Fluch des Bösen - Manuela Maer - E-Book

Fluch des Bösen E-Book

Manuela Maer

4,4

Beschreibung

Aus Liebe zu dem Vampir Dominik von Rascudo lebt die junge Sarah auf seinem Adelslandsitz und arbeitet in seinem erfolgreichen Unternehmen mit. Längst weiß sie, dass sie eine Sangvuella ist, eine verfluchte Frau, von deren Blut sich ein Vampir ernährt, und nimmt ihr Schicksal an. Doch ihre Zweifel an Dominiks Liebe werden immer stärker. Als er sie eines Tages fast ums Leben bringt, setzt sie ihren lang gehegten Plan in die Tat um: Zusammen mit loyalen Helfern gelingt es ihr, den Vampir zu betäuben und in seinem Sarg einzumauern. Unfähig, in ihr altes Leben zurückzukehren, bleibt Sarah und muss bald erfahren, dass sie in größter Gefahr schwebt. Sie ist dem Anführer eines feindlichen Clans versprochen, der die Vampire bedroht, und soll ihm in einem blutigen Ritual übergeben werden. Zu spät erkennt Sarah, dass auch ihre Freundin Rosalie ein Opfer des grausamen Rituals ist - und dass es ein großer Fehler war, Dominik in die Verbannung zu schicken. Als sie noch einmal vor der Wahl steht, die Welt der Vampire zu verlassen, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung.

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Für Stefan,

ich liebe dich

Inhalt

Anekdote

Prolog

Die Erinnerungen

Sieben Tage

Sechs Tage

Fünf Tage

Vier Tage

Drei Tage

Zwei Tage

Ein Tag

Das Ritual

Der Tag danach

Epilog

Danksagung

Begriffserläuterungen

Anekdote

Als es um den Schluss dieses Buches ging, kam ich nicht daran vorbei, eine wahrlich nervenaufreibende Diskussion mit meiner Freundin Kristina über mich ergehen zu lassen. Meine Intention für den zweiten Teil verfolgte zunächst eine andere Richtung, so auch der Verlauf im dritten und letzten Teil dieser Trilogie. (Ihr werdet verstehen, dass ich hier nicht ins Detail gehen kann.) Mit unendlicher Geduld und facettenreicher Wortgewalt warf sie mir ein Argument nach dem anderen vor, nur damit ich den Schluss dieses Teils in ihrem Sinne abänderte. Dass das eine Änderung des letzten Teiles zur Folge hatte, war ihr buchstäblich egal! Sie meinte nur, dass ich ja die Autorin sei und mir gefälligst was einfallen lassen solle.

Fazit: Ihre Argumente wogen mehr. Der Schluss in diesem zweiten Teil verläuft so, wie Kristina es sich wünschte. Nicht zuletzt bin ich ihr im Nachhinein dankbar dafür. Der dritte und letzte Teil wird ein tragisches, grandioses Ende bekommen, das es ohne die Diskussion mit Kristina so nicht geben würde.

Manuela Maer

Finstere Sonne

Wenn die Sonne scheint,

die Welt erhellt,

kein Wesen im Dunkeln schaudert.

du fliehst vor dem Schatten,

folgst ins Licht,

irreführend dem Schein hinterher?

In gefährlichen Augen sich spiegelt das Feuer.

Trügerisch,

denn nicht die Sonne ruft.

Wie ein Schattennebel ist es,

wabernde Flammen.

Wir erkennen das weiße Spiegeln nicht.

Es reißt Opfer,

zurück bleibt Traurigkeit.

Wage den Schritt hinaus!

Doch zu spät.

Der Schatten fordert,

und

finster wird der Sonne Schein.

HAUPTFIGUREN DES ROMANS

S

ARAH VON

D

ELCARDE

Sangvuella, die junge Frau, um die sich alles dreht

D

OMINIK VON

R

ASCUDO

Vampir, Geliebter von Sarah

J

OHN

E

ARL OF

H

IGH

T

EMPER

Vampir, eifersüchtiger Cousin von Dominik

L

AURENTIU

D

UMITRESCU

Vampir, Freund von Dominik, familiär mit Sarah verbunden

A

NTONIO

Vosantus, Laufbursche von Dominik, freundet sich mit Sarah an

J

ACQUES

Vosantus, Laufbursche von Laurentiu

R

OSALIE

S

ANTES

Sarahs Freundin, jetzt eine Vosanta

Prolog

Was vor über drei Jahren geschah …

Dominik

Krachend schlug ein Blitz in die alte Eiche hinten im Garten ein. Durch die halb offene Bürotür beobachtete ich das ständige Aufleuchten im Saal. Die Stille zwischen den Donnerschlägen wirkte bizarr. Vor allem nach diesem Abendessen, bei dem John und Sarah sich beinahe genauso verhalten hatten. Schmunzelnd dachte ich darüber nach, wer von den beiden den Blitz und wer den Donner verkörperte. Sarah verbarg ihren Ärger darüber, dass mein Cousin John ihre beste Freundin getötet hatte, keineswegs; zudem trug sein Aufenthalt hier in der Villa nicht gerade zu einer guten Stimmung bei. Wie so oft in letzter Zeit ärgerte ich mich über meinen Cousin und zitierte ihn in mein Büro. Ich tat ohne Umschweife meinen Unmut kund.

»Könntest du dich Sarah gegenüber etwas manierlicher verhalten? Merkst du denn nicht, dass du ihr Angst machst?«

»Angst? Das glaube ich kaum. Du solltest dich nicht unnötig darüber aufregen. Klär sie auf, weshalb sie hier ist, und alles ist bestens. Laurentiu ist da ausnahmslos meiner Meinung, wie du weißt.«

Johns Worte bewirkten, dass meine ohnehin längst angestaute Wut auf ihn noch mehr anschwoll.

»Wollt ihr mich eigentlich alle nicht verstehen? Nicht mal du, John? Ich werde nicht zulassen, dass man Sarah verschachert wie ein Stück Vieh. Was Laurentiu angeht, habe ich ihn schon mehrmals eindringlich gebeten, Sarah gegenüber unter allen Umständen Stillschweigen zu bewahren. Außerdem verfolgt er andere Ziele. Es ist schon schlimm genug für ihn, dass ausgerechnet der Bruder seiner verstorbenen Mutter seinen Vater getötet hat. Und ja, es stimmt, ich begehre Sarah, seit ich ihr Bild sah, und habe seither keinen klaren Gedanken mehr gefasst. Mich beschäftigt unentwegt die Frage, wie ich sie vor diesem Zeremoniell bewahren kann, für das mein Vater sie auserwählte.«

»Und gleichzeitig versuchst du den Schein aufrechtzuerhalten, ich versteh schon«, John grinste mich an. »Das Bild … Ein Rätsel, auf dessen Lösung ich einfach nicht komme. Wie kam das eigentlich zustande? Ich weiß ja um vieles. Wobei sich mir der Umstand nicht erschließt, wie ein Porträt von einer Person existieren kann, die erst vierhundert Jahre später das Licht der Welt erblickt.«

Deutlich sah ich ihm an, dass er ungehalten war. Sicherlich glaubte er, dass man ihn absichtlich im Unklaren ließ.

Seine Frage löste eine kaum verhehlbare Genugtuung in mir aus.

Mittlerweile saß ich in meinem ausladenden ledernen Schreibtischsessel und schwieg.

»Red mit mir und sitz nicht einfach nur da in deiner typischen Denkerhaltung! Ich kenn das von dir, wenn du in Situationen wie dieser darüber sinnierst, wie du vorzugehen gedenkst.«

Ich hatte tatsächlich Kenntnis von seiner Unwissenheit. John war in der Vergangenheit nur minimal über die Belange und Vorgänge informiert worden, die in den letzten achthundert Jahren unsere Welt beeinflusst hatten. Das lag nicht zuletzt an Johns unbeherrschbar ungestümen Art. Bisher hatte ich immer dafür Sorge getragen, diesen Zustand so weit wie möglich beizubehalten. Jetzt hingegen sah ich die Notwendigkeit, ihm einige Dinge zu erzählen, in der Hoffnung, dass er genügend Verständnis für meine Situation und die daraus folgende Konsequenz aufbringen würde.

»Tante Marie, deine Mutter, ließ dieses Bildnis anfertigen. Die Kunst der Vorsehung ist ihre Gabe. Kaum einer weiß davon.« Ein Grinsen zwang sich mir auf die Lippen.

John schüttelte den Kopf. Ich wartete auf einen Ausbruch. Er musste sich in diesem Moment vorkommen wie ein bedeutungsloser Junge, dem man keine Geheimnisse anvertrauen wollte.

»Meine Mutter eine Seherin? Und weshalb, entschuldige, dass es mich interessiert, sollte ich das nicht wissen? Warum erfahre ich das erst jetzt, von dir? Warum erzählt mir meine Mutter das nicht selbst?«

Meine Befürchtungen trafen ein. Er stand vor mir, die Hände auf dem Schreibtisch aufgestützt, und blitzte mich mit rot glühenden Augen an. Offensichtlich hatte er wengistens verstanden, dass nicht ich allein schuld an diesem Dilemma war.

»Alle behandeln mich wie einen kleinen Jungen. Weshalb diese Farce, diese Ausbildung bei dir? Wo bleibt das Vertrauen?« Johns Stimme hob sich mehr und mehr. »Sollen sie mich doch gleich in die Karpaten zum Steineklopfen schicken. Und der Gipfel des Ganzen ist, dass ihr mich zu den Vampirtreffen ebenfalls nicht lassen wollt. Ihr behandelt mich manchmal wie einen Vosantus, auch du.«

Während er hin und her lief, zeigte er mit dem Finger auf mich. Schon seit langem ahnte ich, dass er sich zu Höherem berufen fühlte und nicht verstand, weshalb er zunächst eine Ausbildung bei mir absolvieren sollte. Doch wenn einer darüber Bescheid wusste, wie unberechenbar er sein konnte, dann ich. Schließlich ließ ich allzu oft die Folgen seiner Uneinsichtigkeit forträumen.

»Wenn du dich beruhigst, werde ich dir alles erzählen.«

Abrupt blieb er stehen. Nach all seinen Eskapaden fühlte er sich trotz seines Eigensinnes mir gegenüber in der Pflicht; das wusste ich. Mit dem unangenehm aufdringlichen Bewusstsein nämlich, mit mir seinen einzigen Freund vor sich zu haben, der selbst in weniger begrüßenswerten Situationen zu ihm hielt.

Nur widerwillig riss er sich zusammen und ließ sich in einen Sessel vor meinem Schreibtisch fallen.

»Ich bin gespannt, was du zu erzählen hast. Weitere Familiengeheimnisse? Bitte, ich bin ganz Ohr.«

Gelassen hatte ich ihn beobachtet. Endlich glaubte ich ihn an einem Punkt, an dem er mir zuhörte.

»Deine Einstellung freut mich. Vor allem aber, dass dir klar zu sein scheint, dass nicht ich die Entscheidung getroffen habe, dich unwissend zu lassen. Trotz allem wird es dich nicht überraschen zu hören, dass ich diesen Beschluss bisher unterstützte. Und wenn ich deine Reaktion Revue passieren lasse, fühle ich mich einmal mehr bestätigt. Ich möchte ehrlich zu dir sein. Du kennst mich lange genug, um zu wissen, dass ich dir hier nichts vormachen will.«

Zum wiederholten Mal konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Er saß vor mir wie ein gerügtes Kind, das auf seine Strafe wartet. Erwartungsvoll blickte er mich an. Seine Augen hatten wieder ihre dunkelbraune Farbe angenommen.

»Legen wir die Zeitrechnung des gregorianischen Kalenders zugrunde, wurde deine Mutter anno 292 als Sangvuella geboren. Annähernd einhundert Menschenjahre später trat ihre Gabe das erste Mal in Erscheinung. Nach unserer Rechnung war sie zu diesem Zeitpunkt etwa sechsundzwanzig Vampirjahre alt. Mein Vater erzählte mir, dass sie sich nach einer Jagd in den Wäldern gerade auf dem Nachhauseweg befanden. Sie war stehen geblieben, versteifte und atmete nur stoßweise. Ihre Augen färbten sich glutrot und ihr Körper bebte, als wollte er explodieren. Ihr Bruder drang nicht zu ihr durch und bekam Angst. Auf einmal, so berichtete er mir, sank sie in sich zusammen. Mein Vater beschrieb, dass sich Marie wie in einem Trancezustand befand, als sie zu reden begann. Sie sprach von einem König, einem aus unseren Reihen, der die Macht gewänne. Sie prophezeite eine Gala Placida, die der König zu seiner Frau auserwählen würde. Und sie sah, dass er dem Tod geweiht war. Als Grund nannte sie, dass der Gedanke dieses Vampirkönigs, die Vampire könnten öffentlich unter Menschen leben, dazu führen würde, dass sich alle Vampire verstecken und viele davon zu Tode kommen würden. Sie erklärte ihrem Bruder, dass Soraya, seine erste Frau, anno 508 durch die daraus resultierenden Unruhen sterben würde, und bat ihn eindringlich, rechtzeitig zu fliehen. Definitiv besprachen sie dieses Ereignis mit den anderen Vampirclans. Doch es kam, wie es kommen musste: Keiner nahm es ernst. Selbst mein Vater glaubte ihr nicht – selbst dann noch nicht, nachdem er mit Soraya zusammengekommen war. Zur Bestürzung aller traten sämtliche Prophezeiungen deiner Mutter ein.«

Mein Mund war vom Reden trocken geworden. Ich wollte mir etwas zu trinken holen, hielt jedoch inne. Es amüsierte mich, wie John dasaß und mir höchst gespannt zuhörte. Überraschenderweise erhob er sich plötzlich, verschwand kurz und kam mit einer Flasche Blutwein zurück. Gläser standen an der Seite auf einem Beistellwagen.

»Kaum nachzuvollziehen, dass es Vampiren schwerfällt, Prophezeiungen zu glauben. Immerhin hätten viele gerettet werden können. War es denn üblich, dass Sangvuellas solche Fähigkeiten besaßen?«

Erwartungsvoll blickte er mich an, während er wiederholt vom Wein nippte. Ich leerte mein Glas in einem Zug und schenkte nach.

»Die von uns verfluchten Frauen weisen nicht die geringste Befähigung auf, außer natürlich, dass sich ihr Blut vermehrt. Nur diejenigen, die als Sangvuella geboren werden, haben eine spezielle Begabung. Oft zeigt sie sich erst im fortgeschrittenen Alter. Dass es bei Marie bereits so früh begann, erklären wir damit, dass diese Veranlagung dazu diente, uns Vampire zu schützen. Und um deine Frage vorwegzunehmen: Wir können nicht im Ansatz erahnen, welche Fähigkeiten in einer Sangvuella verborgen liegen.«

John lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Abschätzend blickte er mich an. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich; er verhieß nichts Gutes.

»Also bist du darüber im Bilde, was für eine Fähigkeit Sarah besitzt? Womöglich der Grund, weshalb du so vehement um sie kämpfst?«

Ich empfand sein Grinsen als unverschämt. Was nahm er sich wieder heraus? Ich hatte es ja fast geahnt, dass er in seiner egoistischen Welt sofort auf der Suche war nach Möglichkeiten, die ihm zum Vorteil gereichten. Einmal mehr fragte ich mich, wie lange ich seine Frechheiten eigentlich noch hinnehmen wollte.

»Halte dich zurück, mein Lieber. Deine Behauptung führt ins Leere. Wenn du mich fortfahren lässt, wirst du verstehen, was mich diesbezüglich antreibt. Dahingegen bleiben, was Sarah angeht, nur Spekulationen über ihre Gabe – sofern es eine gibt.«

John winkte mir abfällig zu. Er verhielt sich gekränkt. Das Verhältnis zu seiner Mutter war seither tadellos gewesen; dessen ungeachtet war es ihr Wunsch gewesen, ihn so lange wie möglich im Unklaren zu lassen.

»Deine Mutter sagte in den darauffolgenden Jahrhunderten viele Ereignisse voraus. Nach der vorausgegangenen Erfahrung schenkte man ihr mehr Beachtung, und so konnten sich die Vampire das ein oder andere Mal rechtzeitig in Sicherheit bringen. Ihrem Bruder, der nach dem Tod seiner ersten Frau fortging, ließ sie regelmäßig Briefe zukommen. Oft warteten die Briefe bereits an dem Ort, zu dem er kam. Marie ging das Bindungsritual mit Johan, deinem Vater, ein. Danach glaubte man die beiden lange Zeit verschollen. Tatsächlich jedoch hielten sie sich nur im Verborgenen, um kein Aufsehen zu erregen. Bis zu dem Tag, an dem deine Mutter meinen Vater aufsuchte, um ihm dieses Bild zu überreichen.

Sie hatte sich mit einem Mann namens Michelangelo, der ihr durch seine Malereien aufgefallen war, in Verbindung gesetzt. Sie betörte ihn in ihren Briefen, sie nicht zu verraten, schließlich musste sie sich ihm ein Stück weit offenbaren. Michelangelo unterlag zweifellos ihrer Anziehungskraft und so verabredeten sie endlich einen Treffpunkt in Venedig. Es muss so um 1590 gewesen sein. Tante Marie versetzte sich in Trance und erzählte ihm, wie dieses Mädchen, das einmal die Gemahlin ihres Neffen sein sollte, aussehen würde. So malte er nach ihren Vorgaben dieses wundervolle Gemälde. Sie suchte meinen Vater auf, übergab ihm das kostbare Gut und weissagte ihm, dass er eine bezaubernde Partnerin finden würde. Die Liebe dieser Frau wäre mächtig genug, sodass er den Fluch der Sangvuella über sie legen könnte. Sie würde ihm einen Sohn gebären und so seine Linie fortführen. Und dieser Sohn würde das anmutige Wesen, das auf dem Gemälde abgebildet war, zu seiner Gemahlin machen.«

John wirkte argwöhnisch, als verstünde er die Bedeutung des Gehörten nicht. »Noch ein Nachkomme? Wo hält sich der Junge denn auf?«

Ich fuhr eine Spur zu harsch fort: »Damit war ich gemeint. Verstehst du es endlich? Es kann also unmöglich sein, dass Sarah für irgendjemanden anderen bestimmt sein soll als für mich.«

Überrascht riss er die Augen auf und lachte lauthals los.

»Meine Güte, Dominik! Du vergisst, wer du bist. Was versprichst du dir von dieser Gefühlsduselei?«

Schon bereute ich die Entscheidung, ihm alles zu erzählen.

»Vielleicht liefert dir das die Erklärung. Eine weitere Vorsehung deiner Mutter besagte, dass die Verbindung zwischen dieser einen besonderen Sangvuella und mir eine Befreiung für mich sein würde. Eine uneingeschränkte Macht ginge mit dieser Erlösung einher. Es würde Leben und die Rettung aller Vampire bedeuten.«

Johns Aufmerksamkeit lag auf der Spitze des Möglichen, das sah ich ihm an. Immerhin offenbarte ich ihm hier eine vollkommen neue Perspektive. So, wie ich ihn einschätzte, glaubte er in diesem Moment mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass ihm von dieser absoluten Herrschaft auch ein Stück gehören sollte. Ich kannte ihn zu gut.

»Und du glaubst, dass diese Macht dir alleine zusteht?«, fragte er dann auch. »Aus welchem Grund erzählst du mir das sonst? Du hast ganz gewiss nicht vor, diese Herrschaft mit mir zu teilen, stimmt’s? Du wärst nicht Dominik, solltest du anderes behaupten.«

Nur zu gerne wäre ich über den Schreibtisch gesprungen und hätte ihm den Kopf abgerissen. Es genügte. Die Hoffnung, die ich gehegt hatte, was John anging, war in Sekundenschnelle ins Bodenlose gesunken. Ich spürte die Absicht, die hinter seiner Aussage steckte. So war es nur folgerichtig, dass er nicht die Antwort bekam, die er erwartete.

»Mein lieber John, ich denke, dass du mit deiner Ausbildung hier einen Stand erreicht hast, der es zulässt, dass du die Anwesen in England übernehmen kannst. Ich würde es also begrüßen, wenn du noch in dieser Woche deine Abreise dorthin veranlassen würdest. Ich denke, es ist zu unser aller Bestem und wird dazu beitragen, dass in diesen Mauern wieder Ruhe einkehrt.«

An meinem Ton schien John klar zu erkennen, dass ich keinerlei Widerspruch dulden würde. Er schnaufte erbost, erhob sich jedoch und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.

In den folgenden drei Jahren fanden viele Vampir-Versammlungen statt. Die Clan-Ältesten berieten immer wieder aufs Neue, wie über meine geliebte Sarah bestimmt werden sollte. Bei dem letzten Treffen, dem ich beigewohnt hatte, war die Debatte eskaliert. Meine daraus resultierende Verzweiflung führte unabänderlich zu einem eklatanten Zerwürfnis zwischen mir und Sarah. Erst spät begriff ich, dass die schwerwiegende Entscheidung, die Sarah danach fällte, den Weg zur Erfüllung der Weissagung ebnete.

Folgendes spielte sich bei diesem letzten Treffen ab, bei dem ich verzweifelt versuchte, das Vorhaben meines Vaters in andere Richtungen zu lenken:

»Sarahs emotionale Bindung zu unserer Kultur ist noch nicht stark genug. Ihr wisst, dass sie nicht unter uns aufgewachsen ist. Solltet ihr die Pläne meines Vaters nur ansatzweise in Erwägung ziehen, ihr dürftet niemals zulassen, dass sie ohne die Verbundenheit zu dieser Welt an einen fremden Clan weitergereicht würde. Sie versteht nicht, was um sie herum geschieht. Abgesehen davon käme diese Option für mich ohnehin nicht in Betracht.«

Ich hörte selbst, wie die Verzweiflung den Klang meiner Stimme verschärft hatte. Ein Raunen ging durch die Versammlung, die ungeachtet der bisher vorgetragenen Argumente geteilter Meinung war. Mein Vater schritt bedrohlich auf mich zu. Keinen Zentimeter wich ich von der Stelle, selbst als sich unsere Körper fast berührten.

»Du gebärdest dich hier wie ein verliebter Bursche. Wir wissen doch alle, dass es dir nur darum geht, dir deine Liebschaft zu erhalten!«

»Welch banale Rechtfertigung aus deinem Mund, Vater. Und das, obwohl dir jede Einzelheit, die Marie vorausgesagte, vor deinem geistigen Auge stehen sollte? Wie kannst du es wagen, eine solche Weissagung zu ignorieren? Aus Angst?«

Das letzte Wort war kaum verstummt, als mich mein Vater rücklings gegen die Wand drückte. Der Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen.

Seine Reaktion überraschte mich nicht wirklich. Viel mehr erschütterte mich die Tatsache, dass er generell nicht abgeneigt schien, Hand an mich zu legen.

Einige Vampire schnellten hoch, dennoch wagte niemand einzugreifen. An mich gepresst, schloss mein Vater seine Hand bedenklich eng um meine Kehle. Das hinderte mich nicht daran, meinen Unmut erneut kundzutun.

»Ihr alle habt nur Furcht und lasst euch von meinem Vater in die unvermeidliche Unterwerfung hineinziehen. Macht die Augen auf: Hat sich Marie in der Vergangenheit nicht schon oft bewiesen? Glaubt ihr im Ernst, dass die Bedrohung ein Ende hat, wenn wir nach dem Willen meines Vaters handeln?«

Die eiserne Umklammerung an meinem Hals verstärkte sich. Ein Mensch hätte das nicht überlebt. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte ich weiterzureden, wenngleich meine Stimme mittlerweile nur noch so etwas wie ein Keuchen zustande brachte.

»Du kannst nicht verhindern, dass ich um sie kämpfe. Sie ist für mich bestimmt, sie gehört zu mir! Lass dir gesagt sein – wenn du von deinem Entschluss, Sarah auszuliefern, nicht ablässt, werde ich sie eigenhändig töten.«

Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Feuer brannte in unser beider Augen, jeder von uns bereit, bis zum Äußersten zu gehen.

Die Rage, die in mir schwelte, hatte mich zu dieser Aussage verleitet. Und doch, in einem war ich mir sicher: Lieber sähe ich Sarah tot, als sie in den Händen dieses Wahnsinnigen in Russland zu wissen.

Die Wut ließ das Gesicht meines Vaters noch weißer werden, als es ohnehin schon war. Mit einer Schnelligkeit, die für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar gewesen wäre, packte er mich plötzlich am Kragen, zerrte mich nach vorn und donnerte mich erneut an die Wand.

»Nein!«, brüllte er, »das wirst du nicht tun!«

Blitzschnell entwand ich mich seinem Griff, riss einem der Vosanti, die an den Seitenwänden Wache standen, den Dolch aus der Hand und ging auf meinen Vater los. Ein heftiges Gerangel entstand zwischen uns beiden, während ich mehrmals auf ihn einstach und ihn am Arm, an den Händen und am Bauch verletzte, mit der Folge, dass er mit seinem Blut reichlich Spuren auf meiner Kleidung hinterließ; so rasch schlossen sich die tiefen Wunden nicht.

Rechtzeitig ließ ich von meinem Vater ab, als er, im Augenblick Unterlegener des Kampfes, verletzt am Boden lag.

Immer noch wagte es keiner der Umstehenden, in unsere Auseinandersetzung einzugreifen. Betrachteten die Clanmitglieder dies etwa als Kampf um die Führung? Das lag mir fern.

Ich stand über meinem Vater, maß ihn mit abfälligem Blick. Dann ließ ich den Dolch fallen, und so flink, wie gerade noch meine Bewegungen gewesen waren, so langsam schritt ich nun zur Tür.

»Unter keinen Umständen überlasse ich euch Sarah. Bevor das geschieht, töte ich sie!«, rief ich beim Hinausgehen.

Auf dem nur spärlich beleuchteten Gang blieb ich stehen. Diese Wut, dieses Gefühl des Hasses, das mich ergriffen hatte, kannte ich gar nicht an mir. Ich war es gewohnt, über den Dingen zu stehen und mit klarem Weitblick in die Zukunft zu schauen. Jetzt allerdings wurde mein Denken getrieben von tiefster Abneigung gegen meinen Vater und seine Entscheidungen; seine stoische Ignoranz wollte mir einfach nicht in den Kopf.

Die Tatsache, dass er es schaffen würde, die restlichen Clanmitglieder von der Notwendigkeit zu überzeugen, Sarah auszuliefern, war mir mehr als bewusst. Das durfte nicht geschehen. Doch anstatt in Ruhe nach einer Lösung zu suchen, beging ich den größten Fehler meines bisherigen Daseins.

In den frühen Morgenstunden erreichte ich meine Villa. Mittlerweile war es mir nicht mehr möglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich wurde in meinem Vorhaben einzig und allein von der Feindseligkeit bestimmt, die mich gegen meinen Vater umtrieb. Voller Blut, das noch immer von der heftigen Auseinandersetzung zeugte, stürzte ich in Sarahs Zimmer, rasend, außer mir, völlig verblendet vom Hass. Ihr erschrockener Blick sprach Bände. Für einen Augenblick saß sie wie gelähmt in ihrem Bett, ehe sie anfing zu schreien. Ich hörte sie, doch ihre Worte drangen nicht zu mir hindurch.

Ich stürzte mich auf sie. Ich trank von ihr, saugte an ihr, ohne nur einmal abzusetzen, so als würde ich ein Glas in einem Zug leeren. Mit geschlossenen Augen wollte ich jeden verdammten Tropfen von ihr, um sie jetzt und in diesem Moment zu töten.

Erst als ihr Herz immer langsamer schlug und die Stille in meinen Ohren dröhnte, wurde mir bewusst, dass ich dabei war, einen großen Fehler zu begehen.

Unverzüglich ließ ich von ihr ab.

Bewusstlos lag sie in meinen Armen – und ich hoffte mit einem Mal, dass es noch nicht zu spät war.

Panik ergriff mich. Ihr Puls war nur noch ganz schwach und mir war klar, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Dennoch wollte ich glauben, dass sie überlebte. Ich flüchtete aus dem Zimmer.

Eine erschreckende Gewissheit drängte sich mir auf. Wenn Sarah dies überstand, würde unsere Beziehung einen tiefen Riss haben. Den zu heilen würde mich vor eine schier unlösbare Aufgabe stellen. Doch ich würde sie annehmen. Ich liebte sie zu sehr – und ganz gleich, wie die Folgen für mich aussehen mochten, ich hatte keine andere Wahl, als sie hinzunehmen.

Dass ich längst keine Chance mehr hatte, wusste ich damals noch nicht. Der immer größere werdende emotionale Abstand zwischen Sarah und mir hatte den Nebel, in dem sie sich durch meine Nähe bisher befunden hatte, bereits deutlich gelichtet. Mein Verhalten hatte über Jahre hinweg viele Fragen in ihr angesammelt, und immer mehr Argwohn war in ihr aufgekeimt. Und John hatte das bemerkt und das Zerbröckeln unserer Beziehung geschickt forciert. Er war überzeugt, dass Sarah ihm verzeihen und sich ihm zuwenden würde, wenn er ihr Rosalie zurückgab. Dass er Rosalie nicht umgebracht, sondern zu einer Vosanta verwandelt hatte, war selbst für mich eine große Überraschung gewesen.

Oh, wie hatte sich John getäuscht. Sein ungebührliches Verhalten führte zum Gegenteil, das selbst durch Rosalies Erscheinen nicht zu mildern war, während ich verzweifelte, weil ich keine geeignete Lösung für Sarah und mich fand. Das manövrierte mich in diese Sackgasse, in der ich Sarah beinahe umbrachte. Beinahe. Denn meine Hoffnung ging in Erfüllung: Sie überlebte.

Doch Sarahs Entschluss stand von nun an fest, ihr Plan war geschmiedet.

John und ich wurden von ihr zu Recht in die Verbannung geschickt und die Geschichte …

… nahm ihren weiteren Verlauf.

Die Erinnerungen

»Die Bedeutung der Anwesenheit der beiden ist unbestreitbar«, sagte ein stattlicher, schlanker Mann mit kurzem Haar. Mit seinen schätzungsweise sechzig Jahren wirkte er wie jemand, der in seinen besten Jahren konsequent viel Sport getrieben hatte.

»Darüber musst du mich nicht belehren, Johan«, kam es beruhigend zurück. »Wir arbeiten mit Nachdruck daran herauszufinden, wo Dominik und John festgehalten werden. Unsere erste Vermutung, dass Gregor Bojarow mit ihrem Verschwinden zu tun hat, hat sich zerschlagen. Bojarow geht davon aus, dass er in einigen Tagen seinen Sohn in dem Ritual mit der kleinen Sarah vereinen kann. Da er weiß, dass zu diesem Zeremoniell aus dem Blut der drei jüngsten Familienmitglieder das Blutsiegel erstellt wird, glaube ich nicht, dass er Dominik oder John etwas zuleide getan hat.«

Domians Blick schweifte über die Köpfe hinweg zu Lui von Delcarde, der darauf wartete, sprechen zu dürfen. Erhaben deutete er Lui hierfür die Erlaubnis an.

»Du gehst folglich immer noch davon aus, dass Sarah mit dem Verschwinden der beiden zu tun hat?«

Nach einer theatralischen Pause ertönte unerwartet ein unüberhörbares »Laurentiu!« aus seinem Mund. Dieser, links vorne sitzend, zuckte zusammen, als er seinen Namen vernahm.

»Du wirst zu Sarah gehen und sie aufklären. Ihr alles, und zwar tatsächlich alles erzählen, was sie wissen muss. Wovon auch immer sie Kenntnis besitzen würde, wäre sie, wie es vorgesehen war, unter uns aufgewachsen. Verheimliche ihr nichts. Lass keine ihrer Fragen unbeantwortet. So erreichen wir, dass in ihr ein Gefühl der Sicherheit wächst. Geben wir ihr ihre Familie zurück.«

So abrupt, wie er begonnen hatte, verstummte er. Laurentiu nickte nur. Ein triumphierendes Lächeln flog über sein Gesicht. Endlich gab man seinem Drängen nach. Er war schon lange der Meinung, dass man Sarah über die familiären Verknüpfungen aufklären sollte. Die Befriedigung, die er durch diesen Auftrag empfand, konnte man ihm ansehen. Befriedigung aus mehrerlei Gründen.

Nach dem Tee verabschiedete sich Dr. Danori von Sarah, selbstverständlich nicht ohne von ihr noch Blut genommen zu haben. Es fiel ihm nicht leicht, sie unter diesen Umständen sich selbst zu überlassen. Wie versprochen nahm er das Aufnahmegerät mit Sarahs Erinnerungen und brachte es zu seinem Freund Frederik Fallmar.

Frederik Fallmar war ein Anwalt, dessen Ausbildung weit über das übliche Studium hinausging. Jeder, sofern er Kenntnis davon gehabt hätte, hätte ihm die Macht und die Allwissenheit seines Druidendaseins angesehen. Darin stand er Dr. Danori in nichts nach.

Diese Kenntnis über Fallmar hatte jedoch nur Danori. Und so würde es auch bleiben. Fallmar wirkte auf Außenstehende äußerst selbstsicher, ohne arrogant zu sein. Er konnte jedem das Gefühl vermitteln, einem lieben Großvater gegenüberzusitzen, der sich seiner annahm.

Zu den überschaubaren Alltäglichkeiten in Fallmars Leben zählte eine bescheidene Kanzlei mit fünf Mitarbeitern. Dieser Fall gehörte, wie so vieles, zu seiner üblichen Arbeit. Im Vorfeld hatten sie längst besprochen, wie sie agieren wollten. Daher nahm Fallmar das Aufnahmegerät entgegen und bestätigte Danori lediglich, dass mit Walter Vogler bereits alles geklärt war.

Walter Vogler lebte in einer anderen Stadt, was sich zu diesem Zeitpunkt eher als Vorteil erwies. Unter anderem hatte Dr. Danori auch ihn ausgebildet und ins Vertrauen gezogen.

Im Laufe seines Lebens hatte Danori ein umfangreiches Netzwerk gesponnen, das ihm vielerorts gute und wachsame Augen bot.

Diese beiden sollten nunmehr in regelmäßigen Abständen von ihrem Lehrer Nachricht über das Wohlergehen Sarahs und der Hausangestellten erhalten. Und würde diese Unterrichtung nicht erfolgen oder beunruhigend negativ ausfallen, sollten beide Kanzleien sich um eine Veröffentlichung der Informationen bemühen.

So kam es, dass Frederik Fallmar, im Vertrauen auf ihre Zuverlässigkeit, seiner Sekretärin Sabine das Aufnahmegerät übergab, mit der Bitte, vier Kopien davon zu machen. Handschriftlich verfasste Zeilen, die er, in zwei Umschlägen gut verschlossen, hinzufügte, mit der Anweisung, einen davon dem Notar Walter Vogler mitzuschicken. Er hatte auf den Kuverts vermerkt: Nur öffnen nach Hinweis oder wenn Gefahr droht!

Sabine konnte man in der Tat alles Erdenkliche anvertrauen. Sie verstand sich gut mit ihrem Chef und ihren Kollegen. Umsichtig führte sie ihre Aufgabe aus und steckte via USB-Kabel das Gerät an den PC, um die Daten direkt auf geeignete Datenträger zu überspielen. Sie vermied es bewusst, den Inhalt des Aufnahmegerätes auf den Rechner zu ziehen. Zur Sicherheit arbeitete sie auch an einem PC, der nicht an das Internet angeschlossen war. Mit solchen Obliegenheiten wurde die Kanzlei des Öfteren betraut.

Nachdem Sabine die Kopien gemacht hatte, holte sie aus einem Schrank vier CD-Hüllen. Um zu überprüfen, dass die Duplikate geglückt waren, musste sie nur noch hineinhören. Sie beabsichtigte, für diesen Zweck heute länger zu bleiben.

Die Uhr zeigte schon nach halb sieben, als endlich der letzte Kollege ging. Sabine nahm die erste CD, legte sie in den Rechner und zog den Mauszeiger an den Anfang der Wiedergabeleiste. Wenn sie an dieser Stelle etwas hörte, konnte sie sich des Gelingens der Kopie sicher sein.

Als die ersten Worte erklangen, zog sie erstaunt die Augenbrauen zusammen.

Er sah mir in die Augen, als wollte er herausfinden, welche Gedanken in meinem Kopf umherkreisten. »Du weißt nicht, was viele der hier Anwesenden sind?«

»Nein,«, antwortete ich. »Woher sollte ich wissen, was diese Leute beruflich machen?« Er schmunzelte über meine offenbar naive Frage. »Dann weißt du auch nicht, was ich bin.«

Nun klangen seine Worte mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage. Hatten seine Augen vorhin noch wie schwarzes Feuer gelodert, verfärbten sie sich jetzt in leuchtendes Rot. Ich erschrak und wollte aufspringen, aber er saß nah vor mir und umklammerte meine Hände. Ich konnte mich nicht bewegen. »Ich bin ein Vampir«, sagte mein Gegenüber und wartete meine Reaktion ab. Ein Vampir. Ein Vampir???

Und was sollte das alles mit mir zu tun haben? Ein Witz.

Das war alles nur ein Witz, und ich war darauf reingefallen.

Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf und keiner ließ sich fassen. Ich sah Dominik an. Und dann musste ich lachen.

Selbst jetzt, wo ich mich nach so langer Zeit an diese Situation erinnere, muss ich grinsen. Es war wirklich grotesk. Ich traf den Mann meiner Träume, und er hatte nichts Besseres zu tun, als mir zu erzählen, er sei ein Vampir. In diesem Moment war ich wirklich überzeugt, einem Witz aufgesessen zu sein. Wenn ich es mir genau überlege, weiß ich eigentlich bis heute nicht genau, woher er seine Informationen hatte.

Sabine stoppte die CD. Verwundert schaute sie auf das Aufnahmegerät, als könnte es ihr mehr darüber sagen. Neugierig geworden schob sie den Mauszeiger vorwärts.

John umfasste Rosalie und sprang mit ihr in den Schatten der Mauer. Völlige Dunkelheit umhüllte sie. Er küsste sie auf Stirn und Wangen und drehte sachte ihren Kopf zur Seite. Liebevoll ließ er seine Lippen über ihren Hals gleiten und spürte ihren Puls. Rosalie kam plötzlich zu Bewusstsein, was hier passierte – aber es war zu spät. John vergrub seine Zähne tief in ihrem Hals und sie war wie gelähmt, gänzlich unfähig, sich zu bewegen oder zu schreien. Hilflos lag sie in Johns Armen. Langsam schloss sie ihre Augen, bereit, auf ihr Ende zu warten. John trank. Das warme Blut schoss nur so aus Rosalies Körper. Sie fühlte, wie es an ihr hinunterlief. Ihr Herz schlug immer langsamer.

Anders als bei der Frau, von der hier erzählt wurde, fing Sabines Herz rascher zu klopfen an. War das der Beginn eines noch unveröffentlichten Romans? Oder entsprach das, was ihr hier zu Ohren kam, der Wahrheit? Absurd, diesen Gedanken verdrängte sie sofort aus ihrem Kopf. Sie schob den Regler auf ihrem Bildschirm weiter.

Ich konnte kaum noch atmen. Starr blickte ich auf das Bild. Oh mein Gott – Rosalie!

»Rosalie!«, schrie ich verzweifelt auf. Plötzlich war alles egal. Ich sank auf den Küchenboden. Der Schmerz begrub mich wie eine große Welle unter sich, und ich begann hemmungslos zu weinen. Wie lange ich auf den Fliesen lag, wann ich mich ins Schlafzimmer und dort auf mein Bett schleppte, kann ich nicht sagen. Irgendwann versiegten meine Tränen und ich verfiel in einen Zustand vollständiger Resignation. Sollten sie mich doch finden. Sollten sie mich doch töten. Wozu flüchten – ich war ja doch chancenlos, es war ja doch alles egal …

Pause. Ich brauche eine kurze Pause. Vampire sind schwer zu verstehen. Sie können leiden und lieben. Sie sind auch in der Lage, Sehnsucht zu verspüren. Wenn es aber darum geht, etwas zu erreichen oder sich zu schützen, sind sie skrupellos, kalt und ohne jedes Gefühl. So viel weiß ich heute. Ich weiß genug, um nicht wieder Gefahr zu laufen, meinen Gefühlen nachzugeben. Und trotzdem kommt mir Dominik wieder in den Sinn, seine sanfte Stimme, sein liebevoller Blick … und es fällt mir unendlich schwer, sachlich bei meiner Linie zu bleiben. Eine Träne rollt mir über die Wange. Die Erinnerung an diesen Moment, in dem ich entdeckte, dass Rosalie getötet worden war, holt den unsagbaren Schrecken von damals in die Gegenwart zurück.

Das konnte unmöglich nur eine Geschichte sein. Da erzählte doch eindeutig jemand etwas über seine Erlebnisse! Sabine schob den Regler abermals weiter.

Dass er mein Blut trank, war für mich sehr intim. Es band uns aneinander, und ich erlebte anfänglich darüber eine Art Befriedigung. Wie es sich für Dominik anfühlte, konnte ich nur ahnen.

Es war von unglaublichem Reiz für uns beide, zu wissen, dass er mich beim Trinken hätte töten können. Würde er zu viel trinken, würde es mich das Leben kosten. Aber ich vertraute ihm, und er wusste sich nicht nur zu beherrschen, sondern war liebevoll und zärtlich.

Die Zweifel an den gehörten Worten ließen endgültig nach und noch einmal lenkte Sabine den Mauszeiger weiter.

»Und ich selbst möchte auch nicht sterben.«

Dr. Danori nickte verständnisvoll und unterbrach mich nicht.

»Wenn es uns gelingt, werden wir in Gefahr sein. Wir alle hier, Rosalie und Antonio eingeschlossen. Hin und her habe ich überlegt und jetzt weiß ich, was ich tun könnte, um uns alle zu schützen – Sie eingeschlossen: Ich werde meine Geschichte aufschreiben. Alles, was ich hier erlebt habe, auch, wie ich hierhergekommen bin. Ich werde festhalten, was ich über Vampire und ihre Welt weiß. Ich habe nicht nur Einblick in Dominiks Firma gewonnen, sondern weiß auch, mit welchen von Vampiren geleiteten Firmen er zusammenarbeitet. Wenn ich all mein Wissen an einer … nein, besser an zwei sicheren Stellen, zum Beispiel bei Anwälten, aufbewahre und mit Veröffentlichung drohe, sollte einem von uns etwas geschehen, habe ich ein wirksames Druckmittel. Kein Vampir würde es jemals riskieren, dass die Existenz ihrer Art öffentlich gemacht wird.«

Jetzt endlich glaubte Sabine, dass das, was sie da hörte, authentisch war. Keine Geschichte oder dergleichen. Das war echt!

Die Besitzerin der angenehmen Stimme traf Sicherheitsvorkehrungen. Sabine mutmaßte, dass diese arme Frau so etwas wie einen Schutzbrief brauchte. Allem Anschein nach befand sich diese Frau noch immer unter diesen Vampiren. Und Dr. Danori, offensichtlich bemüht, mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Hilfe zu leisten. Wenn das ans Licht käme, wäre dann nicht darüber hinaus ihr Chef in Gefahr? Vom Doktor ganz zu schweigen, der, wie Sabine annahm, in deren Haus ein und aus ging? Beträfe das nicht ebenso sie und die Kollegen hier in der Kanzlei?

Sabines Herz raste und sie blickte verwirrt auf die CDs. Sie überprüfte die anderen Kopien, erneut erstaunt über die Worte, die sie vernahm. Ihre Fantasie spielte verrückt und verstärkte ihre Befürchtungen immens. Dass diese Angelegenheit auf keinen Fall an weitere Ohren dringen durfte, stand außer Frage. Normalerweise verschickte Sabine solche Kleinigkeiten mit der Post. Es erschien ihr in diesem Fall allerdings verlässlicher, einen Kurier zu beauftragen. Sie betrachtete die CDs im Safe, bevor sie ihn mit einem mulmigen Gefühl sorgsam verschloss. Sie schaltete die Computer aus und packte ihre Sachen. Wie gewöhnlich überprüfte sie jedes der vier Bürozimmer gewissenhaft auf geschlossene Fenster und gelöschte Lichter. Danach verließ sie die Räumlichkeiten geradezu überstürzt.

Sie ging hinüber auf die andere Straßenseite und betrat den einzigen Tante-Emma Laden der Stadt, um noch ein paar Kleinigkeiten für den Abend einzukaufen. Sie erwartete ihren Freund Georg, der bei der hiesigen Polizei arbeitete. In Windeseile wanderten die Einkäufe in ihre Stofftasche. Sie konnte es kaum erwarten, Georgs Meinung zu hören. Ob ihr Chef wusste, was sich auf dem Aufnahmeband befand?

Zu Hause verstaute sie erst einmal ihre Besorgungen, räumte ein wenig auf und ließ sich Badewasser ein. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass ihr mindestens eine Stunde blieb. Mit einer Haarklammer steckte sie ihr schulterlanges brünettes Haar nach oben, ließ sich in den Badeschaum gleiten und das Gehörte noch einmal Revue passieren.

Ob sie schon mal mit einem Vampir zu tun hatte? Womöglich war der Nachbar unter ihr einer? Bestände eine Möglichkeit, diese Wesen zu erkennen?

So hing sie ihren Gedanken nach. Vollkommen davon überzeugt, dass es Vampire tatsächlich gab und dass dies kein Ammenmärchen sein konnte, wie sie ursprünglich immer geglaubt hatte.

Nach einer Viertelstunde stieg sie aus der Wanne.

In der Küche ihrer schlichten Zwei-Zimmer-Wohnung fing sie an, das Abendessen vorzubereiten. Da Georg erst gegen acht Uhr zu ihr kommen wollte, blieb genügend Zeit.

Doch da läutete es an der Tür. Sabine schrak auf und meldete sich über die Sprechanlage. Es war wahrhaftig Georg, der es geschafft hatte, etwas früher Schluss zu machen. Sie betätigte den Türöffner und wartete ab, bis sie das Geräusch der ins Schloss fallenden Eingangstür hörte. Kurz darauf öffnete sie ihre Wohnungstür. Georg umarmte sie liebevoll und gab ihr einen Kuss. Erst dann sagte er: »Hallo Liebes«, und küsste sie noch einmal. »Ich habe dich vermisst. Wie war dein Tag?«

»Eigentlich ganz gut. Das Übliche halt, du weißt ja«, setzte sie beiläufig nach. »Ich bin gerade dabei, uns eine Kleinigkeit zu essen zu machen.«

Georg hängte seine Jacke an einen Haken im Flur, zog die Schuhe aus und folgte ihr in die Küche, wo sie gerade begonnen hatte, eine Salatsoße zu mischen. Es gab grünen Salat, Tomaten, Paprika und Fetakäse. Mit ausgelassenem Gelächter bemühte sie sich, sich seinen schlangengleichen Armen zu entwinden. Schließlich verteilte sie den Salat auf die Teller und trug sie hinüber ins Wohnzimmer, während Georg die Baguettestücke und das Besteck nahm.

Sie setzten sich an den Wohnzimmertisch.

Georg beobachtete Sabine, die ungewöhnlich in sich gekehrt in ihrem Essen herumstocherte.

»Ist etwas?«, fragte er und biss in sein Baguette. »Sonst bist du nicht so wortkarg.«

»Ach, ich weiß nicht«, sie ahnte schon, dass er nicht lockerlassen würde. »Bei der Arbeit heute habe ich etwas Seltsames gehört.«

»Möchtest du mir davon erzählen?«

Sabine zuckte mit ihren Schultern, legte die Gabel zur Seite und schob den Teller von sich.

Georg war über Sabines Job im Bilde. Sie erfuhr oft Dinge, die sie nicht mit ihrem Gewissen in Einklang bekam. Daher redeten sie hin und wieder über diese Fälle. Sabine wusste, dass sie sich auf Georgs Verschwiegenheit verlassen konnte.

»Weißt du«, begann sie, »ich will keinen unnötigen Wirbel machen, doch ich glaube, ich habe da was gehört, was nicht ungefährlich klingt. Ich halte es sogar für denkbar, dass Fallmar und sein Freund Dr. Danori in Gefahr sein könnten.«

Er spürte ihre Aufgewühltheit. Mehr als sonst, irgendwie anders. Das beunruhigte ihn.

»Es ist so, mein Chef hat vom Doktor ein Aufnahmegerät bekommen. Ich sollte den Inhalt auf CDs kopieren. Als ich zur Kontrolle hineinhörte, dachte ich zunächst, dass das vielleicht die Rohfassung eines Romans ist. Das machen Autoren manchmal, dass sie ein Original bei einem Anwalt oder Notar hinterlegen. Aber da erklangen Dinge, die sich durchaus echt anhörten. So, als ob jemand von seinem Leben erzählen würde.«

Georg hatte aufgehört zu essen. Ihrer Mimik und ihrem Tonfall entnahm er, dass sie in der Tat sehr erschrocken sein musste über das Gehörte.

»Die Person, die da sprach, war eine Frau. Der Stimme nach nicht so alt, allenfalls so alt wie ich.« Wieder holte sie tief Luft. »Diese Frau redete sogar von Dr. Danori, und dass er ihr geholfen hat!«

»Sabine, beruhige dich doch.« Er nahm ihre Hand und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Du wirst mich bestimmt für verrückt halten. Es ging darin um Vampire. Die junge Frau scheint unter ihnen zu leben und ich glaube, nicht freiwillig. Sie erzählte davon, dass sie gebissen wird und dass die Vampire Feste feiern, bei denen Menschen umgebracht werden. Und ich glaube, dass sie da weg will. Dr. Danori hilft ihr wohl, die Hausangestellten in Sicherheit zu bringen. Er weiß Bescheid, ganz sicher. Ich habe mich da nicht verhört. Ehrlich, ich erzähle dir hier keine Märchen. Ich fürchte, dass Fallmar, Dr. Danori und die Frau in Gefahr sind …«

Nachdem alles aus ihr herausgesprudelt war, sah sie ihren Freund erwartungsvoll an.

»Liebes«, fing er an, »mir ist durchaus bewusst, dass du eigentlich nicht zulassen darfst, dass andere Informationen über eure Mandanten erhalten. Mach das eine Mal eine Ausnahme und zieh mir von dieser ominösen Aufnahme eine Kopie. Ich hör mal rein.«

Perplex schaute sie ihn an.

»Nein, das kann ich nicht. Stell dir vor, irgendwie kommt das in die falschen Hände. Du bekommst Ärger, ich sowieso … Ich kann höchstens eins machen: dass ich noch mal reinhöre und die Namen rausschreibe, und du forschst nach, was da dahintersteckt.«

»Okay«, sagte er, »wenn dir so wohler dabei ist.«

Erleichtert sah sie ihn an. Sie hatte schon befürchtet, dass er es als Fantasiegebilde abtun und sagen könnte, dass sie sich zu sehr da reinsteigern würde.

Sie irrte sich gewaltig.

Georg nahm sie ernst. In dieser Sekunde dachte er an ganz was anderes.

Okkulte Sekten. Schon des Öfteren hatten seine Kollegen und er in diese Richtung ermittelt. Bisher war dies immer im Sand verlaufen. Insgeheim hoffte er sogar, dass die Namen ihn auf eine Spur führen würden. Besser wäre in der Tat, er könnte die CD selbst anhören.

Er nahm sich vor, am nächsten Tag noch einmal mit Sabine darüber zu reden. Bis dahin hätte sie sich sicherlich beruhigt und würde das alles unter Umständen etwas unbesorgter sehen.

Als Sabine, immer noch ein wenig aufgewühlt, später in ihrem Bett lag, schlichen die gehörten Worte in ihre Gedanken. So schlief sie ein und durchlebte eine wilde Nacht mit seltsamen Träumen von Vampiren und in denen Georg sich in einem riesigen, unheimlichen Haus befand.

Am nächsten Morgen tat sie, was sie mit Georg ausgemacht hatte. Sie fuhr früher ins Büro, legte eine CD ein und hörte wiederholt verschiedene Passagen ab, um die Namen aufzuschreiben.

Mit einem speziellen Stift wollte sie anschließend die zwei CDs beschriften, die nicht in den Kuverts waren. Sie schrieb auf die erste: Sarah von Delkarde! Sie nahm die zweite, schaute erneut auf die Notiz ihres Chefs – und stutzte. Sie hatte Delcarde falsch geschrieben. Mit k anstatt einem c. Kopfschüttelnd beschrieb sie die letzte CD korrekt, griff einen neuen CD-Rohling und kopierte den Inhalt des Aufnahmegerätes noch einmal. Diesmal schrieb sie den Namen fehlerlos. Während der Vorgang lief, überprüfte sie die schon beschrifteten Kopien vom Vortag. Sie nahm neue Kuverts und verstaute alles wie am Tag zuvor.

Die falsch beschriebene CD hielt sie nachdenklich in ihrer Hand. Nein, sie würde ihrem Freund die CD nicht geben. Sie hätte einfach kein gutes Gefühl dabei. Sabine schloss die geöffneten Fenster und ging hinüber in den Kopierraum. Dort stand ein übergroßer Bürokopierer, mit dem man auch Faxe verschicken konnte, und ein einfacheres Gerät, das ein Aktenvernichter war. Zunächst ließ sie mehrere Blätter hindurchlaufen. Als Nächstes wollte sie die CD zerkleinern, doch das erwartete laute Motorengeräusch blieb aus, als sie die runde Scheibe in den dafür vorgesehenen Schlitz steckte. Es geschah nichts. Sie nahm die CD raus und ging in die Knie, um den Schredder genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Guten Morgen, Sabine!«

»Guten Morgen«, grüßte sie zurück, ohne sich umzusehen. »Sag mal, weißt du, was mit dem Ding hier ist? Es macht keinen Mucks.«

»Ich weiß nur«, bekam sie freundlich zur Antwort, »dass Kerstin gestern bereits Probleme damit hatte. Ich glaube, wir brauchen ein neues.«

Unbeeindruckt von Sabines Pech verzog sich der Kollege in sein Büro, welches er mit eben dieser Kerstin teilte. Schulterzuckend, mit der CD in der Hand, tat Sabine es ihm nach. Normalerweise vernichteten sie immer die CDs, die nicht mehr benötigt wurden. Sie legte sie neben sich auf den Schreibtisch. Mittlerweile waren die anderen Kollegen eingetroffen.

Sabine rief bei einem Kurier an, um das Kuvert für den Notar Walter Vogler abholen zu lassen. Keine Minute zu lang sollten die bedeutungsvollen Ausführungen der jungen Frau auf ihrem Schreibtisch liegen. Die anderen Sachen deponierte sie wieder im Safe. Dr. Danori würde hoffentlich bald kommen und sie holen. Mit einer kurzen Notiz, die sie ihrem Chef auf die Unterschriftenmappe klebte, informierte sie ihn über die Erledigung des Vorgangs.

Einstweilen ging sie zu ihrer täglichen Arbeit über und vergaß dabei fast, was sie so beunruhigt hatte. Der Tag verging rasch. Wie so oft verließ sie als Letzte das Büro. Wie immer schaute sie in alle Räume, und tatsächlich, im Zimmer ihres Kollegen war das Fenster noch gekippt. Sie schloss es und wandte sich zum Gehen. Geschäftig nahm sie ihren Papierkorb mit, um den Inhalt in den Container unten im Hinterhof zu leeren. Eine Zerkleinerungsanlage für größere Papiermengen war an diesen speziellen Großbehälter angeschlossen. Eigentlich wollte sie die falsch beschriftete CD in einem der Restmüllbehälter entsorgen; sicherlich würde es genügen, sie einfach in der Mitte durchzubrechen. Sabine legte die Kopie auf den Aktenabfall und eilte die Treppe hinunter. Die Putzfrau kam ihr im Treppenhaus entgegen, und so bat sie die Dame, den Papierkorb später mit nach oben zu nehmen.

Ein aufdringliches Hupen drang an ihr Ohr, als sie auf die Straße trat. Kurz stellte sie den Papiermüll ab. Es nieselte, daher zog sie ihre Jacke fester um sich und die Kapuze über den Kopf. Von Neuem ertönte das Hupen, und sie warf einen Blick in die Richtung, aus der es kam, und erblickte zu ihrer Überraschung Georg, der am Straßenrand auf sie wartete. Das kam selten vor, dass er so früh Feierabend machte. Sie winkte ihm und deutete auf den Eimer. In diesem Moment bemerkte sie, dass sie ihre Tasche vergessen hatte. Da sich in ihr Hausschlüssel und Geldbeutel befanden, konnte sie nicht ohne sie weggehen.

Georg stieg aus und kam auf sie zu, weil er registriert hatte, dass etwas nicht stimmte.

Sabine schaute ihn genervt an. »Hi Schatz, tut mir leid, ich muss noch einmal zurück. Habe meine Tasche oben liegen lassen. Und den wollte ich ausleeren, pass mal eben auf, bin gleich wieder da …«

Schon hatte sie sich umgedreht und war im Gebäude verschwunden, bevor er überhaupt dazu gekommen war, sie zu begrüßen. Er grinste amüsiert. Das war Sabine, immer etwas hektisch und zerstreut. Er rückte weiter unter den Dachvorsprung, da der Nieselregen stärker wurde. Sein Blick fiel auf den Papierkorb, der vor seinen Füßen stand. Obenauf lag eine CD, die mit Sarah von Delkarde beschriftet war. War das etwa eine der besagten Kopien? An den Namen erinnerte er sich. Der Grund, weshalb Sabine so aufgewühlt gewesen war.

Kurz zögerte er noch, nahm schließlich die CD an sich und ließ sie in der Innentasche seiner Jacke verschwinden. Um zu vermeiden, dass seine Freundin Verdacht schöpfte, eilte er mit dem Eimer unter dem Arm durch den Regen zum Container im Hinterhof.

Er war gerade von seinem kleinen Ausflug zurück, da stürmte Sabine auch schon aus der Haustür heraus, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Im Bemühen, den Eimer nicht fallen zu lassen, fing er mit dem anderen Arm Sabines Begrüßung ab. Geistesgegenwärtig nahm sie ihm den Eimer ab und stellte ihn ins Treppenhaus.

Schnellen Schrittes gingen sie zum Auto. Elegant ließ sich Sabine auf den Beifahrersitz sinken, während auch Georg einstieg, nachdem er noch ein hupendes Auto vorbeigelassen hatte. »Was willst du denn«, äffte er ihm hinterher, »da ist doch genug Platz!« Kopfschüttelnd stieg er ein. Liebevoll beugte er sich in Sabines Richtung und sie küssten sich erneut.

»Du hier?«, tat sie jetzt übertrieben überrascht, »mit dir hab ich gar nicht gerechnet. Das ist schön, gerade bei dem Wetter.«

Sie schüttelte ihr Haar unter der Kapuze hervor.

Er schmunzelte wieder, wohlwissend, welche Freude er ihr bereitet hatte.

»Ja, ich konnte heute noch mal früher gehen. Gestern eigentlich auch, doch ich stand lange im Stau, daher war ich nicht rechtzeitig bei dir am Büro. Diese Baustellen rauben einem den letzten Nerv. Ich verstehe, warum du lieber mit der U-Bahn fährst.«

Er startete den Wagen und lenkte ihn auf die Straße.

»Ich habe übrigens die Namen!«, erzählte sie ihm gleich. »Du musst mir versprechen, dass du sie niemanden weitergibst.«

Er lächelte und legte seine rechte Hand auf ihren Schenkel.

»Keine Sorge, du kennst mich lange genug, um zu wissen, dass ich diskret mit allem umgehe.« Plötzlich riss er die Hand in die Höhe und schimpfte: »Mann, fahr endlich, es ist grün!«

Eine Weile schwiegen sie, während der Wagen dahinglitt.

»Geht es dir denn besser?«, fragte er. »Ich meine, wegen gestern, du warst so durcheinander wegen der Sache da.«

»Ach so«, Sabine gefiel sein Interesse, »ja, doch. Wahrscheinlich ist alles nur halb so schlimm. Ich sollte endlich lernen, diese Dinge, die ich im Geschäft mitbekomme, nicht so an mich heranzulassen. Dass du das immer so hinbekommst!«

Eine Viertelstunde später erreichten sie das Haus, in dem Sabine wohnte. Mittlerweile regnete es in Strömen.

Oben in der Wohnung gab sie ihm die Notizen und verschwand ohne Umwege im Bad. Sie wollte sich beeilen, damit sie noch einige Momente mit ihm alleine verbringen konnte, denn ihre Freundin holte sie heute zu einem Kinobesuch ab. Rasch verflog die Dreiviertelstunde, die ihnen blieb, und schon klingelte es an Sabines Haustür.

Ihre Freundin und Georg kannten sich schon und begrüßten sich herzlich. Er bot den beiden Frauen an, sie ins Kino zu fahren. Schließlich würde er ja eh nach Hause gehen und es sei kein Umweg. Wegen des Regens nahmen sie sein Angebot gerne an.

Georg lieferte die beiden am Kino ab und fuhr nachdenklich nach Hause. Sabine hatte offensichtlich nicht bemerkt, dass er die CD an sich genommen hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn deswegen. Er nahm sich vor, es ihr zu sagen.

Zu Hause holte er sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Cola und ging hinüber ins Wohnzimmer. Er schaltete seinen CD-Spieler ein, legte die CD ins Fach und drückte die Starttaste.

Sofort ertönte eine angenehme Stimme. Sabine hatte recht, eine Frau, sicherlich noch nicht alt.

Nachdem er das Gerät lauter gestellt hatte, ging er zurück in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Toastbrot und Salami aus dem Kühlschrank. Teller und Besteck nahm er von der Spüle. Die standen da noch von vorgestern, als er gespült hatte. Zurück im Wohnzimmer, setzte er sich in den Sessel neben dem CD-Spieler und startete die CD von vorn. Trotz der Lautstärke hatte er den Anfang nicht mitbekommen. Gespannt horchte er, was die junge Frau zu erzählen hatte, und schon nach den ersten Erzählpassagen lauschte er aufmerksamer.

Nach einer halben Stunde stoppte er die CD. Startete sie von Neuem. Etwas war ihm bekannt vorgekommen … Wieder hörte er sich die ersten paar Minuten an. Er war fertig mit dem Essen und brachte sein Geschirr in die Küche. Als er so dastand und die Stimme vernahm, hörte er zum wiederholten Mal den Namen Karl und dass sie ihn als Hausmeister bezeichnete.

In diesem Augenblick erinnerte er sich an einen Fall vor circa drei Jahren. Ein Hausmeister wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden. Eigenartige Todesursache – er war blutleer gewesen. Nach den Befragungen im Haus war klar, dass das Mädchen, das ganz oben gewohnt haben sollte, spurlos verschwunden war. Dadurch wurde sie anfangs verdächtigt. Als sie allerdings feststellten, dass auch ihre Freundin Rosalie verschwunden war, glaubten sie an ein Verbrechen, dem auch die jungen Frauen zum Opfer gefallen waren. Alle Ermittlungen verliefen damals im Sande. Die Akten der Mädchen waren zwar noch offen, jedoch aktuell nicht in Bearbeitung. Nur die Sache mit den rätselhaften Morden wurde von Georgs Abteilung gegenwärtig verfolgt.

Er zog den Zettel, den ihm Sabine gegeben hatte, aus der Hosentasche. Und hier las er: Karl, Hausmeister …

Die Frau auf der CD sprach doch auch von einer Rosalie. Das wäre wirklich ein Zufall! Sollten die beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben?

Erwartungsvoll lauschte er weiter. So verbrachte er den Abend bis in die Nacht hinein. Und je mehr er hörte, desto mehr bestätigte sich der Verdacht, den sie alle, seine Kollegen und er, seit langem hegten. Es konnte sich dabei nur um eine Sekte handeln. Dass es echte Vampire sein sollten, glaubte er in der Tat nicht, Verrückte, die sich so benahmen, waren grauenhaft genug. Georg nahm sich vor, die Akten dieses Falls hervorzuholen und nachzuprüfen, was davon zusammenpasste.

Wenn er jetzt aus dem Fenster sah, konnte er die Silhouetten der gegenüberliegenden Fassaden nur verschwommen erkennen, so heftig regnete es inzwischen.

Zur gleichen Zeit saß Antonio in der U-Bahn. Sarah alleine zu lassen bereitete ihm ein wenig Unbehagen. Die Freude über diese Einladung überwog dennoch und die Wichtigkeit, die er seinem Erscheinen bei diesem Vampirtreffen beimaß, überdeckte den vorhandenen Argwohn. Argwohn darüber, wie ernst ihn die Vampire bisher genommen hatten. Er war der Meinung, so zu tun, als sei alles in Ordnung, und aufzuzeigen, dass die Geschäfte zunächst auch ohne Dominik halbwegs weiterlaufen würden, wäre die beste Möglichkeit, jeglichen Verdacht im Keim zu ersticken. Verdacht, der aufkommen musste. Über diesen Umstand war er sich im Klaren. Die Vampire würden ohne Zweifel in Erwägung ziehen, dass Sarah, er und Rosalie etwas mit dem Verschwinden von Dominik und John zu tun haben könnten.

Laurentiu kam ihm in den Sinn.

Antonio hatte bereits mehrmals dabei zusehen müssen, wie Laurentiu mit Menschen umging, in dem Versuch, herauszufinden, ob diese etwas von den Nachtwesen erfahren hatten. Das Ergebnis war fortwährend dasselbe, ganz gleich, was die Personen aussagten; sie überlebten die Befragungen nie. Laurentiu war in dieser Hinsicht äußerst verlässlich und überließ nichts dem Zufall. Grundlos leitete er die Detektei bekanntlich nicht. Antonio schüttelte sich, um die Bilder loszuwerden.

Er musste mehrmals die U-Bahn wechseln. Schließlich fuhr er hinaus in die Vorstadt. An der vorletzten unterirdischen Haltestelle stieg er aus und wartete ab, bis der Zug die Halle verlassen hatte. Sich umschauend, ob sonst noch jemand hier verweilte, ließ er seinen geübten Blick durch die von Säulen durchzogene Station wandern.

Es kam so gut wie nie vor, dass außer den Vampiren jemand in diese verlassene Gegend kam. Und Gnade dem Menschen, der versehentlich hier dem Zug entstieg.

In diesem Viertel gab es nur ein paar alte Firmengemäuer, Ruinen und Wohnblocks, die zum Abriss bereit standen, sowie Gelände, die sicherlich einmal gut gehenden Firmen als Parkplätze gedient hatten oder als Parkanlagen für die ehemaligen Anwohner dieser ausgestorbenen Siedlung. Hier oben erinnerte nur wenig daran, dass echt mal was los gewesen war. Antonio musste grinsen bei dem Gedanken. Er war darüber im Bilde, dass sich nunmehr fast alle Grundstücke in diesem Bezirk im Besitz des Clans befanden.

Antonio ging nicht nach oben, sondern schritt geradewegs neben dem Gleis die Bahnsteigschräge hinunter. Ein schmaler Weg, vermutlich ein ehemaliger Kontrollweg, führte tief ins Tunnelsystem.

Keiner würde hierherkommen

Keiner freiwillig hier heruntersteigen.

Keiner diesen dicken, nach Tod riechenden Gestank einatmen.

Antonio störte er nicht, er nahm ihn kaum noch wahr.

Er war ein Halbblut. Ein halber Vampir, ein gemachter, einer, der auch bei Tag nicht auffiel – ein Vosantus.

Bis zu dem Tag, an dem Sarah die beiden Vampire in die Verbannung geschickt hatte, war er Dominiks Verbündeter gewesen.

Immer weiter sog der U-Bahn Tunnel ihn in sich hinein. Er durchquerte kurz hintereinander mehrere Türen, die so alt schienen, dass man denken konnte, sie zerfielen bei der geringsten Berührung. Nichts dergleichen geschah. Sie öffneten sich fast wie von selbst, und je weiter er voranschritt, desto besser sahen die Gänge aus. Der Weg führte konstant leicht bergab. An den Seiten hingen Fackeln, die Licht in die Gewölbe streuten, und die Wände vermittelten den Eindruck von in Stein geschlagenen Höhlen; in sporadischen Abständen kam Antonio an schweren, massiven Holztüren vorbei. Er beachtete sie nicht und marschierte weiter. Die Geräusche seiner eiligen Schritte hallten von den Wänden wider.

Nach circa fünfzehn Minuten erreichte er eine auffallend besondere Tür. Mit wuchtigen Eisenbeschlägen in den dahinter liegenden Fels eingelassen, zeigte sie vorne in der Mitte einen massiven schmiedeeisernen Ring, darüber eine Fratze, die zunächst an einen Dämon erinnerte, bei genauerem Hinsehen jedoch einen Vampir darstellte, der einem Opfer in den Hals biss.

Antonio betätigte den Ring, der daraufhin dröhnend gegen die Tür schlug. Einen Augenblick später hörte man das Knirschen und Knarren des sich öffnenden Portals.