Fleisch! - Werner D'Inka - E-Book

Fleisch! E-Book

Werner D´Inka

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Beschreibung

An Deutschlands Esstischen tobt ein Kulturkampf. Darf man Fleisch überhaupt noch essen? Die beiden Autoren dieses Buches, Werner D'Inka und Rainer M. Gefeller, antworten gut gelaunt: Auf jeden Fall! Für sie gehört Fleisch zu einer schmackhaften Mahlzeit dazu. Bei einer Erkundungstour durch Spitzen-Restaurants, Imbiss-Stuben, Wurstküchen und auch auf der Pirsch im Wald sprechen sie mit kundigen Mitessern über ihr Thema. Und sie probieren alles, was ihnen auf den Teller kommt. Am Ende steht die Erkenntnis: Soll doch jeder essen, was er will. Für die beiden Autoren bedeutet das: Ohne Fleisch ist alles irgendwie fad. Mit Illustrationen von Greser & Lenz.

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Werner D’Inka
Rainer M. Gefeller
Fleisch!
Eine Gesprächstherapiefür Salatsklaven
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2017 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Illustrationen: Greser & Lenz
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildungen: © Vlad Klok – Fotolia.com
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-277-6
Das Menü
Eine Vorbemerkung – Aperitif
Willkommen im Schlaraffenland – Vorspeise
Unter Wilden – Erster Gang
Das Schweigen der Männer – Zweiter Gang
Flurgönder in brodo – Dritter Gang
Am Tisch des Lächelns – Vierter Gang
Wie kommt das Schwein in die Wurst? – Fünfter Gang
„Das kannste essen!“ – Sechster Gang
Das Erbe der Menschheit – Siebter Gang
Jesus hat Fleisch gegessen – Achter Gang
Der Minister und das Tofu-Huhn – Neunter Gang
Meine Küche spricht mit mir – Zehnter Gang
Ein Traum von einem Festmahl – Nachspeise
Dank – Digestif
AperitifEine Vorbemerkung
Verehrte Damen und Herren, dürfen wir Sie einladen zu einer kleinen Abenteuerreise? Es geht zu den Feuerstellen und Fleischtöpfen unseres Landes. Steaks, Braten, Hähnchen, Würste und auch Exotisches sind unsere Begleiter. Wir versprechen Ihnen: Wir schrecken vor nichts zurück; jedenfalls einer von uns. Sie werden in diesem Buch starken kulinarischen Entdeckungen und noch stärkeren Menschen begegnen. Falls Sie auf der Jagd nach neuen Rezepten sein sollten: Vergessen Sie’s, Koch-Anleitungen haben wir nicht zu bieten. Aber wir wollen gern Stimmung machen für das, was uns schmeckt: Fleisch! Wir freuen uns sehr, dass sich das Zeichner-Duo Greser und Lenz diesem Anliegen angeschlossen hat. Ihr unnachahmlicher Witz ist die passende Beilage zu unserem Menü.
Mag sein, dass Ihnen bei unserem Thema die Galle hochkommt – auch dafür haben wir Verständnis. Allerdings müssen wir darauf bestehen, dass in diesem Buch die Salatbar geschlossen bleibt. Falls eine Humor-Unverträglichkeit Sie plagt, fragen Sie höchstvorsorglich Ihren Therapeuten. Allen Fleischfreunden raten wir: Legen Sie schon mal das Steakmesser bereit. Der Hunger kommt unweigerlich beim Lesen.
Werner D’InkaRainer M. Gefeller
VorspeiseWillkommen im Schlaraffenland
Dürfen wir zu Tisch bitten? Dort sitzen schon zwei Männer und säbeln an Fleischstücken herum, sie heißen Werner D’Inka und Rainer M. Gefeller (aus Gründen der Platzersparnis nennen wir sie im Folgenden D und G). Der Zweck ihrer Zusammenkunft, neben der Nahrungsaufnahme: Sie wollen Gewissenserforschung betreiben.
G: „Ganz ehrlich, sollen wir tatsächlich ein Buch über Fleisch schreiben?“
D: „Weshalb dieses Zögern? Wir waren uns doch einig.“
G: „Meinst du, dass wir uns damit Freunde machen? Manchmal fühlt man sich geradezu umzingelt von Fleischverächtern.“
D: „Keine Sorge, die sind und bleiben in der Minderheit. Entspann dich! Soll ich dir einen Witz erzählen? Wie erkennst du einen Veganer? Er sagt es dir!“
G: „Haha. Aber haben die Veggies nicht in vielerlei Hinsicht Recht? Massentierhaltung, Käfigbatterien, scheußliche Schlachtfabriken. Wie kann einem da das Fleisch noch schmecken?“
D: „Hast du etwa schon mal im Restaurant ein Schnitzel bestellt mit dem ausdrücklichen Wunsch: aber bitte nur eines aus Massentierhaltung? Wir sind doch verantwortlich für das, was wir verspeisen. Und da gilt die alte Regel: Für den Sohn meiner Mutter nur das Beste! Wahrhaft gutes Fleisch kommt nur von Tieren, die ein gutes Leben geführt haben. Und Fleisch zu essen, ist nun einmal ein Teil unser Kulturgeschichte.“
G: „Du hättest Prediger werden sollen. Aber einen Salatesser wirst du damit kaum überzeugen können.“
D: „Ich weiß, ich weiß. Die berufen sich ja auch gern auf Heerscharen von vegetarischen Lichtgestalten: Aristoteles, Horaz, Ovid, Seneca, Plutarch, Buddha (‚Kein Fleisch mehr zu essen bedeutet, in jenen Strom einzutauchen, der ins Nirwana führt‘), Pythagoras, Franz von Assisi, Voltaire, Kant, Schopenhauer, Abraham Lincoln (‚Ich bin für die Rechte der Tiere genauso wie für die Menschenrechte‘), Friedrich Nietzsche, Rudolf Steiner, Albert Einstein, Michael Jackson. Und Will Kellogg (der Flocken-Erfinder): ‚Wie kann man nur irgendetwas essen, was Augen hat?‘“
G stochert mit der Gabel in seinem Fleisch: „Das hier hat keine Augen, obwohl es Ribeye Steak heißt. Weißt du, was mich an diesen Kostverächtern stört? Die Übellaunigkeit. Dieser Eifer, einem die Suppe zu versalzen und das Fleisch madig zu machen. Diese Hybris, die Wahrheit gepachtet zu haben.“
D: „Genauso ist es. In dem satirischen Roman ‚Wurst und Wahn‘ kannst du lesen, wohin dieser Kreuzzug führt, wenn wir nicht tierisch aufpassen: Fleisch und Wurst gibt es im Supermarkt nur noch hinter einer hohen Wand, so wie früher den Schweinkram in der Videothek. Wer sich noch traut, diesen Vorhof der Hölle zu betreten, hat sich vorher dreimal umgeschaut, ob ihn jemand sieht. Currywurst, Ochs am Spieß und Hackepeterbrötchen gibt es nur noch im Schmuddelviertel der Stadt. Nein, wir sollten uns die Laune und die Lust auf Fleisch nicht verderben lassen. Ich liebe Schinken auf einem guten Stück Brot, und ich beiße mit Genuss in eine Bratwurst. Eine heitere Gesinnung ist ein Segen für jede Tischgesellschaft.“
G: „Recht hast du. Mir kommt gerade ein Traumbild in den Sinn. Schließ mal kurz die Augen.“
D: „Wie soll ich denn da meine Haxe essen?“
G: „Nur kurz, das fördert die Phantasie. Ich träume vom Schlaraffenland. Flüsse voller Milch und Honig, Brunnen voller Wein und Champagner. Die Balken in den Häusern sind aus Schweinebraten, die Zäune aus Bratwürsten geflochten, die Vögel fliegen gebraten direkt ins Maul, an den Bäumen wachsen Würste und Schinken, die Spanferkel laufen gebraten übers Land, das Tranchierbesteck gleich im Rücken.“
D: „So ein Schlaraff wäre ich auch gern. Wenn es das Land nicht nur im Märchen gäbe…“
G: „Die Franzosen behaupten ja, es liege im Lauragais, südöstlich von Toulouse. Aber unsere Nachbarn waren ja immer schon der Auffassung, alles Paradiesische gehöre zu ihnen…“
D: „Willkommen im Schlaraffenland. Das ist es doch! Soll doch jeder essen, was er will. Meinst du nicht, dass die Vorstellung auch unsere Fleischverächter überzeugen könnte?“
G: „Ist doch egal – Hauptsache, wir sind überzeugt. Ansonsten sollten wir uns an ein wunderbares Liedchen von Stephan Remmler erinnern: ‚Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei…‘“.
Erster GangUnter Wilden
Euter, Kutteln, blaue Würste: Der Mensch verträgt allerlei – vor allem, wenn er über einen süddeutschen Kampfmagen verfügt. Eine Expedition ins Reich der Allesesser.
Es gibt kein Essen, das so gut ist, daß es nicht auch einmal schaden kann. Sollte einmal etwas schiefgehen, brich nicht für immer mit mir, deinem Freund. Man kann auch an Wasser ersticken.
Hector Abad in seinem Büchlein „Kulinarisches Traktat für traurige Frauen“
Fünf Männer sitzen um einen Ecktisch, einer steht daneben. Die fünf in der bequemeren Lage sind: die für ihre skurrilen gezeichneten Witze berühmten und berüchtigten Herren Achim Greser und Heribert Lenz, der Buchverleger René Heinen sowie die unvermeidlichen D und G. Der Mann, der sich jetzt leutselig über den Tisch beugt, heißt Florian Löffler, Küchenchef im „Oechsle“, einem Restaurant im Aschaffenburger Hotel „Zum Goldenen Ochsen“. „Wie machen wir’s denn“, fragt, nein: brüllt Herr Löffler in die Runde.
Das Tonbandgerät geht seiner Arbeit nach, es verzeichnet – obgleich die Gaststube eine gediegene Bürgerlichkeit ausstrahlt – einen beinahe infernalischen Lärm, der allein von dieser Männer-Runde entfacht wird. G brüllt zurück: „Wir hätten gern Fleisch. Wir arbeiten an einem Buch über Fleisch, und zwar…“ (jetzt wird er noch ein wenig lauter) „…wie ich ausdrücklich betonen möchte, aus einer nicht-veganistischen Grundhaltung heraus.“ – „Ach so“, sagt der Küchenchef. Und dann:
Herr Löffler: „Sehr sympathisch. Also speisen die Herren heute Abend ausschließlich Schweinesteaks blutig.“
Greser: „Da hört man das Schwein noch grunzen.“
Der Wirt: „Wenigstens möchte ich raten, dass wir den Mozzarella dann mit Speck bereiten…“
Die Herren lachen. Einer, dessen Heiterkeitsausbrüche über die Grenzen des Frankenlandes hinaus berühmt sind, lacht besonders laut – der Herr Greser, der natürlich noch eins draufsetzen muss.
Greser: „Und die Tofu-Bällchen wandern umgehend in die Biotonne.“
Der Wirt zu Greser: „Hast du Angst vor Kalbsbries?“
Greser: „Nein, du hast mir das mit so hellen Worten gepriesen. Das wird gegessen.“
D: „Ich freue mich darauf!“
G: „Muss ja keine ganz große Portion sein.“
Der Wirt: „Aber jetzt erstmal einen hiesigen Mozzarella, mit Kirschen und grünem Olivenöl, Brotkrusten aus dem Frankenlaib und Speck. Danach ein kleiner Zwischengang mit der Drüse.“
Lenz (etwas zögerlich): „Ich lass mich überraschen.“
Greser: „Was ist denn dieses Bries genau?“
Der Wirt: „Die Thymus-Drüse sitzt im vorderen Bereich der Brust bis zum Hals, sie wird oft mit dem Hirn verwechselt. Ist fast weiß, äußerst zart und fein im Geschmack.“
Die Herren trinken Bier, die Gläser klirren, nein: scheppern mal wieder. G muss die gut gelaunte Runde mit einer scherzhaften Bemerkung drangsalieren: „Da ich die Finanznöte unseres Buchverlegers kenne, war ich für einen Moment versucht, Leberkäs‘ mit Spiegelei zu bestellen…“ Der Moment muss sehr kurz gewesen sein.
Der Wirt steht schon wieder am Tisch: „Als Hauptspeise gibt es Maibock. Das ist ein Rehbock, der darf ja ab Mai wieder geschossen werden. Sollen wir eigentlich die Kutteln auch noch dazwischenschieben?“
G zeigt auf D: „Der Mann ist ganz scharf darauf.“
Lenz: „Für mich bitte nur eine GANZ KLEINE Portion.“
G: „Für mich auch.“
Herr Heinen (enthusiastisch): „Für so etwas muss man sonst ins Elsass fahren. Kutteln! Phantastisch. Frankfurt ist ja in solchen kulinarischen Randlagen etwas behindert.“
Greser: „Was findet man überhaupt bei euch in der Großstadtküche. Crossover und so’n Zeug, oder?“
D: „Maispoularde. Die fehlt auf keiner Speisekarte mehr.“
G: „Neulich wurde in einer Fernsehreportage berichtet, dass die Europäer am liebsten Hühnchenbrust essen, während in manchen afrikanischen Ländern die Schenkel begehrter seien.“
Lenz: „Die Schenkel, die werden alle von uns dorthin geschickt. Die müssen essen, was wir übriglassen.“
Eine kurze Phase betroffenen Schweigens. Die Herren gabeln den Mozzarella herunter. „Wo ist denn hier der Speck?“, fragt Herr Heinen. „Frankenlaib“, murrt Greser, „auch so ein Angeberwort. Als wenn es anderswo keine Brotlaibe gäbe!“ Der Verleger doziert, dass das Restaurant im Guide Michelin zwar keinen Stern, aber eine lobende Erwähnung errungen hat.
Greser hat das Große und Ganze im Blick: „Ich glaube, dass wir kurz davorstehen zu erleben, wie das Pendel zurückschlägt. Die Menschen fremdeln mit vielen Folgen der Digitalisierung und der Globalisierung, sie fremdeln vor allem mit der um sich greifenden Verbots- und Gebotskultur. Diejenigen, die sowieso widerständig waren, sagen jetzt zum Beispiel: Jawohl, wir bekennen uns dazu, dass wir auch gern Fleisch essen…“
G: „Diejenigen, die aus anständigen Familienverhältnissen stammen…“
Greser guckt um den Tisch herum: „Bei wem ist denn das nicht der Fall?“
G: „…die haben häufig den Veganismus daheim am Hals. Es gibt immer eine Tochter, eine Tante, eine Nichte – meistens, so scheint es, jüngere Frauen – die sind imstande, einem jede Familienzusammenkunft zu versauen.“
Erneut verständnisvolles Ablachen.
Herr Heinen: „Wir können derzeit jedenfalls erleben, dass das Digitale im Buchgeschäft auf dem Rückmarsch ist.“
Greser: „Echt? Das E-Book läuft nicht mehr?“
Herr Heinen: „Tot. Das Geschäft ist tot.“
Greser: „Ich habe aber gehört, dass vor allem die Deutschen da so rappelköpfig sind.“
Lenz: „Bei den Amerikanern läuft das doch anders.“
Herr Heinen: „Ja, das stimmt. Aber auch dort wurde der digitale Triumphzug heillos übertrieben dargestellt. Vor einigen Jahren wurde behauptet, E-Books hätten einen Marktanteil von 44 Prozent. In Wahrheit sind es wohl nur 17 Prozent.“
D: „Selbst in Amerika?“
Herr Heinen: „Ja, sogar dort. Und bei uns sind es vier bis fünf Prozent.“
G: „Um auf unser Thema zurückzukommen: Die Nahrungsaufnahme findet ja sowieso immer noch in der analogen Welt statt. Herr Verleger, Sie verlegen ja dieses Buch zum Thema Fleisch. Wieso eigentlich? Sie sehen ja nicht aus wie ein gestandener Haxen-Verdrücker. Was essen Sie gern, was hat Ihre Mutter gern gekocht? Diese Dinge sollten hier mal auf den Tisch.“
Herr Heinen: „Grundsätzlich möchte ich anmerken, dass ich es bedenklich finde, dass wir aus einem pseudo-moralischen Impetus heraus die Tiere gar nicht mehr richtig essen. So ein Bries, Nieren, Leber stehen ja in Deutschland häufig gar nicht mehr auf der Speisekarte. Das ist doch eine unzulängliche Verwertung des Tieres. Da sind nur noch Filet oder Steak oder Koteletts en vogue – der Rest wird nicht mehr gegessen. Das sieht in unseren Nachbarländern, zum Beispiel in Frankreich und Österreich, schon ganz anders aus. Ich frage mich, welche bigotte Haltung steckt dahinter? Warum ekeln wir uns vor Fleischarten, die gestern noch selbstverständlich gegessen wurden?
Meine persönliche Leibspeise? Ich habe ja länger in Spanien gelebt. Da wird das Steak, anders als bei uns, aus der Rippe geschnitten, vergleichbar dem amerikanischen T-Bone-Steak. Das ist groß und gut. Das kommt von einem Fleischer um die Ecke, das ist echtes Slowfood…“
Greser: „Was heißt denn das eigentlich, dieses Slowfood? Von einem lahmarschigen Koch zubereitet?“
Herr Heinen: „Das eher nicht. Das kommt nur wenige Sekunden in die Pfanne, von beiden Seiten angebrutzelt…“
G: „Das heißt, es blutet auf dem Teller.“
Herr Heinen: „Auf jeden Fall.“
G: „Sitzen Sie beim Essen dann immer allein am Tisch, oder bleibt Ihre Frau dabei?“
Herr Heinen: „Meine Frau hat sich an den Anblick gewöhnt. Die Kinder ekeln sich.“
Greser: „Aber es gibt ja auch Fleisch, das man gern vollkommen durchgegart genießt, das auf der Gabel in seine Fasern zerfällt. Das ist doch auch wertvoll und ein Genuss. Es muss nicht immer blutig sein!“
D: „Sowas gibt’s doch sogar in Frankreich! Cassoulet oder Boeuf Bourguignon zum Beispiel, das stunden- oder gar tagelang geschmort wird – wunderbar! Von der deutschen Braten-Kultur ganz zu schweigen.“
G: „Was isst du denn am liebsten?“
D: „Ich bin ja ein großer Freund davon, dass man einfache Dinge gut macht. Deswegen schätze ich Bratkartoffeln zum Beispiel, mit einer guten Bratwurst!“
Greser: „Das kann extrem gut und extrem furchtbar schmecken.“
Da steht der Küchenchef wieder neben den Herren. „Da ist sie, die Thymus-Drüse“, sagt er, „mit a’m weißen Spargel.“ Greser fragt nochmal nach und stupst das hellbraun gebratene Fleischhäppchen mit der Gabel an: „Das ist das Bries, ja?“ Zwischendurch wechseln Greser und der Wirt in eine Sprachform, die auch bei mehrmaligem Nachhören auf dem Tonband nicht übersetzungsfähig ist. Das fränkische Idiom, dargeboten in der Stimmlage zweier grippekranker älterer Frauen. Es muss heiter sein, die beiden lachen. Die übrigen werden von einem schwärmerischen Drüsenfieber heimgesucht. Greser murrt nur über die Beilage: „Spargel ist doch weithin überschätzt. Eine Art Kasten-Gemüse.“ G sagt: „Als Kind habe ich Spargel gehasst. In der Schule habe ich einen Mathe-Lehrer gefunden, der meiner Verachtung das wissenschaftliche Fundament bereitet hat. Spargel, sagte er, bestehe zu über 90 Prozent aus Wasser, habe mithin keinerlei Nährwert. Warum sollte man ihn dann essen? Inzwischen allerdings mag ich Spargel sehr gern.“
Herr Heinen: „Das Bries schmeckt echt super.“
D: „Ich mag sowieso gern Innereien. Für eine schöne Kalbsniere in Senfsauce wäre ich bereit, Menschen anzufallen.“
Herr Heinen: „Geht mir ähnlich.“
Greser mahnt zur Vorsicht. Innereien seien doch allesamt Harnsäure- und damit Gicht-fördernd. „Ach ja“, sagt Herr Heinen, „ein bisschen Gicht habe ich auch.“ – „Wer nicht?“ fragt D. G gibt den Aufklärer: „Dagegen hilft das Allerheilmittel Allopurinol. Nehme ich sicherheitshalber durchgängig.“ – „Ach was“, sagt Greser. „Ist ja vor allem eine Männerkrankheit“, weiß Herr Heinen, „in früheren Zeiten eine Krankheit der Lords.“ – „Und ein Wohlfahrtsgebrechen“, doziert Greser. Herr Heinen, der häufig eine eher traurige Stimmlage sein eigen nennt, wechselt zurück zum Genuss. „Es gibt nichts Schlimmeres“, erzählt er mit leicht belegter Stimme, „als wenn man so etwas in einer Begleitung zu sich nimmt, die derartige Köstlichkeiten nicht zu würdigen weiß. Ein Schulfreund von mir ist in diesen Fragen äußerst heikel, weil er sehr stark von dem Korrektheitsdiskurs in der eigenen Familie geprägt ist. In Frankreich hat er sich mal eine gebratene Gänsestopfleber bestellt – und als die kam, hatte er plötzlich Gewissensbisse, die er auch äußerte. Wir haben ihm gesagt: ‚Komm, iss, versau uns nicht den ganzen Tag.‘ – ‚Wenn meine Frau das wüsste‘, hat er geklagt. ‚Die ist aber nicht hier‘, habe ich ihm geantwortet, ‚du bist hier auf Männer-Wellness…‘“ G hat einen praktischen Vorschlag: „Ich würde den mitsamt seiner Stopfleber fotografieren, dann ist Ruhe. Manchmal kann eine kleine Erpressung Wunder wirken.“
Der Küchenchef ist wieder da. „Passt alles?“, fragt er. „Sensationell“, lobt D. „Ja“, schwärmt der Wirt, „ich mag’s total gern. Leicht süßlich, so soft. Aber es muss ganz frisch sein. Manche Köche pochieren das Bries – dann hat es schnell mal die Konsistenz von Gummi. Das hier ist roh gebraten.“ Die Herren äußern ihr Entzücken. Nur Lenz ist ziemlich schweigsam.
D: „Dem Franken seine Religion ist ja der saure Zipfel, nicht wahr?“
Greser: „Von Religion würde ich nicht sprechen. Ist halt eine deutlich andere Zubereitungsart der Bratwurscht.“
Die Sauren oder Blauen Zipfel sind Bratwürste, die roh in einem Sud aus Zwiebeln, Essig, Weißwein, Salz und Zucker geköchelt werden. Dabei laufen die Bratwürste leicht bläulich an. Manchem gelten sie als überragende fränkische Delikatesse. Andere gehen lieber auf Distanz.
Greser wehklagt: „Mehr Bedeutung hat das Fränkische ja sowieso nicht mehr als diese Wurst. Spätestens seit Lothar Matthäus ist der Stolz auf den eigenen Stamm doch ziemlich verschwunden.“
Herr Heinen (gutmütig): „Aber er war doch ein großer Fußballer.“
Greser: „Ja, ja, aber die Zeit danach… Er könnt ja auch einfach mal sein Maul halten. Wenn der Mann spricht, setzt sofort das Fremdschämen ein. Der Söder ist ja auch Franke.“
Herr Heinen: „Tatsächlich?!“
Lenz: „Es gibt auch andere. Tilman Riemenschneider zum Beispiel.“
Schallendes Gelächter.
Greser: „Ja, Riemenschneider. Und Dürer! Lauter wunderbare Franken.“
G (streng): „Jetzt mal zurück zum Essen. Was bedeutet Fleisch eigentlich? Ist das ein Grundnahrungsmittel?“
Greser: „Ja, das sehe ich so. Ich habe ja früher noch an Hausschlachtungen teilgenommen, habe auch mit einem Cousin zusammen selbst eine Hausschlachtung gemacht. Wir haben, wie es damals noch üblich war, eine Sau gekauft, den Schlachter bestellt und uns die Beute geteilt. Ich mag das sehr. Das ist archaisch. Das ist ein elementarer Teil des Fundaments unserer Zivilisation – diese Techniken entwickelt zu haben, mit dem Geschmack und der Konservierung zu experimentieren… Dagegen zu sein ist schlicht abartig, es ist uns wesensfremd und ich habe schon einen Zorn auf die Veganer, die das alles vom Grundsatz her in Frage stellen. Viele Veganer stehen für mich auf einer Stufe mit den Salafisten – mit Menschen also, die ein böses, zerstörerisches Programm haben.“
»Das Tier ist ja sowohl Gegenstand der Sentimentalität als auch der Nahrungskette.«
G: „Wie hält es denn der Franke mit dem Tierwohl?“
Greser: „Das Tier ist ja sowohl Gegenstand der Sentimentalität als auch der Nahrungskette. Ich habe einen Bekannten, dessen Vater war Jäger. Die haben irgendwann einen Wildschwein-Frischling daheim aufgezogen. Das Tier entwickelte dann ja auch eine gewisse Persönlichkeit und eine Nähe zur Familie – da war der Vater nicht mehr in der Lage, es totzuschießen, wie er’s ja bei seinen Artgenossen ohne Bedenken tat. Da war die Sentimentalität größer als der Appetit.“
G: „Wenn man von nördlich der Mainlinie gen Süden blickt – den raffinierten Unterschied zwischen Franken und Bayern nimmt ja dort niemand zur Kenntnis, die Baden-Württemberger werden auch noch mit eingemeindet – dann ist der Eindruck weit verbreitet, im Alpenvorland lebe eine ganz besondere, fleischfressende Menschengattung.“
Der Badener D unterdrückt den Hinweis, dass es Baden-Württemberger nicht gibt, sondern nur Badener und Schwaben. Erstere essen geräucherte Schweineschulter („Schüfeli“ oder „Schäufele“), letztere Spätzle mit Linsen. Das sagt alles.
Greser: „Jedenfalls regiert hier noch die regionale Küche, seit Jahrhunderten schon. Ich denke, dass die süddeutschen Stämme einander in dieser Frage sehr ähnlich sind und sehr traditionsbewusst bleiben. Ob Fleisch dazu gehört oder nicht, hatte immer damit zu tun, ob es verfügbar oder erschwinglich war. Und dann gab und gibt es ja noch das kirchliche Gebot, freitags auf Fleisch zu verzichten.“
G: „Da sind die Menschen ja recht findig. Tiere, die in Wassernähe lebten, wurden früher kurzerhand zu Fischen erklärt und waren damit auch am Freitag erlaubt. Biber und ähnliches Getier.“
1991 erschien ein Buch unter dem Titel „Tief in Bayern“, als Autor wurde der texanische Kulturanthropologe R. W. B. McCormack angegeben. Er näherte sich dem süddeutschen Stamm wie ein Ethnologe des 19. Jahrhunderts, der zum Beispiel den afrikanischen Völkern längs des Nils auf die Schliche kommen wollte. „Der Bayer“, schreibt McCormack, „nimmt seine Speisen am liebsten in geballter Form zu sich. Der monolithische Knödel ist wesensverschieden von den diffusen Spätzle der benachbarten Schwaben. Größe rangiert vor Geschmack“. Frömmigkeit ist den Bayern eigen, aber: „Über das Sanctum wird das Schweinerne gestellt. Die Sau steht hier, wie Polt es formulierte, im Zenit ihrer Erfüllung.“ Was dem Kampfmagen der deutschen Wilden zugeführt wird, braucht auch eine zufriedenstellende Verarbeitung: „Nach dem Genuss von Bier verschafft sich der Bayer mit Rülpsern und Kopperern Luft. Auf besonders gelungene Exemplare macht er seine Umwelt mit erhobenem Zeigefinger aufmerksam.“
Der Volkskundler stützt seine teilnehmende Beobachtung auf eine Vielzahl von Aussagen, die die Eigenart des bajuwarischen Eingeborenen illustrieren. Auf die Frage an einen zeitgenössischen Künstler, warum der sich in Bayern wohl fühle, antwortet der programmatisch: „Mir schmeckt gut eine Tellersülze“. Ein angemessener Umgang mit Essen und Trinken hilft dem Bayern-Stamm auch über Tragödien und Abgründe des Lebens. Sitzt einer, schreibt McCormack, in seiner Stammkneipe, als der Wirt einen Telefonanruf entgegennimmt. „Sepp“, sagt er, „dein Vater is gschtorm.“ Antwortet Sepp: „Dann gibst mer a Dunkls.“ Übrigens: Besagter Kulturanthropologe McCormack ist erfunden; das Buch hat ein bayerischer Amerikanistik-Professor verfasst, der sich redlich Mühe gab, seine Identität zu verschleiern. Er fürchtete wohl die Rache seines Stammes – obgleich seine Ermittlungen so wahrhaftig sind, dass auch eine empirische Untersuchung kaum andere Ergebnisse gezeitigt hätte.
G: „Eine Zeitlang habe ich ja in Oberfranken gelebt, da sind einem auch in der Kulinarik Dinge begegnet, von denen man im Rest der Republik noch nie was gehört hat. Und auch nichts hören will! Zum Beispiel Gänsschwarz. Das gibt es zur Kirchweih, mancherorts aber auch zu Weihnachten in Oberfranken. Eine dickflüssige Blutsuppe von Gänsen, darinnen dümpeln Innereien, Füße, Köpfe, Knochen. Vor manchen Gasthäusern stehen die Einheimischen mit ihren Kochgeschirren dafür Schlange. Ich habe das nicht probiert, will es auch nicht. Ein Kollege hat damals erzählt, wie einer, der vor ihm in der Schlange stand, bei der Essensausgabe drängte: ‚Tu mir mal noch ein paar Schlappe mit nei.‘ Schlappe, das sind die Gänsefüße, die offenbar auch manchem schmecken.“
Von der Blutsuppe zur Blutwurst ist es nicht weit. „Die Blutwurst können ja heute viele gar nicht mehr ertragen“, brummt Greser, „wahrscheinlich schon wegen des Namens. Wenn das Paté de Irgendwas heißen würde, dann wären sie alle ganz verrückt danach.“ G weiß: „Die Rheinländer sind ja bekanntlich Spitzenverkäufer. Die Kölner nennen die gebackene Blutwurst hochtrabend Kölsche Kaviar. Das klingt doch gleich ganz anders.“ – „Himmel und Äd“, schwärmt der gebürtige Rheinländer Heinen – Blutwurst aus der Pfanne mit Apfelbrei…
Der Küchenchef drängt sich in der ihm eigenen Unaufdringlichkeit ins Gespräch, er hat den neuen Gang dabei. „Die Mädchen-Portionen für die beiden Herren“ – er meint Lenz und G. „Auf dem Teller“, erläutert der Wirt, „haben wir veganen Speck – geräucherte Rote Bete – Linsen, Semmelknödel. Und Kutteln. Passt schon!“ Bevor sich die Herren noch über die Teller beugen können, ist der Wirt abermals da und hält ihnen das Wildbret hin. „Was ist das?“, fragt Greser. „Tofu“, antwortet der Wirt, „marmoriertes Tofu“.
Schweigend gabeln die Herren die Kutteln, die einen aus Begeisterung, die anderen eher langzähnig. „Mein Lieblingsgericht wird das nicht“, verkündet G, gibt sich aber auch versöhnlich: „Ich verachte dich nicht, weil du das magst“, sagt er zu D. Sorgenvoll blickt er zu seinem Nachbarn Lenz: „Der Mann hat zu kämpfen.“ Später wird Lenz erzählen, dass ihm der Zugang zum Fleisch schon in jungen Jahren verleidet wurde, weil der Verzehr von Lunge und Leber daheim Pflicht war. „Ich habe das gehasst“, sagt er. Jetzt nähert er sich dem Fleischkonsum nur noch nach Laune. „Ich esse wirklich ganz wenig Fleisch“, berichtet Lenz, „Geflügel, Fleischpflanzerl, Leberkäs, Bratwurst. Und Leberwurst! Nicht, weil ich Vorbehalte hätte, sondern weil ich’s nicht mag.“ Greser: „Leute gibt’s!“
G hat eine weitere Erinnerung aus dem Oberfränkischen beizutragen, aus Coburg: „Da stand vor mir an der Fleischtheke eines Supermarktes eine breithüftige Dame und erläuterte der Wurstverkäuferin ihr Wochenendprogramm: ‚Wir machen heute und morgen auf vegetarisch. Tu mir mal zwei Kilo Hack.‘“
Greser: „Hat die nicht einmal gelacht dabei?“
G: „Kein bisschen. Die Fleischerin hat verständnisvoll genickt.“
D: „Das Fleischpflanzerl kann man ja gut oder schlecht zubereiten. Wenn es gut gemacht ist, mag ich das sehr gern. Ein Kollege von mir nannte die Frikadelle immer ‚Tibet-Knolle‘. Seine Begründung: Im Inneren weitgehend unerforscht.“
Greser (von einem seiner Lachanfälle geschüttelt): „Dazu passt ja ein hessischer Fassenachtsspruch: ‚Die Jungfrau und die Leberworscht, die bleiben ewig unerforscht‘“.
G: „Die arme Jungfrau!“
G: „Was ist denn das Lieblingsfleischgericht der Herren?“
Lenz: „Leberkäs.“
Greser: „Sauerbraten, weil der ein bisschen raffinierter ist. Oder, noch besser: der Sonntagsbraten. Da schwingt so viel Bedeutung mit, schon in der Konnotation und dann noch dazu die gesamte katholische Sonntagsbetrachtung. Die Vorbereitung, der Kirchgang, das Sonntagsmahl – das hat schon Festtagscharakter.“
G: „Und zum Fleisch gibt es immer Knödel.“
Lenz: „Nein, nein, Knödel sind ja bayerisch. Bei uns in Franken gibt es Klöß, Kartoffel- oder Weckklöß. Bei uns hat die Mutter einen Kümmelbraten bereitet. Das ist Kalbfleisch mit viel Kümmel, und in der Mitte ist eine Bratwurst. Das schmeckt ganz toll. Kümmel ist ja total unterschätzt, möchte ich bei der Gelegenheit mal sagen.“
D: „Auch als Getränk!“
Da sind sie wieder, die Feinheiten der süddeutschen Identität. Klöße oder Knödel, das ist dem ahnungslosen Preußen allemal dieselbe Pampe. Knödel wie Klöße kullern werktags wie sonntags über die Teller, und das schon seit Jahrhunderten. Im 19. Jahrhundert unterlag die Ernährung des oberbayerischen Landvolks der „fast ausschließlichen Herrschaft von Mehl-, Milch- und Schmalzspeisen“ (so ein Bericht aus dem Jahr 1860). Fleisch gab es in diesen kargen Jahrzehnten nur fünfmal im Jahr: an Fastnacht, Ostern, Pfingsten, Weihnachten und zur Kirchweih. Derweil mästete sich das Stadtvolk. 1840 wurden in der 83.000-Einwohner-Stadt München fast 77.000 Kälber geschlachtet, das war knapp ein Kalb pro Kopf, angeblich so viel wie in keiner anderen Stadt der Welt. Kalbfleisch gab es schon zum Frühstück, zumeist Würste und Innereien – und so zog es sich über den Tag, heruntergeschwemmt mit diversen Maß Bier.
Heute aber ruht neben apfelgroßen Kugeln aus Semmeln (Bayern) oder Kartoffeln (Franken) auch auf dem einstmals armen Land immer ein Stück Fleisch, mindestens. Spanferkel wird in Bayern gern genommen, außerdem alles, was ein geschlachtetes Tier so hergibt: Euter, Kutteln, Kalbskopf, Kälberfüße… Die Kuheuterschnitzel werden in Bayern und Franken und übrigens auch in Berlin paniert in der Pfanne bereitet, in der kulinarisch unterbelichteten deutschen Hauptstadt werden sie stolz „Berliner Schnitzel“ genannt. Im Frankenland klingt dasselbe Gericht gleich viel niedlicher: Schnickerli! In Oberfranken werden sonntags gern „Bräten“ mit Klöß aufgetischt – drei Sorten Fleisch (Kalb, Rind, Schwein) in einer sämigen Tunke. Und in jedem zweiten Gasthaus südlich des Mains werden Sülzen feilgeboten, süß oder sauer, gern mit Zwiebeln. Ein großer Teller-Hit ist zudem – allerdings nicht nur im wilden Süden – der Unterschenkel vom Schwein: „Haxn“, gern vom Grill oder auch gekocht.
Und wie ist das mit dem großen Unterschied? Bayern wie Franken, obwohl in einem Bundesland vereint, bestehen auf einer sauberen Grenzziehung. Für die Münchner ist die geographische Klärung einfach: Der „Weißwurst-Äquator“ definiert den Unterschied. Meistens verläuft er entlang der Donau, seltener nördlich der Mainlinie, ganz selten längs dem 49. Breitengrad (nördlich von Ingolstadt). Die Franken hingegen wehren sich erbittert gegen jede Art der Eingemeindung. Sie pflegen ihre eigene Wurstkultur. Die berühmten Nürnberger. Die schon erwähnten Blauen Zipfel. Fränkische Bratwürste sind so vielfältig, wie es Gemeinden gibt. In Hof sind sie lang, dünn und fein. In Kulmbach ist vor allem das Brötchen erwähnenswert, in dem die Wurst daherkommt: Es wird mit Anis bestreut. Die Bamberger Bratwurst gilt als „mittelgrob“ und wird auch gern als Sülze angeboten. Im Frankenland wird zwischen „katholischen“ und „evangelischen“ Bratwürsten unterschieden – in protestantischen Gegenden wird die gröbere Wurst bevorzugt, in den reicheren katholischen Städtchen wird das feinere Brät verwendet. Allemal liegt ein Segen auf der Frankenwurst: An Weihnachten wird im ganzen Land gern in die Wurst gebissen, häufig nach der Mitternachtsmesse, wenn der erste Weihnachtsfeiertag gerade angebrochen ist.
Die seltsamste aller fränkischen Bratwürste gibt es in Coburg. Auf dem historischen Marktplatz steigt tagtäglich Qualm aus zwei Wurstbuden in den Himmel, „unter dem Gesichtspunkt der Luftreinhaltung eine Zumutung“, mäkelt ein Anwohner. Laut sagt er lieber nichts, denn das wäre in Coburg ein Sakrileg. Auf dem Grill brutzeln die Würste über Kiefernzapfen, manche bis sie buchstäblich schwarz sind. Macht nichts, das verleiht den 31 Zentimeter langen Dingern erst die richtige Deftigkeit. Sie sind sowieso beinahe heiliggesprochen: 1530 soll Martin Luther in eine gebissen haben. Hat’s ihm geschmeckt? Dazu schweigen die Geschichtsbücher.
Über so viel Kleinstaaterei bei den Würsteln können die Großstädter an der Isar nur die Achseln zucken: Sie haben ja ihren Äquator. Und ihre Weißwurst! Der, den sie an der Isar Weißwurst-Papst nennen, residiert in der Kochelseestraße: Ludwig „Wiggerl“ Wallner ist Chef des Restaurants Großmarkthalle, das berühmt ist für seine frühmorgens um sechs zubereitete Spezialität: die Weißwurst, hergestellt zu hundert Prozent aus Kalbsbrät, Pfeffer, Zitrone, Muskat, Petersilie und einem streng geheimen „Weißwurstgewürz“. Wenn das Gasthaus um punkt sieben öffnet, drängt es eine illustre Gesellschaft zur Wurst: Arbeiter und frisch frisierte Angestellte aus der Umgebung, Stammgäste und menschliches Strandgut der Nacht, mancher erhofft sich von der Wurst und dem dazu gehörenden Weißbier neuen Schub gegen den Schlafmangel.
In der Großmarkthalle ist die Weißwurst besser als das Gesetz erlaubt: mindestens 51 Prozent des Brät müssen vom Kalb sein, der Rest darf mit Schweinernem aufgefüllt werden. Früher galt die Regel, dass das letzte heilige Würstchen spätestens mit dem Zwölfuhrläuten verzehrt worden sein sollte, wegen der Vergänglichkeit der frischen Zutaten. Da sich aber heute die Ströme von japanischen und preußischen Touristen zu jeder Tageszeit über die Gastronomiebetriebe der bayerischen Hauptstadt ergießen, gibt’s auch die Nationalwurst rund um die Uhr. Dem einheimischen Kenner behagt das übrigens nicht. Der traditionsbewusste Wies’n-Wirt Richard Süßmeier klärte die „Süddeutsche Zeitung“ auf: Die Weißwurst „ist keine Briefmarke, die, je älter sie wird, desto wertvoller ist.“
»…wenn ich manchmal zuschau‘, wie so eine Weißwurst massakriert und dann noch in kleine Bröckerl geschnitten wird – furchtbar!«
Den auswärtigen Gast erkennt man mitunter daran, dass er der Pelle mit Messer und Gabel zu Leibe rückt. Der Eingeborene hingegen „zuzelt“ gern – er saugt die hellgraue Köstlichkeit aus dem Schweinsdarm. Und wie macht es der Herr Süßmeier? „Da sollte man tolerant sein. Nur, wenn ich manchmal zuschau‘, wie so eine Weißwurst massakriert und dann noch in kleine Bröckerl geschnitten wird – furchtbar! Ich selber esse sie wie ein Kannibale. Ich nehme sie in die Hand und beiße runter.“ Der Schweinsdarm, den der Wies’n-Wirt dabei mit verschlingt, ist in der Regel nicht „Made in Bayern“, sondern wird aus China eingeführt, wie ein heimischer Fleischer berichtet: „Weil der Chines’ genau des Kaliber hat, was wir für unsere Würscht’ brauchen.“
Der bayerischen Geschichtsschreibung folgend, hat ein gewisser Sepp Moser, Wirt in der Bierkneipe „Zum Ewigen Licht“, Marienplatz 26, die Weißwurst am 22. Februar 1857 erfunden. Es war ein Sonntag, Höhepunkt des Faschings – und gerade da seien ihm die Schafdärme für seine Bratwürste ausgegangen. Schweinsdärme freilich waren noch vorhanden, da füllte er in seiner Not das Kalbsbrät hinein. Da er fürchtete, die Schweinsdärme würden auf dem Rost platzen, kochte er die Notkreation, verfeinerte sie später noch „mit allerlei Grünzeug“, fertig war die Delikatesse.
Der Stadtarchivar Richard Bauer freilich streut Zweifel an dieser schönen Münchner Legende. In Wahrheit sei die Novität eine enge Verwandte der schon seit Jahrzehnten zur Starkbierzeit massenhaft vertilgten Maibockwurst. Schlimmer noch: Vielleicht war die Münchner Spezialität auch eine Nachahmung der französischen „Boudin blanc“. Der Herr Stadtarchivar notiert genüsslich: „Im Münchner Bockkeller feierte diese gastronomische Errungenschaft jedenfalls ihre großen Triumphe.“ Der Herr Bauer äußerte seinen Zweifel just zum 150sten Jahrestag der Wurstwerdung, am Ende seiner Ausführung wird er dann aber doch von seiner Heimatliebe übermannt: „Gute Legenden haben auch ein Recht auf ein Jubiläum!“
Der Küchenchef preist einen Sauvignon Blanc aus dem Frankenland, aber die meisten Herren bleiben beim Bier. Der Wirt schafft Platz für den Maibock. „Ach was“, sagt Greser, „jetzt kommt erst das richtige Fleisch?“ – „Und als Nachtisch gibt es Bratwurst“, vermutet G.
Greser: „Mit heißen Himbeeren? Zum Thema Fleisch möchte ich auch noch erwähnen, dass es in Gegenden wie dieser, wo Traditionen noch gelebt werden, eine Abstimmung mit den Füßen gibt beim Fleischkauf: Auch wenn die Supermärkte jetzt alle eigene Fleischtheken haben – der Traditionalist geht zum Metzger seines Vertrauens. Da weiß er, was er bekommt. Und da stehen auch noch die Haustöchter hinterm Tresen, herrlich herausgefressen anzuschauen, die in keiner Weise der Instagram-Influenza unterlegen sind, rotwangig, eine Wärme und Vertrautheit verbreitend. Was hat das für eine Herzensschönheit!“
D: „In solchen Läden wird auch gern auf die Frage: ‚Haben Sie noch die fette Grobe?‘ geantwortet: ‚Die hat heute Berufsschule…‘“ Ein weiterer Heiterkeitsausbruch sowie der Griff zum Glas bilden eine angenehme Symbiose.
G: „Aber viele Fleischer flüchten sich ja heutzutage auch schon in Standardprogramme. Wurstringe wie mit dem Zirkel geschnitten, kerzengerade Salami, alles muss porentief rein sein.“
Lenz: „Und der Metzger ist durchtrainiert und schlank.“
Greser: „Der Marathon-Metzger!“