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Philip José Farmer

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Beschreibung

Drei Exorzismen

Herald Childe, Privatdetektiv in Los Angeles, wird eines Tages ein brutales Snuff-Video zugespielt, das den Lustmord an seinem Partner Matthew Colben zeigt. Doch es ist nicht der grausame Mord an sich, der Childe und die Polizei verstört, sondern die Tatsache, dass die Täter nicht menschlich zu sein scheinen …

In drei Romanen, von ihm „Exorzismen“ genannt, führt Philip José Farmer seine Leser in eine Welt, die der unseren zwar ähnlich ist, aber sehr viel dunkler und bizarrer. Dieser Sammelband enthält die Romane „Die Verkörperung des Bösen“, „Außer Atem“ und „Fleisch“.

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Seitenzahl: 921

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PHILIP JOSÉ FARMER

FLEISCH

Drei Romane in einem Band

Das Buch

Herald Childe, Privatdetektiv in Los Angeles, wird eines Tages ein brutales Snuff-Video zugespielt, das den Lustmord an seinem Partner Matthew Colben zeigt. Doch es ist nicht der grausame Mord an sich, der Childe und die Polizei verstört, sondern die Tatsache, dass die Täter nicht menschlich zu sein scheinen …

In drei Romanen, von ihm »Exorzismen« genannt, führt Philip José Farmer seine Leser in eine Welt, die der unseren zwar ähnlich ist, aber sehr viel dunkler und bizarrer. Dieser Sammelband enthält die Romane »Die Verkörperung des Bösen«, »Außer Atem« und »Fleisch«.

Der Autor

Philip José Farmer wurde am 26. Januar 1918 in North Terre Haute, Indiana, geboren. Die Familie siedelte nach Illinois über, wo Philips Vater einen kleinen Betrieb hatte. Als dieser Mitte der 1930er Jahre pleiteging, musste Philip sein Collegestudium abbrechen und seine Familie mit allerhand Jobs finanziell unterstützen. Er studierte später neben dem Beruf und machte 1950 seinen Bachelor of Arts in Englisch. Danach arbeitete er als technischer Journalist für verschiedene Unternehmen, ehe er 1952 mit seiner Erzählung »Die Liebenden« schlagartig berühmt wurde. Die Story, die mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, war zuvor von renommierten SF-Magazinen abgelehnt worden, weil sie von einer sexuellen Beziehung zwischen einem Menschen und einem Alien handelt, was im prüden Amerika der 1950er Jahre für einen Skandal sorgte. Mit Romanen wie »Fleisch« festigte Farmer sein Image als Tabubrecher; Reihen wie der Flusswelt-Zyklus, für die er seinen zweiten Hugo Award gewann, oder die »Welt der tausend Ebenen«-Saga befassen sich mit neomythologischen Themen. Philip José Farmer starb am 25. Februar 2009 in seinem Heim in Peoria, Illinois.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgaben

THE IMAGE OF THE BEAST

BLOWN

FLESH

Aus dem Amerikanischen von Ronald M. Hahn

Überarbeitete Neuausgabe

The Image of the Beast: Copyright © 1968 by Philip José Farmer

Blown: Copyright © 1969 by Philip José Farmer

Flesh: Copyright © 1968 by Philip José Farmer

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

INHALT

Ein Exorzismus

Erstes Ritual – Die Verkörperung des Bösen

Zweites Ritual – Außer Atem

ERSTES RITUAL

1. Kapitel

Verdorbene, geronnene Milch. Der Qualm stieg zum Licht empor. Rauch und Licht verbanden sich und wurden zu saurer Milch. Die Schwaden teilten sich und wurden über ihren Köpfen wieder zu Qualm und Dunkelheit. Auch unter ihnen.

Draußen herrschte der Smog, aber er war auch drinnen.

Verdorben und sauer.

Der saure Geruch und der Geschmack waren weder die Folge des Smogs, der seine Ausläufer in das mit einer Klimaanlage versehene Gebäude gedrückt hatte, noch stammte er vom Tabaksqualm im Innern des Raums. Er kam aus der Erinnerung an das, was Childe am Morgen gesehen hatte, und der Erwartung an das, was er in den nächsten Minuten sehen würde.

Der Filmraum der Polizei von Los Angeles war dunkler, als Herald Childe ihn je erlebt hatte. Der Lichtstrahl aus dem Projektorraum neigte im allgemeinen dazu, das grau zu machen, was normalerweise schwarz gewesen wäre. Doch der Zigarren- und Zigarettenqualm, der Smog und die Stimmung der Zuschauer schwärzte alles ein. Sogar der Silberschimmer der Leinwand schien die Helligkeit aufzusaugen, statt sie auf die Zuschauer zu werfen.

Wo der Strahl über ihren Köpfen auf den Tabaksqualm fiel, bildete sich verdorbene, saure Milch. Jedenfalls in Herald Childes Vorstellung. So kam es ihm einfach vor. Der schlimmste Smog der Geschichte plagte Los Angeles und das Orange County. Seit einem Tag, einer Nacht, einem weiteren Tag und einer weiteren Nacht hatte sich nicht der kleinste Wind geregt. Am dritten Tag hatte es so ausgesehen, als würde dieser Zustand ewig währen.

Der Smog. Jetzt konnte er ihn vergessen.

Sein Partner (möglicherweise sein Expartner) war auf der Leinwand zu sehen und streckte alle viere von sich. Die weinroten Vorhänge hinter ihm leuchteten, und Matthew Colbens Gesicht, das normalerweise so rot war wie ein zur Hälfte mit Wasser verdünnter Chianti, wies die Farbe eines transparenten, mit Wein gefüllten Plastikbeutels auf.

Die Kamera machte einen Schwenk, um den Rest seines Körpers und einen Teil des Raumes zu zeigen. Er lag flach auf dem Rücken und war nackt. Die Arme waren an seinem Körper festgebunden, und seine ebenfalls gefesselten Beine bildeten ein V. Sein Penis lag wie ein dicker, betrunkener Wurm auf seinem linken Schenkel.

Der Tisch schien nur für diesen Zweck konstruiert worden zu sein: um Männer mit gespreizten Beinen auf ihm festzubinden, damit sich andere zwischen ihre Schenkel stellen konnten.

Man sah nicht mehr als den Y-förmigen hölzernen Tisch, einen dicken, weinroten Teppich und weinrote Vorhänge. Die Kamera schwenkte herum, um die Vorhänge aufzunehmen, die die Wände bedeckten, dann fuhr sie zurück und hoch, um Matthew Colben in seiner Gänze zu zeigen, so, wie sie eine an der Decke hängende Fliege sehen würde. Colbens Kopf lag auf einem dunklen Kissen. Er schaute genau in die Kamera und lächelte blöde. Es schien ihm nichts auszumachen, dass er gefesselt und hilflos war.

Die vorhergehenden Szenen hatten gezeigt, warum es ihm nichts ausmachte. Sie hatten demonstriert, wie Colben sich aufgrund der Konditionierung von impotenter Furcht zu starrer Erwartung verändert hatte.

Childe, der den gesamten Film schon einmal gesehen hatte, spürte, wie seine Eingeweide sich umschlangen und umeinanderknoteten, wie ihre Enden sich um sein Rückgrat wickelten und daran zerrten, bis sie sich gegenseitig erstickten.

Colben grinste, und Childe murmelte: »Du blöder Hund! Du armer, blöder Hund!«

Der Mann im Sitz zu seiner Rechten änderte seine Position und sagte: »Was haben Sie gesagt?«

»Nichts, Commissioner.«

Doch Childes Penis fühlte sich an, als werde er in seinen Bauch hineingesaugt und zöge die Hoden hinter sich her.

Der Vorhang teilte sich, und die Kamera ging näher heran, um ein großes, schwarzumrandetes dunkelblaues Auge mit langen Wimpern zu zeigen. Dann fuhr sie an einer schmalen, geraden Nase und breiten, vollen, hellroten Lippen vorbei nach unten. Eine rosarote Zunge zeigte sich zwischen unnatürlich weißen und ebenmäßigen Zähnen. Die Zunge fuhr ein paar Mal vor und zurück, hinterließ ein Tröpfchen Speichel auf dem Kinn und verschwand dann wieder.

Die Kamera fuhr zurück. Der Vorhang wurde aufgerissen, eine Frau trat ein. Ihr glänzend schwarzes Haar war glatt zurückgekämmt und fiel bis auf ihre Taille. Ihr Gesicht war um die Augen mit grellen Schönheitspflästerchen, Rouge, Puder und grünem, rotem, schwarzem und blauem Make-up bemalt. Ein Wirbel aus Puderblau, künstlichen Wimpern und ein winziger goldener Nasenring zierten ihr Gesicht. Ihr grünes Gewand war am Hals und an der Hüfte verknotet. Es war so dünn, dass sie ebenso gut hätte nackt sein können. Dennoch entknotete sie die Kordeln an Hals und Hüfte, streifte das Gewand ab und zeigte, dass sie trotz alledem noch nackter wirken konnte.

Die Kamera fuhr hinunter und näher heran. Die Mulde an ihrem Halsansatz war tief, und die darunterliegenden Knochen wirkten sehr zart. Ihre Brüste waren zwar voll, aber nicht groß; sie liefen leicht konisch zu, waren aufgerichtet und hatten lange, dünne, fast spitze Warzen. Ihre Brüste ruhten auf einem großen Brustkorb. Ihr Bauch sank nach innen; auf Höhe der Hüften war sie mager, doch ihre Knochen standen nur ein kleines bisschen vor. Die Kamera umrundete sie – oder sie drehte sich. Childe konnte es nicht erkennen, weil die Kamera ihr so nahe war und er keinen Bezugspunkt hatte. Ihre Hinterbacken wirkten wie große, weichgekochte Eier.

Die Kamera umkreiste sie, zeigte ihre schmale Taille und ihre gerundeten Hüften und machte dann einen Schwenk zur Decke – sie war mit einem vorhangähnlichen Material von der Farbe eines geplatzten Blutgefäßes im Auge eines Säufers bedeckt. Die Kamera linste auf ihre weißen Schenkel. Licht fiel in die Mulde zwischen ihren Beinen – sie schien die Schenkel also gespreizt zu haben –; man sah das kleine braune Auge ihres Afters und den Rand ihrer Vaginaöffnung. Das Haar darüber war blond, was bedeutete, dass sie entweder ihr Haupt- oder ihr Schamhaar gefärbt hatte.

Die Kamera, immer noch nach oben gerichtet, fuhr zwischen ihre Beine, die nun so aussahen wie die gewaltigen Gliedmaßen einer Statue, dann fuhr sie langsam nach oben. Sie zielte beim Nähergehen direkt auf ihre Schambehaarung. Sie war zum Teil von einem dreieckigen, angeklebten Stück Stoff bedeckt. Childe wusste nicht, warum. Schamgefühl war bestimmt nicht der Grund.

Er hatte diese Aufnahmen zwar schon einmal gesehen und wusste, was gleich passieren würde, aber er spürte, dass er sich trotzdem versteifte. Beim ersten Mal war er – wie auch die anderen im Raum Anwesenden – aufgesprungen; manch einer hatte geflucht, und einer hatte aufgeschrien.

Das Stück Stoff lag eng an ihren Genitalien, und eine Veränderung in der Beleuchtung enthüllte plötzlich, dass es halb durchsichtig war. Ihr Schamhaar formte ein dunkles Dreieck, und der Stoff war so tief in den Schlitz gezogen, dass man sah, wie eng er anlag.

Abrupt – Childe sprang erneut auf, obwohl er wusste, was nun kam – zog sich der Stoff noch tiefer in sie hinein, als hätte etwas im Innern der Vagina die Lippen gespreizt. Dann drückte etwas gegen den Stoff, etwas, das nur aus dem Innern der Frau kommen konnte. Es beulte den Stoff aus; dieser erbebte, als schlüge eine winzige Faust oder ein Kopf dagegen; dann wurde die Ausbuchtung wieder glatt, und der Stoff bewegte sich nicht mehr.

Zwei Plätze von Childe entfernt, sagte der Polizeichef: »Was, zum Teufel, könnte das sein?« Er blies den Rauch seiner Zigarre aus und fing dann an zu husten. Auch Childe hustete.

»Es könnte irgendetwas Mechanisches in ihrer Möse stecken«, sagte Childe. »Oder es könnte …« Er ließ seine Worte, ebenso wie seine Gedanken, im Nichts enden. Soweit er wusste, gab es keinen Hermaphroditen, dessen Penis im Innern der Vagina steckte. Jedenfalls zeigte sich kein nach außen drängender Penis; es sah aus wie eine unabhängige Entität – beziehungsweise erzeugte es in einem das Gefühl –, und ganz sicher hatte das Ding nicht nur an einer Stelle gegen den Stoff geschlagen.

Jetzt schwenkte die Kamera auf einer Höhe von wenigen Zentimetern und ein paar Schritte von Colben entfernt über ihn hinweg. Sie zeigte seine aus dieser Nähe gewaltig wirkenden Füße, seine mit dicken Muskeln versehenen, behaarten Ober- und Unterschenkel, die gespreizt auf dem Y-förmigen Tisch lagen, die großen Hoden und den dicken, wurmartigen Penis, der nun nicht mehr an seinem Schenkel hing, sondern allmählich größer wurde und den geschwollenen roten Kopf aufrichtete. Colben konnte die eingetretene Frau zwar nicht gesehen haben, aber offenbar war er so konditioniert, dass er wusste, dass sie innerhalb einer bestimmten Zeit nach der Fesselung an den Tisch treten würde. Sein Penis erwachte zum Leben, als hätten seine Ohren – die in ihm begraben waren wie die einer Schlange – sie gehört, oder als sei sein Eichelschlitz – wie die Nasenlöcher einer Viper – ein auf Körperwärme ansprechender Detektor, der wusste, dass sie sich im Raum aufhielt.

Die Kamera wechselte zur Seite, damit sie mit dem Profil von Matthew Colbens Kopf anfangen konnte: mit dem dichten, krausen, grauschwarzen Haar, den großen, roten Ohren, der glatten Stirn, der großen, gebogenen Nase, den dünnen Lippen, den massigen Kieferknochen, dem wie ein Schmiedehammerkopf wirkenden dicken und schweren Kinn, dem gewaltigen Brustkorb, der durch übermäßigen Steak- und Bierkonsum aufgeblähten Wampe und dem Abhang, der zu seinem jetzt steif, hart und aufrecht stehenden Penis hinunterführte. Die Kamera ging näher heran und machte eine Großaufnahme: Colbens Adern wurden zu Seilen, die ins Taljereep der Lust verliefen (Childe konnte nicht anders, er musste in solchen Bildern denken; er kam unweigerlich immer wieder auf derlei Vorstellungen zurück). Die Eichel, voll entblößt, glitzerte mit Gleitflüssigkeit.

Die Kamera fuhr jetzt nach oben, entfernte sich und nahm eine Position ein, in der man sowohl den Mann als auch die Frau sehen konnte. Sie kam langsam und mit schwingenden Hüften näher, ging auf Colben zu und sagte etwas. Ihre Lippen bewegten sich, aber man hörte nichts. Auch der Lippenleser der Polizei hatte nicht herausfinden können, was sie sagte, da ihr Kopf zu weit nach vorn gebeugt war. Auch Colben sagte etwas, aber seine Worte waren aus dem gleichen Grund unverständlich.

Die Frau beugte sich vor und ließ die linke Brust soweit nach unten sinken, dass Colben sie in den Mund nehmen konnte. Er lutschte eine Weile daran herum, dann zog die Frau sie zurück. Die Kamera kam näher und zeigte ihre feuchte und erigierte Brustwarze. Sie küsste Colben auf den Mund. Die Kamera nahm sie von der Seite auf und zeigte sie dabei, wie sie leicht den Kopf anhob, damit sie zusehen konnte, wie ihre Zunge in Colbens Mund vorstieß und wieder zurückgezogen wurde. Dann küsste und leckte sie seinen Hals und seine Brustwarzen und benetzte seinen runden Bauch mit Speichel. Langsam arbeitete sie sich seinem Schamhaar entgegen; sie leckte es, tippte seinen Penis einige Male sanft mit der Zunge an, küsste ihn mehrmals, und ließ die Zunge vorschnellen, um die Spitze seiner Eichel zu berühren. Gleichzeitig hielt sie seinen Penis an der Wurzel fest. Dann ging sie um einen Ausläufer des Y herum, trat zwischen Colbens Beine und ließ seinen Penis tief in den Mund gleiten.

An dieser Stelle begann ein blechern klingendes Piano jenes Typs, der vor Jahrzehnten in den Bars oder Stummfilmtheatern gespielt hatte, mit Dvořáks Humoreske. Die Kamera wechselte in eine Position über Colbens Gesicht; er hatte die Augen geschlossen und sah ekstatisch aus – beziehungsweise idiotisch glücklich.

Die Frau sprach zum ersten Mal.

»Du musst mir nur sagen, wann du kommst, mein Schatz. So zwanzig oder dreißig Sekunden vorher, ja? Ich habe eine hübsche Überraschung für dich. Etwas Neues.«

Die Polizei hatte die Stimme aufgenommen, auf ein Oszilloskop überspielt und untersucht. Doch sie war verzerrt worden. Das war auch der Grund, weswegen sie so hohl und zittrig klang.

»Nicht so schnell, Baby«, sagte Colben. »Lass dir Zeit. Mach's so wie beim letzten Mal. Das war der tollste Orgasmus, den ich je im Leben hatte. Du bist jetzt ein bisschen zu schnell. Und schieb mir nicht wieder die Finger in den Arsch wie beim letzten Mal. Sonst geht mir sofort einer flöten.«

Als sie die Szene zum ersten Mal gesehen hatten, hatten ein paar der Cops gewiehert. Jetzt lachte niemand mehr. Man konnte in den Reihen der Zuschauer eine unhörbare, doch deutlich spürbare Regung registrieren. Der Qualm schien hart und brüchig zu werden; die verdorbene Milch im Licht wurde noch saurer. Der Polizeichef holte so tief Luft, dass in seiner Kehle ein Rasseln hörbar wurde, dann fing er an zu husten.

Das Piano spielte nun die Ouvertüre zu Wilhelm Tell. Die blecherne Musik war absolut unpassend, doch es war gerade die Ungereimtheit, die sie so grauenhaft machte.

Die Frau hob den Kopf und sagte: »Kommst du gleich, mon petit?«

Colben keuchte: »Oh, Gott; gleich!«

Die Frau schaute in die Kamera und lächelte. Ihr Körper schien zu verblassen, die darunterliegenden Knochen schimmerten matt und wolkig. Dann war ihr Leib umwölkt, ihr Schädel hart und hell. Und dann verblasste der Schädel, das Fleisch trat wieder an seine Stelle.

Die Frau schielte lüstern in die Kamera und senkte erneut den Kopf, doch diesmal schritt sie um den Ausläufer des Y und ging vor dem Tisch in die Knie, wobei ihr die Kamera folgte. An einem der Tischbeine war ein kleines Bord befestigt. Sie nahm etwas an sich, das dort lag; das Licht wurde heller, die Kamera ging noch näher heran.

Die Frau hielt zwei Gebisshälften in der Hand. Sie sahen so aus, als bestünden sie aus Eisen; die Zähne waren scharf wie Rasierklingen und spitz wie die eines Tigers.

Sie lächelte, legte das Eisengebiss auf das Bord und benutzte beide Hände, um ihr Gebiss aus dem Mund zu nehmen. Sie sah jetzt dreißig Jahre älter aus. Sie legte das weiße Gebiss auf das Bord und schob sich das Eisengebiss in den Mund. Sie schob die Spitze eines Zeigefingers zwischen den Ober- und Unterkiefer und biss vorsichtig zu. Dann zog sie den Finger aus dem Mund und hielt ihn so, dass die Kamera ihn aufnehmen konnte. Hellrotes Blut quoll aus der Wunde.

Sie stand auf, fuhr mit der Schnittstelle an der dicken Eichel von Colbens Penis entlang und beugte sich dann vor, um das Blut abzulecken. Colben sagte stöhnend: »Oh, Gott. – Mir kommt's gleich!«

Ihre Lippen schlossen sich um seine Eichel und saugten sie in sich hinein. Colben zuckte und stöhnte. Die Kamera zeigte für eine Sekunde sein Gesicht und ging dann wieder neben der Frau in Stellung.

Sie hob rasch den Kopf. Colbens Penis zuckte und verspritzte eine dicke, weiße Flüssigkeit. Sie öffnete weit den Mund, beugte sich schnell wieder über ihn und biss zu. Ihre Kiefermuskeln spannten sich; ihre Halsmuskeln wurden zu Tauen.

Colben kreischte.

Die Kamera fuhr zurück, um die Vorhänge zu zeigen, durch die die Frau eingetreten war. Fanfarenklänge ertönten. In der Ferne donnerte eine Kanone. Das Piano spielte Tschaikowskis Ouvertüre 1812.

Als die Musik verhallte, schmetterten erneut die Fanfaren. Die Vorhänge teilten sich blitzschnell; zwei ausgestreckte Arme zogen sie auseinander. Ein Mann trat ein, postierte einen Moment und hob den rechten Arm, bis der schwarze Umhang sein Gesicht halb verhüllte. Sein Haar war schwarz, glänzte wie Kunstleder und war in der Mitte gescheitelt. Seine Stirn und seine Nase waren so weiß wie der Bauch eines Haies. Seine Brauen waren dick und schwarz und über der Nase zusammengewachsen. Er hatte große, schwarze Augen.

Er war so gekleidet, als wolle er zu einer Filmpremiere. Er trug einen Abendanzug, ein gestärktes weißes Hemd mit steifer Krawatte, ein diagonales rotes Band über der Brust und einen Orden auf dem Rockaufschlag.

Er trug blaue Segeltuchschuhe.

Schon wieder ein komisches Element, das die Situation nur noch grauenhafter machte.

Der Mann ließ den Umhang sinken. Er hatte eine große Hakennase, einen dicken, schwarzen Schnauzbart, der am Ende seiner aufgeworfenen, geschminkten Lippen nach unten geknickt war, und ein vorstehendes, gespaltenes Kinn.

Er wieherte, und dieses bewusst abgedroschene Element war noch grauenhafter als seine Segeltuchschuhe. Das Lachen war eine Parodie auf sämtliche hämischen Lacher, die alle Monster und Draculas in Horrorfilmen ausgestoßen hatten.

Der Arm fuhr wieder hoch, und der Mann – das Gesicht hinter dem Umhang verborgen – eilte auf den Tisch zu. Colben schrie noch immer. Die Frau sprang rasch beiseite und ließ den Mann zwischen Colbens Beine.

Der Dracula (so bezeichnete Childe ihn im Geiste) wieherte erneut und enthüllte zwei offensichtlich falsche Fangzähne, die lang und spitz waren. Dann beugte er sich vor und öffnete den Mund. Als er den Kopf wieder hob, war sein weißes Hemd karmesinrot, und er spuckte etwas Blutiges auf Colbens Bauch.

Beim ersten Mal war Childe ohnmächtig geworden. Diesmal sprang er auf und rannte zur Tür, aber er musste sich übergeben, bevor er sie erreichte. Er war nicht der einzige.

2. Kapitel

Der Dracula und die Frau hatten in die Kamera gesehen und wild gelacht, als amüsierten sie sich königlich. Dann wurde der Film abgeblendet, und es leuchteten kurz die Buchstaben FORTSETZUNG FOLGT auf. Der Film war zu Ende.

Herald Childe sah das zweite Ende nicht mehr. Er war zu sehr damit beschäftigt, zu stöhnen, sich die Tränen aus den Augen zu reiben, sich die Nase zu putzen und zu husten. Der Geschmack des Erbrochenen und der Brechreiz lasteten schwer. Er hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, doch er unterdrückte den Impuls. Es gab nichts, für das er sich entschuldigen musste.

Der Polizeichef, der sich zwar nicht übergeben hatte, aber so wirkte, als würde es ihm besser gehen, wenn er es getan hätte, sagte: »Lassen Sie uns von hier verschwinden.«

Er schritt über das Erbrochene auf dem Holzfußboden hinweg. Childe folgte ihm. Die anderen kamen heraus. Der Polizeichef sagte: »Wir werden eine Konferenz abhalten, Childe. Sie können mitkommen und dazu beitragen, wenn Sie wollen.«

»Ich würde zwar gern mit der Polizei in Verbindung bleiben, Commissioner, aber ich habe nichts beizutragen. Jedenfalls nicht im Moment.«

Childe hatte der Polizei mehr als einmal alles erzählt, was er über Matthew Colben wusste. Und das war nicht wenig. Er hatte ihr auch alles erzählt, was er über sein Verschwinden wusste. Und das war gar nichts.

Der Polizeichef war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit Stirnglatze, einem langen, hageren Gesicht und einem melancholisch schwarzen Schnauzbart. Er zupfte ständig am rechten Zipfel seines Schnauzbartes – nie am linken. Obwohl er Linkshänder war. Childe war diese Angewohnheit aufgefallen; er fragte sich, was ihr zugrunde lag. Was würde der Commissioner wohl antworten, wenn man ihn darauf hinwies?

Was konnte er antworten? Wahrscheinlich waren nur er und ein Psychotherapeut in der Lage, es herauszufinden.

»Childe, Ihnen ist sicher klar, dass uns dieser Fall sehr ungelegen kommt«, sagte der Polizeichef. »Würde er nicht so … ahm … ungewöhnliche Aspekte aufweisen, hätte ich nicht mehr als ein paar Minuten investiert. Doch so, wie's aussieht …«

Childe nickte und sagte: »Ja. Ich weiß. Die Abteilung wird sich später darum kümmern. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

»Oh, so schlimm ist es nun auch wieder nicht!«, sagte der Polizeichef. »Sergeant Bruin wird sich um den Fall kümmern. Das heißt, wenn er die Zeit dazu hat. Ihnen ist sicher klar …«

»Mir ist alles klar«, sagte Childe. »Ich kenne Bruin. Ich werde mit ihm in Verbindung bleiben. Aber nicht so oft, dass ich ihm auf die Nerven gehe.«

»Schön, schön!«

Der Polizeichef hielt ihm eine knochige, kalte, aber dennoch verschwitzte Hand entgegen und sagte: »Bis dann.« Dann drehte er sich um und marschierte durch den Gang davon.

Childe betrat die nächste Herrentoilette, in der mehrere Zivilisten und Uniformierte damit beschäftigt waren, sich den Geschmack des Erbrochenen aus dem Mund zu spülen. Sergeant Bruin war bei ihnen, aber ihm war nicht schlecht geworden. Er kam gerade aus dem WC und zog seinen Reißverschluss zu. Der Name Bruin passte zu ihm. Er sah zwar aus wie ein Grizzly, war aber weitaus weniger reizbar.

Als er sich die Hände wusch, sagte er: »Ich muss mich beeilen, Childe. Der Commissioner möchte eine Blitzkonferenz wegen Ihres Partners abhalten; und dann müssen wir uns wieder alle um diese Smog-Geschichte kümmern.«

»Sie haben meine Telefonnummer, und ich habe Ihre«, sagte Childe. Er trank einen Becher Wasser, dann zerdrückte er ihn und warf ihn in den Papierkorb. »Na ja, immerhin habe ich die Möglichkeit, mich zu bewegen. Ich habe eine Erlaubnis, mit meinem Wagen zu fahren.«

»Das ist mehr, als ein paar Millionen Bürger im Moment haben«, sagte Bruin fröhlich. »Achten Sie darauf, dass Sie das Benzin nicht sinnlos verplempern.«

»Bis jetzt habe ich eigentlich noch keinen Grund, überhaupt etwas zu verplempern«, sagte Childe. »Aber ich werde es trotzdem versuchen.«

Bruin sah auf ihn herunter. Seine großen schwarzen Augen waren so undurchdringlich wie die eines Bären; sie sahen nicht menschlich aus. »Haben Sie vor«, fragte er, »diesen Job ohne Bezahlung zu erledigen und ihm einen Teil Ihrer Freizeit zu opfern?«

»Wer sollte mich schon bezahlen?«, sagte Childe. »Colben ist geschieden. Sein Fall hängt zwar mit dem Fall Budler zusammen, aber Budlers Frau hat mir gestern die Papiere gegeben. Sie sagt, die Sache sei ihr nun scheißegal.«

»Vielleicht ist er auch tot, so wie Colben«, sagte Bruin. »Es würde mich nicht überraschen, wenn die Post uns noch ein Päckchen brächte.«

»Mich auch nicht«, sagte Childe.

»Bis später«, sagte Bruin. Er legte eine Sekunde lang eine schwarze Tatze auf Childes Schulter. »Sie machen's umsonst, wie? Er war Ihr Partner, nicht? Aber Sie wollten sich auch trennen, stimmt's? Und trotzdem wollen Sie rauskriegen, wer ihn umgebracht hat?«

»Ich werd's versuchen«, sagte Childe.

»Das gefällt mir«, sagte Bruin. »So was wie echte Treue gibt's heutzutage kaum noch.« Er zog ab; die anderen folgten ihm im Gänsemarsch. Childe blieb allein zurück. Er schaute in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Sein blasses Gesicht war dem Lord Byrons so ähnlich, dass er seit seinem vierzehnten Lebensjahr eine Menge Schwierigkeiten mit den Frauen gehabt hatte – und mit einer Reihe neidischer oder lüsterner Männer. Jetzt war er ein bisschen massig geworden, und über seine linke Wange verlief eine Narbe. Ein Andenken an Korea, als ein betrunkener Soldat sich geweigert hatte, sich von ihm festnehmen zu lassen. Er hatte sein Gesicht mit dem abgebrochenen Hals einer Bierflasche malträtiert. Seine Augen waren dunkelgrau und momentan ziemlich blutunterlaufen. Der Hals unter dem leicht massigen, byronesken Gesicht war kräftig, seine Schultern breit. Das Gesicht eines Dichters, dachte er – nicht zum ersten Mal –, und der Körper eines Bullen und Schnüfflers. Warum hast du dich überhaupt auf diesen schmutzigen, seelenauslaugenden, deprimierenden und korrumpierenden Rummel eingelassen? Warum ist aus dir kein stiller Englisch- oder Psychologieprofessor in einem ruhigen College-Städtchen geworden?

Nur er und ein Psychotherapeut würden es je herauskriegen. Aber er wollte es gar nicht wissen, und bei einem Psychotherapeuten war er auch nie gewesen. Bestimmt genoss er den Schmutz, die Tränen, den Kummer, den Hass und das Blut irgendwo tief in sich. Irgendetwas lebte von verachtenswerter Nahrung. Irgendetwas genoss es, aber dieses Etwas war – so sicher, wie es eine Hölle gab – nicht Herald Childe. Jedenfalls nicht in diesem Moment.

Er verließ den Waschraum, ging durch den Korridor zum Aufzug und fuhr in tiefe Gedanken versunken nach unten, so dass er nicht einmal registrierte, ob er allein in der Liftkabine war. Auf dem Weg zum Ausgang schüttelte er leicht den Kopf, als wolle er sein Unterbewusstsein aufwecken. Es war gefährlich, so geistesabwesend zu sein.

Sein Partner Matthew Colben war auf dem besten Weg gewesen, sein Ex-Partner zu werden. Colben war ein großmäuliger Angeber und Don Juan, dem das Schieben einer Nummer allemal wichtiger war als der Job. Als er und Childe sich vor sechs Jahren zusammengetan hatten, hatte er noch nicht zugelassen, dass sein Pimmel die Geschäfte störte. Doch jetzt war Colben fünfzig. Vielleicht wollte er den Gedanken an einen langsam träger werdenden Körper, einen zunehmend dicker werdenden Bauch und die immer länger werdenden Katerperioden verdrängen. Childe akzeptierte seine Gründe nicht; nach Ende der Bürozeit konnte Colben tun und lassen, was er wollte, aber er betrog auch seinen Partner, wenn er sich privat mit Fusel und Weibern belog. Nach dem Fall Budler hätten sie sich getrennt. Das hatte Childe sich fest vorgenommen.

Jetzt war Colben tot, und Budler befand sich vielleicht in den Händen der gleichen Leute, die ihn umgebracht hatten – obwohl es keinen Hinweis darauf gab. Aber Budler und Colben waren in der gleichen Nacht verschwunden, und Colben hatte Budler beschattet.

Der Film war vor drei Tagen von einem Postamt in Torrance aus abgeschickt worden. Colben und Budler wurden seit vierzehn Tagen vermisst.

Childe hielt an einem Zeitungsstand und kaufte sich die Morgenausgabe der Times. Zu jeder anderen Zeit wäre der Fall Colben schlagzeilenträchtig gewesen. Aber nicht heute. Es gab jedoch einen Beitrag auf Seite eins. Childe, der von der Vorstellung nicht erbaut war, auf die Straße zu gehen, lehnte sich an die Wand und las die Story. Die Journalisten, die den Film gesehen hatten, hatten sie beträchtlich entschärft. Zwar waren sie bei den Vorführungen zugegen gewesen, deren Zeuge er gewesen war, doch er wusste von Bruin, dass man ihnen eine Sondervorführung ermöglicht hatte. Bruin hatte wie ein wundkehliger Bär gelacht und erzählt, dass mindestens die Hälfte von ihnen gekotzt hätte oder dem Kotzen nahegewesen wäre.

»Manche von ihnen waren im Krieg und haben gesehen, wie Männern die Eingeweide herausgerissen wurden«, hatte Bruin gesagt. »Sie waren doch auch als Offizier in Korea, nicht? Und doch ist Ihnen schlecht geworden! Wie kommt das?«

»Haben Sie nicht gespürt, wie Ihr Schwanz versuchte, sich in Ihrem Bauch zu verkriechen?«, hatte Childe gefragt.

»Nö.«

»Vielleicht haben Sie gar keinen«, hatte Childe gesagt. Auch das hatte Bruin noch für witzig gehalten.

Der Artikel war zweispaltig und ließ sich über das meiste aus, was auch Childe wusste, außer den Einzelheiten des Films. Man hatte Colbens Wagen auf einem Parkplatz hinter dem Gebäude einer Versicherung auf dem Wilshire Boulevard in Beverly Hills gefunden. Colben hatte Benjamin Budler beschattet, einen reichen Anwalt aus diesem Stadtteil. Budler hatte seine Gattin betrogen, von seiner regulären Geliebten ganz zu schweigen. Die Frau hatte Childe & Colben, Privatdetektive engagiert, um genügend Beweise für eine Scheidungsklage zu sammeln.

Colben hatte auf einem Kassettenrecorder, der in seinem Wagen lag, alle Schritte Budlers gemeldet. Budler hatte eine (zwar in allen Einzelheiten beschriebene, doch nicht identifizierte) reizende Brünette an der Ecke Olympic und Veteran Street abgeholt. Die Ampel hatte Grün gezeigt, doch Budler hatte einen langen Stau und lautes Gehupe riskiert, um die Wagentür zu öffnen und die Frau einsteigen zu lassen. Sie war gut angezogen gewesen. Colben hatte gemutmaßt, dass ihr Wagen irgendwo in der Nähe stand; sie sah nicht so aus, als käme sie aus dieser Gegend.

Budlers Rolls Royce war rechts auf die Veteran abgebogen und in Richtung Santa Monica gefahren. Dort war er nach links ausgeschert und nach Santa Monica hineingefahren, bis er einen Block vor einem ruhigen und teuren Restaurant stehengeblieben war. Hier hatte Budler die Frau aussteigen lassen und war auf einen Parkplatz an einer Seitenstraße gefahren. Er war zu Fuß zu dem Restaurant gegangen, wo sie gemeinsam (etwa drei Stunden lang) diniert und Wein getrunken hatten. Obwohl sie das Restaurant getrennt betreten hatten, hatten sie es zusammen verlassen. Budlers Gesicht war gerötet gewesen, er hatte laut geredet und viel gelacht. Die Frau hatte zwar ebenso oft gelacht, aber sie war gerade gegangen. Budlers Gleichgewicht war leicht gestört gewesen; beim Überqueren der Straße war er gestolpert und beinahe hingefallen.

Sie waren mit dem Rolls Royce (wobei Budler schnell gefahren und sich in den Verkehr ein- und ausgefädelt hatte) nach Santa Monica gefahren und am Bedford Drive nach Norden abgebogen.

Von diesem Augenblick an war das Band gelöscht.

Colben hatte angemerkt, er habe aus der Ferne mehrere Fotos von der Frau gemacht, die Budler abgeholt hatte. Der Apparat befand sich zwar im Wagen, doch man hatte den Film herausgenommen.

Der Wagen war gründlich durchsucht worden; es gab nicht einen einzigen Fingerabdruck. Ein paar Schmutzpartikel, wahrscheinlich von den Schuhen der Person, die den Wagen auf den Parkplatz gefahren hatte, befanden sich auf der Fußmatte, doch eine Analyse hatte nur gezeigt, dass die Erde von jeder Stelle in diesem Gebiet stammen konnte. Es gab auch ein paar Fasern; man hatte sie aus dem Lumpen gepickt, mit dem Colben die Sitze abwischte.

Budlers Rolls Royce war ebenfalls verschwunden.

Erst zwei Tage nachdem Colben als vermisst galt, hatte die Polizei entdeckt, dass Budler aus seinem normalen Lebensrhythmus ausgestiegen war. Seine Frau hatte zwar gewusst, dass er verschwunden war, aber sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, es zu melden. Warum sollte sie auch? Es kam öfter vor, dass er ein paar Tage lang nicht nach Hause kam.

Sobald sie erfahren hatte, dass ihr Ehemann eventuell entführt oder ermordet worden war und sein Verschwinden (höchstwahrscheinlich) mit dem Verschwinden Colbens zusammenhing, hatte sie Childe klargemacht, dass er nicht mehr in ihren Diensten stand.

»Ich hoffe, dass sie den Hundesohn tot auffinden, und zwar bald!«, hatte sie durch das Telefon geschrien. »Ich möchte nämlich nicht, dass seine Konten bis in alle Ewigkeit gesperrt sind! Ich brauche sein Geld jetzt! Es sähe ihm wirklich ähnlich, wenn er nie wieder auftauchen und mich mit einem Prozess und der Bürokratie und diesem ganzen Scheiß in Atem halten würde! Es sähe ihm wirklich ähnlich! Ich hasse ihn!« Und so weiter.

»Ich werde Ihnen die Rechnung schicken«, hatte Childe erwidert. »Es war nett, für Sie tätig gewesen zu sein.« Und er hatte aufgelegt.

Seine Rechnung würde sie zwar erreichen, doch wann sie zahlen würde, stand in den Sternen. Selbst wenn Mrs. Budler postwendend einen Scheck schickte, würde es seine Zeit dauern, bis er gutgeschrieben war. Die Zeitungen hatten gemeldet, dass die Behörden in Erwägung zogen, alle Banken zu schließen, bis die Krise vorbei war. Es gab zwar viele Leute, die dagegen protestierten, aber für die Protestler würde es keinen großen Unterschied machen, wenn die Banken offen blieben. Wozu sollte es gut sein, wenn die meisten Kunden ihre Bank nicht erreichen konnten, weil sie nicht stundenlang anstehen wollten, um einen der unregelmäßig verkehrenden Busse zu erwischen? Es sei denn, sie wohnten so nahe, dass sie ihre Bank zu Fuß erreichen konnten.

Childe ließ die Zeitung sinken. Zwei uniformierte Männer mit Gasmasken führten einen dritten zwischen sich her. Er hielt die mit Handschellen gefesselten Hände hoch, als wolle er der Welt seinen Märtyrerstatus verkünden. Einer der Cops trug eine dritte Gasmaske in der Hand, und Childe vermutete, dass der Festgenommene mit ihrer Hilfe einen Laden überfallen, ein Leihhaus ausgeraubt oder sonst etwas getan hatte, das es erforderlich machte, dass man sein Gesicht nicht erkannte.

Childe fragte sich, warum die Cops ihn durch diesen Eingang brachten. Vielleicht hatten sie ihn auf dieser Straße geschnappt und nahmen eine Abkürzung.

Die momentane Lage war in einer Hinsicht für die Kriminellen vorteilhaft: Männer, die Gasmasken oder wasserdurchtränkte Lappen vor dem Gesicht trugen, waren nichts Außergewöhnliches. Aber andererseits war es auch wahrscheinlich, dass jeder, der so herumlief, angehalten und identifiziert wurde. Eine Sache wog die andere auf.

Die Cops und der Festgenommene husteten. Der Mann hinter der Theke des Kiosks hustete. Childe verspürte ein Kratzen in der Kehle. Er konnte den Smog zwar nicht riechen, aber schon der Gedanke an ihn erzeugte den Schatten eines Hustens.

Er überprüfte seinen Ausweis und seine Fahrerlaubnis. Er hatte keine Lust, ohne sie geschnappt zu werden, wie es am Tag vorher der Fall gewesen war. Er hatte deswegen fast eine Stunde verloren, und selbst nachdem die Cops im Revier angerufen und seine Gründe erfahren hatten, hatte man ihn aufgefordert, nach Hause zu gehen und seine Papiere zu holen. Und bevor er sein Zuhause erreicht hatte, hatte man ihn schon wieder angehalten.

Childe klemmte die Zeitung unter den Arm, ging zur Tür, warf einen Blick durch die Scheibe, schüttelte sich, wünschte sich, er besäße einen leichten Taucheranzug, öffnete die Tür und stürzte sich hinein.

3. Kapitel

Es war wie ein Spaziergang auf einem Meeresgrund aus äußerst dünner Gallenflüssigkeit.

Zwischen der Sonne und dem Meer gab es keine Wolken. Die Sonne schien hell, als versuche sie, sich einen Weg durch das Meer zu brennen. Die Augustsonne brannte grell, und je mehr sie brannte und mit ihren gelben Macheten schnitt, desto dicker und giftiger wurde das graugrüne Blattwerk.

(Childe wusste, dass er die Metaphern durcheinanderbrachte. Na und? Der Kosmos war im Bewusstsein Gottes eine gemischte Metapher. Die linke Hirnhälfte Gottes hatte keine Ahnung, was die rechte tat. Oder es kümmerte sie nicht. War Gott schizophren? Herald Childe, ein Geschöpf Gottes, das Ebenbild Gottes, war bestimmt schizophren, auf links gedreht.)

Augen brannten wie Ketzer am Marterpfahl. Schläfen wurden gepeinigt; Feuer lief an den feinen Knöchelchen entlang; Spermaflüssigkeit, gesammelt, um die Schläfenkammern zu füllen, tröpfelte, wartete auf die freiwillige oder unfreiwillige Explosion der Luft, um das Zeug im mildesten aller Orgasmen zu entladen.

Nicht der kleinste Windhauch. Die Luft hatte sich seit einem Tag, einer Nacht und einem weiteren halben Tag nicht mehr bewegt, als sei die Atmosphäre gestorben und am Verrotten.

Das graugrüne Zeug hing in Schwaden. Oder wirkte so. Das Buch des Jüngsten Tages wurde gelesen, und die Seiten, die graugrünen Schwaden, wurden umgeblättert, wie das Auge las, und mehr und mehr Seiten wurden auf die Front des Buches gestapelt. Wie weit musste man noch lesen, bis das Ende kam?

Childe konnte nur dreißig Meter weit sehen, falls überhaupt. Er war den Weg von der Tür zum Parkplatz so oft gegangen, dass er sich nicht verlaufen konnte. Aber es gab auch Leute, die nicht wussten, wo sie waren. Eine Frau rannte schreiend an ihm vorbei und verlor sich in den Schwaden. Er blieb stehen. Sein Herz klopfte. Er hörte eine schwache Autohupe. Irgendwo heulte eine Sirene. Er drehte sich langsam um und bemühte sich, die Frau oder ihren Verfolger, falls es einen gab, zu sehen oder zu hören, aber er konnte nichts erkennen. Sie rannte, obwohl niemand sie verfolgte.

Childe nahm einen leichten Trott auf. Er schwitzte. Seine Augen brannten und sonderten Tränen ab. Kleine Flammen schienen durch die Kehle auf seine Lungen zuzukriechen. Er wollte zu seinem Wagen, in dem eine Gasmaske lag. Er zwang sich zum Gehen. Panik hing in der Luft, die gleiche Panik, die zu einem Menschen kam, wenn er spürte, dass sich eine Hand um seinen Hals legte und Daumen auf seine Luftröhre drückten.

Ein Wagen tauchte aus den Wolken auf. Es war nicht der seine. Childe ging an ihm vorbei und stieß zehn Parklücken weiter auf seinen 1970er Oldsmobile. Er setzte die Maske auf, startete den Motor, krümmte sich leicht bei dem Gedanken an die Gifte, die aus dem Auspuff kamen, schaltete die Scheinwerfer ein und verließ den Parkplatz. Auf der Straße waren mehr helle und sich bewegende Lichter, als er erwartet hatte. Er schaltete das Radio an und erfuhr den Grund dafür. Die Leute, die außerhalb des Smoggebietes über eine Unterkunft verfügten, verließen die Stadt – ob sie nun eine Erlaubnis hatten oder nicht. Also gestatteten die Behörden es ihnen. Viele, die nicht über eine solche Unterkunft verfügten, aber trotzdem hinausfuhren, verließen die Stadt ebenso. Die Flut hatte begonnen. Im Moment waren die Straßen zwar noch nicht verstopft, aber bald würden sie es sein.

Childe fluchte. Er hatte an diesem Tag unbeschwerliche Fahrten an unterschiedliche Ziele geplant; wenn er schon nicht schnell fahren konnte, wollte er wenigstens nicht vom Verkehr behindert werden.

Die Stimme des Gouverneurs kam aus dem Lautsprecher. Der Gouverneur bat um Zurückhaltung und Gelassenheit. Jedermann solle weiterhin zu Hause bleiben – wenn er dazu in der Lage war. Doch jene, die die Stadt aus gesundheitlichen Gründen verlassen mussten (was jetzt die gesamte Bevölkerung einschließt, dachte Childe), sollten vorsichtig fahren und bedenken, dass es außerhalb des Gebietes von Los Angeles und Orange County in diesem Staat nicht genügend Unterbringungsmöglichkeiten für sie gab. Nevada und Arizona waren über die Invasion informiert worden, und Utah und New Mexico bereiteten sich aus eigenen Stücken auf sie vor. Zwar hatte man Truppen in das Gebiet entsandt, doch sie sollten nur als Verkehrspolizisten und Sanitäter eingesetzt werden. Das Kriegsrecht war nicht ausgerufen worden; dazu gab es keinen Anlass. Man registrierte zwar einen Anstieg von Verbrechen aus Leidenschaft sowie von Diebstählen und Raubüberfällen, aber es hatte keinen Aufruhr gegeben.

Kein Wunder, dachte Childe. Der Smog hat etwas Verunsicherndes. Er fraß einem die Haut von den Nerven; die Leute hatten keine Lust, sich ihm auszusetzen. Es gefiel den Leuten nicht, sich in Massen zusammenzurotten. Auf jeden Menschen wirkten die anderen wie Gespenster, die sich aus den Schwaden näherten, oder wie seltsame Fische, die plötzlich aus der Finsternis auftauchten. Seltsame Fische konnten auch Haie sein.

Childe kam an einem Wagen vorbei, in dem drei bebrillte, rüsselbewehrte Monster saßen. Ihre Köpfe fuhren herum, die zyklopenhaften Augen stierten blind, die Nasen schienen zu schnüffeln. Er entfernte sich schnell von ihnen, bis ihre Scheinwerfer nur noch gedämpft zu erkennen waren. Dann verringerte er die Geschwindigkeit. Einmal tauchte hinter ihm urplötzlich ein Fahrzeug auf. Ein rotes Licht blitzte. Childe schaute durch die Heckscheibe, bevor er anhielt. Es gab falsche Streifenwagen, die Autofahrer am helllichten Tag anhielten, ausraubten, zusammenschlugen oder gar töteten, selbst wenn es im Umkreis von zehn Metern Augenzeugen gab. Er beschloss, an den Straßenrand zu fahren. Er steuerte den Wagen sanft auf den nur matt erkennbaren Rinnstein zu und hielt an. Er ließ den Motor laufen und beäugte den Wagen und den auf der rechten Seite aussteigenden Cop. Wenn ihm sein Anblick nicht gefiel, konnte er immer noch auf der anderen Seite aussteigen und in der Düsternis untertauchen. Doch er kannte den Cop, wenn er auch seinen Namen nicht wusste, und blieb hinter dem Steuer sitzen. Er öffnete die Jacke und langte vorsichtig hinein, damit der Cop nicht den Eindruck gewann, dass er nach einem Schießeisen griff. Er hatte zwar einen Waffenschein, doch der lag zu Hause.

Der Cop hatte schon zu viele Leute angehalten, um ihn aus dem Wagen steigen und die Haltung eines Gefilzten einnehmen zu lassen. Außerdem gab es viele Fahrer mit Erlaubnis, und bald würden so viele Fahrzeuge auf der Straße sein, dass sie ebenso gut aufgeben konnten – ausgenommen bei den offensichtlichen Fällen.

Childe identifizierte sich. Man kannte ihn vom Hörensagen und hatte außerdem die Zeitungen gelesen. Einer der Cops, Chominshi, wollte sich über den Fall unterhalten, aber der andere hustete, und Childe fing ebenfalls an zu husten, und so ließen sie ihn ziehen. Er folgte der Third Street nach West Los Angeles. Seine Wohnung und sein Büro waren nur ein paar Häuserblocks von Beverly Hills entfernt. Er hatte vor, auf direktem Weg nach Hause zu gehen und ein wenig nachzudenken.

Falls er nachdenken konnte. Er befand sich in einem leichten Schockzustand. Seine Reflexe kamen ihm so langsam vor, als habe man ihn unter Drogen gesetzt oder als erhole er sich von einem Knockout. Er empfand ein vages Gefühl von innerem Abstand, als habe er sich leicht von der Wirklichkeit gelöst; zweifellos, um die Wirkung des Films abzumildern. Der Smog half ihm auch nicht dabei, einen Anker nach den Dingen auszuwerfen; er rief das Gefühl hervor, als glitte sein Ich aus.

Childe brannte nicht vor Rachedurst auf die Leute, die Colben umgebracht hatten. Er hatte Colben nicht gemocht und wusste, dass er ein paar Dinge auf dem Kerbholz hatte, die sein Gewissen (soweit Childe wusste) nicht mal belasteten. Colben hatte eine Minderjährige geschwängert und sie dann auf die Straße gesetzt, und das Mädchen hatte Schlaftabletten genommen und war gestorben. Es gab noch weitere ähnliche Fälle, wenn auch keiner mit dem Tod eines Mädchens geendet hatte. Aber manche wären tot besser dran gewesen. Und dann gab es da noch die Frau eines Klienten, die man zusammengeschlagen aufgefunden hatte und die für immer eine Idiotin bleiben würde. Childe hatte zwar keinen Grund gehabt, Colben zu misstrauen, aber er war das Gefühl nicht losgeworden, dass Colben Prügeleien dieser Art im Klientenauftrag erledigte; besonders nachdem er erkannt hatte, dass Colben zuvor mit der Frau geschlafen hatte. Er hatte ihm nichts beweisen können; er hatte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen können, der nicht blöde geklungen hätte, weil er nicht den geringsten Beweis hatte. Doch dass Colben das Geschäft vernachlässigte, war Grund genug, ihn sich vom Hals zu schaffen. Childe hatte nicht genügend Geld, um ihm eine Abfindung zu zahlen; er hatte vorgehabt, die Zusammenarbeit für Colben so unerfreulich zu machen, dass der glücklich gewesen wäre, ihm die Partnerschaft aufzukündigen.

Trotzdem – niemand verdiente einen solchen Tod wie Colben. Oder doch? Das Grauen war eher im Bewusstsein der Zuschauer vorhanden als im Bewusstsein Colbens. Er war zwar schwer verletzt worden, doch er war schnell gestorben.

Es spielte keine Rolle. Childe hatte die Absicht, soviel herauszukriegen, wie er konnte, auch wenn er annahm, dass er nur wenig herauskriegen würde. Und bald würde ihn die Notwendigkeit, Rechnungen zu bezahlen, ohnehin zwingen, den Fall beiseite zu legen; dann konnte er nur noch in seiner Freizeit daran arbeiten. Was in letzter Konsequenz bedeutete, dass er so gut wie gar nichts mehr zustande kriegte.

Aber er hatte nichts anderes zu tun, und er hatte bestimmt nicht vor, still in seiner Wohnung zu sitzen und vergiftete Luft einzuatmen. Irgendetwas musste er tun, damit man in dieser Sache weiterkam. Wegen des Augenbrennens und der Tränen konnte man nicht mal entspannt lesen. Er war wie ein Hai, der sich bewegen musste, damit das Wasser weiterhin durch seine Kiemen strömte. Wenn er innehielte, würde er ersticken.

Aber Haie können auch atmen und stillstehen, wenn sich das Wasser bewegte. Sybil konnte ihm dieses Fließen sein. Sybil war ein Name, der wie ein springendes Bächlein klang, wie Sonnenschein auf stillen, grünen Schneisen, wie Klugheit und Milch aus vollen, warmen Brüsten. Ganz bestimmt keine verdorbene Milch. Weiße, sahnige Milch der Zärtlichkeit und Vernunft.

Childe lächelte. Der große Romantiker. Er sah nicht nur wie Lord Byron aus, er dachte auch so. Reinkarnation? George Gordon, Lord Byron – wiedergeboren als Privatdetektiv, ohne Klumpfuß. Wenn er ein Klumpfußgehirn hatte, zeigte es sich jedenfalls nicht. Auf den ersten Blick. Aber das Hinken sahen die anderen, die Tag für Tag mit ihm zu Fuß gehen mussten.

Die Privatdetektive aus den Romanen. Sie waren einfache, geradeaus denkende Männer mit festen – ausnahmslos schwarzweißen – Überzeugungen. Mein ist die Rache, sagt Gott Hammer. Echte Helden, mit denen sich die überwiegende Mehrheit der Leser problemlos identifizieren konnte.

Das war eigenartig, da die Antihelden der existentiellen Romane doch angeblich den modernen Geist repräsentierten. Und sie waren zweifellos voller Zweifel. Der Antiheld kriegte viel mehr Publizität und weitaus stärkeres Fanfarengeschmetter von den Rezensenten als der simple, unveränderliche, nicht zweifelnde Privatdetektiv – der Held der Massen.

Als wären seine Gedanken ein Filmstreifen, redete Childe sich einen Schnitt ein. Er übertrieb und simplifizierte. Innerlich war er vielleicht ein existentieller Antiheld, doch äußerlich war er ein Mann der Tat, ein Shadow, ein Doc Savage, ein Sam Spade. Er lächelte erneut. Um die Wahrheit zu sagen, er war Herald Sigurd Childe, rotäugig, mit wässrigem Blick, Triefnase, Übelkeit im Magen, und er wollte heim zu Mama. Oder zu der Vorstellung namens Sybil.

Mama wurde leider wütend, wenn er nicht anrief, um zu fragen, ob er zu ihr rüberkommen könne. Mama legte Wert auf Intimsphäre und Unabhängigkeit, und wenn sie die nicht kriegte, drückte sie sich unerfreulich aus und verbannte ihn für unbestimmte Zeit.

Childe stellte den Wagen vor seiner Wohnung ab, lief die Treppe hinauf, hörte im Vorbeigehen jemanden hinter einer Tür husten und schloss die Tür auf. Seine Bleibe bestand aus einem Wohnzimmer, einer Kochnische und einem Schlafzimmer. Normalerweise fiel sein Blick auf strahlend helle Wände, Decken, helles Holz und hell gestrichenes, leichtgebautes Mobiliar. Heute sah die Wohnung finster aus; sogar die nicht im Dunkeln liegenden Ecken zeigten eine ungesunde Tönung.

Sybil nahm den Hörer ab, bevor das zweite Klingelzeichen ertönte.

»Du musst auf meinen Anruf gewartet haben«, sagte Childe fröhlich.

»Ich habe auf etwas gewartet«, sagte sie. Ihre Stimme war jedoch nicht unfreundlich.

Childe verzichtete auf die offensichtliche Frage. »Ich würde gern rüberkommen«, sagte er schließlich.

»Warum? Weil du geil bist?«

»Um mit dir beisammen zu sein.«

»Du hast also nichts zu tun. Du suchst nur eine Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen.«

»Ich arbeite gerade an einem Fall«, sagte Childe. Er zögerte, doch dann, obwohl er wusste, dass er ihr auf den Leim ging und sich dafür hasste, sagte er: »Es geht um Colben. Hast du die Zeitungen gelesen?«

»Ich hab' mir schon gedacht, dass du daran arbeitest. Ist es nicht grauenhaft?«

Er fragte nicht, wieso sie heute zu Hause war. Sie war Sekretärin des Geschäftsführers einer Werbeagentur. Weder sie noch ihr Chef konnten eine Fahrerlaubnis haben.

»Ich bin gleich drüben«, sagte er. Dann machte er eine Pause und sagte: »Kann ich eine Weile bleiben oder wirfst du mich gleich wieder raus? – Reg dich nicht auf! Ich möchte es nur wissen; ich würde mich gern etwas entspannen.«

»Wenn du willst, kannst du ein paar Stunden oder auch länger bleiben. Ich gehe nicht weg, und es hat sich auch niemand angesagt – von denen, die ich kenne.«

Childe nahm den Hörer vom Ohr, doch ihre Stimme war nicht laut genug, um sie zu hören, deswegen drückte er ihn wieder an sich. »Herald? – Ich möchte wirklich, dass du kommst!«

Childe sagte: »Gut!« Und dann: »Teufel! Ich denke nur an mich! Soll ich dir irgendwas aus dem Laden mitbringen?«

»Nein, du weißt doch, dass der nächste Supermarkt nur drei Blocks von mir entfernt ist. Ich war zu Fuß da.«

»Okay. Ich dachte nur, du wärst vielleicht nicht draußen gewesen oder hättest was vergessen, das ich dir vielleicht mitbringen könnte.«

Sie schwiegen beide für ein paar Sekunden. Childe dachte an den ständigen Ärger während ihrer Ehe und daran, wie oft er hatte rennen müssen, um jene Dinge zu besorgen, die sie beim Einkaufen vergessen hatte. Auch Sybil schien über seine Vorwürfe nachgedacht zu haben; sie dachte ständig darüber nach, wenn sie zusammen waren.

»Ich bin gleich da«, sagte er eilig. »Bis gleich.«

Childe legte den Hörer auf und verließ die Wohnung. Der Mann hinter der Tür hustete immer noch. Eine Stereoanlage blökte irgendwo unter ihm Straussens Also sprach Zarathustra. Jemand legte schwachen Protest ein; die Musik spielte laut weiter. Die Proteste wurden lauter, dann klopfte jemand gegen die Wand. Die Musik wurde nicht leiser.

Childe zog in Erwägung, die vier Blocks bis zu Sybils Wohnung zu Fuß zu gehen, doch dann entschied er sich dagegen. Vielleicht musste er plötzlich wieder weg, auch wenn es sehr unwahrscheinlich war. Sein Auftragsdienst arbeitete nicht; er hatte keine Priorität. Er hatte auch nicht die Absicht, Sybils Nummer in der Telefonzentrale der Polizei oder bei Sergeant Bruin zu hinterlassen, wenn er bei ihr war. Sie würde ihm deswegen das Leben zur Hölle machen. Sie konnte es nicht ausstehen, vom Telefon überrascht zu werden, wenn sie mit ihm zusammen war – zumindest nicht von beruflichen Gesprächen. Das zum Beispiel war ihr auf die Nerven gegangen, als sie noch Mann und Frau gewesen waren. Theoretisch durften Dinge dieser Art sie jetzt nicht mehr stören, doch in der Praxis, die mehr auf Emotion statt Logik setzt, machte es sie so wütend wie immer. Und Childe wusste, wie es sich dann auswirkte. Als er zuletzt in ihrer Wohnung gewesen war, hatte der Auftragsdienst sie in einem entscheidenden Augenblick unterbrochen, und Sybil hatte ihn rausgeworfen. Seither hatte er sie mehrmals angerufen, aber sie hatte sich abweisend gegeben. Er hatte vor zwei Wochen zuletzt mit ihr telefoniert.

In einer Einschätzung hatte sie jedoch recht. Er hatte einen Steifen. Aber Childe ging nicht davon aus, dass er nach seinem Besuch weniger steif war. Er wollte bloß mit ihr reden, nichts anderes; er wollte ein paar Probleme glätten und seine Einsamkeit verscheuchen, die nach dem Film mit Colben noch stärker geworden war.

Es war eigenartig, und wenn nicht das, dann verräterisch. Er hatte zwanzig seiner fünfunddreißig Lebensjahre im Bezirk Los Angeles verbracht, und doch kannte er nur eine Frau, bei der er seine Bürde wirklich loswerden konnte, bei der er sich entspannt fühlte und sich des absoluten Verstehens sicher war. Nein. Irrtum. Es gab nicht mal eine Frau, da Sybil ihn nicht ganz verstand – sie sympathisierte nicht mit ihm. Täte sie es, wäre sie nicht seine Exfrau.

Doch auch Sybil hatte eben dies über Männer im allgemeinen und im besonderen gesagt. Es lag an der menschlichen Situation – was immer diese Phrase auch bedeutete.

Childe parkte den Wagen vor ihrer Wohnung – es gab momentan keine Probleme, einen Parkplatz zu finden – und ging in die kleine Vorhalle. Er betätigte ihre Klingel. Sie drückte den Summer. Er ließ die Innentür hinter sich und ging die Treppe hinauf. Durch den Korridor bis zum Ende. Ihre Tür befand sich auf der rechten Seite. Childe klopfte. Die Tür schwang auf. Sybil trug einen bis zum Boden reichenden Morgenmantel mit einem großen rotschwarzen Diamantenmuster. Die schwarzen Diamanten enthielten die weißen, geschwungenen Henkelkreuze der alten Ägypter. Sie war barfuß.

Sybil war vierunddreißig und einsfünfundsiebzig groß. Ihr Haar war lang und schwarz; sie hatte spitze schwarze Brauen, große grünliche Augen, eine schmale, gerade, vielleicht etwas zu lange Nase, volle Lippen und helle Haut. Sie war hübsch, und der Körper unter dem Kimono war wohlgeformt, obwohl sie für manchen Geschmack etwas zu ausladende Hüften hatte.

Ihre Wohnung war so hell wie die seine. Sie hatte viel Weiß an den Wänden und der Decke. Ihre Möbel waren aus hellem und leichtem Holz. Unpassenderweise hing eine große, finstere El-Greco-Reproduktion an der Wand; sie thronte über allem, was in diesem Zimmer gesagt und getan wurde. Childe wurde das Gefühl nicht los, als gäbe der spitz zulaufende Mann auf dem Kreuz ein Urteil über ihn und die Stadt auf der Ebene ab.

Das Gemälde war nicht – wie sonst – klar zu sehen. Schuld daran war der fast immer vorherrschende blaue Tabakschwaden – an dem es auch lag, dass die Wände und die Decke nicht so weiß waren wie die seiner Wohnung. Heute sah sogar das Blau graugrün aus. Sybil hustete, als sie sich eine neue Zigarette anzündete, dann bekam sie einen regelrechten Hustenanfall, und ihr Gesicht wurde blau. Es ärgerte Childe nicht; jedenfalls nicht mehr als sonst. Sie hatte ein Emphysem im Anfangsstadium, und der Arzt hatte ihr schon vor zwei Jahren geraten, das Rauchen aufzugeben. Bestimmt beschleunigte der Smog ihre Krankheit noch, aber er konnte nichts dagegen tun. Auch dies führte bei ihnen des Öfteren zum Streit.

Schließlich ging sie in die Küche, setzte Wasser auf und kehrte nach ein paar Minuten wieder zurück. Der Ausdruck ihres Gesichts war die reine Provokation, aber Childe verzog keine Miene. Er wartete, bis sie sich seinem Schaukelstuhl gegenüber auf das Sofa setzte. Sie legte die gerade angezündete Zigarette auf den Aschenbecherrand und sagte: »Herrgott! Ich krieg' keine Luft!«

Womit sie meinte, dass sie nicht rauchen konnte.

»Erzähl mir was über Colben«, sagte sie anschließend. Und dann: »Kann ich dir …?«

Ihre Stimme wurde kraftlos. Sie vergaß immer wieder, dass er vor vier Jahren mit dem Trinken aufgehört hatte.

»Ich muss mich entspannen«, sagte Childe. »Ich hab' kein Pot mehr, und ich kann auch nirgendwo was kriegen. Hast du …?«

»Ich hol dir was«, sagte sie bereitwillig. Sie stand auf und ging in die Küche. Eine Schranktür quietschte, als sie geöffnet wurde. Eine Minute verging. Dann kam Sybil mit zwei in weißes Papier gehüllten Zigaretten zurück, die an beiden Enden verzwirbelt waren. Sie gab ihm eine. Childe sagte ›Danke‹ und schnupperte daran. Der Duft erzeugte in ihm stets die Vision oben abgeflachter Pyramiden, von Aztekenpriestern mit scharfen Obsidianmessern und nackten braunen Männern und Frauen, die in roten Lehmfeldern in den Strahlen einer Sonne arbeiteten, die wilder war als ein Adlerblick oder im Indischen Ozean dahintreibende arabische Fuluk-Boote. Warum, wusste er nicht.

Childe zündete den Stängel an, inhalierte den starken Rauch und behielt ihn, so lange er konnte, in den Lungen. Gleichzeitig bemühte er sich, Geist und Leib vom Grauen des vergangenen Morgens und dem Reizzustand zu entleeren, den er empfand, seit er Sybil angerufen hatte. Das Zeug erfüllte keinen Zweck, wenn die schlechten Gefühle in einem blieben. Er musste sie verströmen. Manchmal gelang es ihm. Die Meditationsdisziplin, die ihn ein Freund gelehrt hatte – beziehungsweise versucht hatte, ihn zu lehren –, hatte manchmal Wirkung gezeigt. Aber er war Detektiv, und das Sammeln von Beweisen gegen Menschen, ihr Ausfindigmachen, sein Eintauchen in Hass und Elend, machte die Meditationsfähigkeit unwirksam. Trotzdem hatte Childe es stur versucht; und manchmal konnte er sich wirklich entleeren. Oder es schien ihm so. Sein Freund war der Meinung, dass er überhaupt nicht richtig meditierte; er wendete einen Trick an, eine gehaltlose Methode.

Sybil, die wusste, was er tat, sagte nichts. Eine Uhr tickte. In der Ferne ertönte eine Hupe. Eine Sirene jaulte. Heutzutage jaulten ständig Sirenen. Dann atmete Childe aus, holte tief Luft und hielt den Atem an. Und plötzlich kam die Kristallisation. Es kam zur eindeutigen Bewegung unsichtbarer Linien, als würden die Kraftströme, die sich durch jeden Zentimeter des Universums schlängelten, sich zu einer anderen, geraderen Struktur ausrichten.

4. Kapitel

Er hatte gezögert, sie davon abzuhalten, seinen Bauch abzuküssen, obwohl er wusste, was nun folgte. Er hielt sich auch dann noch im Zaum, als sie seinen Penis in die Hand nahm und sich über ihn beugte, um seine Eichel mit den Lippen zu umschließen. Als Childe spürte, wie ihre Zunge schnell über sie hinwegglitt, schüttelte er sich, schob ihren Kopf sanft beiseite und sagte: »Nein!«

Sybil schaute zu ihm auf und sagte: »Was ist?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, dir die näheren Einzelheiten des Films zu erzählen«, sagte er.

»Du schlaffst ja ab!«

Sie setzte sich im Bett auf und sah auf ihn hinunter. Sie runzelte die Stirn.

»Hast du irgendeine Krankheit?«

»Um Himmels willen!«, sagte Childe und setzte sich ebenfalls aufrecht hin. »Glaubst du, ich würde mit dir ins Bett gehen, wenn ich wüsste, dass ich Siff oder so was habe? Was ist das nur für eine Frage – für wen hältst du mich eigentlich?«

»Tut mir leid«, sagte sie. »Mein Gott, was ist denn nur los? Was habe ich denn getan?«

»Nichts. Nichts, wenn man die meisten Umstände in Betracht zieht. Aber als du … Ich hatte das Gefühl, als sei mein Schwanz vor Kälte erstarrt. Ach, lass nur! Lass mich erklären, warum ich nicht zugelassen habe, dass du mir einen bläst.«

»Solche Ausdrücke könntest du dir sparen!«

»Okay – also Fellatio machst. Lass mich erzählen.«

Sie hörte mit weit geöffneten Augen zu und lehnte sich in seiner Nähe auf einen Arm. Childe sah ihre erigierte Brustwarze, die um keinen Millimeter kleiner wurde, während sie ihm zuhörte. Unter Umständen wurde sie sogar noch größer. Ihre Augen strahlten jedenfalls, und trotz ihres artikulierten Grauens lächelte sie hin und wieder.

»Man könnte wirklich annehmen, es würde dir Spaß machen, mir das gleiche anzutun!«, sagte er.

»Was du immer für einen Blödsinn redest«, sagte sie. »Sogar jetzt. Hasst du mich so, dass du keinen Steifen mehr kriegst?«

»Du meinst doch gewiss eine Erektion, nicht wahr?«, sagte Childe. »Wenn du nicht verstehst, warum sich mein Ding aus Sicherheitsgründen am liebsten in meinem Unterleib verkrochen hätte, dann verstehst du auch nicht das geringste von Männern.«

»Ich beiße schon nicht«, sagte Sybil, packte seinen Penis, schnappte mit weit geöffnetem Mund nach ihm und fletschte lächelnd die Zähne.

Childe zuckte zurück und sagte: »Nicht!«

»Na hör mal«, sagte Sybil. »Es war doch nur ein Scherz.« Sie schmiegte sich an ihn und fing an, ihn zu küssen. Ihre Zunge berührte die seine, dann schob sie sie so tief in seine Kehle, dass er würgen musste. »Um Himmels willen!«, sagte Childe und drehte den Kopf zur Seite. »Was, zum Teufel, hast du vor? Ich krieg' keine Luft mehr!«

Sybil setzte sich hin und zischte ihn beinahe an. »Du kriegst keine Luft mehr! Was glaubst du eigentlich, wie ich Luft kriege, wenn du mir das dicke Ding in die Kehle schiebst? Was ist los?«

»Ich weiß nicht«, sagte Childe und nahm eine aufrechte Stellung ein. »Lass uns noch ein paar Züge machen. Vielleicht klären sich die Dinge dann.«

»Musst du das Zeug haben, damit du mich lieben kannst?«

Er wollte ihre Hand ergreifen, doch sie entriss sie ihm.

»Du hast es nicht gesehen«, sagte er. »Das Eisengebiss! Das blutende Glied! Mein Gott!«

»Colben tut mir zwar leid«, sagte Sybil, »aber ich verstehe nicht, was das mit uns zu tun hat. Du hast ihn nie leiden können; du wolltest ihn dir sogar vom Hals schaffen. Und mir hat er ständig eine Gänsehaut besorgt. Jedenfalls … Ach, ich weiß auch nicht.«

Sybil rollte sich vom Bett, ging zum Schrank und zog den Kimono wieder an. Dann zündete sie eine Zigarette an und fing an zu husten. Es klang, als wären ihre Lungen voller Rotz.

Childe empfand Zorn. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen – was, war ihm egal; einfach irgendetwas Verletzendes. Doch die Nähe einer Möse ließ ihn innehalten. Sybil hatte eine wunderschöne Möse; ihr Schamhaar war dicht, fast blauschwarz, und so weich, dass es sich fast wie ein Seehundfell anfühlte. Sie war stets gut geschmiert, vielleicht etwas zu viel, aber ihr Öl war süß und rein. Ihre Möse konnte seinen Schwanz umklammern, als hätte sie eine Hand in ihrem Innern. Dann fiel Childe das Ding wieder ein, das den Schurz über der Möse der Frau im Film ausgebeult hatte, und das Blut, das in seinem Schaft pulsierte, wurde matschig, taute langsam auf und zog sich in seinen Leib zurück.

Sybil, die seine aufkeimende Erektion gesehen hatte, sagte: »Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Sybil, es liegt nicht an dir. Es liegt an mir. Ich bin zu sehr daneben.«

Sie inhalierte den Rauch ihrer Zigarette und schaffte es, ein Husten zu unterdrücken.