crew, andere normale Alltagskleidung.

Zögernd bleibe ich ein paar Schritte abseits stehen, um mir erst einmal einen Überblick zu verschaffen. Die Sonne blendet, und es ist zwar warm, aber noch nicht unerträglich heiß. Die Masten scheinen sich ihr entgegenzustrecken, ragen schier endlos in den blauen Himmel hinein. Er ist wolkenlos, was verspricht, dass ich heute noch viel schwitzen werde. Hinter der Reling erkenne ich den Hafen von L. A. Containerschiffe werden von Kränen mit riesigen Stahlarmen beladen. Die zwischen ihnen umherfahrenden Schlepperboote wirken im Vergleich dazu klein wie Ameisen. Begleitet wird der Trubel vom unablässigen Dröhnen von Motoren, dem Poltern der Container, gerufenen Kommandos der Arbeitenden und einem gelegentlichen Hupen – der typische Lärm einer Großstadt, den wir ab morgen für ein halbes Jahr hinter uns lassen werden.

Ich muss zugeben, ich habe enormen Respekt davor, für viele Wochen das Schiff nicht verlassen zu können. Was, wenn ich mir wie eingesperrt vorkommen werde? Sofort scheint sich eines der Taue von der Reling zu lösen und fest um meine Brust zu schlingen. Wie ich es von Diana gelernt habe, atme ich ruhig gegen das Engegefühl an, versuche das raue Hanfgarn mit jedem Heben meines Brustkorbs ein bisschen mehr zu dehnen. Dabei stelle ich mir vor, wie die Weite des Ozeans mir helfen wird, mich freier als jemals zuvor zu fühlen, und das Tau verschwindet.

Eine Frau mit hellbraunen Haaren und Brille kommt auf mich zu. »Hallo, wenn ich mich nicht täusche, sind Sie Elisa Wilson, richtig?«

Ich lächele. »Ja, die bin ich.«

»Ich bin Professorin Roth, Dekanin für Sprache und Ihre Betreuerin. Es ist schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Professorin Bachmann, meine ehemalige Kommilitonin, wie Sie sicher wissen, hat sehr von Ihnen geschwärmt.«

Mit ihren Worten hängt sie ein unsichtbares Gewicht an meine Schultern. Nachdem ich die Stelle über Connections bekommen habe, wird von mir erwartet abzuliefern. »Ich freue mich ebenfalls, Sie kennenzulernen, und natürlich darüber, hier zu sein. Ich werde mein Bestes geben und nehme die Stelle sehr ernst.«

»Mehr verlange ich gar nicht von Ihnen. Sie sind hier, um zu lernen. Jetzt holen Sie sich aber erst einmal was zum Frühstück, bevor wir weiter über die Arbeit sprechen.«

Ich nicke und schnappe mir einen Teller am Büfett. Es gibt Sandwiches, Küchlein und verschiedene Obstsorten. Alles eher funktional, um es gut im Stehen essen zu können. Ich entscheide mich für einen Käse-Schinken-Toast und einen Muffin, außerdem gieße ich mir eine große Tasse Kaffee mit viel Milch und Zucker ein.

Pünktlich um acht Uhr tritt Jules aus dem Treppenhaus. Sein Gesichtsausdruck ist das genaue Gegenteil des sonnigen Wetters.

Sunshine.

Ein Schauer rieselt durch mich hindurch, und ich unterdrücke ein Schnauben. Was ist los mit mir? Der Spitzname kann mir nicht gefallen, Jules hat ihn nur gewählt, um mich damit aufzuziehen! Schnell löse ich den Blick von ihm und schaue mich auf der Suche nach Ablenkung auf dem Deck um. Ein Mitglied der Crew schenkt Kaffee an seine Kollegen aus, bevor sie sich verabschieden und in Richtung Brücke laufen. Die Einweisung ist offenbar nur für diejenigen, die im universitären Bereich arbeiten.

Schritte erklingen links von mir, und eine plötzliche Wärme steigt in mir auf. Erst dann realisiert mein Verstand, was mein Körper längst bemerkt hat: Jules hat sich neben mich gestellt. Überrascht heben sich meine Brauen. Ich dachte, er könne mich nicht leiden und würde mich daher meiden.

Bevor ich etwas zu ihm sagen kann, räuspert sich Professor Waldmann. »Guten Morgen, liebe Kollegen und Kolleginnen. Ich freue mich, Sie alle noch mal ganz offiziell hier auf der Sapient Sailor begrüßen zu dürfen. Bevor wir in den Anreisetag der Studierenden starten, möchte ich Sie zunächst einander vorstellen. Gleich hier zu meiner Rechten steht Kapitän Kaiser.«

Ich schaue zu dem Mann in weißer Kleidung, die ich erst auf den zweiten Blick als Borduniform erkenne. Bisher habe ich nur die Crew in blauer Uniform gesehen, sodass er mir nicht aufgefallen ist. Er lächelt der Runde herzlich zu.

»Vor diesem Job war ich Kapitän auf einem Luxuskreuzfahrtschiff und bei der Marine, habe also schon viele Jahre Erfahrung«, stellt er sich vor, bevor er über seine Aufgaben spricht.

»Vielen Dank«, sagt Professor Waldmann, als er geendet hat, und wendet sich nach rechts. »Direktor Wagner, würden Sie bitte auch ein paar Worte über sich sagen?«

»Hallo alle zusammen, ich bin Markus Wagner.« Der Direktor trägt einen auberginefarbenen Anzug, mit dem er sich von der sonst eher schlichten Kleidung deutlich abhebt. Er erscheint mir unpassend, nicht wegen der Farbe, sondern wegen des Jacketts, in dem er doch fürchterlich schwitzen muss. »Ich komme ursprünglich ebenfalls aus dem Kreuzfahrtsektor und habe bereits mehrere Schiffe als Direktor betreut. Meine Aufgabe ist der reibungslose Ablauf des Semesters. Ich organisiere, koordiniere, manage – man könnte mich auch als Mädchen für alles bezeichnen.« Ein lautes Lachen dröhnt aus seiner Brust. »Ich bin außerdem das Sprachrohr zwischen dem Lehrsektor und dem Bordpersonal. Scheuen Sie sich bitte nicht davor, zu mir zu kommen, wenn es ein Problem gibt oder Ihnen etwas auf der Seele brennt.«

Der Direktor ist mir sofort sympathisch, vielleicht weil ich mich in seiner fröhlichen, energiegeladenen Art wiedererkenne.

»Machen wir weiter mit der Universitätsleitung«, sagt Professor Waldmann. »Meinen Namen kennen Sie bereits, ich bin der Dekan für Nautik und der Verwaltungsleiter. An meiner Seite habe ich Professorin Roth, Dekanin für Sprache«, er zeigt in ihre Richtung, und sie winkt fröhlich in die Runde, »und Professorin Weber, Dekanin für Meeresbiologie.«

Mir fällt sofort ihr strenger Blick auf. Sie würde sich bestimmt gut mit Jules verstehen. Der Gedanke bringt mich zum Schmunzeln, obwohl ich noch immer ein bisschen sauer auf ihn bin.

»Doktor Lutz ist unser Schiffsarzt und hat eine Praxis an Bord«, fährt Professor Waldmann fort. »Er ist spezialisiert auf Tropenmedizin. Außerdem begleitet uns Personal für die Kombüse. Chefkoch Armin und seine Frau Selma, die heute Morgen schon das tolle Büfett für uns gezaubert haben. Und zu guter Letzt haben wir noch Paula, die in den Bars arbeiten wird, Vicky, die den Studierenden das Segeln beibringen wird, Elisa, die studentische Hilfskraft für Sprache, und Jules, die generelle studentische Hilfskraft.«

Nacheinander deutet er auf die einzelnen Personen, und ich lächele, sobald ich an der Reihe bin. Während ich die meisten Crewmitglieder auf Mitte dreißig schätze, sind Paula und Vicky ungefähr in meinem Alter. Ich freue mich schon darauf, sie näher kennenzulernen.

»Falls Fragen auftauchen, können Sie sich jederzeit an mich oder Direktor Wagner wenden. Die Crew baut jetzt gleich das Horizontdeck so um, dass hier die Einschiffung stattfinden kann. Um kurz vor zehn Uhr landet das erste Flugzeug mit Studierenden aus Berlin, daher müssen wir uns jetzt ein bisschen beeilen.«

Anschließend gibt er uns Informationen zum Ablauf des Tages und teilt die Aufgaben ein. Jules und ich werden mit dem Reisebus fahren, der die Studierenden vom Los Angeles International Airport zum Hafen bringt. Jules wird am Flughafen die Studierenden in Empfang nehmen, ich sie während des Transfers betreuen. Die Dekane und ein Teil des Crewpersonals werden sich auf dem Horizontdeck um die Einschiffung kümmern.

Allein in der Stunde, seit ich hier bin, ist die Temperatur um mehrere Grade gestiegen. Da habe ich es mit dem Bus gut getroffen, nehme ich an.

Ich werde schnell eines Besseren belehrt. Denn die Klimaanlage im Bus ist so schwach, dass sie nicht gegen die Hitze draußen ankommt. Nach mehrmaligem Hin-und-her-Fahren bin ich bereits am Mittag komplett durchgeschwitzt.

Die Studierenden sind aufgeregt, quatschen wild durcheinander und stellen unzählige Fragen, von denen ich ihnen zumindest ein paar beantworten kann. Im gesamten Bus herrscht eine erwartungsvolle Anspannung, und es wird zu einem kleinen Lieblingsmoment meiner Fahrten, ihre Gesichter zu beobachten, wenn sie das Schiff zum allerersten Mal sehen.

Meistens wird der Platz neben mir freigelassen, aber am Nachmittag setzt sich ein Student, der aus Frankfurt gelandet ist und sich mir als Kai vorgestellt hat, direkt neben mich.

»Hi«, grüßt er und lächelt mich charmant an.

»Hey, hast du eine Frage?«

»Ich habe sehr viele Fragen«, erwidert er und zwinkert mir zu. Ich glaube, er versucht zu flirten. Mit den dunklen Haaren und der Schönlingsattitüde ist er null mein Typ, ich mag eher ruhige, sanfte Männer. Noch dazu ist er tabu, weil er zu den Studenten gehört und mein Pflichtbewusstsein dem Job gegenüber an erster Stelle steht. Trotzdem amüsieren mich seine Flirtversuche, und ich beantworte ihm jede Frage geduldig und freundlich, ohne dabei zurückzuflirten.

Beim Ausladen der Koffer bemerke ich, dass Kai mit seinen Kommilitoninnen ebenfalls auf diese lockere, charmante Weise spricht. Anscheinend ist das einfach seine Art.

Kurz vor dem Abendessen werden die letzten Studierenden vom Flughafen zum Hafen gebracht. Diesmal sitzt Jules neben mir in der ersten Reihe und lehnt sich erschöpft gegen die Lehne. Der Bus brettert über den Highway, Hitze steht im Innenraum, und ich sehne mich nach frischer Luft. Außerdem habe ich Hunger, weil ich mittags nur einen Salat am Flughafen hatte.

»Ich kann es kaum erwarten, eine kalte Dusche zu nehmen«, sagt Jules mit geschlossenen Augen.

»Abendessen ist mir gerade wichtiger.«

»Oder ein Erdbeereis.« Er seufzt. »Es gibt nichts Besseres.«

»Doch, Burger mit Pommes. Oder Pasta. Oh, nicht zu vergessen Pizza!« Je mehr ich darüber nachdenke, desto größer wird mein Hunger.

»Das sind alles nur ungesunde Sachen, Sunshine.«

»Ich bitte dich, ich hatte zum Mittag nur einen Salat, und das ist Stunden her. Es fehlt nicht mehr viel, bis ich so verzweifelt bin, einen McDonald’s auszurauben.«

Seinem Mund entringt sich ein Geräusch. Eine Mischung aus Grunzen und Schnauben und … Lachen? Ich fahre zu ihm herum. »Du hast über einen Witz von mir gelacht!« Obwohl mir noch immer seine Unhöflichkeit von heute Morgen nachhängt, fühlt es sich an wie ein Triumph.

»Ganz sicher nicht.«

»Ich habe es genau gehört. Du fandest mich witzig, also hasst du mich anscheinend doch nicht so sehr.«

Er dreht sich ebenfalls in meine Richtung, bis wir einander direkt anschauen können. Ein ungewohntes Kribbeln breitet sich bei seinem intensiven Blick in mir aus.

»Warum sollte ich dich hassen?«

»Wegen der Sache mit dem Tomatensaft.«

»Das T-Shirt hatte einen emotionalen Wert für mich, doch du hast es nicht absichtlich versaut. Du redest ziemlich viel, und deine gute Laune geht mir manchmal auf die Nerven, aber ich hasse dich nicht.«

Seine Worte sollten mich nicht freuen. Schließlich hat er mir gerade offenbart, dass er mich nervig findet! Na ja, zumindest manchmal, aber die Hauptsache ist, er hasst mich nicht. Wärme kribbelt in meinem Bauch, die sich verdächtig nach Hoffnung anfühlt. Vielleicht wird unser Zusammenleben doch nicht in einer Katastrophe enden, und wir werden uns noch an die Art des jeweils anderen gewöhnen.

»Du bist immer so abweisend zu mir, deshalb dachte ich, du könntest mich nicht leiden«, erkläre ich. »Auch heute Morgen warst du ziemlich ruppig zu mir.«

»Entschuldige, ich bin ein Morgenmuffel. Ich rede einfach nicht so gerne und halte mich lieber im Hintergrund. Hat nichts mit dir zu tun, Sunshine.«

»Du weißt, dass ich Elisa heiße?«

»Ja, weiß ich«, sagt er, bevor seine Mundwinkel minimal zucken und er betont hinzufügt: »Sunshine.«

Ich verdrehe lächelnd die Augen und lehne mich wieder im Sitz zurück. Wenig später fährt der Bus auf den Pier, an dem die Sapient Sailor liegt. Mittlerweile habe ich die großen Augen und offen stehenden Münder der Studierenden so oft gesehen, dass ich mich nicht wie bei den anderen Fahrten zu ihnen umdrehe.

Stattdessen geistert mir das kurze Gespräch mit Jules im Kopf umher. Er ist ruhig, eher zurückgezogen, und mein Gefühl sagt mir, hinter der grummeligen Fassade steckt ein sanfter Mann.

Entsetzt gelange ich zu einer Erkenntnis.

Er ist genau mein Typ.

Kapitel 5

Jules

Elisa hat beim Abendessen ihre Pasta bekommen. Anschließend wurde sie von Professorin Roth für den Empfang auf dem Icebreaker-Abend eingeteilt, der für die Studierenden auf dem Horizontdeck stattfindet. Ich fühle mich ein bisschen schlecht, weil ich bereits Feierabend bekommen habe. Aber nur so lange, bis ich endlich unter die wohlverdiente kalte Dusche gestiegen bin. Obwohl ich den Großteil des Tages in der klimatisierten Ankunftshalle des Flughafens verbracht habe, setzen mir die hohen Temperaturen zu. Ich habe Schwitzen schon immer gehasst, komme dafür aber gut mit Kälte klar. Hoffentlich gewöhne ich mich in den nächsten Tagen schnell an das Klima. Wenn ich zurück nach Deutschland komme, wird der Winter fast vorbei sein.

Mit einem Handtuch um die Hüften geschlungen, wühle ich in meinem Koffer nach einer frischen Unterhose, Shorts und T-Shirt. Dabei fällt mir das letzte Erinnerungsstück an Jana in die Hände, das Elisa versaut hat.

Meine Finger krampfen sich um den weißen Stoff, und ich spüre, wie meine Kehle zunehmend enger wird. Den Tag über hatte ich so viel zu tun, dass ich nicht oft über die Trennung nachgedacht habe. Jetzt holt mich alles auf einen Schlag ein. Der Schmerz, das Verlustgefühl, das große Fragezeichen, das sich statt der Vorstellung, gemeinsam mit Jana alt zu werden, in meiner Zukunft gebildet hat. Seit wir achtzehn waren, haben wir von einem Haus mit Garten, einem Dackel und irgendwann Kindern geträumt. Selbst wenn wir in den letzten Jahren nichts davon aktiv in Angriff genommen haben, war das immer der Plan gewesen.

Ich hebe das T-Shirt an meine Nase und vergrabe das Gesicht darin, als könnte ich Janas Duft noch riechen. Dabei ist das albern, sie hat es sich ein paarmal als Schlafshirt aus meiner Schrankhälfte gemopst, aber das ist ewig her. Statt Rosen habe ich den Duft von Tomaten in der Nase. Statt mich an die Art, wie Jana meinen Spitznamen »Juli« ausspricht, ihr typisches Zungenschnalzen oder ihr blondes Haar zu erinnern, sehe ich Elisa vor mir. Ihre großen braunen Augen und das breite Lächeln. Als mir klar wird, wie schnell sich ihr Bild vor Janas schiebt, fällt mir das Atmen plötzlich schwer.

Nein, nein, nein. Ich springe auf und laufe ins Bad. Dort halte ich das Shirt unter den Wasserhahn. Probiere diesmal mit Seife, den Fleck zu entfernen. Rubble so verzweifelt an der roten Stelle, dass ich am liebsten heulen möchte. Oder schreien. Vielleicht auch beides, am besten gleichzeitig.

»Was machst du da?«, erklingt auf einmal Elisas Stimme hinter mir.

Ich zucke so erschrocken zusammen, dass ich mit der Hüfte gegen das Waschbecken stoße und das Handtuch rutscht. Den Schmerz nehme ich kaum wahr, bin nur darauf bedacht, das Handtuch zu retten, um nicht vor Elisa blankzuziehen.

Sie starrt auf meinen Schritt, offenbar von derselben Befürchtung geplagt. Obwohl sie nicht ängstlich aussieht.

»Was machst du hier?« Ich habe sie nicht hereinkommen hören, ich war wohl zu abgelenkt dafür. 

»Ich habe alle farbigen Armbänder an die Studierenden verteilt und durfte den Icebreaker-Abend endlich verlassen. Eine Party zu betreuen, statt mitzufeiern, macht echt keinen Spaß. Aber zurück zu dir, was wird das, wenn es fertig ist?« Sie kommt einen Schritt auf mich zu und steht in dem engen Bad jetzt direkt hinter mir. Ihre Haarsträhnen kitzeln an meinen nackten Schultern. »Das ist dein T-Shirt aus dem Flugzeug!«

»Ich …« Hatte einen Rückfall, müsste ich den Satz eigentlich zu Ende führen. Ich habe meine verdammte Ex-Freundin vermisst, oder nein, eher das gemeinsame Leben, das wir hätten haben können, sodass ich wie ein Irrer das versaute T-Shirt geschrubbt habe. »Ich habe noch mal versucht, den Fleck zu entfernen«, sage ich stattdessen.

Elisa verzieht mitleidig das Gesicht. »Es tut mir immer noch so leid. Vorhin hast du gemeint, es hat einen emotionalen Wert für dich. Ich habe Fleckenentferner in der Kosmetiktasche, vielleicht funktioniert es damit? Moment.« 

Sie geht in die Knie. Direkt. Neben. Mir. Nur mit dem umgebundenen Handtuch fühle ich mich auf einmal nackt. Es ist verdammt merkwürdig, dass Elisas Kopf auf Höhe meines Schritts ist, ihre Haarsträhnen durch den wenigen Platz beinahe den Stoff berühren. Ich würde gerne zurückweichen, aber die Wand ist direkt hinter mir. Das Bad ist eindeutig nicht groß genug für zwei Personen.

Elisa kramt in ihrer sonnengelben Tasche herum, bis sie einen triumphierenden Laut ausstößt und sich endlich wieder aufrichtet. Sie hält mir eine längliche Tube entgegen. »Versuch’s mal damit.«

Ich nicke nur, weil mein Körper nach wie vor in Alarmbereitschaft ist und ich meinen Stimmbändern nicht traue.

Sie schiebt sich an mir vorbei, streift mit ihrer Schulter dabei meinen Oberkörper. Vor der Badtür hält sie inne und dreht sich zu mir um. Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum, bevor sie sich einen Ruck gibt.

»Warum bedeutet dir das T-Shirt so viel?«

Die Frage reißt mich aus meiner Starre und beschert mir einen Schwall Erinnerungen. Wie Jana jeden Morgen schüchtern neben dem Schulhoftor auf mich gewartet hat, unser traditioneller Filmabend am Freitag mit Nachos vom Kino nebenan und gemeinsam in der Mensa zu Mittag essen. Weil wir uns nach dem Abitur den Traum von derselben Universität erfüllt haben. Wir waren in derselben Klasse, sind zusammen erwachsen geworden und gemeinsam von zu Hause ausgezogen. Wir haben alles zusammen gemacht.

Meistens das, was Jana wollte, wird mir bewusst. Trotzdem fühle ich mich seit der Trennung wie verloren. Ich habe keine Ahnung, was ich vom Leben will, wenn es keine Reihenhaushälfte mit Garten, keinen SUV und keine kleinen Jana- und Jules-Kopien mehr gibt.

Ich stampfe durch das Bad auf Elisa zu. »Das geht dich nichts an«, sage ich und merke selbst, dass ich zu heftig reagiere. Doch ich bin wütend. Nicht auf Elisa, sondern auf mich selbst. Weil ich mich von ihrer Nähe habe aus dem Konzept bringen lassen.

Ich schließe die Tür vor ihrer Nase.

Ihr enttäuschter Blick geht mir nicht mehr aus dem Kopf, während ich den Fleckenentferner einwirken lasse.

Aber der Fleck lässt sich nicht entfernen. Er bleibt.

Als müsste Jana aus der Ferne ein Statement setzen.

Knurrend knülle ich das Shirt zusammen und stopfe es in den Mülleimer.

Ich schwöre mir, es nicht wieder herauszuholen.

Kapitel 6

Elisa

Ich schlinge beim Frühstück hibbelig meinen Toast hinunter und trinke eine Tasse Waldbeerentee in Rekordzeit. Heute legen wir ab und beginnen die große Reise. In einer Viertelstunde müssen Jules und ich am Theater sein, um die Bordkarten der Studierenden zu scannen. Ich kann es kaum erwarten, danach auf das Horizontdeck zu kommen. Dort werden wir Vicky beim Segeln unterstützen, um den Studierenden ihre Aufgaben für die kommenden Monate zu demonstrieren. Gesegelt bin ich bisher noch nie, deswegen bin ich umso gespannter darauf.

Nachdem Jules mich gestern Abend aus dem Bad geworfen hat, sind wir schweigend ins Bett gegangen. Der größte Jetlag ist vorbei, langsam gewöhnt sich mein Körper an die neue Zeitzone. Genauso schnell habe ich mich an Jules’ Geräusche beim Schlafen gewöhnt. An das leise Seufzen und seine tiefen Atemzüge. Sie wirken beruhigend auf mich, sodass ich beim Lauschen eingeschlafen bin.

Keine Ahnung, was das über mich aussagt.

Ich habe gespürt, dass ihn irgendetwas beschäftigt hat. Bevor ich ihn im Bad angesprochen habe, hat er traurig gewirkt und fast schon verzweifelt sein T-Shirt zu retten versucht. Doch sobald ich ihm die persönliche Frage gestellt habe, hat er dichtgemacht und mich im wahrsten Sinne des Wortes ausgesperrt. Seine Reaktion enttäuscht mich, weil er mich auch in einem anderen Tonfall hätte in die Schranken weisen können. Aber was soll’s, davon lasse ich mir meine Laune nicht verderben.

Als ich nach dem Frühstück zum Theater komme, ist Jules bereits dort. Er lehnt neben der zweiflügeligen Tür an der Wand und wirkt in sich gekehrt.

»Hey«, grüße ich ihn und stelle mich zu ihm. Als ich aufgebrochen bin, hat er noch gedöst. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, weil er sich im Anschluss auf leeren Magen körperlich betätigen wird. Vorhin habe ich das Thema kurz angesprochen, aber er hat sich nur grummelnd im Bett umgedreht. Mehr kann ich nicht machen, und er wird schon wissen, was er tut.

»Morgen, hast du gut geschlafen?«

Meine Augen weiten sich. Er stellt mir zur Abwechslung mal eine nette Frage? »Ja, wie ein Stein. Ich war nach dem anstrengenden Tag total fertig.«

»Ging mir auch so. Hör mal, es tut mir leid, dass ich dich gestern so angefahren habe.«

Wieder überrascht er mich, und ich atme tief durch, bevor ich antworte. »Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du mir Dinge nicht erzählen möchtest, aber dein Tonfall war nicht besonders nett. Ganz im Gegenteil, du hast mir in den letzten beiden Tagen mehrfach das Gefühl gegeben, mich nicht ausstehen zu können. Wir müssen während unseres Zusammenwohnens nicht die besten Freunde werden, aber ich würde mir wünschen, dass wir einander höflich und respektvoll behandeln. Ist das für dich möglich?«

Jetzt ist es Jules, der überrascht wirkt.

***

Jules

Ich habe erwartet, Elisa würde mir mein Verhalten nachtragen oder wäre sauer auf mich. Aber sie wirkt so unerschütterlich ruhig wie immer. Das kenne ich von Jana nicht. Sie hat mich wegen jeder Kleinigkeit angeschrien, und immer war alles mein Fehler.

»Ich verspreche, in Zukunft darauf zu achten, mich nicht mehr im Ton zu vergreifen.«

Elisa lächelt. »Danke.«

Und damit ist das Thema abgehakt. Einfach so. Kein tagelanger Streit, keine Vorwürfe, kein Bestrafen durch Ignorieren.

Aus einem Fach in der Wand hole ich die Scangeräte und gebe Elisa die kurze Einweisung weiter, die ich gestern von Professor Waldmann erhalten habe. Danach strömen die ersten Studierenden in den Gang, und wir erfüllen schweigend unsere Aufgabe. Jeder muss uns seine Bordkarte zeigen, bevor er das Theater betreten darf. So wird die Vollzähligkeit überprüft, da das Schiff nur auslaufen kann, sobald jeder Passagier eine Sicherheitseinweisung absolviert hat. Unsere haben wir gestern auf dem Horizontdeck bekommen.

Eine halbe Stunde später empfängt mich auf dem Oberdeck eine warme, salzige Brise, die vom offenen Meer herüberweht. Eine Möwe segelt durch mein Sichtfeld. Sie zieht elegant einen Kreis am Mast vorbei und stürzt sich hinter der Reling ins Hafenbecken.

Ein Pfiff hallt über das Deck, und wir drehen uns um. Vicky steht auf der freien Fläche zwischen dem zweiten und dritten Mast und winkt uns herbei.

»Guten Morgen, ihr beiden«, grüßt sie uns. Mit den blonden Haaren und den scharfen Kanten im Gesicht erinnert sie mich ein bisschen an Jana.

Hinter ihr stehen mehrere Mitglieder der Crew, die ich an ihren blauen Uniformen erkenne.