Flügel für Ikarus - Swany Swanson - E-Book

Flügel für Ikarus E-Book

Swany Swanson

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Beschreibung

"Narben erzählen Geschichten. Unsere geht so: Du rettest mich." Seit er vor zwei Jahren dem Horror seines Elternhauses entflohen ist, prostituiert sich Midian Hill im Dragon Cage. Als seine Vergangenheit ihre blutigen Schatten wirft und nach und nach seine Kollegen ermordet werden, rückt der Sonderling schnell in das Visier der ermittelnden Polizei. Für Midian wird die Luft immer dünner. Seine einzige Chance sieht er in Inspektor Alex Vandom. Zur Verführung des attraktiven Polizisten bricht Midian bald auch sein letztes Tabu. Doch aus dem Spiel wird Ernst und dann geschieht ein weiterer Mord …

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Swany Swanson

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Chaadaeva – shutterstock.com

© Marius Prusaczyk – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-019-5

ISBN 978-3-96089-020-1 (epub)

Für alle, die mehr als nur ein Glas Milch wollen.

Tausend Dank, Dude, für das jahrelange Mitfiebern,

Danke für all die Snickers, Natalie!

Und zuletzt der Kniefall vor meiner musikalischen Großinspiration:

1

Eigentlich hatte der Tag für Midian wie jeder andere in den letzten zwei Jahren begonnen – perspektivlos. Die einzige Besonderheit bestand darin, dass er an diesem speziellen Morgen nicht aufgrund des immer gleichen Alptraums erwacht war. Stattdessen hatte ihn in aller Frühe ein Lärm hochgeschreckt, der alarmierender nicht hätte sein können. Barfuß und nur mit einem Bademantel bekleidet, machte er sich auf den Weg nach unten zur Bar.

In der zentralen Sammelstelle des Clubs herrschte längst großes Gedrängel. Doch wie gewöhnlich beachtete Midian seine Kollegen gar nicht erst, sondern durchquerte geradewegs den Raum. Von der Zimmerdecke bis auf die Bodenfliesen hinab reflektierte in regelmäßigen Intervallen das Blaulicht der Polizeifahrzeuge. Die unnatürliche Helligkeit brannte in seinen Augen und das anschwellende Geheul der Sirenen tat in den Ohren weh. Schon am Lautstärkepegel erkannte er, dass hier ganz schweres Geschütz aufgefahren worden war. Kein Vergleich zu den sonst üblichen Razzia-Einsätzen der Polizei, die ihn persönlich ohnehin nichts angingen. Bei diesem Getöse schien es hingegen nicht so, als würde hier irgendwer verschont bleiben.

Mit ein paar schnellen Schritten hatte Midian die Fensterpartie und damit den hellsten Punkt des Saals erreicht. Zuerst beäugte er das Geschehen draußen noch aus größtmöglicher Distanz, aber rasch war seine Neugier so stark geweckt, dass er die Finger in die Gitterstäbe verkrallte und fast frontal mit der Stirn angeschlagen wäre.

Sein Herzschlag machte einen Satz, als er wenige Meter unterhalb seines Fensterplatzes das riesige Aufgebot von Polizei- und Rettungswagen erkannte. Das Signalhorn jaulte noch ein wenig erbärmlicher auf, während neben den Autos allerlei Uniformierte und Männer in Zivil ausschwärmten. Destination Dragon Cage. Ihm wurde flau im Magen.

Das hier war etwas Großes. Sinnfällig wurde das spätestens, als ein Leichenwagen vorfuhr. Minutenlang überwachte Midian mit angehaltenem Atem, wie die Szene dann nach und nach wieder ihren gewohnten Gang nahm. Aus seiner Furcht wurde Groll.

Hinter dunklen Wimpern sah er auf die inzwischen wieder beruhigte Verkehrsstraße hinab. Midian dachte an den ganzen Staub, den die Cops aufwirbeln könnten. Und daran, dass er diese Art von Grundfreilegung ganz und gar nicht gebrauchen konnte.

Sein Puls hatte sich bis hierher fast normalisiert, als er im nächsten Moment erst so richtig außer Takt geriet. Eine Handvoll Menschen spazierte draußen noch frei herum, ohne ihn am Fensterbrett überhaupt zu registrieren. Da schaute einer der Polizisten zu ihm auf. Direkt und so selbstverständlich, als bestünde ein Zusammenhang zwischen ihm und dem, weshalb sie gekommen waren.

Bestürzt wich er vom Fenster zurück.

„Erde an Midian.“

Er fuhr jäh zusammen und sah im letzten blauen Lichtschein tatsächlich außerirdisch aus. Willkommen in der Realität. Vor ihm stand sein bester Freund, der ihn von Kopf bis Fuß musterte.

„Hast du etwa bis eben geschlafen?“, diagnostizierte Brian messerscharf angesichts seines halbnackten Gegenübers. „Dann hast du also gar nichts mitbekommen?“

„Ich seh’s.“ Geistesabwesend tippte Midian an die Scheibe. „Sag mal, hast du irgendwas gegen Kopfschmerzen dabei?“

Bevor Brian auf den Themenwechsel reagieren konnte, wurden die beiden hinterrücks von dem Rest des bunt zusammengewürfelten Freundeskreises überfallen. Dazu gehörte Amy, das einzige und ausschließlich hinter der Theke aufzufindende Mädchen im Club, sowie Lee Mathews, die personifizierte Zeitung. Wie um seinen Ruf zu verteidigen, sorgte der blonde Wirbelwind auch nun direkt für Aufklärung.

„Es ist Benny! Benny hat’s erwischt!“, rief Lee ganz außer Atem. Kreidebleich stand Amy daneben und nickte wie zur Bestätigung der Information.

„Benny?“, wiederholte Midian. „Heimapotheken-Benny?“

Ächzend fasste er sich an die pulsierenden Schläfen, dachte an seinen Medizinmann und daran, dass dieser hin und wieder etwas von seinen reichlichen Vorräten an ihn abgetreten hatte. Immerhin war diese Hilfsbereitschaft ein Signal dafür gewesen, dass ihr Kriegsbeil begraben war. Und jetzt ... Mist! Was sollte da aus seinem Kopf werden?

„Wo ist das passiert?“, wollte Brian wissen.

„Man hat ihn im Flur vor seinem Zimmer gefunden. Es gab wohl eine Menge Blut. Ich tippe mal auf Halsschlagader“, mutmaßte Lee.

„Mord?“

„Na klar, deshalb ja auch die Polizei.“

Obwohl Midians Nerven nach dieser Neuigkeit längst blank lagen, wurde zu allem Überfluss ein weiterer Hinterhalt auf ihn vorbereitet. Diesmal war es allerdings kein Freund, der sich an die Truppe heranschlich.

„Reever, Lee.“ Der Störenfried lächelte und nickte, bis sein Blick Midian streifte. „Und Hill, klasse.“ Hass und sofortiger Vernichtungswille auf beiden Seiten.

„Warum tust du uns nicht einen Gefallen und verziehst dich mit deinem dummen Gesicht woandershin, Flo?“

„Was passt dir denn nicht an meinem Gesicht, du, arroganter Hurensohn?“, lästerte Flo los. Midian reagierte wie aufs Stichwort und ging ihm sofort an die Gurgel.

„Halt’s Maul!“

Florian funkelte ihn böse an und erhob die Stimme über Amys Kreischen hinweg.

„Wo sind deine Manieren? Hat deine Mami dir so gar nichts beigebracht?“ Bevor er weiter über mütterliche Nachhilfe sticheln konnte, rammte Midian ihn hart gegen die Wand.

„Mach, dass du wegkommst!“

Seine Augen strahlten genügend Mordlust aus, um Florian in die Flucht zu jagen. Vorerst.

Für die Schmach dieser Niederlage würde er sich noch rächen, das war sicher. Ein unberechenbarer Feind. Und so lange das schon zwischen ihnen ging, hatte Midian irgendwann vergessen, wie es eigentlich dazu gekommen war.

Keiner seiner Freunde wagte es, einen Ton über den Blitzangriff zu verlieren. Die Stille war allerdings anklagend genug, um ihn die Augen verdrehen zu lassen.

„Was? Der Typ macht mich irre.“

Brian hustete ein Offensichtlich und Amy hielt ihm eine ihrer typischen Standpauken.

„Du musst endlich lernen, dich zusammenzureißen. Ich habe dir tausendmal gesagt, dass ich das Ryan nicht immer vorenthalten kann. Und du weißt, was dich dann erwartet.“

Sie musste das nicht ausführen. Immerfort erinnerte Amy ihn bei Regelverstößen daran, dass sein Zuhälter ihm im Nacken saß und ihm nur allzu gerne seine Vorschriften einhämmerte. Buchstäblich. Leider büßte die Mahnung aus Amys Mund ein wenig an Effektivität ein, da beide wussten, dass sie als seine kleine Übermutter die Drohung niemals wahrmachen würde.

„Was hat der Trottel immer mit deiner Mutter?“, fragte Brian mit Stirnrunzeln dazwischen. „Ich dachte, sie ist eine Arztgattin. Gegen sowas sieht Flos Mum garantiert alt aus.“

„Das mit dem Medizinstudium war mein Bruder“, berichtigte Midian ihn zerstreut. „Mein Dad ist der Unternehmer.“

„Auch nicht übel. Wie auch immer, der kleine Stinker hat allemal eine Abreibung verdient.“

„Hört ihr mir eigentlich zu?“, brüllte Amy dazwischen. „Du, leg dich nicht mehr mit Florian an, und du, hör auf, ihn auch noch zu bestätigen. Vor allem jetzt. Wie wäre es mit etwas Respekt vor der Sache?!“

„Welcher Sache?“, wunderte sich Brian.

„Dem Todesfall“, murrte Lee von der Seite.

„Ah. Richtig. Was passiert da jetzt eigentlich?“

„Die Polizei ist bei Ryan. Wahrscheinlich wollen sie danach erst mit dem Personal sprechen.“

Midian musste über die Wortwahl grinsen, zügelte sich jedoch, als er Amys strafenden Blick erntete. Er wollte nicht, dass sie ihm am Ende vorwarf, herzlos zu sein. Obwohl das wahrscheinlich die harte Wahrheit war.

„Bei Ryan.“ Unversehens begann Brian sein typisches Kichern, das ganz klein anfing und sich dann zum Fanfarenstoß blähte. „Der wird ordentlich Torero mit den Bullen spielen. Kann man ja fast Mitleid mit den armen Kerlen haben.“

Zu viert tauschten sie einen Blick aus und prusteten der Reihe nach los. Kurz nur, dann hielten sie tatsächlich alle für mehr als eine Schweigeminute lang den Mund.

2

„Guten Morgen, Mister Dawn. Mein Name ist Alex Vandom. Das ist mein Kollege Jerry Turner.“

Hände wurden geschüttelt. Man hieß sie auf zwei Ledersesseln vor dem Schreibtisch Platz nehmen. Schreibtisch? Es sah eher aus wie ein antiker Opferaltar. Ein Anblick, der Alex enorm befremdete. Wie die restlichen Möbel bestand auch dieses Schrein-Objekt aus demselben dunklen Holz, das sämtliche Wände im Raum vertäfelte. In filigraner Handarbeit waren darin unzählige Drachengestalten eingeschnitzt, die verteilt auf die einzelnen Platten eine Geschichte zu erzählen schienen, deren Anfang und Ende er jedoch nicht ausfindig zu machen vermochte.

Das gesamte Büro schien geradewegs der Kolonialzeit entsprungen zu sein. Mit so einer Ausstattung hatte Alex nicht gerechnet, zumal der Eingangsbereich des Clubs hypermodern aufgemacht war. Aber immerhin entsprach der Eigentümer des Pomps ziemlich genau seinen Erwartungen.

Ryan Dawn war auf den ersten Blick ein typischer Zuhälter. Auf den zweiten eigentlich auch. Mit dem geölten Lächeln, den schweren Goldringen und der Wildlederjacke, die sich über dem muskelbepackten Oberkörper standesgemäß spannte, bediente er alle Klischees. Von der breiten Stirn konnte Alex ihm seinen Charakter direkt ablesen: Big Boss.

„Sie sind also der Leiter dieses Bordells?“

Eine rhetorische Frage. Schon vor ihrem Eintreffen hatten sie sich über die rechtliche Grundlage schlau gemacht. Sowohl Dawn als auch der Laden, inklusive des Geschäftsformats, waren sauber. So sauber zumindest, wie es für diesen Sektor eben ging. Vor einigen Jahren hatte Dawn wegen Prostitution Minderjähriger im Knast gesessen und hielt sich seitdem brav ans Jugendschutzgesetz. Das Durchschnittsalter seiner Arbeitskräfte lag mit rund zwanzig Jahren allerdings noch immer akut niedrig. Alles, was über Fünfundzwanzig war oder so aussah, wurde gnadenlos aussortiert.

„Ich würde mich eher als Geschäftsmann bezeichnen. Mir gehört das Dragon Cage und ich passe auf, dass hier alles in gesitteten Bahnen verläuft.“

„Da haben Sie bei Benjamin Miles wohl versagt“, merkte Alex nüchtern an. Möglichst unauffällig massierte er sich die Schläfe. All das Holz im Raum sonderte einen so modrig süßen Geruch ab, dass er schon nach ein paar Minuten Kopfschmerzen bekommen hatte.

Ryan Dawn räkelte sich unterdessen in seinem Chesterfield-Sessel wie auf einem Thron und lächelte gelangweilt. Von Beginn an hatte er ihnen gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, wie wenig er von ihrer Gesellschaft hielt. Es fehlte nur, dass er laut losgähnte.

„Dramatische Geschichte, das“, behauptete Ryan mit unverkennbarem Spott in der Stimme. „Dabei können Sie sich gar nicht vorstellen, wie viel früher er gestorben wäre, wenn er weiter auf der Straße gelebt hätte.“

„Sie haben ihn also von der Straße geholt?“ Während Alex wie üblich das Gespräch führte, verzeichnete Jerry jedes Wort ihres Gegenübers in seinem Schreibblock.

„Möglich. Die meisten meiner Bediensteten kommen direkt aus der Gosse. Sie sind aus freien Stücken hier.“ Am Ende würde er ihnen noch erzählen, dass es der Herzenswunsch dieser Kids gewesen war, sich tagein tagaus für billigen Sex zu verscherbeln.

„Es steht ihnen also frei zu gehen, wann sie wollen?“

„Natürlich nicht. Das ist weder ein Spielplatz noch eine Bewahrungsstätte. Wasser, Strom, das alles kostet Geld. Nichts im Leben ist umsonst. Achtzehn Jungs, und jeder will versorgt sein. Nun ja, jetzt siebzehn.“

Es erschütterte Alex, in was für einem saloppen Ton der Zuhälter diese Korrektur in seinen Zahlen vornahm. Das einzelne Menschenleben schien in diesem Laden überhaupt keinen Wert zu haben.

„Sie beschäftigen also keine Frauen?“, hakte Jerry nach.

„Haben Sie ein Problem damit?“

Jerrys Gesicht färbte sich schlagartig rosa, während Alex der Provokation die Stirn bot.

„Kein Problem, Mister Dawn. Wir würden gerne so bald wie möglich mit Ihrer Belegschaft sprechen. Unsere Ankunft wird sich wahrscheinlich längst herumgesprochen haben und ich finde, die Jungs haben ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihrem Kollegen passiert ist. Schon damit keine Panik ausbricht, empfiehlt es sich, so früh wie möglich eine klare ...“ Mitten im Satz schnitt Ryan ihm das Wort ab.

„Wie lange soll das Ganze dauern?“

„Das dauert so lange, wie es nun einmal dauert, bis jeder Ihrer Leute angehört worden ist.“

„Soll heißen?“

„Ich kann Ihnen keine genaue Uhrzeit nennen, tut mir leid.“ Alex merkte, wie Ryan über seine vage Auskunft grollte und begriff allmählich den Grund für sein Beharren auf der Zeitfrage. „Aber es ist anzunehmen, dass das Dragon Cage für heute geschlossen bleiben muss. Falls es das ist, was Sie wissen wollen.“

Ryans pockennarbige Stirn warf noch tiefere Falten. Einen Moment lang hörten sie ihn konzentriert durchatmen, als müsse er sich neu sortieren.

„Das hatte ich befürchtet“, sagte er leise und strich sich mit diesem furchtbar überheblichen Grinsen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie erkläre ich Ihnen das bloß so, dass Sie es begreifen ... Das Dragon Cage ist ein Nachtclub und als ein solcher gehört es sich, abends zu öffnen. Und zwar jeden Abend.“

„Danke. Wir wissen, was ein Nachtclub ist.“

„Erfreulich! Dann verstehen Sie sicherlich auch, dass das Dragon Cage nicht dicht machen wird. Weder heute noch in den nächsten Tagen, die Sie hier mit Ihren Ermittlungen zu verbringen gedenken.“ Obwohl er höflich blieb, war Ryans Ton scharf genug, um sie zu schneiden. Alex hatte bereits den Mund zum Protest geöffnet, da kam ihm der Bordellbesitzer zuvor. „Das bedeutet, dass Sie und Ihre Kollegen Ihre Befragungen doch bitte auf die Stunden des Tages beschränken. Ich denke, damit stehen Ihnen meine Jungs ohnehin lange genug zur Verfügung.“

„Bei allem Respekt, Mister Dawn, wir lassen uns unsere Arbeitszeiten nicht von Ihrem Haushaltsplan vordiktieren“, entgegnete Alex. „Wie lange wir uns hier aufhalten, hängt allerdings auch ein Stück weit von Ihnen selbst ab. Je besser Sie mit uns kooperieren, desto eher haben Sie wieder Ihre Ruhe und all Ihre kostbaren Nächte für sich.“

„Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr?“ Garniert durch das Haifischgrinsen auf Ryans Gesicht klangen die Worte in Alex’ Ohren verdächtig nach einem Bestechungsversuch. Ehe er sich versah, unterbreitete der Hausherr ihm dann auch schon weitere Anreize für ein Einlenken zu seinen Gunsten.

„Natürlich werde ich mein Menschenmöglichstes tun, um Sie bei Ihrer Arbeit zu unterstützen. Im Erdgeschoss ist für Sie ein Raum eingerichtet worden. Sollte Ihr Aufenthalt längerer Natur sein, dürfen Sie jederzeit gerne eine Übernachtungsmöglichkeit im Club wahrnehmen; es gibt ausreichend Platz. Sehen Sie sich einfach als mein Gast ... Auch wenn Sie dann und wann einmal das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden möchten.“

Allein der Vorschlag zeugte von einer derartigen Respektlosigkeit, dass es Alex schnell hintereinander heiß und kalt wurde.

„Danke für die Einladung, aber wir setzen auf eine schnelle Aufklärung des Falls. Und nichts läge mir ferner, als irgendwelche Dienste Ihres Hauses in Anspruch zu nehmen“, fügte er so schnell hinzu, dass der Ausspruch nicht halb so bestimmt geriet, wie gewollt.

„Ihre Zuversicht freut mich. Letztendlich wollen wir doch alle dasselbe: Die Show muss weitergehen.“ Ryans Augen blitzten vor Vergnügen und Alex war froh, dass Jerry eingriff, bevor er sich noch richtig mit dem Zuhälter anlegen konnte.

„Um wieder auf Benjamin Miles zurückzukommen ...“ Ungeduldig tippte Jerry mit dem Kugelschreiber auf das halbleere Blatt Papier in seinem Block. „Können Sie uns noch irgendetwas zu seiner Person sagen? Sie werden ihn doch bestimmt ein wenig gekannt haben.“

„Warum sollte ich ihn denn bitte gekannt haben?“

„Haben Sie ihn etwa nicht eingestellt?“, fragte Jerry und setzte den Stift ab.

„Das werde ich wohl getan haben.“

„Na also. Wo lebte er beispielsweise früher?“

„Was weiß ich. Irgendwo“, entgegnete Ryan einfallslos.

Die beiden Polizisten sahen einander an und Alex versuchte es zur Beruhigung inzwischen schon mit Entspannungsatmung. Für die vollständige Übung fehlte allerdings die Zeit.

„Ist er vielleicht mal von hier abgehauen?“, zischte er mit der Restluft aus seiner Lunge. Dass er diese Möglichkeit offen ansprach, schien Ryan eindeutig zu missfallen. Sofort verkniff er das Gesicht.

„Hätte er das, würde ich mich bestimmt besser an ihn erinnern. Es kommt äußerst selten vor, dass einer meiner Angestellten ... Wie sagen Sie? ... abhaut. Ich vergesse da kein Gesicht.“

„Sie wissen also rein gar nichts über den Jungen?“

„Sehe ich aus wie die Auskunft?“, blaffte Ryan und verschränkte demonstrativ die Arme.

Alex platzte über so viel Desinteresse der Kragen.

„Verdammt nochmal, wir reden hier über den Mord an einem Ihrer Schützlinge und nicht über irgendeinen kleinkriminellen Übergriff! Das geht auch Sie etwas an. Haben Sie denn keine Unterlagen über Miles hier? Ein Archiv über Ihre Beschäftigten vielleicht?“

„Da wird sich bestimmt etwas finden lassen.“ Als Ryan hinter sich einen Schrank öffnete und lauter Dokumente zum Vorschein kamen, konnte Alex es nicht glauben.

„Sind Sie noch bei Trost? Die ganze Zeit bitten wir Sie um Informationen und Sie sagen nicht, dass Sie sie sogar schriftlich haben?“

Mit einem genüsslichen Ausdruck sank Ryan in sein Sesselkissen. „Nun, Sie haben nicht danach gefragt.“

3

Eine geschlagene Stunde später befanden sie sich auf dem Weg hinab in die Eingangshalle. Freundlicherweise hatte Ryan Dawn schließlich eingewilligt, seine Mannschaft dort für eine erste Polizeidurchsage zusammenzutrommeln.

In Alex wallte eine Nervosität auf, die er bereits gespürt hatte, als der neue Auftrag in ihrer Polizeistation eingegangen war. Er ließ es sich nicht anmerken, doch das Engegefühl in seiner Brust hatte ihn fest im Griff. Dabei hatte er sich im Vorfeld solche Mühe gegeben, sein Unbehagen gegenüber diesem Ort abzuschütteln. Aber es half nichts, für einen Rückzieher war es längst zu spät.

Die letzten Meter schritt er still neben Jerry her. Als er den drachenförmigen Türknauf zum Foyer betätigte, hatte Alex das ungute Gefühl, ein Tor in die Vergangenheit zu öffnen.

Kaum hatten sie die Halle betreten, empfing sie ein aufgeregtes Geschnatter. Wenn in einem Bienenstock herumgestochert wurde und ein Angehöriger des Arbeitervolkes zu Tode kam, war bekanntlich die Hölle los.

Aus sicherer Entfernung überflog Alex die Gesichter. Und auf Anhieb stach er ihm ins Auge. Erst hielt er ihn für ein Mädchen. Der Junge stand dicht umringt von den anderen in der Mitte des Saals. Das weiche Licht umfloss golden die kleine Schauergestalt. Nachtschwarzes Haar brach in Zacken in die bleiche Stirn. Fast alle Vorzüge waren ästhetisch überformt: Die Augen geschminkt, der Mund gepierct, der Teint gepudert. Sofort erkannte er ihn als die Gestalt wieder, die ihre Ankunft vom Fenster aus wie so eine verfluchte Sirene beobachtet hatte.

Instinktiv hielt Alex den Atem an, als der Jüngling den weißen Hals in seine Richtung drehte und ihn mit einem markdurchdringenden Blick ansah. Als hätte er gespürt, dass er beobachtet worden war. Ihre Augen begegneten sich fast greifbar in der Luft. Die Gesichtszüge des Jungen spannten sich und verzogen die feminin geschwungenen Lippen zu einem geringschätzigen Grinsen. Innerlich ging ein Ruck durch Alex, der dann auch äußerlich wurde, als sich jemand von hinten an ihn schmiegte. Widerstrebend brach er das Siegel ihrer Blicke.

„Jess, was machst du denn hier?“

„Störe ich?“, gab Jessica zurück und nahm ihre Hände wieder weg. Verwirrt stellte Alex fest, dass sie tatsächlich störte.

„Du gehörst noch nicht zum Kommissariat und wartest deshalb bitteschön draußen.“

Jessica lächelte erbost zurück, verließ aber wie gebeten das Feld.

Jerrys amüsiertes Schmunzeln erwiderte Alex mit einem kleinlauten „Entschuldigung“ und wies ihn an, endlich etwas gegen die penetrante Geräuschkulisse zu unternehmen.

„Alle hergehört!“, trompetete Jerry dann auch schon los. „Wie ihr inzwischen sicher mitbekommen habt, ist euer Kollege Benjamin Miles ermordet worden. Wir ermitteln in dem Fall und jeder Einzelne wird noch heute zur Vernehmung gebeten. Bis das Protokoll von jedem von euch aufgenommen wurde, verlässt niemand diesen Raum. Einer unserer Kollegen wird euch nun nacheinander alphabetisch in unser Sprechzimmer in Raum Nummer Null rufen. Ich wiederhole, niemand verlässt den Raum! Danke.“

Seine Stimme hatte das Gequassel wie eine Axt ein Stück Holz zerschlagen. Jedenfalls kurz, denn sobald er geendet hatte, fuhr der Lautstärkepegel wieder hoch.

„Dann mal frisch ans Werk.“

Alex folgte ihm in Richtung Ausgang, konnte es aber nicht lassen, sich noch einmal nach der Stelle umzudrehen, auf welcher der sonderbare Junge gestanden hatte. Dieser war nun in Begleitung eines muskulösen Burschen, der einen guten Kopf größer war. Im Moment seiner Umschau grinsten beide Jungs zu ihm herüber, woraufhin der Größere loskasperte und die beiden offensichtlich über ihn auflachten.

Aufgewühlt lief Alex durch die Tür. Doch selbst da klingelte das Gelächter noch in seinen Ohren wie tausend Säbel.

„Wir beginnen mit Denniz Balduin. Balduin ins Zimmer Null

4

Beim Betreten des winzigen Raums, dessen Mobiliar ausschließlich aus einem Tisch mit drei Stühlen bestand, wusste er, dass er hier noch nie zuvor gewesen war. Was Midian bemerkenswert erschien, denn er hatte geglaubt, mittlerweile jeden Winkel im Dragon Cage zu kennen. Aber gut, in sämtliche Abstellkammern hatte er bislang noch nicht hineingeschaut. Schleichend trat er auf den Tisch zu, hinter dem die beiden Polizisten saßen und ihre Notizen sortierten.

Alex blickte erst auf, als er das Quietschen der Stuhlbeine vernahm. Sein Herz begann wie auf Kommando schneller zu schlagen. Irritiert musste er feststellen, dass er sich die ganze Zeit schon auf diese Person gefreut hatte.

Jetzt war er beunruhigt und erleichtert zugleich, dass seine Sinne ihm nicht nur einen Streich gespielt hatten, denn selbst von Nahem kam ihm der Junge wie ein unwirkliches Nachtgespenst vor: Hellhäutig, wie er war, mit stechend grünen Augen, die stärker und dunkler geschminkt waren als die eines Fotomodels. In dem Gesicht mit fein gezeichneter Nase und Mund fehlten eindeutige Merkmale des Maskulinen. Man brauchte notwendigerweise einen zweiten Blick. Der Trick war, dass es bereits zu spät war, war die Neugier erst geweckt. Dann achtete man nur noch auf seine Schönheit und Jugend und nicht mehr auf das Geschlecht.

„Du heißt Midian Hill, ist das richtig?“, überspielte Alex seine Aufregung mit geübter Professionalität. Das dunkle Grün blieb schmerzfrei an seinen Pupillen kleben.

„Ja, das stimmt.“

Er hatte eine ausgesprochen schöne Stimme, angenehm, wenn auch eine solche Kälte darin mitschwang, dass sich Alex die Nackenhaare aufstellten.

„Und du bist achtzehn Jahre alt?“

Damit zählte er zu den Jüngsten. Das Schockierende war, dass er sogar noch jünger aussah. Ein Grinsen ging über das androgyne Gesicht und wieder fiel Alex der Silberring in seiner Unterlippe auf.

„Praktisch Neunzehn. Warum? Hätten Sie’s lieber jünger?“ Dass er mit ihm wie mit einem Kunden sprach, frappierte Alex enorm. Gründlich hustete er ab.

„Gibt es etwas, das du uns über Benjamin Miles erzählen kannst?“

Der Junge legte die Fingerspitzen wie zum Gebet aneinander und ließ das Kinn darauf sinken. Ein paar Sekunden verharrte er in dieser Position, dass sich Alex schon Hoffnungen auf eine ausgiebige Antwort machte. Umso enttäuschender war das Resultat.

„Da gibt es nichts, nein.“

„Gar nichts? Wie war denn dein Verhältnis zu ihm?“

Das Smaragdgrün verweilte kurz, aber merklich auf seinen Lippen, huschte dann wieder auf Augenhöhe. „Wir waren nicht gerade die besten Freunde, wenn Sie das meinen. Es gab öfters Streitigkeiten.“ Midians Blick war so hypnotisierend, dass es Alex fast unangenehm war.

Jerry für seinen Teil schien jedoch unsensibel genug, um nichts von der Schwingung zwischen ihnen mitzubekommen.

„Und worum ging es bei diesen Streitigkeiten?“

„Ich weiß nicht mehr. Irgendwas eben.“

„Irgendwas, oho“, lästerte Jerry. „Dann sag uns doch mal, wo du in der Nacht vom 16. auf den 17. April warst.“

„Stehe ich hier etwa unter Mordverdacht?“

Auf der anderen Tischseite spannte Alex nachdrücklich die Stirnmuskeln an. „Würdest du bitte einfach auf die Frage antworten?“

Midian fixierte ihn bloß feindselig. „Du sollst die Frage beantworten“, mischte sich Jerry ein. Prompt und außerdem zum ersten Mal seit der Jugendliche Platz genommen hatte, sauste das diabolische Grün nun einmal quer zu dem zweiten Polizisten.

„Was weiß ich. Ich schätze, ich habe geschlafen.“

„Alleine?“ Kein gutes Stichwort, wie sich zeigte.

„Ja, alleine!“

„Schreibst du bitte auf: kein Alibi?“, kommentierte Alex die Aussage mit Blick auf die Papiere. „Das wäre dann jetzt deine große Chance, dich zu verteidigen.“

„Ich war es nicht.“

An Popularität war die Aussage kaum zu überbieten. Aber Alex hatte sie selten dermaßen monoton vorgetragen bekommen. „Ziemlich dünn, was?“, meinte er in Richtung seines Schriftführers. „Und du kannst dir auch absolut nicht vorstellen, was deinem Kollegen zugestoßen sein könnte? Gab es böses Blut? Hatte er irgendwelche Probleme?“

„Ich war nicht so besonders dicke mit ihm.“

„Mit anderen Worten: Du weißt es nicht.“

„Ich bin untröstlich, aber ja“, säuselte Midian in vollendeter Gefühllosigkeit, was die Sympathiepunkte mehr und mehr ins rote Minus fallen ließ.

Der Kleine war respektlos, ohne wirklich respektlos zu sein. Im Gegensatz zu seinen Kollegen zeigte er nicht ein Fitzelchen Engagement oder gar Rührung über den gewaltsamen Tod eines Menschen, der mit ihm unter einem Dach gelebt hatte. Was er hier zum Besten gab, war geradezu Negativwissen.

Alex verstand ihn nicht. Wenn sich ein Ryan Dawn nicht für die Aufklärung am Mord eines seiner Stricher interessierte, war das eine Sache. Dass aber einer der Jungs ihm so deutlich zeigte, wie wenig ihn dieser Fall kümmerte, war in seinen Augen geradezu absurd.

„Ich muss sagen, du weißt herzlich wenig über deinen Kollegen“, konstatierte er laut.

„Das sagte ich ja.“

„Na schön“, schloss Jerry und blätterte sinnbildlich eine Seite in seinem Block vor. „Das soll es fürs Erste gewesen sein. Bei weiteren Fragen melden wir uns umgehend zurück.“ Während er seine Notizen neu ordnete, beugte sich Midian ein Stück zu Alex vor.

„Kann es kaum erwarten.“ Giftgrün fixierten ihn seine Augen. Mit einem Augenzwinkern der unmissverständlichen Sorte erhob sich der Junge dann und verließ den Raum.

Alex war sprachlos. Midian Hill. Irgendetwas sagte ihm, dass er sich den Namen noch würde merken müssen.

5

„Sorry für die Verspätung!“

Pro forma gab Alex der Frau einen Kuss auf die Wange und gesellte sich zu ihr an den Tisch. Die Vernehmung des Personals hatte sich reichlich in die Länge gezogen. Bei den letzten Gesprächen hatte sein Magen lauter geknurrt, als die Befragten gesprochen hatten. In jedem Fall hatten sie den Redebedarf der Jungs unterschätzt, wenn auch die Hälfte der Beiträge eher einem Luftmachen von Panik gedient hatte, als hilfreich für ihre Ermittlungsarbeit zu sein. Aber Alex konnte ihnen die Besorgnis nicht verdenken.

Jessica blickte ihn derweil erwartungsvoll an und fühlte sich durch sein anhaltendes Schweigen offenbar dazu animiert, sich nach dem Verlauf der Sitzung zu erkundigen.

„Und? Was sagt das Bauchgefühl?“

„Hunger“, meinte Alex geistesabwesend, während er der Auslieferung eines opulenten Hamburgers zum Nachbartisch hinterher gierte.

„Ich meinte eure Session mit den leichten Jungs. Schon jemanden im Visier?“

„Leichte Jungs? Sagt man das so?“ Alex übertönte ihre Antwort, indem er den Kellner zu sich herwinkte und spontan das Gleiche wie sein Tischnachbar bestellte. Im Kopf spielte er Gesichterkarussell und blieb bei Midian hängen.

„Wir haben da ein Herzchen gefunden, das garantiert noch Ärger machen wird.“

„Na ja, ist doch klar, dass die Jungs ihre Grenzen austesten wollen.“

„Der Kleine weiß nicht mal, was Grenzen sind“, behauptete Alex.

„Du bist einfach zu schnell erwachsen geworden. Sei nicht zu streng mit ihnen.“

„Streng?! Ich könnte schwören, dass der Bengel mich vorhin angeflirtet hat!“

Jessica lachte daraufhin aus vollem Halse, was Alex noch mehr verstimmte. Instinktiv schaute er sich um, doch wider Erwarten feindete sie bislang keiner der anderen Gäste wegen Ruhestörung an.

„Genieß es.“ Jessica lachte nur unwesentlich verhaltener. „Allzu oft wird man ja nicht von so jungen Dingern angemacht. Außerdem ist das doch sein Job.“

Ihr Einwand verstörte ihn ein wenig, schließlich war sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren nur unwesentlich älter als die meisten Jungs im Dragon Cage und für ihn damit praktisch ein ebenso „junges Ding“ wie Midian. Der Gedanke an ihren Altersunterschied von fast zehn Jahren hinterließ unter diesem Licht einen besonders herben Geschmack in seinem Mund. Umso glücklicher war er, als endlich sein Essen gebracht wurde.

„Es kam mir mehr wie eine Drohung als ein Kompliment vor“, erklärte Alex, während er dankend seine Bestellung entgegennahm.

Jessica blickte ihn schief an. „Muss ich mir Sorgen machen?“

„Quatsch, ich komm schon klar.“ Als er sich über seinen Burger hermachte, reichte sie ihm mit gezwungenem Lächeln eine Serviette.

„Mach erst mal den Mund leer. Weiß man schon, was genau eigentlich vorgefallen ist?“

Viel zu ausgehungert, um sich von ihr den Knigge erläutern zu lassen, steckte Alex das Papier nur ein und biss stattdessen so herzhaft in den Hamburger, dass er sich fast die Zunge daran verbrannte. Er nahm einen Schluck aus Jessicas Cola und schüttelte grinsend den Kopf.

„Keine internen Infos für dich, bis du dein Examen hast.“

Auf sein Augenzwinkern erntete er ein beleidigtes Augenrollen. „Jetzt sei bitte nicht so.“

„Die Leiche wird noch obduziert. Mehr gibt es sowieso erst mal nicht.“

Jessica wirkte unzufrieden mit der Auskunft. Doch das hielt sie nicht davon ab, über die Hintergründe der Tat zu spekulieren. „Ach, ich wette, es war einer seiner Kollegen. Wie hoch ist noch gleich der Prozentsatz für so einen Mord aus Neid?“

Während Alex den Rest seines Abendbrots herunterschluckte, hatte sie ihre Pommes frites noch nicht einmal angerührt. Eiserne Disziplin. Jessica gehörte zu jener Art von Frauen, die niemals, wirklich niemals, während eines Gesprächs aßen. Weil er das Elend auf ihrem Teller nicht mitansehen konnte, klaute sich Alex eine ihrer kalten Fritten. Wenig angetan von ihrem Ratespiel ließ er sich absichtlich Zeit mit seiner Antwort.

„Wieso hätte ihn jemand seiner Kollegen beneiden sollen? Immerhin sitzen sie alle im selben Boot.“

„Vielleicht saß dieser Junge ja etwas sicherer, hat mehr Geld gemacht als die anderen oder er hat jemanden erpresst oder ... Ach, was weiß ich.“

„Eben, du weißt es nicht. Womöglich gibt es auch überhaupt kein Motiv und es war irgendein Wahnsinniger, der sich einen Spaß daraus macht, Stricher abzustechen“, schloss Alex humorlos.

Jessica jedoch lachte wie die achte Posaune. „Der Wahnsinn hat begonnen“, sang sie den ausgedachten Slogan. „Neuer Blockbuster, Fortsetzung folgt.“

„Originell. Findest du das witzig?“

„Ach was. Aber hey, seien wir realistisch: Es war ein Stricher. Bei der geringen Lebenserwartung hätte es den eh früher oder später erwischt.“

Mit diesem Kommentar hatte sie sich selbst übertroffen. In diesem Moment schämte sich Alex fast dafür, dass er sie kannte ... Und seit Kurzem eine Affäre mit ihr hatte.

„Früher oder später hätte es den eh erwischt?“, zitierte er sie ungläubig. „Ernsthaft, Jess? Was ist das wieder für ein Scheißspruch?“

„Du hast da noch Soße am Mund.“

Alex starrte auf ihren Fingernagel, der wie zum Abstechen gegen ihn erhoben war. „Oh“, sagte er lustlos zu dem Zeigefinger. „Ich hau ab. War ein anstrengender Tag.“

Das ausgesprochen, merkte er, dass er tatsächlich völlig erschöpft war.

„Sei nicht blöd, setz dich wieder, Lex. Na schön. Aber putz dir wenigstens das Gesicht sauber, bevor du rausgehst“, rief sie ihm noch hinterher.

‚Heiliger!‘ Um ihr zu zeigen, wie viel er von dieser Lebensweisheit hielt, ließ Alex bloß die Ladentür hinter sich zuschnappen.

6

Der Ketchupfleck in der Serviette erinnerte an Kunstblut à la Hollywood. Blockbuster. Wütend zerknüllte Alex das Tuch. Für eine angehende Polizeibeamtin war so ein Gerede eigentlich unter ihrer Würde, hatte er angenommen. Mit ihren Boulevard-Thesen konnte Jessica bei ihm jedenfalls keinen Blumentopf gewinnen.

Er schaute auf und sah hinter den nächsten Gebäudefassaden das Dragon Cage hindurchschimmern. Ein vier Stockwerke mächtiger Betonbau. Dahinter wusste Alex all die Jungen, die auch heute wieder ihren Körper verkaufen würden. Sein Magen verhärtete sich bei dem Gedanken, dass er meinte, die noch unverdaute Nahrung gleich wieder aufstoßen zu müssen.

„Inspektor Vandom?“

Erschrocken drehte sich Alex um und blickte in das Mausgesicht eines Jungen.

„Erkennen Sie mich nicht? Sie haben mich heute früh vernommen. Florian Mayer.“

„Ah“, heuchelte Alex ein Erkennen. Es war ihm schrecklich peinlich, aber er konnte ihn beim besten Willen nirgends zuordnen. Viel wichtiger war für ihn allerdings die Frage, weshalb der Bursche trotz der von Dawn erwähnten Sperrzeit noch so spät auf der Straße umherwandelte. Er bezweifelte stark, dass dieser Freigang von seinem Zuhälter abgesegnet worden war. So oder so, Florian musste ihm hier aufgelauert haben und genau das versetzte ihn prompt in Missbehagen.

„Darf ich fragen, was du hier draußen suchst?“, formulierte Alex es vorsichtig. Er wollte ihn nur ungern mit dem Kopf darauf stoßen, dass der Junge sicherlich noch zu arbeiten hatte. Wie ertappt, stotterte Florian etwas vor sich hin, was Alex zwar nicht verstehen konnte, sich dadurch aber in seinem Verdacht bestätigt fühlte, dass ihr Aufeinandertreffen kein Zufall war.

„Ich glaube, ich weiß, wer Benny umgebracht hat“, fing Florian endlich zu sprechen an. „Wissen Sie ... Haben Sie mit Midian gesprochen?“

Alex atmete automatisch durch. Da war er schon wieder, dieser Name!

„Du denkst also, dass er sein Mörder ist?“, folgerte er stirnrunzelnd.

„Nun ja, die beiden hatten ziemlich oft Streit. Auch kurz bevor Benny getötet wurde. Das ist mir eben erst wieder eingefallen und ich dachte, dass es Sie interessieren könnte.“

Das interessierte ihn in der Tat. „Wann genau war das?“

Florian zuckte nervös mit den Schultern. Andauernd blickte er sich um, als leide er unter Verfolgungswahn.

„Kann ich nicht so richtig sagen. Ein paar Tage vorher vielleicht.“

Alex wusste nicht recht, was er von dieser Aussage halten sollte. „Was war das für ein Streit?“, fragte er und Florians Gesicht strahlte auf, als würde er sich ungemein darüber freuen, dass er nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.

„Also, es soll wie immer ziemlich hässlich gewesen sein. Benny hat mir selbst davon erzählt und er meinte, Midian hätte gedroht, ihn umzubringen ...“ Florian holte weit aus und schien darüber ein wenig von seiner Paranoia abzulegen. „Er hat Benny wohl attackiert und so. In dieser Sache rastet er eben immer aus.“

An der Bereitwilligkeit, mit der er ihm Auskunft gab, konnte Alex ablesen, dass sich der Junge daran erfreute, seinen Kollegen bei der Polizei anzuschwärzen. Zwar missfiel es ihm grundsätzlich, wenn ein Abwesender, so wie hier, angeprangert wurde, aber für sich betrachtet war dieser Hinweis natürlich Gold wert.

„Bei welcher Sache rastet Midian immer aus?“, hakte er nach. Bevor Florian im konspirativen Flüsterton zu einer Antwort ansetzte, sah er sich abermals um, als hätte er Angst, abgehört zu werden.

„Am besten fragen Sie ihn selbst danach. Er weiß mehr, als er sagt, glauben Sie mir das.“

7

Die Luft in den höheren Etagen des Dragon Cage war getränkt mit Deo und Schweiß. Vor allem mit Schweiß. Schlagartig verspürte Alex ein Gefühl der Beklemmung, während er den schlecht ausgeleuchteten Flur durchschritt.

„Die Tür ist offen!“

Beim Eintreten fiel sein Blick direkt auf die lange Fensterfront. Davor stand Midian, in der weißen Hand eine Zigarette, an der er soeben stilecht zog. Nach kurzer Beräucherung wandte er sich zu seinem Besucher herum und schien tatsächlich kurz überrascht, ihn hier zu sehen.

„Nanu. Hatten Sie Sehnsucht nach mir?“

Midian zerdrückte den Glimmstängel im Aschenbecher, der vor ihm auf der Fensterbank stand, und wedelte schnell den Qualm zum Fenster hinaus, als müsste er etwas Verbotenes verstecken.

„Eigentlich nicht.“

Geistesabwesend sah sich Alex im Raum um. Insgeheim hatte er sich immer schon gefragt, wie die Einrichtung eines solchen Etablissements wohl aussehen würde.

Erwartungsgemäß bildete das luxuriöse King-Size-Bett das Zentrum des geräumigen Zimmers, der Rest der Fläche war individuell ausstaffiert worden. Midian bewies damit auf alle Fälle einen Sinn für Ästhetik. Abgesehen von dem extravagant violetten Wandanstrich war Schwarz hier der vorherrschende Farbton. Als Ersatz für den Nachthimmel umspannte ein dunkler Tüllvorhang die gesamte Breite des Bettes und fiel an den Seiten wie ein Wasserfall bis über den Boden. Die Ausläufe dieses Schleierkunstwerks mündeten in eine kleine Sitzgruppe, bestehend aus einem Paar moderner Ohrensessel und einem Glastisch. Neben einer Reihe abgebrannter Tropfkerzen fand Alex darauf zwei Weingläser mit unübersehbarem Rotweinrand. Rasch kehrte er den Blick ab. Seine Aufmerksamkeit fokussierte sich schließlich auf ein Terrarium, das auf der Fensterseite aufgestellt war. Midian folgte seinem Blick und wurde etwas unruhiger.

„Gibt es auch einen Grund für Ihr Kommen?“

Ihn überhörend, trat Alex näher auf das gläserne Gebilde zu. Der Kasten war mit allerlei Gestein gefüllt und dazwischen bewegte sich etwas Lebendiges. Eine etwa sechzig Zentimeter lange Schlange reckte sich ihm neugierig entgegen. Ihre graue Haut war der Länge nach von schwarzen Kreuzen durchzogen, die rot-gelben Augen fixierten jeden Schritt, den er tat. Schockiert starrte Alex das Tier an. Unmittelbar hinter ihm erschien nun Midian und blickte ihm lächelnd über die Schulter.

„Vipera Berus, Kreuzotter. Das Geschenk von einem Kunden“, beantwortete er seine unausgesprochene Frage.

„Sind Kreuzottern nicht giftig?“

„Sie greifen nie grundlos an.“

„Wie überlebt sie hier?“ Alex war wie hypnotisiert von den feurigen Tieraugen.

„Ich füttere ihn mit Ratten. Von denen wimmelt es nur so in den Hinterhöfen. Zachiel ist ein leidenschaftlicher Jäger ...“

Es schien ihm, als meinte Midian mit der Bemerkung nicht nur sein sonderbares Haustier. Langsam sah Alex von dem geschuppten Körper auf. Sein Blick traf direkt auf den des Jungen. Unweigerlich wich er einen Schritt zurück. Und jetzt erkannte er die gravierende Ähnlichkeit Midians grüner Augen mit denen eines Reptils, leer und starr.

„Die meisten Menschen werden vom Anblick einer Schlange erregt. Günstig fürs Geschäft. Aber Sie sind doch bestimmt nicht zum Plaudern gekommen.“

Alex war ernsthaft überrascht, sich vom eigentlichen Thema ablenken gelassen zu haben. „Wir waren vor einer Stunde verabredet“, erinnerte er sich und damit auch Midian an den von ihm geschwänzten Termin zum Nachgespräch. Aus dem feinen Gesicht wurde eine Grimasse. „Keine Zeit. Bis morgen früh muss ich noch eine Menge Scheine kassieren. Wollen Sie mir das Geld zufällig schenken?“

„Es geht hier um Wichtigeres als Geld! Jemand hat erwähnt, dass deine Streitereien mit Benjamin gar nicht so banal waren, wie du es uns vorgemacht hast.“

„Es war Flo, habe ich recht?“ Midians Augen funkelten. „Natürlich war er es. Der Kerl verbreitet andauernd irgendwelche verrückten Lügen über mich. Sie täten gut daran, ihm kein Wort zu glauben.“

„Ich gehe allen Hinweisen nach und deshalb wirst du dich wohl oder übel mit mir unterhalten müssen.“

„Dazu sehe ich keinen Grund“, meinte Midian so schnippisch, dass Alex allmählich ungehalten wurde.

„Es mag dir ja vielleicht herzlich egal sein, wer deinen Kollegen getötet hat, aber uns von deiner Unschuld zu überzeugen, sollte dir schon wichtig sein.“

„Ach, kommen Sie.“ Midian lehnte sich an die Kommode. „In Wahrheit interessiert es Sie doch einen Dreck, wer der Mörder ist. So ein mieser, kleiner Stricher ... Tausende werden dem Killer dankbar sein, unsere Welt von diesem Wohlstandsmüll bereinigt zu haben.“

„Denkst du, ich mache Unterschiede, wenn es um Mord geht?“

Die Häme im Gesicht des Jungen zeigte sehr deutlich, wie er darüber dachte.

„Ein ganz klein wenig“, sagte Midian und zerrieselte das unterscheidende Sandkorn als ein imaginäres Etwas zwischen seinen Fingern.

„In zehn Minuten erwarte ich dich unten zum Verhör.“ Knurrend drehte sich Alex zum Ausgang. Doch Midian war schneller. Er schob sich in Sekundenschnelle vor die Tür und behinderte damit den szenischen Abgang. Verärgert legte Alex die Stirn in Falten.

„Was soll das?“

„Ich will wissen, warum Sie wirklich hier sind.“

„Ich suche nach dem Mörder.“

„Blödsinn!“

Die grünen Augen blitzten eigentümlich. Giftig. Automatisch wich Alex zurück und stieß gegen etwas Hartes. Da stand Midian auch schon vor ihm, haushoch überlegen. Mit plötzlich reglosen Gliedern klappte Alex auf dem Sessel hinter sich ein. Unfähig zu sprechen, starrte er Midian bloß an. Unheilvoll baute sich dessen Gestalt über ihm auf, schien auf einmal größer, als sie tatsächlich war.

„Endstation, Schätzchen!“

Rittlings nahm der Junge auf seinem Schoß Platz. Midians Gesicht war dem seinen so nah, dass er den süßlichen Atem heiß auf seiner Haut fühlen konnte. Sein Duft wirkte auf Alex wie Chloroform: Er saß da, ohne es überhaupt noch zu spüren.

„Dann unterhalten wir uns also.“ Mit seinen Händen kroch Midian den sich sogleich straffenden Oberkörper entlang und hielt den Zeigefinger vor die aufspringenden Lippen. „Und dazu müssen wir nicht einmal sprechen ...“

Er sank bis tief in seine Körpermitte hinab und seufzte behaglich auf. Das Gesicht an seinen Hals gelehnt, hauchte Midian ihm etwas Unverständliches ins Ohr.

„Hör auf ...“ Alex’ Stimme zitterte so stark, dass der andere seine Bitte unmöglich wahrnehmen konnte. Stattdessen schlang Midian beide Arme um seinen Hals und drückte ihm den Mund zum Kuss gegen die Wange. Lethargisch stierte Alex an dem Stricher vorbei.

Er war wieder da. Alle anderen waren schon fort, nur er war länger geblieben, um ihn wieder zu quälen. Es war genug! Stopp!

„HÖR AUF!“

Endlich hatte er seine Stimme zurückgefunden und mit ihr auch seine Körperkraft. Mit einer Hand stieß er den Jungen von sich und sprang auf. Midian schaute erschrocken auf und taumelte rückwärts. Alex stürmte an ihm vorbei. Der Weg nach draußen kam ihm unendlich lang vor.

8

Schnell rieb sich Alex die Tränen aus den Augen und erkannte, dass er mit dem Gesicht zur Wand stand. Schluchzend vor Wut und Entsetzen stemmte er seine Stirn gegen das kühle Gemäuer. Seine Gedanken überschlugen sich. Warum hatte er noch immer nicht vergessen? So viel Zeit war seitdem vergangen und Midian hatte all diese Erinnerungen im Sekundenbruchteil zurückfließen lassen.

Obgleich der Flur wie ausgestorben war, blieb die vermutete Stille aus. Alex lauschte. Die dünnen Wände verrieten die Aktivitäten im Innern der Zimmer. Er war gestrandet an einem Ort, an dem Jungs das freiwillig taten. Dass es so etwas wirklich gab! Sein Onkel hätte ihn dafür ausgelacht.

Hastig sog sich seine Lunge mit der verbrauchten Dielenluft voll. Sein Körper hörte auf zu schlottern und die Tränen verebbten. Die Hände in die Manteltaschen gepresst, machte sich Alex auf den Weg zurück. Bloß nicht mehr davonlaufen.

Ungefähr fünf Meter trennten ihn noch von dem eben verlassenen Zimmer, als er Midian sah. In Begleitung. Ein hagerer, blonder Mann drückte ihm etwas in die Hand.

Selbst ohne dieses ominöse Etwas identifiziert zu haben, wusste Alex, dass es sich dabei nur um Geldscheine handeln konnte. Als wollten sie seinen Verdacht bestätigen, betraten die beiden Gestalten das Zimmer und riegelten die Tür hinter sich ab. Es war kurz nach halb sieben, die Rush Hour im Dragon Cage hatte also vor einer Stunde begonnen.

Eine kleine Weile später konnte Alex sie auch hören. Und er gestattete es sich nicht, früher abzuhauen als dieser Namenlose. Nach einer halben Stunde war es soweit. Die Tür wurde geöffnet, die Tür wurde geschlossen, ein anderer kam und Alex ging.

9

Die letzten paar Stufen nahm er auf einmal. Erst halb elf und bis auf einen letzten Hunderter hatte er sein Soll für diesen Abend schon erfüllt. Damit hatte er genug Zeit, um noch gemütlich eine rauchen gehen zu können. Während Midian sich voll Vorfreude dem Hintereingang näherte, vernahm er ein Rascheln von Tüten. Als er um die Kurve trat, konnte er dann nur noch aus großen Augen losstarren.

Mehrere Leute in weißen Uniformen hantierten mit Pinseln und Plastikbeuteln im Innenbereich der blutig bespritzten Hintertür. Sein Blick wanderte langsam abwärts. Der Boden war blutgetränkt. Etwas oder besser jemand lag dort inmitten dieser metallisch stinkenden Lache, provisorisch unter einer riesigen Plane begraben.

Es war wieder jemand getötet worden.

„Was tust du hier?“ Der verärgerte Aufschrei ließ ihn zusammenzucken. Neben ihm stand jetzt ein Polizist mit dem Gesicht einer Bulldogge. „Wie ist dein Name?“

Erst als ihm die Frage noch einmal gestellt wurde, drang sie zu ihm durch. „M-Midian“, stieß er hervor und sah erneut in Richtung Tatort.

„Was hast du hier zu suchen?“, wiederholte sich der Ermittler. Weil Midian nicht antwortete, packte er ihn unsanft an den Schultern. Abermals brüllte er los und versprühte dabei einen Speichelregen. „WAS MACHST DU HIER?“

„Ich wollte auf eine Zigarette raus“, murmelte Midian zerstreut. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die Tatsache, dass er keine zwei Meter von einer Leiche entfernt stand. Nicht die besten Voraussetzungen für einen klaren Kopf.

„Und zum Rauchen benutzt man auch immer den Hinterausgang, ist klar.“

„Der Vorderausgang geht nicht, weil ... Wenn man hier arbeitet ... Also als Bedienstete sollen wir das Gebäude so spät nicht mehr verlassen.“

Der andere schenkte seinem Gestammel keine Beachtung und deutete mit dem Daumen auf die Person unter der Abdeckplane. „Eine Ahnung, wer das ist?“

„Nein“, sagte Midian und wollte schon seinen Blick von dem Grauen abwenden, da hob gerade eine der weißgekleideten Personen etwas von der Erde auf. Die Tatwaffe. Wie gebannt starrte er auf das blutige Messer und erkannte es.

Na los, stich endlich zu! Vergiss nicht, dass du sie auf dem Gewissen hast. Tu es!

Der Cop bellte etwas von Spuren verwischen und Nachfolgen haben, aber er war plötzlich taub, stumm und blind. Nur halb bekam er mit, dass nun auch sein Lieblingsermittler auf sie zugelaufen kam.

„Aha, Alex!“

Alex? War das sein Name? Midian hörte, wie dieser „Loslassen“ schrie und begriff erst da, dass der andere Polizist ihn zu rütteln begonnen hatte. Doch er merkte es kaum. Alles hatte sich zu drehen begonnen. Viel zu abrupt ließ der Fremde dann auch wirklich von ihm ab.

Kurzerhand protestierten seine Beine gegen das Gewicht des eigenen Körpers, das sie nun wieder alleine zu tragen hatten, und gaben jäh nach. Midian kippte nach hinten zurück und knallte mit dem Schädel voran auf den Fliesenboden.

Jemand rief etwas, das vom Blutrauschen in seinen Ohren übertönt wurde. Und dann hörte er wieder etwas. Ein gellender Schrei, von weit entfernt. So unheimlich weit entfernt, dass der Schall Jahre brauchte, um ihn zu erreichen.

10

Die Stille um ihn herum wurde von zwei Männerstimmen gebrochen, die sich gedämpft miteinander unterhielten.

„Eindeutig derselbe Täter. Wahrscheinlich auch dieselbe Tatwaffe ...“

„Fingerabdrücke?“

„Nichts.“

Midian öffnete die Augen und blickte an eine weiße Zimmerdecke. Sein Hinterkopf pulsierte. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Die Leiche. All das Blut. Das Messer. Die Tatsache, dass er ihn gefunden hatte.

„Und was ist mit dem Jungen?“

„Hm.“ Midian spürte förmlich die Blicke, die ihm zugeworfen wurden. „Ist ohnmächtig geworden, der Kleine. Danach ist er eingepennt. Völlige Übermüdung nehme ich an. Ich dachte, ich lasse ihm den Schlaf. Wer weiß, wann er noch mal welchen bekommt.“ Es folgte ein blechernes Lachen von dem Sprecher.

An der Stimme identifizierte Midian ihn als den Polizist mit dem Bulldoggengesicht. Die andere Person war eindeutig Alex, da gab es gar kein Vertun. Unversehens hörte er diesen nun etwas lauter werden.

„Eigentlich will ich nur wissen, was er am Tatort zu suchen hatte.“

„Also, wir haben bereits die Identität des Toten geklärt“, holte der andere aus, auch diesmal ohne auf die Frage einzugehen. „Es handelt sich um einen gewissen Rick Dends, ein Kunde des Hauses. Seine Geldbörse mit Ausweis hatte er noch bei sich. Steckte sogar noch ein Fünfziger drin. Raubmord können wir damit wohl ausschließen. Die Tatzeit konnte Croft außerdem ziemlich exakt auf neunzehn Uhr eingrenzen. Frag mich nicht, wie das ...“

„Ich habe gefragt, was der Junge da gemacht hat.“

„Alex, wir können alle ganz bald nach Hause fahren!“, wurde feierlich eröffnet.

„Aha?“

„Ganz einfach: Der Junge war’s!“ Midian zwang sich, nicht Mund und Augen aufzureißen oder sich auf andere Weise anmerken zu lassen, dass er sehr wohl alles um ihn herum mitbekam. „Jetzt guck nicht so entsetzt. Halt dich fest: Dends war Stammkunde von dem Kleinen, das hat uns bereits einer seiner Kollegen bestätigt.“

Im Geiste kramte Midian nach einem ‚Rick‘ und stieß auf eine ekelerregend massige Gestalt, die er wenige Stunden zuvor bedient hatte. ‚Rick, der alte Stinkstiefel‘. Innerlich stieß er einen Seufzer aus.

„Und nun rate mal, wen er zuletzt besucht hat?“

„Nein, Bob.“

Der andere Polizist schien nicht minder überrascht als Midian. Hatte dieser Vandom seinem Kollegen gerade wirklich widersprochen? Die Zufriedenheit in der Stimme der Bulldogge namens Bob verebbte schlagartig.

„Was denn, nein?“

„Der Junge war es nicht.“ Alex atmete hörbar ein. „Gegen sieben Uhr habe ich ihn vernommen. Um halb acht ist er gegangen. Der Mord muss demnach in seiner Abwesenheit passiert sein.“

Midian hielt die Luft an. Was redete der Kerl denn da? Um sieben hatte er doch längst wieder gearbeitet, was also sollte das? Bob schien ähnliche Probleme mit dem beschriebenen Umstand zu haben.

„Ihr wart also zusammen, zur ...“

„Zur Tatzeit. Genau“, verkürzte Alex den Gedankengang, der dem anderen offenbar einiges abverlangte. Daraufhin entstand eine Pause, die von ein paar Schrittgeräuschen überbrückt wurde. Aus etwas größerer Entfernung erklang dann erneut Alex’ Stimme.

„Ich werde noch mal Croft kontaktieren. Mal sehen, ob er inzwischen schon etwas über das Messer oder die genaue Todesart herausgefunden hat. Immerhin läuft unser Mann nach wie vor frei herum.“ Die Tür wurde geöffnet. „Ach, Bob, pass mir bitte gut auf den Kleinen auf, ja?“

11

Sein Telefonat mit der Gerichtsmedizin hatte Alex keine weiteren Erkenntnisse geliefert. Bis sie ihm dort mit ersten Fakten über die genaue Todesart von Miles und Dends dienen konnten, würde er sich mindestens noch bis nächsten Mittag gedulden müssen, hieß es von einer reichlich genervt klingenden Angestellten des forensischen Instituts.

Um die Zeit bis dahin halbwegs nützlich zu gestalten, plante Alex noch einmal die bisherigen Aussagen zu Benjamins Fall durchzugehen. Eilig durchschritt er den halbdunklen Korridor zum Büro. Die Glühbirnen müssten dringend ausgewechselt werden, doch dieser Gedanke fand nur noch nebensächlich statt.

Direkt gegenüber vom Eingang des anvisierten Zimmers stand Midian. Genau genommen lehnte er entspannt an der Wand und sagte: „Hey“.

Wollte er zu ihm? Gerade nach ihrem letzten Wortwechsel war die Aussicht auf ein neues Gespräch unter zwei Augen höchst beunruhigend. Na schön, disziplinierte sich Alex selbst, ein bisschen knackiger Smalltalk und er hätte hier seine Schuldigkeit getan.

„Was macht der Kopf?“ Nach seiner spektakulären Kopf-trifft-Fußboden-Aktion müsste der Kleine dort oben ziemliche Schmerzen haben, wenn nicht sogar eine Gehirnerschütterung. Auf das Stichwort hob Midian gleich eine Hand an seinen Hinterkopf.

„Ich glaube, ihm wächst ein Zwilling.“

„In der Bar soll es Kühlakkus geben. Aber das weißt du wahrscheinlich besser als ich“, erklärte Alex zerstreut. Sein Benimmlächeln hielt dem Anblick der Untergrundschönheit nur kurz stand. Darum zückte er demonstrativ den Büroschlüssel und wandte sich um.

„Eigentlich wollte ich Sie fragen, warum Sie das getan haben“, sprach Midian schnell, indem er von der Wand nach vorne trat. „Für mich gelogen.“

„Ich weiß nicht, was du meinst“, versetzte Alex. Midian grinste und ging auf ihn zu, bis er vor ihm stand. Er war hager, womöglich noch nicht ganz ausgewachsen, und reichte Alex gerade bis zur Nasenspitze.

„Ich denke, Sie wissen verdammt gut, was ich meine.“

Dieses dominante Auftreten konnte nur bedeuten, dass er sein Gespräch mit Bob mitgehört hatte. Erschrocken versuchte Alex zu rekapitulieren, ob dabei vertrauliche Informationen geflossen waren, die Midian hätte belauschen können. Da sie bislang aber ohnehin noch weitestgehend im Dunkeln tappten, dürfte dies nicht der Fall gewesen sein. Und trotzdem, verdammt dumm, so eine Sache! Um sich vor ihm nicht noch weiter um Kopf und Kragen zu reden, wählte Alex nun den kurzen Prozess.

„Dass du zur Tatzeit beschäftigt warst, können neben dir zwei Personen bezeugen: Dein Sieben-Uhr-Freier und ich. Da es aber ziemlich unwahrscheinlich ist, dass dein Kunde extra herkommen und dein Alibi bestätigen wird, habe ich eingegriffen.“

„Und wie wollen Sie das bezeugen? Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie dabei gewesen wären“, spottete Midian und Alex wurde bewusst, dass er seine Kombinationsgabe wohl unterschätzt hatte. Sich auf die Zunge beißend, überlegte er fieberhaft nach einer geeigneten Formulierung für die nicht ganz unproblematische Tatsache, dass er fast eine Stunde auf dem Flur vor seiner Tür campiert hatte, was rückblickend eine völlige Idiotie gewesen war.

„Ich hatte noch etwas in deiner Ecke zu erledigen. Dabei bin ich zufällig einem Besucher von dir begegnet ... Jedenfalls überschneidet sich deine Aktivität mit dem Zeitpunkt des Verbrechens und das wär’s damit. Sofern du nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kannst.“ Nicht einmal er selbst konnte so richtig über diesen kläglichen Versuch eines Witzes lachen. Scheiße, war er nervös! Der Junge musste ihn bloß anschauen und schon wurden seine Knie weich.

„Keine Ahnung, was Sie mir damit sagen wollen. Aber ich schätze, ich bin Ihnen was schuldig“, folgerte Midian stirnrunzelnd aus seinem kruden Bericht.

„Nein, du bist ...“

Der andere ließ ihn nicht ausreden. „Zur Wiedergutmachung könnten wir doch einfach zusammen essen gehen“, schlug Midian vor. Alex brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er das ernst meinte.

„Kommt überhaupt nicht in Frage!“

„Stellen Sie sich nicht so an! Ich habe keine Lust, die ganze Zeit in Ihrer Schuld zu stehen.“

„Nein, danke“, wehrte Alex mit aller Bestimmtheit ab.

„Bitte!“ Midians beispiellose Augen zogen ihn in ihren dunklen Bann. „Sie gehen mit mir aus und im Gegenzug werde ich Ihnen alle Fragen beantworten, die Ihnen so auf der Seele brennen. Na, wie klingt das?“

Das war ein verlockendes Angebot. Alex zögerte.

„Welche Gewähr bietest du mir dafür?“

Der Höflichkeitsabstand zweier Fremder war danach schnell gebrochen. Midian kam ihm so nah, dass er ihn mit Leichtigkeit hätte küssen können. Stattdessen hob er nur den Kopf an Alex’ Ohr. Spitzen seines samtweichen Haares streiften dabei das augenblicklich hocherhitzte Gesicht des Ermittlers.

„Mein Wort. Und niemand hat es je bereut, mir vertraut zu haben.“

12

Mit einer verblüffenden Zielstrebigkeit hatte Midian auf Anhieb das wohl schäbigste Bistro der Stadt angesteuert. Dies war schon allein deshalb eine stolze Leistung, weil die Bude in einer mehr als abseitigen Geisterstraße lag.

Alex folgte ihm widerwillig. Tief durchatmend versuchte er, einen positiven Aspekt an diesem Date zu finden. Eigentlich wäre ihm schon sehr damit gedient, sein Totalversagen in Midians Zimmer durch etwas mehr Professionalität seinerseits auszubügeln. Was leichter gedacht als getan war, zumal er sich hier offensichtlich auf einem ihm feindlich gesonnenen Grund und Boden bewegte. Obwohl er vorsorglich einen Sicherheitsabstand zu Midian gehalten hatte, bemerkte er die Blicke der anderen Gäste gleich beim Eintreten in die verrauchte Stube.

Es gehörte gewiss nicht viel Fantasie dazu, Midian als Stricher abzustempeln. Damit war es nur naheliegend, ihn als den Älteren für seinen Freier zu halten. Das hatte Alex schon gewusst, als er an seiner Seite losgezogen war. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm in dieser Rolle gleich eine solche Missbilligung entgegenschlagen würde. Überdies schien es, als würden die Leute ihn als vermeintlichen Käufer noch geringer schätzen als seine Begleitung; eine Art der moralischen Hierarchisierung, die Alex prinzipiell sogar mit der Mehrheit vor Ort teilte.

Unterdessen hatte Midian einen Tisch in der Nähe der Tür gewählt, womit er mehr als einverstanden war. Im hinteren Bereich waren zwar noch zahlreiche Plätze frei, der Weg dorthin wäre allerdings zum Spießrutenlauf geworden. Nach einem finsteren Blick in die Runde vornehmlich älterer Herrschaften wandte sich Alex prüfend Midian zu. Dieser verzog keine Miene über das Aufsehen, das ihr Erscheinen sogar in einem drittklassigen Laden wie diesem erregte. Entweder war er längst abgehärtet oder er ließ sich sein Unbehagen lediglich nicht anmerken. Tatsächlich verspürte Alex erstmals eine enorme Hochachtung und sogar Sympathie für ihn. Nun, da sie quasi beide Geächtete waren. Und er fragte sich, ob Midian nicht womöglich genau diesen Effekt im Sinn gehabt hatte, als er ihn um ein Essen in der Öffentlichkeit gebeten hatte.

Umständlich schälte sich Alex aus seinem Mantel, ehe er sich endlich zu ihm an den Tisch setzte. Sein nervöses Verhalten bezog Midian offenbar gleich auf sich, womit er nicht ganz Unrecht hatte. Über sein blasses Gesicht ging sofort ein Lächeln.

„Ganz locker, ich fresse Sie schon nicht auf!“

Den Kommentar beantwortete Alex mit einem energischen Stuhlrücken. Erhitzt von all dem Adrenalin durch ihren wenig gastfreundlichen Empfang, öffnete er erst einmal seinen obersten Hemdknopf und raffte sich wie zum Kampf die Ärmel. Er konnte beobachten, wie Midians Augen den Bewegungen seiner Armmuskulatur folgten. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck größter Verzückung.

„Mir gefallen Ihre Arme“, gestand er freiheraus, während sein verhangener Blick wieder auf Augenhöhe hinauf wanderte. Konsterniert starrte Alex zurück. Bevor er auf das befremdliche Kompliment eingehen konnte, schlug Midian auch schon die geschminkten Augen nieder. „Ich empfehle Ihnen den Salatteller. Für den würd ich glatt morden.“

Das sagte er, ohne überhaupt einen Blick in die Speisekarte geworfen zu haben. Damit stand es außer Frage, dass er des Öfteren in dieser Spelunke verkehrte. Unauffällig sah sich Alex nochmals um. Inzwischen hatten die übrigen Gäste das Interesse an ihnen verloren. Nur ein Sturm im Wasserglas, nach dem man sich schnell anderen Dingen gewidmet hatte. Vielleicht war das ein Grund für Midian, diesen Ort ausgesucht zu haben. Allmählich legte sich seine Anspannung.r

„Ehrlich gesagt, ist es mir egal, was wir essen. Hauptsache, du ...“ Genau in diesem Augenblick trat der Wirt an ihren Tisch, ein verlebt aussehender Kerl, der erstaunlicherweise keinerlei Aufhebens um ihre denkwürdige Konstellation machte. Midian musste dem Mann seinen Menüwunsch schon gar nicht mehr nennen und bestellte für Alex einfach einen Salat mit.

„Du bist wohl nicht zum ersten Mal hier?“, sprach er seinen Gedanken laut aus.

„Gefällt’s Ihnen hier nicht?“

Auf die Schnelle ließ Alex die Holzdecke, Holzstreben und Holzpfeiler des rustikalen Baus vor seinen Augen vorbeifliegen. Fast schon provinziell sah es hier drin aus und zwischen den Zigarettenschwaden hatte sich eine ordentliche Portion Schimmelgeruch eingenistet. Er konnte sich kaum vorstellen, dass Midian den Laden aus optischen Gründen zu seinem Stammlokal auserkoren hatte. Falls er aber wirklich auf Dämmerstimmung stand, dürfte er sich im Dragon Cage richtig zu Hause fühlen.

„Doch, doch. Netter Laden“, beteuerte Alex etwas hilflos. Midian durchschaute seine Höflichkeit als glatte Lüge und grinste so heftig, dass seine Nasenflügel bebten.

„Ach ja, Sie finden es hier nett, Alex? Ich darf Sie doch so nennen?“

Dem unverbindlichen Tonfall konnte er mühelos ablesen, dass es sich bei der Frage um eine Floskel handelte. Was ihm allerdings große gedankliche Probleme bereitete, war die Tatsache, dass Midian seinen Vornamen kannte.