Flieh um dein Leben - Gregg Hurwitz - E-Book

Flieh um dein Leben E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

Mike Wingate, seine Frau Annabel und ihre achtjährige Tochter finden sich plötzlich in einem Alptraum wieder, als zwei skrupellose Auftragskiller beginnen, Jagd auf sie zu machen. Mike hat keine Ahnung, warum. Nirgendwo ist seine Familie mehr sicher. Und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie alle dran sind … »Das Buch rast so schnell dahin, dass es mit einem Airbag geliefert werden sollte.« Linwood Barclay

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Seitenzahl: 685

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Gregg Hurwitz

Flieh um dein Leben

Thriller

Aus dem Englischen von Wibke Kuhn

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologJETZT1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelDAMALS6. Kapitel7. KapitelJETZT8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelDAMALS14. KapitelJETZT15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. KapitelDanksagung
[home]

Für Rosie,

die mir mein erwachsenes Ich gezeigt hat.

Und für Natalie,

die allem einen Sinn gegeben hat.

[home]

I won’t be the lonely one.

Glasvegas,

»Daddy’s Gone«

[home]

Prolog

Der vierjährige Junge sitzt auf dem Rücksitz des Kombis, sein Körper ist kaum mehr als eine kleine Erhebung unter der Decke, die jemand über ihn gebreitet hat. Seine Hüfte tut schon richtig weh an der Stelle, an der ihn die Schnalle des Sicherheitsgurts drückt.

Jetzt setzt er sich auf, reibt sich die Augen im Morgenlicht und schaut sich verwirrt um.

Das Auto ist rechts rangefahren und steht im Leerlauf neben einem Maschendrahtzaun. Sein Vater umklammert das Lenkrad mit zitternden Händen. Im Nacken läuft ihm der Schweiß über die gerötete Haut.

Der Junge schluckt, um seine trockene Kehle zu befeuchten.

»Wo … wo ist Mommy?«

Sein Vater atmet keuchend ein und dreht sich um, so dass man die dunklen Bartstoppeln sieht, die nach einem Tag ohne Rasur seine Wange überziehen. »Sie ist nicht … Sie kann nicht … Sie ist nicht hier.«

Dann senkt er den Kopf und fängt an zu weinen. Zuckend und schluchzend, wie jemand, der das Weinen nicht gewöhnt ist.

Hinter dem Zaun laufen Kinder über den aufgesprungenen Asphalt oder stehen Schlange, damit sie auch mal auf die verrosteten Schaukeln dürfen. Ein Schild am Zaun verkündet: EIN NEUER MORGEN IN AMERIKA: RONALD REAGAN FOR PRESIDENT.

Dem Jungen ist heiß. Er blickt an sich herunter. Er trägt eine Jeans und ein langärmliges T-Shirt, nicht den Pyjama, in dem er schlafen gegangen ist. Er versucht, den Worten seines Vaters irgendeinen Sinn abzugewinnen, dieser fremden Straße, der Decke, die auf seinem Schoß liegt. Aber er kann sich auf nichts konzentrieren als auf seinen knurrenden Magen und das Rauschen in seinen Ohren.

»Du hast überhaupt keine Schuld, mein Großer.« Die Stimme seines Vaters klingt fast schrill und zittert. »Hast du verstanden? Wenn du dir eines merkst … dann das … du musst dir merken, dass nichts von dem, was passiert ist, deine Schuld war.«

Er krallt die Hände nun so fest um das Lenkrad, dass sie ganz weiß werden. Auf der Manschette seines Hemdes sieht man einen dunklen Fleck.

Gelächter dringt zu ihnen herüber. Kinder hängen an Kletterstangen und rennen über den heruntergekommenen Spielplatz.

»Was hab ich denn getan?«, fragt der Junge.

»Deine Mutter und ich haben dich sehr, sehr lieb. Mehr als alles andere auf der Welt.«

Die Hände seines Vaters bewegen sich weiter übers Lenkrad. Rutschen ein Stück weiter, drücken wieder zu. Rutschen ein Stück weiter, drücken zu. Als kurz Licht auf die Manschette des Hemdes fällt, sieht der Junge, dass der Fleck überhaupt nicht schwarz ist.

Sondern blutrot.

Sein Vater krümmt sich und seine Schultern zucken, aber er gibt keinen Ton von sich. Dann richtet er sich mit sichtlicher Anstrengung wieder ganz auf.

»Geh spielen.«

Der Junge schaut aus dem Fenster auf den seltsamen Hof, auf dem die schreienden Kinder herumrennen. »Wo bin ich?«

»Ich bin in ein paar Stunden wieder da.«

»Versprochen?«

Sein Vater dreht sich immer noch nicht um, aber er hebt den Blick zum Rückspiegel und sieht dem Jungen zum ersten Mal in die Augen. Sein Mund ist eine entschlossene, gerade Linie, seine blassblauen Augen sind fest und klar.

»Versprochen«, sagt er.

Der Junge bleibt sitzen.

Auf einmal atmet sein Vater ganz komisch. »Geh«, sagt er. »Geh spielen.«

Der Junge rutscht seitwärts über den Rücksitz und steigt aus. Er geht durch das Tor, und als er stehen bleibt, um sich umzuschauen, ist der Kombi verschwunden.

Kinder sitzen auf Wippen und rutschen Feuerwehrstangen herunter. Sie sehen so aus, als würden sie sich hier bestens auskennen.

Eines der Kinder kommt auf ihn zugerannt und versetzt ihm einen Schlag auf den Arm. »Du bist dran!«, schreit es.

Der Junge spielt also Fangen mit den anderen. Er klettert auf dem Gerüst herum, krabbelt durch den gelben Plastiktunnel, wird von den größeren Kindern angerempelt und gibt sein Bestes, um angemessen zurückzurempeln. Als im Gebäude nebenan eine Glocke ertönt, verlassen alle Kinder fluchtartig die Gerüste und verschwinden im Haus.

Plötzlich steht der Junge allein auf dem Spielplatz. Der Wind frischt auf, das tote Laub kratzt über den Asphalt wie Fingernägel. Er weiß nicht, was er tun soll, also setzt er sich auf eine Bank und wartet auf seinen Vater. Eine Wolke verdeckt die Sonne. Er hat keine Jacke. Er tritt in den Blätterhaufen, der neben der Bank liegt. Immer mehr Wolken ziehen sich da oben zusammen. Er bleibt sitzen, bis ihm der Hintern weh tut.

Schließlich tritt eine Frau mit graubraunmeliertem Haar aus dem Haus. Sie kommt zu ihm und legt ihm die Hände auf die Knie.

»Hallo.«

Er schaut auf seinen Schoß.

»Na«, sagt sie. »Wen haben wir denn hier?«

Sie wirft einen Blick über den verlassenen Spielplatz, dann durch den Maschendrahtzaun, um die leeren Parkplätze am Bordstein zu mustern.

Dann fragt sie: »Zu wem gehörst du denn, Kleiner?«

[home]

JETZT

1

Mike lag in der Dunkelheit und fixierte das Babyphone auf dem Nachttisch. In drei Stunden musste er schon wieder aufstehen, aber er konnte wie immer nicht einschlafen. Außerdem kreiste eine Schmeißfliege in unregelmäßigen Abständen über dem Bett, damit er auch ganz bestimmt wach blieb. Seine Mutter hatte immer gesagt, wenn man eine Schmeißfliege im Haus hat, bedeutet das, dass die Familie Pech haben wird – eines der wenigen Dinge, die er von ihr in Erinnerung hatte.

Er braucht einen Moment, um sich ein paar weniger morbide Erinnerungen an seine frühen Kinderjahre ins Gedächtnis zu rufen. Die wenigen Details, die er behalten hatte, waren kaum mehr als flüchtig aufblitzende Sinneseindrücke. Der Geruch von langsam abbrennenden Salbeisträußchen in einer gelb gekachelten Küche. Seine Mutter, wie sie ihn badete. Ihre Haut, die immer aussah wie von der Sonne gebräunt. Und ihr zimtartiger Geruch.

Die roten Balken leuchteten auf dem Monitor auf. Vermutlich nur statisches Rauschen. Oder hatte Kat gerade gehustet?

Er stellte den Empfänger leiser, um Annabel nicht zu wecken, aber sie drehte sich schon unter der Decke um und meinte heiser: »Schatz, dieses Ding heißt nicht ohne Grund Baby-phone.«

»Ich weiß. Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte was gehört.«

»Sie ist acht. Und reifer als wir beide zusammen. Wenn sie etwas braucht, wird sie sich schon melden.«

Es war ein alter Streitpunkt, und Annabel hatte ja auch recht, also stellte er das Gerät stumm, nur um dann missmutig aufs Display zu starren. Es ganz abzuschalten, brachte er einfach nicht über sich. Ein kleines Plastikding, das die schlimmsten Elternängste verwaltete. Ersticken. Krankheit. Einbrecher.

Normalerweise waren die Geräusche, die man hörte, nur Interferenzen oder der Säugling des Nachbarn, der mit seiner Schnupfennase vor sich hinschniefte. Manchmal hörte Mike zwischen dem ganzen statischen Rauschen sogar Stimmen. Er hätte schwören können, dass in diesem Gerät Geister wohnten. Gemurmel aus der Vergangenheit. Ein Tor zum Unterbewusstsein. In dieses Phantomgeflüster konnte man alles hineininterpretieren, was man nur wollte.

Aber wenn er das Babyphone nun gerade in der Nacht ausstellte, in der Kat sie doch brauchte? Wenn sie nach einem Alptraum verängstigt und verwirrt aufwachte, oder plötzlich gelähmt wäre, der Fluch der Schmeißfliege, und dann stundenlang verlassen daliegen und mit ihren Ängsten allein sein würde? Wie bestimmt man, wann die erste Nacht sein soll, in der man dieses Risiko eingeht?

 

In den frühen Morgenstunden begannen Logik und Verstand einzuschlafen, bevor er selbst es schaffte. Und ihm schien auf einmal alles möglich, aber im negativen Sinne.

Endlich begann er wegzudämmern, aber schon startete die Schmeißfliege ihre nächste Runde um das Nachtlicht, und einen Moment später flammten wieder die roten Balken auf dem stumm gestellten Gerät auf. Hatte Kat aufgeschrien?

Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht.

»Es geht ihr prima«, stöhnte Annabel.

»Ich weiß, ich weiß.« Trotzdem stand er auf und tapste den Flur entlang.

Kat lag aufgedeckt in der Nachtkühle. Einen ihrer schlanken Arme hatte sie um einen Stoffeisbären geschlungen, ihr Mund stand leicht offen. Kastanienbraunes Haar umrahmte ihr ernstes Gesicht. Sie hatte die weit auseinanderstehenden Augen ihrer Mutter, eine kecke Nase und eine volle Unterlippe. Aufgrund ihres Aussehens und ihres altklugen Benehmens war es manchmal schwer zu sagen, ob Kat eine achtjährige Version von Annabel war oder Annabel eine sechsundzwanzigjährige Version von Kat. Das einzige Merkmal, das Kat von Mike geerbt hatte, war ein ziemlich auffälliges: Sie hatte ein blaues und ein braunes Auge. Heterochromie nannte man das. Woher die Locken kamen, war und blieb ihm jedoch ein Rätsel.

Mike lehnte sich über sie und horchte auf das leise Pfeifen ihrer Atemzüge. Dann setzte er sich in den Sessel in der Ecke und sah Kat beim Schlafen zu. Er spürte einen stolzen Stich, als er daran dachte, was für eine Kindheit Annabel und er ihrer Tochter geschenkt hatten, dieses Gefühl von Geborgenheit, das sie so tief schlafen ließ.

»Schatz.« Annabel stand auf der Schwelle und schob sich das strähnige Haar aus der Stirn. Sie trug ein Top und ein Paar seiner Boxershorts und sah darin so gut aus wie vor zehn Jahren in ihren Flitterwochen.

»Komm ins Bett. Morgen ist ein großer Tag für dich.«

»Ich komm gleich.«

Sie trat an seinen Sessel und küsste ihn leise, dann trottete sie wieder ins Schlafzimmer.

Seine Gedanken kreisten immer wieder um das ungelöste Problem, das ihn am Morgen erwarten würde. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass er jetzt sowieso nicht mehr einschlafen würde, also ging er in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Als er wieder im Sessel saß und zufrieden an seinem Becher nippte, betrachtete er die blassgelben Wände, die Puppen auf dem Hängeregal und seine Tochter in ihrem engelsgleichen Schlaf. Die einzige Unterbrechung kam vom gelegentlichen Summen der Schmeißfliege, die ihm durch den Flur hierher gefolgt war.

2

Kat schlidderte durch die Küche. Ihr Pferdeschwanz hatte sich schon etwas aufgelöst und war seitlich verrutscht. Annabel, die gerade mit der Omelette-Pfanne hantierte, hielt inne und fragte: »Die Haare hat dir dein Vater gemacht, oder?«

Kat stopfte ihren Eisbären in den Rucksack und kletterte auf einen Barhocker neben Mike. Annabel kippte das Omelette auf Kats Teller, dann beugte sie sich vor und ordnete die Frisur ihrer Tochter mit ein paar geübten Handgriffen. Sie ließ die Pfanne ins Seifenwasser gleiten, wischte die Pfütze unter dem breiten, viereckigen Spülbecken mit einem Stück Küchenkrepp auf, das sie mit dem Fuß hin und her schob, und machte sich dann wieder an Kats Pausenbrot. Sie war gerade dabei, von ihrem Erdnussbutter-Sandwich – aber bitte ohne Marmelade! – die Rinde abzuschneiden.

Mike schlürfte bereits seine dritte Tasse Kaffee und beobachtete seine Frau. Er fühlte sich, als würde er sich in Zeitlupe bewegen. »Heute Abend reparier ich endlich mal das Spülbecken«, versprach er, und Annabel reckte den Daumen hoch. Er bemerkte den pelzigen weißen Bären, der aus dem Rucksack seiner Tochter ragte. »Darf ich fragen, warum du den Eisbären in die Schultasche gepackt hast?«

»Ich hab heute ein Referat.«

»Ein Referat? Du bist doch erst in der dritten Klasse, oder?«

»Das ist für den Extra-Kurs nach dem normalen Unterricht. Ich halt ein Referat über die globale Erwärmung …«

»Im Ernst?«, kam ein sarkastischer Einwurf von Annabel.

»… und außerdem ist das hier nicht irgendein Eisbär.«

Mike zog eine Augenbraue hoch. »Ach, nein?«

Kat zog das Tier aus ihrem Rucksack und präsentierte es mit theatralischer Geste: »Das ist nicht mehr nur Snowball, der Freund meiner Kindheit. Nein, das … das ist Snowball, der Letzte seiner Art.« Sie nahm die Brille aus dem Etui und setzte sie auf. Die runde, rote Fassung verlieh ihrem Gesichtsausdruck noch größeren Ernst. Nicht, dass sie in dieser Hinsicht noch Unterstützung gebraucht hätte. »Wusstet ihr«, begann sie, »dass Eisbären wahrscheinlich schon ausgestorben sind, bis ich überhaupt erwachsen bin?«

»Ja«, sagte Mike. »Aus dem Al-Gore-Film, mit den schmelzenden Polkappen und den ertrinkenden Tieren. Du hast zwei Tage geweint.«

»Iss dein Omelette«, sagte Annabel.

Kat stocherte an einer Ecke herum. Mike legte ihr die Hand in den Nacken und streichelte ihn zärtlich. »Soll ich dich heute zur Schule begleiten?«

»Papa, ich bin acht.«

»Daran erinnerst du mich ständig.« Mike zog sein klobiges Handy aus der Tasche und drückte auf die Wiederwahltaste. Nach ein paar Freizeichen meldete sich der Filialleiter seiner Bank. »Hallo, hier ist noch mal Mike Wingate. Ist die Überweisung schon eingegangen?«

»Einen Moment bitte, Mr. Wingate.« Das Geräusch einer Computertastatur erklang im Hintergrund.

Während Kat und Annabel verhandelten, wie viele Bissen Kat noch essen musste, wartete Mike und trommelte dabei nervös mit den Fingern auf die Arbeitsplatte.

Es hatte dreizehn Jahre gedauert, bis er sich vom Hilfsarbeiter zum Zimmermann, und dann zum Vorarbeiter und Bauunternehmer hochgearbeitet hatte. Jetzt war er nahe dran, seinen ersten Vertrag für ein großes Immobilienprojekt abzuschließen. Um es so weit zu schaffen, war er Risiken eingegangen, von denen manch anderer Magengeschwüre bekommen hätte. Er hatte ihr Haus beleihen müssen und mehrere Kredite ausgeschöpft, um einen Abschnitt unentwickeltes Bauland in einem Canyon am Stadtrand zu kaufen.

Lost Hills, ein kleiner Ort am Rande des Valley, fünfundvierzig Kilometer nordöstlich des Zentrums von Los Angeles, hatte eine ganze Reihe von Vorzügen, zu denen vor allem gehörte, dass das Grundstück nur teuer war, aber nicht obszön teuer. Mike hatte das Land in vierzig großzügig bemessene Parzellen geteilt und eine Siedlung aus ökologischen Häusern gebaut, die er phantasieloserweise »Green Valley« getauft hatte. Nicht etwa weil er ein beinharter Ökofreak gewesen wäre, sondern weil Kat sich von Kindesbeinen an für Umweltthemen interessiert hatte, und er musste zugeben, dass ihm solche futuristischen, computergenerierten Fotos von einem durch den Anstieg des Meeresspiegels überfluteten Manhattan eine Todesangst einjagten.

Das staatliche Angebot, grüne Projekte zu subventionieren, hatte geholfen, die Häuser rasch zu verkaufen. Das Geld von den letzten Verkäufen sollte ihm heute von der Firma überwiesen werden. Und diese Überweisung sollte ihn endlich – nach dreieinhalb Jahren – aus dem Würgegriff der Bank befreien. Was bedeutete, dass sie nicht jedes Mal einen ängstlichen Blick auf ihr Konto werfen mussten, wenn sie mal essen gehen wollten.

Der Atem des Filialleiters pfiff durch den Hörer. Das Tippgeräusch verstummte. »Immer noch nichts da, Mr. Wingate.«

Mike bedankte sich, klappte sein Handy zu und wischte sich mit dem Handballen den Schweiß von der Stirn. Die kleine bohrende Stimme meldete sich wieder in ihm: Was, wenn doch irgendetwas schiefgegangen ist, nach der ganzen Schufterei?

Er merkte, dass Annabel ihn ansah, und meinte: »Ich hätte dieses blöde Auto doch noch nicht kaufen sollen.«

»Sondern?«, fragte sie. »Hättest du den Motor von deinem alten Pick-up lieber mit Klebeband zusammenflicken sollen? Es geht uns doch gut. Das Geld ist da. Du hast hart gearbeitet, furchtbar hart. Es ist okay, wenn du das jetzt auch mal ein bisschen genießt.«

»Außerdem war es wirklich nicht notwendig, 800 Dollar für einen Anzug auszugeben.«

»Schatz, du hast einen Fototermin mit dem Gouverneur. Da kannst du doch nicht in zerrissenen Jeans auftauchen. Außerdem kannst du das Ding dann bei der Preisverleihung ja noch mal anziehen. Apropos.« Sie schnipste mit den Fingern. »Ich muss ihn heute nach der Uni vom Schneider holen. Kat hat heute Morgen ihre Untersuchung bei der Schulärztin. Kannst du sie mitnehmen, wenn du in die Stadt fährst? Und dann treffen wir uns hier zum Mittagessen?«

Als Kat in die dritte Klasse gekommen war, hatte Annabel beschlossen, wieder ihr Lehramt-Studium an der Northridge University aufzunehmen. Die Studiengebühren an einer staatlichen Uni waren bezahlbar, solange sie hie und da ein wenig einsparten.

Mike klappte sein Handy wieder auf und sah nach, ob er vielleicht einen erfreulichen Anruf von der Bank verpasst hatte. Er knetete seinen verspannten Nacken. Der Stress ließ einfach nicht nach. »Ich weiß nicht, was es an meinem alten Blazer auszusetzen gab.«

»Papa, ich glaube, kein Mensch trägt mehr karierte Wolljacken«, sagte Kat.

»Die war nicht kariert. Das war ein Windowpane-Muster.«

Annabel nickte Kat zu und formte mit den Lippen ein lautloses Wolldecke.

Mike musste lächeln. Dann atmete er tief durch und versuchte, ruhig wieder auszuatmen. Das Geld war schon bei der Firma. Was sollte denn noch schiefgehen?

Annabel war inzwischen fertig an der Spüle. Sie zog sich die Ringe von den Fingern und rieb sich die Hände mit Feuchtigkeitscreme ein. Ihr Verlobungsring, ein kleiner blassgelber Diamant, für den Mike zwei Monatsgehälter zusammengekratzt hatte, funkelte matt. Er liebte diesen Ring, so wie er auch ihr nettes kleines Haus liebte. Der amerikanische Traum, eingestampft auf zwei Schlafzimmer und hundert Quadratmeter. Natürlich wäre es toll, wenn demnächst wirklich Geld reinkäme, aber sie waren immer dankbar gewesen und hatten zu schätzen gewusst, was für ein Glück sie im Grunde hatten.

Annabel ergriff seine Hände. »Komm mal her, ich hab zu viel Creme erwischt.«

Das Licht vom Fenster fiel ihr über die Schultern, verlieh ihrem dunklen Haar einen bronzefarbenen Saum, und ihre Augen, deren Eisblau sich in ihrem Shirt exakt wiederholte, wirkten fast durchsichtig.

Mike nahm sein Handy, visierte sie mit der eingebauten Kamera an und schoss ein Foto. »Was ist denn?«, fragte sie.

»Deine Haare. Deine Augen.«

Annabel rieb ihre Hände in seinen. »Oh, Mann«, sagte Kat. »Jetzt küsst euch doch endlich, damit wir’s hinter uns haben.«

 

Der Ford F-450 glänzte in der Garage wie ein hochglanzpolierter Panzer. Das Vier-Tonnen-Gefährt schluckte genug Diesel, um wieder wettzumachen, was »Green Valley« der Umwelt Gutes tat. Aber Mike konnte seine Ausrüstung schlecht in einem Toyota Prius zur Baustelle transportieren. Der Wagen war extravagant – geradezu verantwortungslos –, aber er musste zugeben, als er gestern damit losgefahren war, war er begeisterter gewesen als es ihm lieb war.

Kat sprang auf den Rücksitz und vergrub ihre Nase wie jeden Morgen sofort in einem Buch.

Als sie aus der Ausfahrt fuhren, deutete Mike auf den Fernseher und DVD-Spieler, der an der Autodecke montiert war. »Hey, hör mal auf zu lesen. Magst du nicht lieber fernsehen? Der hat drahtlose Kopfhörer, die alle Hintergrundgeräusche ausblenden.«

Er hörte sich schon an wie der Autoverkäufer, aber er konnte einfach nicht anders. Dieser Neuwagengeruch berauschte ihn geradezu.

Sie setzte den Kopfhörer auf und klickte sich durch die Kanäle. »Ja!«, rief sie, etwas zu laut, weil die Lautstärke so aufgedreht war. »Hannah Montana.«

Er fuhr über die stillen Vorstadtstraßen, klappte die Sonnenblende herunter und dachte an den heutigen Fototermin mit dem Gouverneur, dem er ebenso nervös wie gespannt entgegenblickte. Als sie an einem Juwelier vorbeifuhren und er das ganze Glitzern und Funkeln im Schaufenster sah, dachte er sich, dass er vielleicht einfach mal hier halten und eine Überraschung für Annabel besorgen könnte, sobald die Überweisung da war.

Als sie sich der Praxis von Dr. Obuchi näherten, verdunkelten sich Kats Züge, und sie nahm den Kopfhörer ab. »Keine Spritzen«, sagte sie.

»Keine Spritzen. Es ist nur eine Untersuchung. Jetzt flipp nicht gleich aus.«

»Solange keine Nadeln im Spiel sind, flipp ich auch nicht aus.« Sie hielt ihm mit einer Feierlichkeit die Hand hin, die ihrem Alter nicht entsprach. »Abgemacht?«

Mike drehte sich halb zu ihr um und sie schüttelten sich geschäftsmännisch die Hände. »Abgemacht.«

»Ich glaub dir aber nicht.«

»Habe ich schon mal ein Versprechen gebrochen, das ich dir gegeben habe?«

»Nein«, sagte sie. »Aber du könntest ja heute damit anfangen.«

»Ich freue mich, dass es mir gelungen ist, so viel Vertrauen aufzubauen.«

»Ich bin acht. In dem Alter muss man schwierig sein.«

Für den Rest der Fahrt und auf dem Weg ins Sprechzimmer machte sie den Mund nicht mehr auf.

Bei der Untersuchung beugte sie sich vor und zurück, so dass das Papier der Schutzunterlage unter ihr knisterte, während Dr. Obuchi ihre Reflexe testete.

Nachdem sie die Untersuchung beendet hatte, betrachtete sie Kats Krankenkarte. »Oh, ich sehe gerade, sie hat ihre zweite Masern-Mumps-Röteln-Impfung noch nicht bekommen.« Sie zupfte an einer Strähne ihres glänzenden schwarzen Haars. »Und wir sind sogar schon ein bisschen spät dran.« Sie begann in einer Schublade nach der Ampulle und der Spritze zu wühlen.

Kats Augen weiteten sich. Sie erstarrte und warf ihrem Vater einen flehenden Blick zu. »Papa, du hast es mir geschworen.«

»Sie möchte sich auf ihre Spritzen vorbereiten können«, erklärte Mike der Ärztin. »Mental. Da braucht sie ein bisschen mehr Vorlauf. Können wir diese Woche noch mal vorbeikommen?«

»Es ist September, da sind die ganzen Untersuchungen zum Beginn des Schuljahres. Sie können sich sicher vorstellen, wie mein Terminkalender da aussieht.« Dr. Obuchi bemerkte Kats Blick. Keine Verhandlungsbereitschaft. »Aber ich könnte vielleicht am Freitagmorgen was frei haben.«

Mike knirschte frustriert mit den Zähnen. Kat beobachtete ihn mit Argusaugen. Er legte seiner Tochter eine Hand auf die knubbeligen Knie. »Schätzchen, ich hab am Freitag nonstop Besprechungen, und Mama hat Uni. Das ist der schlimmste Tag. Komm, bringen wir’s jetzt gleich hinter uns.«

Kat stieg die Farbe ins Gesicht.

»Es ist bloß ein kurzer Piks«, meinte Dr. Obuchi. »Bevor du das merkst, ist es schon wieder vorbei.«

Kat riss den Blick von ihrem Vater los und schaute an die Wand. Ihr Atem ging schneller, und ihr Arm war fast so bleich wie der Latexhandschuh, der ihn nun ergriff und ihn mit etwas Alkohol betupfte.

Mit wachsendem Unbehagen sah Mike zu. Kat hatte das Gesicht immer noch abgewandt.

Als sich die Spitze der Stahlnadel herabsenkte, streckte Mike die Hand aus und hielt die Hand der Ärztin sanft zurück. »Ich werde es am Freitag einrichten«, sagte er.

 

Mike kaute beim Fahren auf seinem Juicy-Fruit-Kaugummi herum und versuchte dem Impuls zu widerstehen, den Filialleiter zum vierten Mal an diesem Morgen anzurufen. Als sie sich Kats Schule näherten, ließ er das Fenster herunter und spuckte den Kaugummi in den Wind.

»Papa.«

»Was?«

»Das ist nicht gut für die Umwelt.«

»Du meinst, da könnte ein Geier dran ersticken?«

Kat zog ein finsteres Gesicht.

»Okay, gut«, sagte er. »Ich spuck in Zukunft keine Kaugummis mehr aus dem Fenster.«

»Snowball, der Letzte seiner Art, dankt es dir.«

Er hielt vor der Schule, aber Kat blieb auf dem Rücksitz sitzen und hantierte an dem Kopfhörer herum, der auf ihrem Schoß lag. »Du kriegst so einen Preis oder so was für die grünen Häuser, oder?«, fragte sie. »Vom Gouverneur.«

»Ich bekomme eine Anerkennung dafür, ja.«

»Ich weiß, dass dir die Natur nicht egal ist, aber du stehst doch nicht so wirklich dahinter, oder? Wieso hast du dann diese ganzen grünen Häuser gebaut?«

»Weißt du das denn wirklich nicht?« Er verstellte den Rückspiegel ein wenig, so dass er ihr Gesicht sehen konnte.

Sie schüttelte den Kopf.

»Für dich«, sagte er.

Ihr Mund öffnete sich ganz leicht, dann schaute sie weg und lächelte vor sich hin. Sie rutschte zur Tür und kletterte aus dem Auto, und als sie den Pausenhof schon halb überquert hatte, sah er, dass ihr Gesicht vor lauter Freude immer noch feuerrot war.

Er nahm diesen Anblick in sich auf, während er die leichte Brise durchs offene Fenster hereinziehen ließ. Eltern standen in Grüppchen zwischen geparkten Autos zusammen, um Verabredungen für Spielenachmittage zu treffen, Fahrgemeinschaften zu organisieren und Ausflüge zu planen. Kinder kreischten, rannten herum und rempelten sich an.

Das war das Leben, von dem er immer geträumt hatte, doch im Grunde hatte er immer geglaubt, dass er es niemals haben würde. Und jetzt war es da.

Er zog sein Handy wieder hervor. Der Filialleiter klang schon einen Hauch ungeduldig. »Ja, Mr. Wingate. Ich wollte sie gerade anrufen. Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre Überweisung gerade eingegangen ist.«

Einen Moment war Mike völlig sprachlos. Er fragte nach der Summe und spürte, wie verschwitzt seine Hand war, die das Telefon hielt. Und anschließend bat er den Mann, die Zahl noch einmal zu wiederholen, um sicherzugehen, dass es auch wirklich stimmte.

»Dann ist der Kredit jetzt also abbezahlt, stimmt’s?«, fragte Mike, obwohl er genau wusste, dass er gerade genug Geld bekommen hatte, um seine Restschuld fünfmal zu begleichen. »Komplett abbezahlt?«

Ein amüsierter Unterton schlich sich in die Stimme des Bankmanagers. »Sie sind nun frei, Mr. Wingate.«

Mikes Kehle war wie zugeschnürt, also bedankte er sich nur noch hastig und legte auf. Dann legte er sein Gesicht in die Hände und atmete eine Weile tief durch, weil er Angst hatte, er könnte hier mitten auf dem Parkplatz der Lost-Hills-Grundschule wahnsinnig werden. Zum einen war es natürlich das Geld, aber es war auch noch so viel mehr als das. Es war Erleichterung und Stolz zugleich. Er war ein Risiko eingegangen und hatte sich fast vier Jahre dafür aufgearbeitet, und jetzt würden seine Frau und seine Tochter nie mehr Angst haben müssen, ob sie ein Dach über dem Kopf und Essen im Kühlschrank hatten. Und es würden auch keine unbezahlten Rechnungen für Studiengebühren mehr unter der Schreibtischunterlage klemmen.

Durch die kleinen Vierecke des Maschendrahtzauns sah er Kat am anderen Ende des Spielplatzes eine Feuerwehrstange hinaufklettern. Bei ihrem Anblick tat ihm das Herz weh. Ihre sichere kleine Welt, eine Welt aus kleinen Herausforderungen, offenen Horizonten und grenzenloser Zuneigung.

Obwohl er schon viel zu spät dran war, blieb er sitzen und sah ihr beim Spielen zu.

3

Die Arbeiter versammelten sich beeindruckt um Mikes Auto, als er auf die Baustelle fuhr.

»Wow!«

»Hey, der Chef hat ’ne neue Karre!«

»Was hat dich das Ding denn gekostet?«

Mike stieg aus und wich den Fragen verlegen aus. Er hatte sich nie so richtig daran gewöhnt, Chef zu sein, und vermisste die lockere Kumpelhaftigkeit, die man eben spürte, wenn man Tag für Tag mit jemandem arbeitete. »Nicht so viel, wie ihr glaubt.«

Jimmy stützte sich mit beiden Händen auf die Kühlerhaube, ohne daran zu denken, dass er in der einen noch einen Schraubenzieher hielt.

»Vorsicht mit dem Lack«, rief Mike, bereute jedoch im nächsten Moment, den Mund aufgemacht zu haben.

Jimmy riss mit einer übertriebenen Geste die Hände in die Luft, so dass die anderen lachten.

»Schon gut, schon gut«, meinte Mike. »Geschieht mir recht. Wo ist Andrés?«

Sein reizbarer Vorarbeiter kam herangetrottet und rührte mit einem Trinkröhrchen aus rostfreiem Stahl in seinem Gefäß. Es enthielt Yerba-Mate, und das Trinkröhrchen – eine bombilla – filterte mit dem Sieb am unteren Ende die losen Teeblätter heraus, so dass Andrés den ganzen Tag seinen bitteren Tee schlürfen konnte, ohne Pflanzenteile ausspucken zu müssen.

»Na los, worauf wartet ihr?«, scheuchte er die Arbeiter auf. »Ihr sollt faulenzen, wenn der Boss verschwindet, nicht wenn er auftaucht.«

Die Arbeiter suchten das Weite, und Andrés stellte sein Gefäß mit dem Matetee auf die Stoßstange von Mikes Wagen. »Huah«, sagte er mit fester Stimme.

»Huah?«

»Heute ist Rede-wie-ein-Pirat-Tag. Was für ein Land. Diese ganzen Feiertage. Nimm-dein-Kind-mit-in-die-Arbeit-Tag. Martin-Yuther-King-Tag.«

Andrés, der ursprünglich aus Uruguay kam, hatte gerade seinen Antrag auf Einbürgerung laufen und war eine wandelnde Fundgrube für obskures, amerikanisches Trivialwissen.

»Ich hab gehört, der soll Martin Luther King heißen«, wandte Mike ein.

»Sag ich doch, Kumpel.«

Sie gingen den gewundenen Weg zur geplanten Siedlung hinauf. Die vierzig Häuser, die eine parkähnliche Grünfläche in der Senke des Canyons säumten, zogen sich an beiden Seiten der Straße entlang. Je höher sie lagen, desto teurer waren sie. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie ganz normale Häuser, aber bei näherem Hinsehen entdeckte man Versickerungsgräben für ablaufendes Regenwasser, Dächer, die mit Solarzellen bestückt und noch dazu großzügig bepflanzt waren, biologisch abbaubare Rohre aus verziegeltem Lehm. Trotzdem hatten die Häuser nur um Haaresbreite die Nase vorn gehabt, als man sich um das begehrte »Grüne Zertifikat« für das fortschrittlichste Energie- und Umweltdesign beworben hatte. Aber sie hatten gewonnen, und jetzt war die Arbeit, bis auf ein paar letzte Elektroarbeiten und ein bisschen Schönheitskosmetik, abgeschlossen.

Nachdem sie den höchsten Punkt hinter sich gelassen hatten, gingen sie zum Park hinunter. Das war Mikes Lieblingsteil von »Green Valley«, direkt im Herzen der Siedlung, so dass die Eltern ihren Kindern beim Spielen zusehen konnten, wenn sie einen Blick aus dem Fenster warfen. Dafür hatte er gerne auf zwei weitere Parzellen verzichtet, die ihm das Bauamt zusätzlich genehmigt hatte.

Sie gingen zu dem Loch am hintersten Ende des Parks, in dem noch das Fundament für die Feuergrube fehlte. »Worauf warten wir hier eigentlich noch?«, fragte Mike.

»Es dauert ein bisschen länger, bis dieser Hippie-Zement gemischt ist«, sagte Andrés. »Aber der Bauherr, dieser Kontrollfreak, erlaubt mir nicht, den normalen Zement zu verwenden.«

Das waren ihre eingespielten Kabbeleien – die beiden waren wie ein altes Ehepaar, etwas verbittert und voneinander genervt, aber zusammengeschweißt bis ans Ende ihrer Tage.

»Die Bestimmungen für das »Grüne Zertifikat« sind zu streng. Wir haben da keine Freiräume mehr.« Mike zog eine Grimasse und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Mein Gott, wer hätte gedacht, dass das so ein Theater werden würde.«

Andrés nahm noch einen Schluck durch seine bombilla. »Was bauen wir eigentlich als Nächstes?«

»Ein Braunkohlekraftwerk.«

Andrés gackerte und stocherte mit seinem Trinkhalm in seinem Gefäß. »Ich hab dir ja gesagt, wenn wir diesen grünen Mist sein lassen, hätten wir noch zwanzig Prozent Gewinn mehr rausholen können. Dann würden wir jetzt alle neue Autos fahren.«

Als sie näher kamen, winkte Jimmy ihnen zu und fuhr seinen Zementmischer rückwärts an das Loch heran. Andrés hob einen Arm, um den Gruß zu erwidern, und seine bombilla segelte in die Grube. Er runzelte die Stirn, als wäre das jetzt nur die neueste in einer ganzen Serie von Enttäuschungen.

»Vergiss es. Ich kauf mir ’ne neue.«

Mike starrte auf das dünne Stahltrinkröhrchen, das dort unten im Schlamm steckte. Mike konnte Kats Stimme in seinem Hinterkopf förmlich hören, wie sie sich über Müll und den Abbau von Metallen ausließ. Ärgerlicherweise wollte ihm sein Gewissen keine Ruhe lassen.

Jimmy wollte gerade die Zementtrommel kippen, als Mike ihm zurief und in die Grube deutete. Der Bauarbeiter verdrehte genervt die Augen und ging eine rauchen, während Mike hinuntersprang. Das Loch bestand aus anderthalb Metern nackter Wand. Sie hatten sehr tief gegraben, um die Gasleitungen zu verlegen. Während Mike in die Hocke ging, um das Röhrchen aufzuheben, entdeckte er den gebogenen Teil eines Wasserrohrs, das aus der Erdwand herausragte. Die Wasserhauptleitung.

Er erstarrte.

Sein Magen krampfte sich zusammen, und das metallene Röhrchen fiel ihm aus der Hand. Der moosige Geruch von feuchter Erde und Wurzeln umgab ihn und drückte ihm auf die Lungen.

Erst glaubte er, sich verguckt zu haben. Dann bohrte er den Finger in die Erde, legte noch ein wenig mehr von dem Rohr frei, und schließlich durchzuckte ihn eine grauenhafte Erkenntnis.

Dieses Rohr war nicht aus dem umweltfreundlichen verziegelten Lehm, für den er ein kleines Vermögen hingelegt hatte.

Das war PVC. Giftiges, biologisch nicht abbaubares PVC.

 

»Wie viel davon haben wir verbaut?« Mike stand mit Andrés an der Kante der Grube und versuchte, seine Stimme nicht allzu panisch klingen zu lassen. Die anderen Arbeiter hatte er vorerst nach Hause geschickt.

»Keine Ahnung«, sagte Andrés.

»Hol den Lieferwagen rüber«, sagte Mike. »Ich möchte die Leitungen mit Rohrinspektionskameras checken.«

»Für den Wagen zahlen wir täglich …«

»Ist mir egal.«

Mike griff sich eine Schaufel, die in der Nähe auf einem Haufen Deko-Steine lag, sprang in die Grube und begann die Wand aufzustochern. Er hatte immer noch die Statur eines Bauarbeiters – muskulöse Unterarme, starke Hände und einen Brustkorb, über dem sich das T-Shirt spannte – und er kam rasch voran mit seiner Arbeit. Trotzdem gab die schwere Erde unter seiner Schaufel nicht so leicht nach, wie sie das vor ein paar Jahren vielleicht noch getan hätte. Andrés ließ den Van kommen, dann stellte er sich mit verschränkten Armen neben die Grube und kaute auf der Innenseite seiner Wangen herum, während er zusah, wie Mike sich ächzend abrackerte. Dann nahm er sich eine zweite Schaufel und stieg zu ihm in die Grube.

 

Der Van der Klempnerfirma stand im Leerlauf mitten auf der Straße. Aus den geöffneten Türen des Laderaums führte das Kabel der Rohrinspektionskamera direkt ins Einstiegsloch. Trotz der frühen Uhrzeit waren bis auf Jimmy alle Arbeiter nach Hause geschickt worden. Abgesehen von dem einen oder anderen Vogel, der zufällig vorbeiflog, lag eine lähmende Stille über der Baustelle. Die Siedlung aus blitzblanken, neuen Häusern sah in der Sonne des späten Vormittags aus wie eine Geisterstadt vor einem Atombombentest, die auf die Detonation wartet.

Im Van saßen Mike und Andrés mit dreckigen Hosen und lehmverschmierten Gesichtern neben der Kabelrolle und verfolgten auf einem kleinen Schwarzweiß-Monitor die Bilder – eine körnige, endoskopische Ansicht dunkler Rohre. Die Kabelrolle neben ihren Köpfen drehte sich mit langsamem Summen, während die Kamera unter der Erde weiterkroch und ihre Aufnahmen übertrug, die so gleichförmig waren, dass sie wie eine einzige Endlosschleife wirkten. Meter um Meter PVC-Rohre, die sich unter dem Hügel, den Straßen und den Häusern erstreckten, kamen zum Vorschein.

Das Licht vom Bildschirm flackerte über die Gesichter der beiden Männer. Ihre leblosen Mienen blieben unbeweglich.

Jimmy kam aus dem Einstiegsloch nach oben. Auf seiner dunklen Haut glänzte der Schweiß, als er durch die offenen Hintertüren in den Van spähte. »Sind wir fertig?«

Mike nickte, aber sein Blick war meilenweit entfernt. Er konnte mit Mühe und Not die Worte aufnehmen. »Danke, Jimmy. Du kannst jetzt gehen.«

Der Bauarbeiter zuckte mit den Schultern und trollte sich. Einen Moment später sprang ein Motor mit vertrautem Grollen an, dann hörten die Männer, wie Jimmy in Mikes altem Auto davontuckerte.

Schließlich ergriff Mike mit brüchiger Stimme das Wort: »PVC ist das Allerschlimmste. Die Chemikalien gehen in den Boden über und verunreinigen das Grundwasser, das wiederum ins Meer gelangt. Man hat Rückstände davon in Walspeck gefunden. Und sogar in der Muttermilch der Inuit, verdammt.«

Andrés lehnte resigniert den Kopf gegen die Wand des Vans.

»Wie viel würde es kosten?«, fragte Mike.

»Jetzt machst du aber Witze, oder?«

»Wie viel würde es kosten, das zu korrigieren? Das PVC gegen die Rohre aus geziegelten Lehm auszutauschen?«

»Mike, die Rohre liegen nicht bloß unter der Straße. Die verlaufen auch unter den Häusern.«

»Ich weiß, wo hier überall Rohre verlaufen.«

Andrés saugte an seinen Zähnen und schaute weg.

Mike spürte einen dumpfen Schmerz am Kiefergelenk und merkte, dass er die Zähne mahlend aufeinandergepresst hatte. Die Häuser noch einmal abzureißen, wäre der absolute Alptraum. Sie waren bereits verkauft. Viele Familien hatten dafür ihre alten Häuser und Wohnungen bereits aufgegeben. Familien mit mittlerem Einkommen, die sich Mietschulden oder einen längeren Hotelaufenthalt nicht leisten konnten. Verdammt, das war ihm an diesem Unternehmen so wichtig gewesen – er wollte Familien zu schönen Häusern verhelfen. Viele Häuser hatte er nicht denen gegeben, die das höchste Gebot abgegeben hatten, sondern Menschen, die sie wirklich brauchten – wie alleinerziehenden Müttern oder Arbeiterpärchen.

»Wie ist es möglich, dass du das nicht bemerkt hast?«, fragte Mike.

»Ich? Du selbst hast den Unternehmer doch bestellt, der das gemacht hat. Vic Manhan. Der Typ ist mit seinen dreißig Arbeitern hier angerückt und hat das Ganze in den Weihnachtsferien runtergerissen. Weißt du nicht mehr? Du warst total begeistert.«

Mike starrte feindselig zu seinem Ford hinüber. Ein Pick-up für 55000 Dollar – was zum Teufel hatte er sich eigentlich eingebildet? Ob der Händler den wohl zurücknahm? Sein Ärger wuchs, und dann brannte ihm die Sicherung durch. »Hast du Manhans Nummer da?«, fragte er.

Andrés scrollte durch das Adressbuch seines Handys, drückte auf »Wählen« und reichte Mike das Telefon.

Während es klingelte, fuhr sich Mike mit einer schmutzigen Hand durchs verschwitzte Haar und versuchte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Hoffentlich hat dieser Wichser eine anständige Versicherung. Mir ist nämlich egal, was das kostet. Dem werde ich so viele Prozesse anhängen, wie ich nur kann …«

»Kein Anschluss unter dieser Nummer. Kein Anschluss unter dieser …«

Mikes Herz machte irgendwas Seltsames in seinem Brustkorb.

Er legte auf. Klickte selbst in Andrés’ Adressbuch herum. Versuchte es auf Manhans Handy.

»Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben …«

Mike pfefferte das Handy an die Wand des Vans. Andrés sah ihn an, bückte sich langsam, hob sein Telefon auf und betrachtete das Display, um festzustellen, ob es noch funktionierte.

Mike atmete schwer. »Ich hab seine verdammte Lizenz selbst überprüft.«

»Dann überprüf sie lieber noch mal«, sagte Andrés.

Mike, dem das Hemd schweißnass am Leibe klebte, machte eine Reihe von Anrufen und notierte sich jede neue Nummer auf der Rückseite eines Briefumschlags. Bald war die Situation klar. Vic Manhans Lizenz war vor fünf Monaten ausgelaufen, kurz nachdem er den Auftrag für Mike abgeschlossen hatte. Seine Haftpflichtversicherung hatte er kurz zuvor auslaufen lassen, er war also nicht versichert gewesen, als er die PVC-Rohre verlegt hatte. Die Versicherungspolicen, die er Mike vorgelegt hatte, waren demnach gefälscht. Was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass es kein Geld geben würde, um den Schaden zu beheben.

Zum ersten Mal seit langem dachte Mike an Gewaltanwendung, das Krachen von Fingerknöcheln auf Nasenknorpel, und er dachte: Wie schnell man doch in alte Muster zurückfällt. Er senkte den Kopf, griff sich mit den Fäusten ins Haar und drückte zu, bis es weh tat.

»So überrascht kannst du doch auch nicht sein, dass du das PVC gefunden hast«, meinte Andrés.

»Scheiße, was redest du da? Natürlich bin ich überrascht.«

»Ach komm. Verziegelter Lehm ist schwerer als Gusseisen. Teurer in der Herstellung, beim Transport und bei der Installation. Was hast du eigentlich gedacht, wie Manhan es anstellen sollte, die Konkurrenz mit seinem Angebot um ganze dreißig Prozent zu unterbieten?« Die braune Haut an Andrés’ Schläfen legte sich in kleine Fältchen. »Vielleicht wolltest du es nicht wissen.«

Mike blickte auf seine rauhen Hände hinab.

»Hier ziehen vierzig Familien ein. Noch diese Woche!«, sagte Andrés. »Selbst wenn du das ganze Geld ausgeben willst, um die Rohre zu ersetzen, wie stellst du dir das vor? Willst du mit dem Presslufthammer durch ihre ganzen Häuser? Und durch die Straßen?«

»Ja.«

Andrés zog eine Augenbraue hoch. »Um diese Rohre gegen andere Rohre auszutauschen?«

»Ich habe es unterschrieben«, sagte Mike. »Mit meinem Namen. Ich habe garantiert, dass ich Rohre aus verziegeltem Lehm anstelle von PVC verlege. Mit meinem Namen.«

»Du hast nichts falsch gemacht. Dieser Typ hat uns beschissen.«

Mikes Stimme war heiser. »Diese Häuser sind auf einer Lüge gebaut.«

Andrés zuckte müde mit den Schultern. Er kletterte stöhnend aus dem Van, und Mike folgte ihm. Sein ganzer Körper fühlte sich verspannt an.

Die beiden Männer standen sich gegenüber und blinzelten in die jähe Helligkeit wie Neugeborene. Der Canyon öffnete sich vor ihnen, schön und steil und mit Salbeisträuchern bewachsen. Die klare, scharfe Luft schmeckte nach Eukalyptus. Das Grün der Dächer passte perfekt zum Grün der Sumach-Sträucher auf den Hängen, und als Mike blinzelte, verschwamm alles ineinander.

»Niemand muss etwas davon wissen«, sagte Andrés. Er nickte einmal, als müsste er etwas bestätigen, dann ging er zu seinem Auto.

»Ich weiß es aber«, sagte Mike.

4

Mike saß auf dem kleinen Kaminsims im Schlafzimmer. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und starrte auf das schnurlose Telefon auf seinem Schoß. Als er seinen inneren Kampf zu Ende gefochten hatte, wählte er die vertraute Nummer.

Eine kräftige Stimme, deren leichte Heiserkeit das Alter verriet, dröhnte durch den Hörer: »Hank Danville, Privatdetektiv.«

»Hier ist Mike«, sagte er. »Wingate.«

»Mike, ich weiß nicht mehr, was ich dir noch sagen soll. Ich hab dir gesagt, ich melde mich, wenn ich was finde, aber ich weiß inzwischen einfach nicht mehr, wo ich noch suchen sollte.«

»Nein, diesmal ist es was anderes. Es geht um einen Typen, den du für mich finden sollst.«

»Ich hoffe, das ist jetzt was, wo ich tatsächlich mal was ausrichten kann.«

»Es geht um einen Bauunternehmer, der mich beschissen hat.« Mike umriss mit knappen Worten die Lage und hörte dabei das leise Pfeifen von Hanks Atem. »Ich muss wissen, wo er ist. Und wenn ich sage, es ist dringend, ist das schwer untertrieben.«

»Wie tief steckst du drin?«, fragte Hank.

Mike nannte ihm die Summe.

Hank stieß einen Pfiff aus. »Ich werd sehen, was ich tun kann«, sagte er und legte auf.

Mike war es gewöhnt, nach Informationen zu suchen, die er dann wahrscheinlich gar nicht hören wollte, aber das machte das Warten auch nicht einfacher. Er stellte sich unter die Dusche und lehnte sich an die Fliesen, während er das dampfend heiße Wasser auf sich einprasseln ließ, um den Stress von sich abzuwaschen. Als er sich gerade abtrocknete, klingelte das Telefon. Er band sich ein Handtuch um, nahm den Hörer, setzte sich aufs Bett und machte sich auf schlechte Nachrichten gefasst.

»Vic Manhan wurde zum letzten Mal in St. Croix gesehen«, sagte Hank unvermittelt. »Ein geplatzter Scheck in einer Bar vor zwei Monaten. Weiß der liebe Herrgott, wo er jetzt ist. Seine Frau hat ihn verlassen, er stand vor einer kostspieligen Scheidung. Das volle Programm. Wahrscheinlich hat er sich gedacht, er dreht ein letztes Ding und haut mit der Kohle ab. Ich bin nicht sicher, wie er die Versicherungspolice und die Daten fälschen konnte, aber als er deinen Auftrag annahm, hatte er tatsächlich keine Versicherung.«

Mike schloss die Augen und atmete tief durch. »Kannst du nicht rausfinden, wo er sich jetzt aufhält?«

»Der Typ ist auf der Flucht vor den Bullen und den Anwälten seiner Frau. Der hat sich inzwischen wahrscheinlich nach Haiti abgesetzt. Den kann man nicht finden.«

Mike spürte einen bitteren Geschmack im Mund. »Ach komm. Der Typ ist nicht Jason Bourne.«

»Wenn du möchtest, kannst du es gern jemand anderen versuchen lassen. Ich finde, ich hab in einer Viertelstunde ganz schön viel rausgekriegt.«

»Schon wieder eine Sackgasse, Hank. Sieht aus, als wären wir darauf abonniert, oder?«

Hanks Stimme bekam einen scharfen Unterton. »Ach, die alte Schallplatte jetzt wieder? Als du zum ersten Mal zu mir kamst, hab ich dir gesagt, dass du etwas willst, was so gut wie unmöglich ist. Ich habe dir nie Resultate versprochen.«

»Nein, das hast du wirklich nicht.«

»Kann sein, dass dir die Tatsachen nicht gefallen, aber ich bin zu alt, um meinen Charakter derart in Frage stellen zu lassen. Komm ins Büro und hol dir deine Akte ab. Wir zwei sind fertig miteinander.«

Mike hielt noch das Telefon am Ohr, als schon das Freizeichen ertönte. Dann brandete die Reue in ihm auf. Er hatte sich benommen wie ein waschechtes Arschloch und musste sich bei Hank entschuldigen. Doch bevor er auf die Wiederwahltaste drücken konnte, hörte er, wie die Garagentür aufging und Annabel durch die Küche hereinkam. Er konnte das Telefon gerade noch aufs Bett werfen, bevor sie ins Zimmer rauschte. Seinen Anzug hatte sie sich über die Schulter geworfen.

»Tut mir leid, dass ich so spät komme. Er hat die Hose falsch gebügelt, die sah total bescheuert aus. Komm, hol dir ein Hemd raus. Und dann zieh dich an.« Klirrend schüttelte sie ihre Uhr am Handgelenk, bis das Zifferblatt wieder nach oben zeigte. »Wir können es immer noch pünktlich schaffen.«

Der Fototermin. Richtig.

Wie betäubt befolgte er ihre Anweisungen und bewegte sich wie auf Autopilot. Er fand einfach nicht den Mut, ihr alles zu erzählen.

Annabel scharwenzelte um ihn herum, zupfte an seinem Revers und glättete ihm die Ärmel. »Nein, nicht die Krawatte. Eine dunklere.«

»Früher konnte ich meine Krawatten selbst aussuchen«, murmelte Mike. »Seit wann bin ich so unfähig?«

»Du warst schon immer unfähig, Schatz. Aber früher war ich noch nicht da, um es dir zu sagen.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn ganz leicht auf die Wange. »Du siehst toll aus. Der Gouverneur wird beeindruckt sein. Vielleicht macht er dich sogar an. Das wär vielleicht ein Skandal.« Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn. »Auf jeden Fall besser als deine karierte Wolldeckenjacke.«

»Das ist ein Windowpane-Muster«, protestierte Mike lahm. »Hör mal …«

»Du liebe Güte.« Annabel hatte zwischenzeitlich seine Arbeitskleidung entdeckt, die er im Bad ausgezogen und einfach auf dem Boden liegen gelassen hatte. »Was hast du denn gemacht? Bist du durch einen Abwasserkanal gekrochen?«

Sie ging ins Bad und hob die verdreckten Sachen auf. Eine kleine braune Schachtel rutschte aus der Jeanstasche, fiel aufs Linoleum und spuckte einen Ring aus – den zweikarätigen Diamanten, den er beim Juwelier ausgesucht hatte, nachdem er Kat in der Schule abgesetzt hatte. Den hatte er völlig vergessen.

Annabel schlug die Hand vor den Mund, bückte sich ehrfürchtig und hob den Ring auf. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Das Geschäft ist also abgeschlossen!« Sie lachte und rannte zu ihm, um ihn in die Arme zu schließen. »Ich hab dir doch gesagt, dass alles gutgehen würde. Und dieser Ring … Mensch, Mike, machst du Witze?« Sie steckte ihn sich an den rechten Ringfinger und spreizte die Hand, um den Stein zu bewundern. Die Freude auf ihrem Gesicht war so groß, dass es ihm die Kehle zuschnürte und er kaum noch atmen konnte, weil er wusste, dass er gleich alles zerstören würde.

Sanft legte er ihr die Hände auf die Schultern. Er fühlte ihre Knochen zart und zerbrechlich unter der Haut.

Sie blickte strahlend zu ihm auf. Ihr Blick veränderte sich schlagartig. »Was ist los, Mike?«

Da stand er nun in ihrem winzigen begehbaren Kleiderschrank, in Jacke und Hemd, ohne Hose. »Die Rohre. Erinnerst du dich noch an die Rohre?«

»Aus verziegeltem Lehm. Die ein halbes Vermögen gekostet haben. Natürlich erinnere ich mich.«

»Der Subunternehmer hat uns beschissen und ist abgehauen. Ich hab’s gerade rausgefunden. Alles, was oben über die Zementplatten rausragt, ist aus verziegeltem Lehm, auf die Art haben wir auch die Umwelt-Inspektion bestanden.« Er benetzte sich die Lippen. »Aber unter der Oberfläche ist alles PVC.«

Ein Funken des Verstehens auf Annabels Gesicht. »Wie viel würde es kosten, das zu beheben?«

»Mehr, als wir mit dem Projekt verdienen können.«

Sie trat einen Schritt zurück und setzte sich aufs Bett. Sie umklammerte ihre Hände und ihre Augen, die auf den großen Diamanten starrten, glänzten sogar im gedämpften Licht des Schlafzimmers. Mike und sie atmeten eine ganze Weile in der Stille.

»Ich liebe meinen alten Ring sowieso heiß und innig«, sagte sie dann. »Mit dem hast du mich schließlich geheiratet.«

Irgendetwas in seinem Brustkorb löste sich ein Stückchen auf, und er fühlte sich plötzlich viel älter als fünfunddreißig Jahre.

»Du und ich und Kat«, sagte sie. »Wir brauchen nicht mehr Geld. Ich kann mit dem Studium aufhören und mir eine Weile eine Arbeit suchen. Nur bis … du weißt schon. Wir finden schon einen Weg, wie wir das finanziell schaffen. Kat können wir auch wieder aus diesem Nachmittagsbonusprogramm nehmen. Und wir ziehen in eine kleinere Mietwohnung. Es ist mir gleich.«

Mike zog seine Hose an, ganz langsam. Seine Beine waren schwer und taub, als würden sie gar nicht zu ihm gehören. Er konnte Annabel nicht in die Augen sehen, weil er Angst vor dem hatte, was er dabei entdecken könnte.

»Du bist immer ein aufrichtiger Mensch gewesen«, sagte sie. Sie nahm den Zwei-Karat-Ring ab, legte ihn neben sich auf die Decke und brachte ein Lächeln zustande. »Du musst das in Ordnung bringen, Mike, egal wie.«

 

Die Suite im Beverly Hills Hotel war die größte, die Mike je gesehen hatte. Bill Garner saß an einem antiken Sekretär und hatte sich nachdenklich auf einem Lederstuhl zurückgelehnt, der zum Sinnieren wie gemacht schien. Er musterte das Foto, einen Computerausdruck, auf dem man das PVC-Rohr in der Grube aus der Erde ragen sah.

Durch die offene Tür drang Gelächter, Unterhaltungsfetzen und das gelegentliche Blitzlicht einer Kamera zu ihnen. Die Preisträger der Umweltauszeichnung sollten sich jetzt zusammenfinden und die PR-Fotos machen, um die Mediengrundlage für die offizielle Zeremonie am Sonntagabend zu legen. Abgesehen vom Gouverneur, der – dem Chor der Begrüßungsrufe nach zu urteilen – gerade hereingekommen war, war Mike als Letzter eingetroffen.

Garner stand auf, kam durchs Zimmer auf ihn zu und streckte den Kopf durch die Tür. »Ist alles so weit fertig? Okay, kleinen Moment noch, wir kommen gleich.« Er machte die Tür zu und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Sein jugendlich glattes Gesicht zeigte einen Ausdruck von fröhlichem Optimismus, wie auch schon die ganze Zeit, als Mike ihm das Problem auseinandergesetzt hatte.

Garner legte sich die Finger an die Schläfen. »Und Sie werden die Umbaukosten tragen?«

»Ich bin bereit, das zu zahlen«, sagte Mike.

»Und die PVC-Rohre? Wo kommen die dann hin, nachdem Sie sie ausgegraben haben?«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, meinte Mike.

»Auf eine Mülldeponie, nehm ich mal an. Sie wollen die Rohre also aus der Erde holen und woanders wieder in die Erde legen? Und zum Ausgraben und Transportieren jede Menge benzinfressender Maschinen einsetzen?« Er lächelte freundlich. »Klingt schon ein bisschen verrückt, oder?«

Auf einmal wurde sich Mike seines neuen Anzugs bewusst. »Ja. Aber zumindest aufrichtig.«

»Die Häuser, die Sie da gebaut haben, sind zu fünfundneunzig Prozent umweltfreundlich. Darauf können Sie schon ganz schön stolz sein.«

Mike musterte ihn einen Moment und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. »Das sehe ich anders.« Er veränderte seine Position auf dem weichen Sessel. Ihm war nicht wohl zumute in seiner feinen Montur. »Ich bin nicht sicher, ob ich der Richtung folgen kann, die diese Unterhaltung gerade nimmt.«

»Der Gouverneur nimmt dieses Projekt enorm ernst, Mike. Sie wissen, wie wichtig ihm das Umweltthema ist. Und Ihre Siedlung, in Verbindung mit unserem subventionierten Pilotprojekt, zeigt, dass ein grünes Modell nicht nur für reiche Arschlöcher funktionieren kann, sondern auch für die arbeitende Durchschnittsbevölkerung. ›Green Valley‹ ist das Baby des Gouverneurs. Er lässt sich seit Monaten in der Presse darüber aus.«

»Mir ist klar, wie peinlich das ist«, sagte Mike. »Es tut mir wirklich leid.«

»Dieses Projekt steht noch auf wackligen Füßen. Der Gouverneur muss sich Kritik von beiden Seiten anhören. Wenn wir nicht sehr bald an einem konkreten Modell nachweisen können, wie viel Energie man auf diese Weise sparen kann, wird die Sache mit den Fördergeldern sofort wieder vom Tisch sein. Sie sind sich doch im Klaren, dass nächsten Monat Wahlen sind, oder? Der Gouverneur hat sich gegenüber diversen Wählerinitiativen weit aus dem Fenster gelehnt. Deswegen haben wir dieses ganze Brimborium mitsamt der Preisverleihung nächsten Sonntag.« Er schürzte die Lippen. »Wie lange werden Sie brauchen, um diese Rohre auszutauschen?«

Unbehagen glomm in Mikes Bauch auf und kroch ihm bis in die Kehle. »Monate.«

»Und Ihren Preis für die hervorragenden Errungenschaften im umweltfreundlichen Wohnungsbau …«

»Müssen Sie mir dann wahrscheinlich aberkennen.«

»Sehen Sie«, sagte Garner, »und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Keine Preisverleihung bedeutet keine Presse. Keine Presse bedeutet keine öffentliche Unterstützung. Und keine öffentliche Unterstützung bedeutet keine staatlichen Fördergelder mehr.«

Mikes Mund wurde ganz trocken.

»Wie hoch waren die eigentlich noch mal?«, hakte Garner nach. »Dreihunderttausend pro Familie?«

»Zweihundertfünfundsiebzig«, sagte Mike leise.

»Und jetzt wollen Sie den Leuten erzählen, dass sie nicht nur mehrere Monate länger warten müssen als gedacht, sondern dass auch die Fördergelder wegfallen, mit denen sie ihre Finanzierung geplant haben?« Er lächelte betrübt. »Und dass jeder von ihnen fast dreihunderttausend mehr auf den Tisch legen muss? Oder hatten Sie vor, diese Kosten auch aufzufangen?«

Mike schluckte, um seine Kehle wieder etwas zu befeuchten. »Nicht im Traum könnte ich so viel Geld aufbringen.«

»Glauben Sie denn dann, dass Sie das Problem einfach an diese Familien weitergeben können?«

Zum ersten Mal hatte Mike keine Antwort parat.

Garner legte eine manikürte Fingerspitze auf das Polaroid und schob es langsam wieder zu Mike.

Der starrte auf das Foto.

Ungeduldiges Klopfen an der Tür. Ein junger Assistent lugte ins Zimmer und sagte: »Wir brauchen ihn jetzt. Der Fotograf verliert bald die Geduld, und ich muss zusehen, dass der Gouverneur seinen Flieger zurück nach Sacramento kriegt.« Mike hörte, wie hinter ihm der Gouverneur einen Witz erzählte, mit den Vokalen seines österreichischen Akzents, die klangen, als würden sie mit Hochdruck durch einen Feuerwehrschlauch gepresst. Garner hob einen Finger. Der Assistent seufzte. »Sie haben noch dreißig Sekunden«, sagte er und zog sich zurück.

Mike und Garner sahen sich an. Die Stille wurde nur vom Ticken einer Kaminuhr und der gedämpften Unterhaltung aus dem Nebenzimmer unterbrochen.

»Also, was meinen Sie?« Garner beugte sich vor und durch den Spalt in seinem Ärmel sah man einen Streifen Haut durchschimmern. »Meinen Sie, Sie können vierzig Familien zuliebe in ein paar Kameras lächeln?«

Er deutete zum Nebenzimmer und sein goldener Manschettenknopf glitzerte.

 

Mike kniete vor dem Kamin und blickte ins flackernde Feuer. Es warf einen orangen Schein auf sein Gesicht, den Teppich, die weiße Bettdecke. In der Hand hielt er das Polaroid, auf dem die verräterischen PVC-Rohre zu sehen waren. Albernerweise fiel ihm in diesem Moment auf, dass er die Haltung eines beschämten Samurai eingenommen hatte.

Annabel stand hinter ihm und betrachtete die Szenerie. Kat war Gott sei Dank in ihrem Zimmer und hatte sich bei geschlossener Tür in ihre Hausaufgaben vertieft.

Seit Mike hereingetrottet war, seine Anzugjacke ausgezogen und sich auf den Boden gesetzt hatte, hatte Annabel noch keinen Ton gesagt. Sie musste auch gar nichts sagen. Sie wusste schon, was er ihr erzählen würde.

»Sie wollen keine Verzögerung«, sagte er. »Sie brauchen die PR der Preisverleihung. Sie haben damit gedroht, dass die Familien ihre Fördergelder verlieren.«

»Dann sollten wir den Ausfall für sie tragen«, sagte Annabel. »Wie viel wäre das denn? Zusätzlich zu den Kosten für den Austausch der Rohre?«

»Elf Millionen Dollar.«

Er hörte, wie ihr der Atem wegblieb.

»Aber was … was machen wir denn jetzt?«, fragte sie.

Er streckte die Hand aus und ließ das Foto ins Feuer fallen. Das Bild begann sich von den Rändern her einzurollen und wurde schwarz.

»Okay.« Ihre Stimme klang dünn und niedergeschlagen. »Ich schätze, dann kauf ich mir wohl ein neues Kleid.«

Mit einem leisen Klicken zog sie die Badezimmertür hinter sich ins Schloss. Er starrte ins Feuer und überlegte, was eine Lüge dieser Größenordnung sonst noch nach sich ziehen könnte.

5

Der zitternde Schrei eines Babys schnitt durch die Nachtluft. Er kam aus dem Korb, der auf der Veranda stand. Aus dem Binsengeflecht ragten Teile der kuscheligen blauen Decke. Nichts rührte sich, bis auf die Mücken, die im gelblichen Licht der Verandalampe tanzten. Der wilde Jasmin, der an der Gitterwand der Veranda emporwuchs, schwängerte die Nachtluft mit seinem Duft. Auf der Straße glänzten still die Stoßstangen der Jeeps. Jedes dritte Haus wurde renoviert, und die Baucontainer zeigten den Wohlstand der Bewohner ebenso wie die Porsche Boxster, die unter ihren schützenden Abdeckungen schlummerten.

Der Schrei steigerte sich zu einem durchgehenden Geheul. Schließlich hörte man Schritte im Haus, dann das Piepsen einer Alarmanlage, die jedoch rasch abgestellt wurde. Die Haustür wurde so weit geöffnet, wie es die Sicherheitskette zuließ, und das schläfrige Gesicht einer Frau spähte hinaus. Ein Keuchen, dann ging die Tür wieder zu, die Kette wurde gelöst, und sie trat auf die Veranda. Die Frau, die schon über fünfzig sein musste, sich für ihr Alter aber gut gehalten hatte, hielt sich den blauen Morgenmantel am Hals zusammen. Sie war völlig überrumpelt. Ihre Knie knackten, als sie in die Hocke ging, um mit zitternden Händen den Korb zu fassen.

Die Decke war zerknäult, und die Frau zog hastig, wenn auch vorsichtig, die Ecken auseinander. Die Schreie wurden lauter, bis sie schließlich die letzte Lage Stoff beiseitegezogen hatte und verblüfft in den Korb hinunterstarrte.

Ein winziger Kassettenrecorder.

Das rote Licht der Abspieltaste leuchtete ihr entgegen, und aus den winzigen Lautsprechern tönte das Quäken des Babys.

Von der Dunkelheit des Rasens vor dem Haus hörte man das Geräusch trockenen Blattwerks, das unter Tritten zerquetscht wurde. Dann schmolz die massive Gestalt eines Mannes in den Lichtkegel der Verandalampe. Eine behandschuhte Faust schoss ihr ins Gesicht, zerschmetterte ihre Augenhöhle und schleuderte sie rückwärts gegen die Haustür. Die Tür wurde mit solcher Wucht nach innen geschleudert, dass die Klinke in der Rigipswand des Flurs stecken blieb.

Ein Moment der Stille. Selbst die Grillen schienen ehrfürchtig zu schweigen.

Der große Mann stand am Rand der Veranda. Sein Atem bildete kleine Wölkchen in der kühlen Luft. Seine ganze Erscheinung war ein Affront gegen die schicke Vorstadtstraße. Sein schlichtes, gutaussehendes Gesicht war seltsam glatt, als wären seine Gesichtszüge in Latex gegossen. In der Hand hielt er einen schwarzen Matchbeutel.

Dann hörte man erneut Schritte auf dem Rasen, und ein zweiter Mann trat ins Licht. Er war schlank und von normaler Größe, wirkte aber neben dem anderen wie ein Winzling. Er hinkte beim Gehen, weil einer seiner Füße leicht nach innen gekrümmt war, demselben seltsamen Winkel wie sein rechtes Handgelenk. Nachdem er sich die schwarzen Handschuhe angezogen hatte, zuckten seine Arme unmerklich weiter, und verrieten seine Krankheit.

Ellen Rogers lag ächzend auf dem Boden im Hauseingang. Ihr verletztes Auge war zur Seite gerutscht, und an der Stelle, wo vorher ihr Wangenknochen gewesen war, sank die Haut jetzt in die entstandene Höhlung ein. Ihre Nase war der Länge nach gebrochen, man sah den schwarzen Saum des Bruches glitzern. Ein Bein hatte sie leicht angehoben, und es machte paddelnde Bewegungen über den Fliesen, wie als würde sie versuchen, davonzuschwimmen. Ihr Atem ging nur noch flach.

Die Männer traten ins Haus, zogen die Tür hinter sich zu und starrten auf sie herab. Der schlanke, William, sagte sanft: »Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Dodge kann manchmal ganz schön heftig zuschlagen. Tut mir leid um dein Gesicht. Glaub mir, wir wollten das genauso wenig wie du.«

Sie wimmerte und sabberte Blut auf die Bodenfliesen.

Als Dodge die Tasche auf den Boden fallen ließ, gab es ein metallisches Geräusch. Er steckte sich zwei Zigaretten in den Mund, legte den Kopf schräg und zündete sie mit einem billigen Plastikfeuerzeug an, dass er aus seiner Hemdtasche genommen hatte. Dann gab er eine Zigarette an seinen Kollegen weiter. William inhalierte durch seine gelben Zähne, schloss die Augen und ließ eine geisterhafte Rauchwand zwischen den leicht geöffneten Lippen aufsteigen.

»Mr. Rogers«, rief er durch den Flur. »Könnten wir Sie wohl mal kurz sprechen?«

 

Das gedämpfte Licht der Tiffany-Lampe schien als Einziges die Dunkelheit zurückzudrängen. Die dunkelgrünen Wände des Arbeitszimmers lösten sich in Schwärze auf, sie hätten genauso gut gar nicht da sein können. Hinter dem Schreibtisch sah man einen Bildschirmschoner mit den Börsenticker glühen. Ein gerahmtes, kunstvolles Schwarzweißfoto stand auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. Es zeigte die Familie vor ein paar Jahren, in lässiger Pose auf dem Achterdeck: Stolze Eltern lehnten sich über zwei strahlende Teenager, einen Sohn und eine Tochter, die dasselbe Lächeln zur Schau trugen und die gleichen pastellfarbenen Poloshirts anhatten. Nautische Motive zogen sich durchs ganze Zimmer – ein polierter Messingkompass, ein vergoldetes Teleskop, eine antike Lupe lag auf den Pergamentseiten eines in Leder gebundenen Atlanten. Dies war das Arbeitszimmer eines Mannes, der sich als Kapitän seines eigenen Schicksals sah. Doch William und Doge hatten das Zimmer nicht wegen seiner Inneneinrichtung ausgesucht.

Sie hatten es ausgesucht, weil es schalldicht war.

Ted Rodgers setzte seine Frau auf das antiklederne Sofa, das Doge komplett mit Plastikfolie abgedeckt hatte. Ted hatte eine Sanftheit, die zu einem Mann seines Alters und seiner Lebenssituation passte. Ein kleines Wohlstandsbäuchlein, eine Brille, die sein rundes Gesicht akzentuierte, einen kurz geschnittenen grauweißen Bart – und all das zitterte jetzt vor Kummer und Schrecken. Als William ihn ins Arbeitszimmer gebeten hatte, hatte er nur einen Blick auf Dodge geworfen und dann widerstandslos alle Anweisungen befolgt.

Ellen zitterte in den Armen ihres Mannes und murmelte unverständliche Worte. Ihr Nacken erschlaffte mehrmals, und Ted versuchte mit seinen plumpen Händen ihren Kopf aufrecht zu halten.

»Der Boss ist gar nicht zufrieden.« William kratzte sich langsam den fleckigen Nacken. »Ihre kleine Eigenmächtigkeit wird ihn ganz schön Geld kosten.«

Alter Zigarrenrauch hatte sich in den Möbeln festgesetzt, süß und tröstlich.