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Rowohlt E-Book Theater Georges Feydeau hat 1907 mit FLOH IM OHR eine der turbulentesten Verwechslungskomödien der Theatergeschichte geschrieben. Verwechslungen. Anonyme Briefe. Ein eifersüchtiger Spanier. Ein Mann mit Sprachfehler. Überraschungseffekte beim Rendezvous. Hosenträger. Ohrfeigen ohne Zahl. Sprünge in der Ehe. Seitensprünge aus der Ehe. Überpotenz und Impotenz: Elementarteilchen einer schwindelerregenden Farce, deren Plot sich unmöglich in einem einigermaßen klaren Bericht zusammenfassen lässt. Die ganze Welt ist ein Bordell, und alle Frauen und Männer sind Huren und Freier – könnte man jedoch, ganz frei nach Shakespeare, als Motto über dieses Stück setzen. Feydeaus Meisterwerk in der Übersetzung der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hält immer noch eine Wendung bereit, wenn der Gipfel erreicht scheint, und in gleichem Maß, wie sich die Komödie in immer absurdere Höhen schraubt, versinkt der gute Ruf der Akteure im Bodenlosen.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2016
Georges Feydeau
Floh im Ohr
Stück in 3 Akten
Aus dem Französischen von Elfriede Jelinek
Ihr Verlagsname
Rowohlt E-Book Theater
Georges Feydeau hat 1907 mit FLOH IM OHR eine der turbulentesten Verwechslungskomödien der Theatergeschichte geschrieben.
Verwechslungen. Anonyme Briefe. Ein eifersüchtiger Spanier. Ein Mann mit Sprachfehler. Überraschungseffekte beim Rendezvous. Hosenträger. Ohrfeigen ohne Zahl. Sprünge in der Ehe. Seitensprünge aus der Ehe. Überpotenz und Impotenz: Elementarteilchen einer schwindelerregenden Farce, deren Plot sich unmöglich in einem einigermaßen klaren Bericht zusammenfassen lässt. Die ganze Welt ist ein Bordell, und alle Frauen und Männer sind Huren und Freier – könnte man jedoch, ganz frei nach Shakespeare, als Motto über dieses Stück setzen.
Feydeaus Meisterwerk in der Übersetzung der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hält immer noch eine Wendung bereit, wenn der Gipfel erreicht scheint, und in gleichem Maß, wie sich die Komödie in immer absurdere Höhen schraubt, versinkt der gute Ruf der Akteure im Bodenlosen.
Georges Feydeau (1862–1921) gilt als der Autor der Belle-Époque-Komödie und führte wie kein anderer die Misere einer Gesellschaft vor, die sich zwischen einer niedergeschlagenen Revolution und einem Weltkrieg herausgebildet hatte. Er schrieb 24 abendfüllende Stücke und 21 Einakter, in denen er die Existenzform des Bürgers in Frage stellte. Er selbst war der Spielsucht verfallen, entzweite sich mit seiner Frau und starb verarmt und geistig umnachtet vermutlich an den Folgen der Syphilis.
VICTOR-EMMANUEL CHANDEBISE
POCHE (vom selben Schauspieler zu spielen wie Victor-Emmanuel Chandebise)
CAMILLE CHANDEBISE
ROMAIN TOURNEL
DR. FINACHE
CARLOS HOMENIDES DE HISTANGUA
AUGUSTIN FERRAILLON
ETIENNE
RUGBY
BAPTISTIN
RAYMONDE CHANDEBISE
LUCIENNE HOMENIDES DE HISTANGUA
OLYMPE
FERRAILLON
ANTOINETTE
EUGENIE
Das Stück spielt im Monat Juni, der erste und dritte Akt in Paris, der zweite Akt in Montretout.
Der Salon bei den Chandebises. Englischer Stil. Links ein rechter Winkel, rechts stumpfwinkelig. Im Hintergrund eine große rundbogige Nische, in deren Mitte sich eine zweiflügelige Tür befindet (Schloß und Riegel an der Außenseite). Rechts und links der Nische einflügelige Türen, die Riegel ebenfalls außen. Links im Vordergrund ein Fenster. Rechts im Vordergrund eine einflügelige Tür aus Mahagoni (Schloß und Riegel innen). Halbrechts, im stumpfen Winkel, ein ziemlich hoher Kamin mit Kamingarnitur. Die Paneele in der Vertäfelung sind mit chinesischer Seide bespannt, an der Goldknöpfe blitzen. Die Vorhänge an den Fenstern und auch die Bespannung der Nische sind aus demselben Stoff gemacht. Das Mobiliar ist fast ausnahmslos aus Mahagoni, im englischen Stil gearbeitet. Im Hintergrund befindet sich in dem Paneel, das die Nische von der rechten Tür trennt, ein schmales, ziemlich hohes Aktenschränkchen. Ihm entspricht links der Nische ein kleines Stehpult. Links, zwischen Fenster und Hintergrund, ein kleines leichtes Schränkchen mit drei Schubladen. In der Fensternische eine Sitzbank ohne Rückenlehne. Gegen die Bank gelehnt eins von diesen englischen Schreibtischchen, die auf Beinen stehen, die miteinander ein X bilden, und zusammengeklappt nicht mehr Raum einnehmen als ein größerer Zeichenkasten. Wenn jedoch aufgeklappt, dann formen sie ein kleines Tischchen, in dessen Innerem man alles findet, was man zum Schreiben benötigt. Wenn sich der Vorhang öffnet, ist dieses Tischchen zusammengeklappt. Auf der Mittelbühne links, nicht weit von der Fensternische entfernt und hinter ihr, befindet sich ein kleines Sofa mit einer Lehne aus durchbrochenem Mahagoni, es ist schräg aufgestellt, mit der Lehne zum Publikum. Dem Sofa gegenüber, also wiederum hinter ihm ein kleines Tischchen, an jeder Seite ein Sessel. Auf der Bühne rechts ein großer Tisch, der im rechten Winkel zur Rampe ausgerichtet ist. Auf jeder Seite ein Stuhl. Über dem Kamin ein Spiegel. Gerahmte englische Stiche in den Paneelen. Nippes nach Belieben. Im Vorzimmer draußen, der Mitteltür zugewandt, steht eine Vorzimmerbank. Darüber, an der Wand, ein Telefon. Für das Publikum unsichtbar die Eingangstür im Vorzimmer links, und zwar zwischen der linken Salontür und der Mitteltür.
Camille, später Antoinette, dann Etienne und Finache
Wenn sich der Vorhang öffnet, steht Camille an der linken Ecke des Aktenschränkchens gelehnt, mit dem Rücken zur Nische. Er blättert in einer Akte, die er aus einer der offenen Schubladen herausgeholt hat. Das dauert eine kleine Weile. Die Tür im Hintergrund links öffnet sich behutsam, und man sieht den Kopf Antoinettes hereinlugen. Sie überblickt kurz und inquisitorisch den Raum, bemerkt Camille und dessen Vertieftheit in die Akte, schleicht sich auf Zehenspitzen an ihn heran, nimmt seinen Kopf in beide Hände und gibt ihm einen herzhaften Schmatz.
CAMILLE
(überrascht und um sein Gleichgewicht kämpfend) Also wirklich!
Man versteht nur: a-o i-i!
ANTOINETTE
Aber geh! Hab doch nicht solche Angst! Die Herrschaften sind ausgegangen …
CAMILLE
Oh, aha.
ANTOINETTE
Also los, rasch, ein Küßchen! (Camille zuckt die Achseln wie ein trotziges Kind.) Los! Mach schon!
Camille mustert sie einen Augenblick lang wie ein Mann, der nicht weiß, ob er lachen oder sich ärgern soll. Endlich, ein Herr schneller Entschlüsse, gibt er ihr einen dicken Kuß. In diesem Augenblick öffnet sich die Mitteltür im Hintergrund, und Etienne und Finache treten auf.
ETIENNE
(noch im Vorzimmer) Treten Sie näher, Herr Doktor.
ANTOINETTE UND CAMILLE
(gleichzeitig) Huch!
Sie trennen sich jäh voneinander. Camille macht einen Satz wie ein Hase und entwischt durch die Tür rechts. Antoinette hat sich rasch nach links geflüchtet und bleibt brav und ein wenig einfältig dort stehen.
ETIENNE
(zu Antoinette, während Finache einige Schritte nach rechts vorn geht) Sowas! Was machst du denn hier?
ANTOINETTE
Oh! Ich? Warten tu ich … auf Anweisungen fürs Abendessen.
ETIENNE
Was soll das? Anweisungen. Weißt du denn nicht, daß Monsieur und Madame ausgegangen sind? Marsch an deine Töpfe! Eine Köchin gehört nicht ins Wohnzimmer.
ANTOINETTE
Aber …
ETIENNE
Los, ab mit dir!
Antoinette räsonierend ab.
FINACHE
(setzt sich auf den Stuhl links vom Tisch) Was für ein autoritärer Ehemann Sie doch sind!
ETIENNE
Die Frauen brauchen das. Führt man sie nicht am Ohr, wird man von ihnen an der Nase geführt. Nach meinem Geschmack wäre das nicht!
FINACHE
Bravo!
ETIENNE
Schauen Sie, Herr Doktor, diese kleine Frau ist treu wie ein Hündchen, aber eifersüchtig wie eine Tigerin. Die ganze Zeit schnüffelt sie in der Wohnung herum, natürlich um mich zu ertappen. Sie hat sich da was in den Kopf gesetzt, wegen dem Kammermädchen.
FINACHE
(leicht ironisch, was Etienne aber nicht merkt) Na, na? Nur in den Kopf gesetzt?
ETIENNE
Ich bitte Sie – ich ein Kammerjäger!
FINACHE
Aber ganz unmöglich! (Erhebt sich) Ja, aber darum geht’s mir eigentlich weniger … da Monsieur nun einmal nicht da ist …
ETIENNE
(leutselig, beide Hände in die Schürzentasche gesteckt) Aber das macht doch nichts! Ich hab Zeit. Ich leiste Ihnen Gesellschaft, Monsieur.
FINACHE
(etwas verblüfft) Wie? Ach, gewiß doch. Sehr freundlich von Ihnen … und eine große Versuchung für mich, aber ich will mich Ihnen nicht aufdrängen.
ETIENNE
(wie oben) Aber keine Spur! Ich hab’s nicht eilig.
FINACHE
(verbeugt sich ironisch) Na dann! Sie wissen nicht zufällig, wann Monsieur zurückkommt?
ETIENNE
Ach, frühestens in einer guten Viertelstunde.
FINACHE
Ah, zu dumm! (Nimmt seinen Hut vom Tisch und setzt ihn auf. Zieht sich zurück) Na schön, hören Sie … in diesem Falle … und so gern ich auch hier bei Ihnen bleibe …
ETIENNE
Oh, Monsieur, Sie schmeicheln mir …
FINACHE
Keineswegs! Ich bitte Sie! Aber schließlich ist man nicht nur auf der Welt, um sich zu amüsieren. Ich hab hier gleich nebenan einen Patienten liegen. Den muß ich noch schnell erledigen.
ETIENNE
(fassungslos) Ooooh!
FINACHE
Wie? (Begreift, was Etienne gemeint hat) Ach! Nicht was Sie denken! Nein, nein, vielen Dank! Meine Patienten, die erhalte ich mir. Schließlich ist das meine Einnahmequelle. Nein, ich erledige meine Visite und komme in einer Viertelstunde wieder her.
ETIENNE
(verbeugt sich) Schlecht stünde es mir an, in Sie zu dringen.
FINACHE
(ihn nachahmend) Ganz meinerseits. (Finache schickt sich an hinauszugehen.) Ach ja! Also falls Ihr Herr vor meiner Rückkehr kommen sollte (Er zieht eine Akte aus seiner Tasche.), dann geben Sie ihm dies! Sagen sie ihm, daß ich den Kunden, den er zu mir geschickt hat, untersucht habe und daß dieser in bestem Zustand ist. Er kann die Versicherung ohne Vorbehalt abschließen.
ETIENNE
(zerstreut) Ach so?
FINACHE
(stimmt ihm bei) Ja, Ihnen ist das egal.
ETIENNE
(unbekümmert) Ach …
FINACHE
Versteht sich. Mir auch! Nur, was wollen Sie machen, den Herrn Direktor der «Boston Life Company» für Paris und Umgebung, den interessiert das halt.
ETIENNE
(familiär) Na ja, den Herrn Direktor … (Beugt sich vor) Also … ganz unter uns …
FINACHE
Eben. «Den Herrn Direktor», natürlich nur, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Sagen Sie ihm, daß sein Hidalgo erstklassig in Schuß ist … wie heißt er gleich … Don Carlos Homenides des Histangua.
ETIENNE
Ah, der Dingsda! Der Histangua! Jaja, den kenn ich! Grade ist seine Frau hier … die wartet im Salon auf Madame.
FINACHE
Was Sie sagen! … wie klein die Welt doch ist. Heute früh untersuche ich ihren Mann, und jetzt sitzt seine Frau nebenan.
ETIENNE
Sie haben vorgestern sogar alle beide hier gespeist!
FINACHE
Unglaublich! Da können Sie mal sehn …
ETIENNE
(setzt sich wie bei sich zu Hause auf den Sessel rechts vom Tisch, während Finache noch auf der anderen Seite steht) Aber sagen Sie mir doch mal, Doktor, da Sie schon einmal hier sind …
FINACHE
Was mir an Ihnen so gefällt, ist, daß sie so gar nicht stolz sind.
ETIENNE
(ganz natürlich und leutselig) Warum sollte ich? Nein, ich wollte Sie fragen … weil ich grade heute früh mit meiner Gnädigen darüber geplaudert habe …
FINACHE
(präzisierend) Sie meinen Madame Chandebise.
ETIENNE
Nein, doch nicht Madame! Meine Dame.
FINACHE
Ach so! Ihre Frau!
ETIENNE
Na ja, also, meine Dame! «Ihre Frau» … wie das schon klingt!
FINACHE
(ironisch) Ich bitte sehr um Verzeihung.
ETIENNE
Also wenn man hier solche … wie soll ich sagen … aber setzen Sie sich doch!
FINACHE
(gehorsam, ironisch) Sie gestatten. (Setzt sich ihm gegenüber)
ETIENNE
(streckt den Körper zurück und balanciert auf den Hinterbeinen des Fauteuils) Was hat man, wenn man links und rechts immer so Stiche im Leib spürt?
Um diese Stiche zu erläutern, stößt er sich mit den Händen an beiden Seiten in den Leib.
FINACHE
(vor Etienne sitzend) Aha! Tja, das kommt häufig von den Eierstöcken.
ETIENNE
Ja! Genau das hab ich.
FINACHE
(mit Mühe ernsthaft bleibend) Oho! Na schön, lieber Freund, dann müssen Sie sie eben herausnehmen lassen.
ETIENNE
(erhebt sich und weicht zurück) Hä? Also nein! Niemals! Ich hab sie, ich behalt sie.
FINACHE
(hat sich ebenfalls erhoben) Oh! Ich will Sie nicht berauben. Wirklich nicht!
ETIENNE
(in den Hintergrund gehend) Würden Sie auch nicht schaffen!
Dieselben, Lucienne
LUCIENNE
(erscheint in der Türe links, zu Etienne) Sagen Sie einmal, mein Freund … (Bemerkt Finache) Oh, Pardon, Monsieur. (Zu Etienne) Sind Sie sicher, daß Madame Chandebise noch kommen wird?
ETIENNE
Aber gewiß doch, Madame! Madame hat mir noch ausdrücklich aufgetragen: «Falls Madame» … äh … hier Name von Madame einsetzen …
LUCIENNE
(kommt ihm zu Hilfe) Homenides de Histangua.
ETIENNE
(zustimmend) Genau! «– Zufällig hereinschauen sollte» …
FINACHE
Oh! «Zufällig hereinschauen!»
ETIENNE
(zu Finache mit einer gewissen kühlen Würde) Sehr richtig! (Zu Lucienne) «So lassen Sie sie ja nicht wieder gehn, ich muß sie unbedingt sprechen.»
LUCIENNE
Na gut, schön, genau das hat sie mir ja auch geschrieben, darum bin ich so erstaunt … Also werde ich noch ein bißchen warten.
ETIENNE
Ganz recht, Madame. (Lucienne will wieder in das angrenzende Zimmer zurückgehen, hält aber bei den Worten Etiennes inne.) Ich unterhielt mich gerade mit Monsieur …?
FINACHE
(ironisch) Ja! Wir unterhielten uns.
ETIENNE
(stellt vor) Doktor Finache. (Begrüßungen werden ausgetauscht.) Vertrauensarzt der «Boston Life Company», der mir sagte, er habe den Mann von Madame heute morgen gesehen.
LUCIENNE
Was Sie nicht sagen!
FINACHE
(geht ihr ein wenig entgegen) Völlig korrekt, Madame. Ich hatte die Ehre, Monsieur de Histangua zu untersuchen.
LUCIENNE
Sowas! Mein Mann läßt sich untersuchen? Komisch!
FINACHE
Das sind halt die kleinen Indiskretionen der Versicherungsgesellschaften. Ich beglückwünsche Sie, Madame … Sie haben einen Mann! Diese Gesundheit! Ein Temperament!
LUCIENNE
(leise, sich mit einem Seufzer links in einen der Sessel gegenüber dem Sofa sinken lassend) Ach, Monsieur! Wem sagen Sie das!
FINACHE
Na, ist das nicht fein?
LUCIENNE
Ja, schon, Monsieur … nur etwas ermüdend!
FINACHE
Jedes Ding hat seinen Preis.
ETIENNE
(seufzend) Wenn man bedenkt, daß Madame Plucheux Tag und Nacht von sowas träumt …
LUCIENNE
Und wer ist Madame Plucheux?
ETIENNE
Meine Gattin. Dauernd nervt sie mich! Die bräuchte einen Mann wie den von Madame.
FINACHE
Ja, du meine Güte, mit der Erlaubnis von Madame und der Zustimmung von Monsieur de Histangua müßte das doch zu machen sein …
ETIENNE
Hä? Nein, das nicht!
LUCIENNE
(erhebt sich, scherzend) Also wissen Sie, Doktor, … ich aber auch nicht!
FINACHE
(lachend) Oh, Pardon, Madame, es ist dieser teuflische Emile, der mich solche Dummheiten sagen läßt. (Geht über die Bühne, um seinen Hut zu holen) Also ich muß jetzt weg, wenn ich in einer Viertelstunde wieder zurück sein möchte. (Grüßend) Es war mir ein Vergnügen, Madame.
LUCIENNE
(verneigt sich) Und nichts für ungut, Doktor.
FINACHE
Das will ich hoffen. (Mit Etienne ab)
ETIENNE
(den Doktor begleitend) Um auf unser Gespräch zurückzukommen, Doktor … wenn ich hier so draufdrücke, dann stechen meine Eierstöcke! …
FINACHE
So? Also nehmen Sie mal ein gutes Abführmittel, das wird die schon einbremsen! (Beide ab)
Lucienne, später Camille
LUCIENNE
(dem Doktor nachsehend) Das ist mein Typ! (Schaut auf die Uhr) Schon sieben nach eins! Und das nennt Raymonde mich mit Ungeduld erwarten … Na ja …
Sie setzt sich auf einen der Sessel links auf der Bühne und nimmt eine Zeitschrift, die sie achtlos durchblättert.
CAMILLE
(kommt aus dem Hintergrund rechts und geht zum Aktenschrank, um dort die Akte abzulegen, die er vorhin herausgenommen hat; da bemerkt er Lucienne) Oh, Pardon, Madame!
In Wirklichkeit soll er während des ganzen Aktes vollkommen unverständlich durch die Nase sprechen, und das einzige, was er richtig aussprechen kann, sind die Vokale, wie es Leute tun, die einen Wolfsrachen haben.
LUCIENNE
(hebt den Kopf und verbeugt sich leicht) Monsieur!
CAMILLE
Ohne Zweifel ist’s der Direktor der Boston Life Company, den Madame erwartet? (Man hört etwa: o-e ei-e i e i-e-o e o-o ei o-i e a-a e-a-e?)
LUCIENNE
(verblüfft) Wie bitte?
CAMILLE
(wiederholt ein wenig deutlicher, natürlich ohne jeden Erfolg) Ich sagte: Ohne Zweifel ist’s der Direktor der Boston Life Company, den Madame erwartet?
LUCIENNE
(nervös lächelnd) Entschuldigen Sie, aber ich verstehe Sie nicht sehr gut.
CAMILLE
(langsamer, aber auch ein wenig verwirrt) Nein, ich fragte: die Person, die Madame erwartet, ist gewiß der Herr Direktor der …
LUCIENNE
(fällt ihm ins Wort und wie um sich zu entschuldigen, daß sie ihn nicht versteht) Nein nein! Francaise … ich French! Französisch! (Sie erhebt sich.)
CAMILLE
(wie vorhin) Was? Aber … ich doch auch.
LUCIENNE
Wenn Sie sich bitte an den Kammerdiener wenden wollen …! Ich, ich gehöre nicht zum Haus. Ich warte auf Madame Chandebise, mit der ich verabredet bin.
CAMILLE
(wie vorhin) Ach! Oh, ich bitte um Verzeihung. (Sich mit Bücklingen zurückziehend) Ich habe nur gefragt, denn wenn Sie den Herrn Direktor der Boston Life Company zu sprechen gewünscht hätten …
LUCIENNE
Ja, Monsieur, ja!
CAMILLE
(ist beim Aktenschrank angelangt, legt dort seine Akte ab, schließt die Lade wieder, dann im Hintergrund rechts ab) Ich bitte um Verzeihung!
LUCIENNE
(ihm mit aufgerissenen Augen nachsehend) Was ist denn das für ein komischer Vogel? (Geht im Sprechen nach rechts hinüber)
Lucienne, Etienne, später Raymonde
ETIENNE
(aus dem Hintergrund kommend) Ich komme nur, um zu sehen, ob Madame sich nicht allzusehr langweilt!
LUCIENNE
(lebhaft) Ach, mein Freund, sicher können Sie mir sagen … Vorhin war da ein Mann …
ETIENNE
(leicht überrascht) Ein Mann?
LUCIENNE
Ja, er hat Esperanto oder sowas gesprochen. Ich hab keine Ahnung, was er mir erzählt hat. (Imitiert Camille) o-a-a e-o i a … irgendwie in der Art.
ETIENNE
(lachend) Ach so! Monsieur Camille.
LUCIENNE
Ach! Ein Ausländer, wie?
ETIENNE
Der? Aber gar nicht … Das ist der Neffe von Monsieur, der leibliche Sohn seines Bruders … Neffe ersten Grades! … Tja, ich versteh schon, daß Madame mit ihm Probleme hatte! Er hat einen Sprachfehler, Madame. Er kann keine Konsonanten aussprechen.
LUCIENNE
Kaum zu glauben!
ETIENNE
Ja, Madame! Das ist klarerweise sehr peinlich, wenn man nicht dran gewöhnt ist. Was meine Wenigkeit betrifft, so fange ich an, ihn ein bißchen zu verstehen …
LUCIENNE
Ach, hat er Ihnen Stunden gegeben?
ETIENNE
Das nicht gerade, aber mit der Zeit, wenn man sich anstrengt … das Ohr gewöhnt sich dran, nicht wahr?
LUCIENNE
(setzt sich auf den Sessel links vom Tisch) Ja, ja.
ETIENNE
Also hat ihn Monsieur als Sekretär eingestellt. Da sie ihn nirgends genommen haben wegen seiner … mit Ihrer Erlaubnis … merkwürdigen Sprechweise.
LUCIENNE
Donnerwetter! Ein Mann, der einem nur Vokale zu bieten hat!
ETIENNE
Genau! Damit kommt man nicht aus! Ich weiß zwar, daß er beim Schreiben auch die Konsonanten verwendet, aber man kann ja nicht immer schreiben, nicht wahr?! (Geht hinter den Tisch zurück.) Ach, was für ein Jammer! So ein ordentlicher, anständiger Kerl! Wenn ich Ihnen sage, Madame, daß man ihn noch niemals mit einer Geliebten gesehen hat!
LUCIENNE
Nicht zu fassen!
ETIENNE
(naiv) Ich jedenfalls nicht.
LUCIENNE
Na ja, Pech gehabt, Ihr junger Mann.
ETIENNE
(stößt einen Seufzer aus) Ach ja! (Sieht Raymonde, die im Hintergrund erscheint) Ach, da ist Madame!
LUCIENNE
(eilt auf sie zu) Du! Endlich!
RAYMONDE
(wie ein Windstoß hereinstürmend) Ach, meine arme Freundin … ich bin untröstlich! (Zu Etienne, während sie sich an den Tisch begibt, auf dem sie ihr Täschchen ablegt) Lassen Sie uns allein, Etienne!
ETIENNE
Ja, Madame. (Zu Lucienne) Entschuldigen Sie mich, Madame?
LUCIENNE
Aber wie denn nicht!
Etienne ab
RAYMONDE
(ihren Hut abnehmend, den sie auf das Möbel rechts von der Tür im Hintergrund ablegt) Ich hab dich warten lassen!
LUCIENNE
(spöttisch) Was du nicht sagst!
RAYMONDE
Wenn ich dir erst sage, was ich für Rennereien hinter mir hab! Ich werde es dir gleich erklären. (Nähert sich Lucienne) Lucienne, wenn ich dir geschrieben habe mit der Bitte zu kommen, so deshalb, weil etwas sehr Ernstes geschehen ist! Mein Mann betrügt mich.
LUCIENNE
Was! Viktor-Emmanuel?
RAYMONDE
Der nämliche. Viktor-Emmanuel.
LUCIENNE
Also du hast eine Art, einem sowas an den Kopf zu knallen!
RAYMONDE
Der Elende! Oh! Aber ich erwische ihn schon noch!
LUCIENNE
Was heißt das, du erwischst ihn? Aber hast du denn keine Beweise?
RAYMONDE
Ach … nein! Hab ich nicht! Dieser Feigling! Oooh! Aber ich krieg ihn!
LUCIENNE
Aha. Aber wie?
RAYMONDE
Weiß ich nicht. Du bist ja da, du machst das schon. (Sie setzt sich aufs Sofa.)
LUCIENNE
(in ihrer Nähe stehend) Ich?
RAYMONDE
Aber ja doch! Sag nicht nein, Lucienne! Im Internat warst du meine beste Freundin. Vor zehn Jahren haben wir uns aus den Augen verloren, aber es gibt Dinge, die lassen sich nicht auslöschen. Als Lucienne Vicard habe ich dich zuletzt gesehen, als Lucienne Homenides de Histangua hab ich dich wiedergefunden. Dein Name mag sich verlängert haben, dein Herz ist das gleiche geblieben. Ich habe das Recht, dich immer noch als meine beste Freundin zu betrachten.
LUCIENNE
Aber natürlich.
RAYMONDE
Daher bist du’s, an die ich mich wende, wenn ich jemanden um einen Gefallen bitten muß.
LUCIENNE
(setzt sich ihr gegenüber, ohne rechte Überzeugung) Du bist sehr lieb, ich danke dir.
RAYMONDE
(ohne Übergang) Also sag schon, was soll ich denn jetzt machen?
LUCIENNE
(aufgescheucht) Hm? Inwiefern?
RAYMONDE
Na, um meinen Mann zu überführen, was denn sonst!
LUCIENNE
Aber was weiß denn ich …? … Und deswegen hast du mich kommen lassen?
RAYMONDE
Aber ja doch.
LUCIENNE
Also du bist gut! Und überhaupt, wer hat dir denn den Floh ins Ohr gesetzt mit deinem Mann? Er ist vielleicht der treueste der Ehemänner.
RAYMONDE
Der?
LUCIENNE
Verdammt! Wenn du doch keine Beweise hast!
RAYMONDE
Es gibt Dinge, die trügen nicht.
LUCIENNE
Genau. Vielleicht gehört dein Mann dazu.
RAYMONDE
Aber geh! Ich bin kein Kind, das an den Weihnachtsmann glaubt. Was würdest denn du sagen, wenn dein Mann ganz plötzlich, nachdem er immer ein Mann … ein Mann … also schon so! gewesen ist, plötzlich aufhörte zu … wie soll ich sagen … na ja … also von heut auf morgen!
LUCIENNE
(taktvoll) Also ich würde sagen: Uff, endlich!
RAYMONDE
So! Na du bist gut! Uff würdest du sagen! Vorher sagt sich das leicht! Ich hab ja auch diese fortwährende Liebe, diesen ewigen Frühling irgendwie leicht ermüdend, monoton gefunden. Ich hab mir gesagt: «Oh, eine Wolke nur! Eine Unstimmigkeit! Ein Krach! Sorgen! Irgendwas!!» Ich war schon versucht, mir einen Geliebten zu nehmen, nur um sie endlich zu haben, die Sorgen.
LUCIENNE
Einen Liebhaber, du?
RAYMONDE
Ach verdammt, weißt du, es gibt Augenblicke, da … Ich hatte mir sogar schon einen ausgesucht! Weißt du, dieser Monsieur Romain Tournel, seinen Namen wollen wir verschweigen, mit dem wir vorgestern hier gegessen haben … Hast du denn nicht bemerkt, wie er mir den Hof gemacht hat? Das erstaunt mich aber schon sehr, du, eine Frau! Na schön. Um ein Haar war’s passiert, meine Liebe!
LUCIENNE
Oooh.
RAYMONDE
Nicht wahr, wie sagt man doch so schön … «Er ist der beste Freund des Ehemannes, wer oder was läge also näher als dessen Frau …»! (Sie erhebt sich.) Ach, aber jetzt auch nur daran zu denken … mir einen Liebhaber zu nehmen. Jetzt, wo mein Mann mich betrügt!
LUCIENNE
(erhebt sich ebenfalls, nach rechts hinüber) Soll ich dir mal was sagen?
RAYMONDE
Was?
LUCIENNE
Im Grunde bist du verrückt nach deinem Mann.
RAYMONDE
Verrückt, ich?
LUCIENNE
Also was regst du dich dann auf?
RAYMONDE
Du machst mich wahnsinnig! Ich möchte ihn immer noch gern betrügen, aber er, daß er mich betrügt! Nein! Das geht zu weit!
LUCIENNE
(will ihren Mantel nehmen) Seltsame Sitten und Gebräuche.
RAYMONDE
Hab ich etwa nicht recht?
LUCIENNE
(ihren Mantel auf dem Tisch rechts ablegend) Doch, doch! Nur … schau, alles, was du mir da eröffnest, beweist gar nichts.
RAYMONDE
Was heißt, es beweist nichts? Wenn ein Ehemann über Jahre hinweg ein reißender Gebirgsbach gewesen ist und dann, auf einmal, futsch! Nichts mehr! Ausgetrocknet!
LUCIENNE
(setzt sich links vom Tisch) Aber ja! Klar! Der Manzanares macht’s auch nicht anders, und doch kehrt er immer wieder in sein Bett zurück!
RAYMONDE
Oho!
LUCIENNE
Hast du nicht schon oft im Kasino diese erstaunlichen Leute beobachtet, die die Bank zu stürmen pflegen und die man wenig später ertappt, wie sie ihr Geld nur noch tröpfchenweise setzen?
RAYMONDE
(wütend) Aber wenn er doch nur spielen wollte! Meinetwegen auch tröpfchenweise! Aber nichts! Der ist der Herr, der um den Tisch herumwandert.
LUCIENNE
Na schön! Um so weniger Grund hast du! … Das beweist nicht, daß er sich anderswo verausgabt. Das beweist bloß, daß er sich momentan verausgabt hat, sonst nichts.
RAYMONDE
(die sich dies alles, gelehnt an das Möbelstück im Hintergrund, mit verschränkten Armen angehört hat) So, meinst du! (Sie geht zum Tisch zurück und wühlt in ihrem Täschchen, aus dem sie schließlich ein Paar Hosenträger zieht, die sie Lucienne baumelnd vor die Nase hält.) Na bitte! … und dies?
LUCIENNE
Was ist das?
RAYMONDE
Hosenträger.
LUCIENNE
Dacht ich mir’s doch.
RAYMONDE
Und weißt du auch, wem sie gehören, diese Hosenträger?
LUCIENNE
Deinem Mann, nehme ich an.
RAYMONDE
(lebhaft) Aha! Siehst du, du verteidigst ihn nicht mehr!
LUCIENNE
Aber was denn! Ich sag das … weil ich mir denke, daß, wenn du diese Hosenträger an dich genommen hast, dieselben eher deinem Mann als einem anderen Herrn gehören werden.
RAYMONDE
(die die Träger wieder in ihr Täschchen zurückgestopft hat, geht das Täschchen auf dem Möbel im Hintergrund ablegen und kommt im Sprechen wieder zur Mitte der Bühne zurück) Genau! Na gut, demnach kannst du mir auch erklären, wie es kommt, daß mein Mann sie heute morgen mit der Post zugeschickt bekommen hat, diese Hosenträger?
LUCIENNE
Mit der Post?
RAYMONDE
Ja, ein Päckchen, das ich irrtümlich geöffnet habe, als ich seine Post inspizierte.
LUCIENNE
Und weshalb hast du seine Post inspiziert?
RAYMONDE
(ganz natürlich) Um zu erfahren, was drinnen war.
LUCIENNE
(ironisch) Immerhin ein Grund.
RAYMONDE
Hör mal!
LUCIENNE
Das nennst du irrtümlich öffnen!
RAYMONDE
Aber verdammt noch mal! Irrtümlich heißt doch nur, daß es nicht an mich adressiert war!
LUCIENNE
Na du bist gut!
RAYMONDE
Also schön, du stimmst mir doch zu, daß, wenn man ihm seine Hosenträger mit der Post schickt, er diese anderswo vergessen haben muß.
LUCIENNE
(erhebt sich, nach links hinübergehend) Ich muß schon sagen …
RAYMONDE
Jawohl! Und weißt du auch, wo das war … dieses «anderswo»?
LUCIENNE
(gruselt sich gespielt) Du erschreckst mich!
RAYMONDE
Im Hotel zur «Zärtlichen Miezekatze», meine Teure!
LUCIENNE
Was soll denn das sein?
RAYMONDE
Wie der Name bereits verrät, natürlich keine Familienpension.
LUCIENNE
(kopfschüttelnd) Hotel zur zärtlichen Miezekatze!
RAYMONDE
(holt aus dem Schränkchen im Hintergrund links von der Eingangstür eine kleine Pappschachtel, mit der sie wieder nach vorne geht) Übrigens, schau, hier ist die Schachtel, in der sich das Postgut befand. Lies selbst den Absender, er ist draufgedruckt und darunter Name und Adresse meines Mannes: «Monsieur Chandebise, Boulevard Malesherbes 95.»
LUCIENNE
(liest) Hotel zur zärtlichen Miezekatze. Tatsächlich.
RAYMONDE
Und das in Montretout, meine Liebe! Noch so ein eindeutiger Name! Ich wiederhole es noch einmal: alles eindeutig unanständig! (Sie legt die Schachtel auf den Tisch rechts.) Du verstehst, ein Irrtum ist ausgeschlossen! Diese Rechnung geht auf: Ich weiß alles!
LUCIENNE
Oooh!
RAYMONDE
Mein Gott, bis zuletzt hatte ich ja auch meine Zweifel … wenn ich auch meinen Mann ein wenig … ein wenig …
LUCIENNE
(kommt ihr zu Hilfe) Manzanares …
RAYMONDE
Genau … manzanarisch fand … Aber ich sagte mir: «Na schön, bitte, auch gut, was soll’s?» Aber jetzt sowas! Nein! Das hat mir diesen Floh ins Ohr gesetzt!
Sie geht die Schachtel wieder in den Schrank zurücklegen, aus dem sie sie genommen hat.
LUCIENNE
Also, das überzeugt mich!
RAYMONDE
(kommt zurück)