Foellig nerdiges Wissen - Jens Foell - E-Book

Foellig nerdiges Wissen E-Book

Jens Foell

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Beschreibung

»Fantastische Wissenschaft. Und verdammt unterhaltsam.« Mai Thi Nguyen-Kim Ob vergessene Lemuren-Arten, Müll auf dem Mond, Pandemie-Simulationen in World of Warcraft oder berüchtigte Zombie-Ameisen: Neurowissenschaftler Dr. Jens Foell widmet sich in 42 Kapiteln den nerdigsten Tatsachen aus der Welt der Wissenschaft. Und erklärt ganz nebenbei, wie Forschung funktioniert. Mit einem Vorwort von Dr. Mai Thi Nguyen-Kim - Nacktmulle: Warum sie keinen Schmerz spüren und wie man das ändern kann - John Wayne: Sind Zigaretten oder doch eine Atombombe an seinem Ableben schuld? - 4 Minuten, 33 Sekunden: Was soll die Stille? - Tetris: Wie man traumhaft besser spielt, ohne das Spiel zu kennen - Mexican Standoff: Endlich als Sieger vom Platz gehenEgal ob Chemie, Astronomie, Physik, Geschichte, Musikwissenschaft, Mathematik oder Informatik und egal, wie abseitig die Tatsachen oder absurd die Forschungen sind: Neurowissenschaftler und Science-Journalist Dr. Jens Foell schafft es, uns die wundersame Welt der Wissenschaft völlig neu zu erschließen. Und das auf phänomenal unterhaltsame Art. Denn eines ist klar, Nerds wissen einfach mehr vom Leben. Und wer noch keiner ist, wird es spätestens mit diesem unterhaltsamen Sachbuch werden wollen! Für mich geht es dabei vor allem um eine Leidenschaft für Dinge, die andere nicht interessieren. Dadurch ist ein Nerd eine Person, die sich eine Sache anschaut und darin mehr sieht als alle anderen. – Dr. Jens Foell

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Seitenzahl: 372

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Jens Foell

Foellig nerdiges Wissen

42 höchst zufällige und äußerst wissenswerte Tatsachen über unsere Welt, das Universum und den Nacktmull

Mit Illustrationen von Sina Loriani

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Intro

Kapitel 1 | Jett bags

Kapitel 2 | Substanz P

Kapitel 3 | Lemuria

Kapitel 4 | Corrupted Blood

Kapitel 5 | Mithridates VI.

Kapitel 6 | Bracewell-Sonden

Kapitel 7 | 4'33"

Kapitel 8 | Polyphem

Kapitel 9 | Schlafparalyse

Kapitel 10 | Ludditen

Kapitel 11 | Guanokrieg

Kapitel 12 | J’accuse

Kapitel 13 | Neotenie

Kapitel 14 | Spintriae

Kapitel 15 | O-Ring

Kapitel 16 | Quantenselbstmord

Kapitel 17 | Anterograde Amnesie

Kapitel 18 | Skeuomorph

Kapitel 19 | Schleimpilze

Kapitel 20 | Säulen der Schöpfung

Kapitel 21 | Conways Spiel des Lebens

Kapitel 22 | Blindsight

Kapitel 23 | libbu

Kapitel 24 | HeLa

Kapitel 25 | Ophiocordyceps unilateralis

Kapitel 26 | Antikythera-Mechanismus

Kapitel 27 | Syncytin

Kapitel 28 | Cocktailparty-Effekt

Kapitel 29 | Voyager Golden Record

Kapitel 30 | Benford’sches Gesetz

Kapitel 31 | SIV

Kapitel 32 | al-Chwarizmi

Kapitel 33 | Cutaneous Rabbit

Kapitel 34 | Tit for Tat

Kapitel 35 | Heiße Bienen

Kapitel 36 | Göbekli Tepe

Kapitel 37 | Chicxulub

Kapitel 38 | Mexican Standoff

Kapitel 39 | Galton-Brett

Kapitel 40 | Demodex

Kapitel 41 | Strategem 36

Kapitel 42 | 42

Literaturverzeichnis

Dank

Für Marisa, die sich diese ganzen Dinge bereits seit über zwanzig Jahren anhören muss. Nichts macht mir mehr Freude, als mit dir zusammen unsere kleinen Nerds großzuziehen.

Vorwort

von Mai Thi Nguyen-Kim

ACHTUNG: Bitte lesen Sie dieses Vorwort NICHT, wenn Sie dieses Buch bereits gekauft haben!*

 

Serendipity: finding something wonderful without looking for it

Es gibt im Englischen den schönen Begriff Serendipity. (Gut, es gibt auch den deutschen Begriff Serendipität, aber der ist halt nicht so schön.) Man spricht von Serendipity, wenn man etwas entdeckt, ohne danach gesucht zu haben. Oder etwas lernt, ohne dass man es ursprünglich wissen wollte. In meinen Augen ist das die beste und schönste Art, etwas zu entdecken oder etwas zu lernen, ich liebe es. Ich fühle mein Hirn regelrecht kribbeln, wenn ich in den Genuss von Serendipity komme. Und falls ihr euch unsicher seid, ob ihr das auch schon erlebt habt, dann solltet ihr dringend ein wenig Zeit mit Jens Foell verbringen. Jens Foell ist Serendipity in Person.

»Ich hätte da noch einen Gedanken – stoppt mich, wenn er zu weit vom Thema wegführt …«, sagt Jens mindestens einmal pro Redaktionssitzung, bevor er dann etwas über den Quastenflosser erzählt. Oder über die Heilige Vorhaut. Oder von seiner Zeit im Knast. (Keine Sorge, es war nur ein Forschungspraktikum.) In 90 Prozent der Fälle sind sich danach alle – inklusive Jens – einig, dass dieser Gedanke definitiv zu weit vom Thema wegführt. Doch das gesamte Team liebt seine Ausführungen einfach zu sehr, um ihn zu stoppen.

Jens ist neben Lars Dittrich einer meiner zwei festen Mitarbeiter. Ich mache nichts ohne die beiden, und jeder, der mit mir zusammenarbeitet, versteht schnell, warum. Jens hat viele Stärken, aber eine, die man von einem promovierten Neuropsychologen, der eigentlich Professor geworden wäre (welch ein Verlust für Medienwelt und Öffentlichkeit das gewesen wäre!), vielleicht nicht erwartet, ist sein Talent, Menschen zu unterhalten. Seine Nerdigkeit ist fürchterlich ansteckend, ich kenne keinen Nicht-Nerd, der nicht in kürzester Zeit Jens’ Geek-Charme verfallen ist. Das MAITHINKX-Team war sich schnell einig, dass man den Rest der Welt am Phänomen Jens Foell teilhaben lassen muss – so entstand das Videoformat Foellig unnützes Wissen. »Mein Gesicht ist ja mehr für Audio gemacht«, sagte Jens. Ich sage, die Videos beweisen das Gegenteil.

Da das foellig unnütze Wissen in Jens’ Kopf schier unerschöpflich ist, war ein Buch der nächste logische Schritt. Wichtig finde ich dabei die Umbenennung in »Foellig nerdiges Wissen«, denn »unnütz« ist das Wissen höchstens auf den ersten Blick. Gut, braucht ihr die Fakten, die ihr hier lesen werdet? Werdet ihr dieses Wissen im Alltag anwenden? Nee. Doch genau darin liegt der Witz, würde Jens sagen. Schließlich ist das meiste, das wir am Leben schön finden, das meiste, was das Leben lebenswert macht, nicht das, was wir brauchen. Braucht man einen Sonnenuntergang über dem Meer? Nein, aber Menschen setzen sich dafür viele Stunden in Autos oder Flugzeuge. Braucht man eine Tomatensoße aus frischen, selbst geschälten Tomaten, die man fünf Stunden lang auf niedriger Hitze einköcheln lässt? Nein, aber ich lebe für so was. Braucht man das Wissen über den Cocktailparty-Effekt (siehe Kapitel 28)? Nein, aber es erweitert unseren kognitiven Horizont, und bestimmt schüttet das Hirn vor Freude auch noch etwas Dopamin aus, weil es etwas gelernt hat, was es eigentlich gar nicht wissen wollte. So oder so ähnlich würde Jens argumentieren.

Und ich stimme ihm da leidenschaftlich zu – auch wenn ich ihm gleichzeitig an einer Stelle widersprechen möchte: Sich dieses Buch durchzulesen, nützt durchaus etwas. Viel sogar. Jens schafft es nämlich, bei aller Leichtigkeit zwei fundamentale, sehr nützliche Erkenntnisse zu vermitteln:

Erstens: Wissenschaft ist keine dogmatische Faktensammlung, sondern lebt vom kritischen Denken und von wissenschaftlichen Methoden. Das vermittelt sich zwischen allen Zeilen dieses Buches – ganz nebenbei. In Kapitel 9 geht es um Aliens und wie sie mit uns sprechen – und ganz nebenbei darum, dass Wissenschaft bedeutet, sich vorwärts zu irren. In Kapitel 14 geht es um Sex-Münzen, die NSFW sind – und ganz nebenbei um das Aufstellen und Testen von Hypothesen. In Kapitel 39 geht es um den statistischen Unterschied zwischen Menschen und Legosteinen – und ganz nebenbei darum, wie gefährlich es ist, in der Wissenschaft Autorität und Kompetenz zu vermischen. Hierin steckt vielleicht sogar eine Steigerung von Serendipity: Nicht nur lernt man Dinge, die man ursprünglich gar nicht wissen wollte, sondern man lernt wahrscheinlich sogar Grundlegendes, ohne es zu merken.

Zweitens: Wissenschaft existiert nicht im Vakuum, sondern ist immer im Kontext von Gesellschaft, Politik und Ethik zu verstehen. Dass Wissenschaft neutral sein soll, frei von jeder Ideologie, ist natürlich anzustreben. Zu glauben, dass sie tatsächlich neutral sein kann, ist allerdings naiv. Denn Wissenschaft wird von Menschen gemacht, die bekanntlich nicht neutral sind – wie man in diesem Buch auch immer wieder sehen wird. Wir nutzen außerdem Wissenschaft, um unser Leben zu verbessern oder zu erleichtern, sodass Wissenschaft zwangsläufig aus ihrer komfortablen Neutralität in die Gemengelage gesellschaftlicher und politischer Interessen gezogen wird. Inwieweit wissenschaftliche Anwendungen der Menschheit nützen oder schaden – seien es Impfstoffe, Grüne Gentechnik oder selbstfahrende Autos –, ist nie eine rein wissenschaftliche Entscheidung, sondern muss von der Gesellschaft ausgehandelt werden. Das ist nur möglich, wenn man Wissenschaft, Ethik und Politik nicht künstlich trennt, sondern die Grenzgebiete ganz besonders sorgfältig ergründet.

Jens macht das mit Leidenschaft. Damit bricht er das Nerd-Klischee des Fachidioten mit Scheuklappen, der sich nur für das eigene Fachgebiet interessiert und nie nach links oder rechts schaut. Dass er sich selbst als Nerd bezeichnet, ist wichtig für alle, die sich – noch – nicht als Nerds sehen. Die vielleicht auch – noch – nicht verstehen, warum sich irgendjemand gerne als Nerd identifiziert, weil sie – noch – nicht verstehen, dass hinter dem socially awkward-Klischee eine sehr schöne Lebenseinstellung steht. Nämlich eine unstillbare Neugier, auch für alles, was auf den ersten Blick nichts nützt, von Aristoteles bis Zombiefilm. Eine Freude an komplexen Zusammenhängen statt an vereinfachten, verkürzten Antworten. Und das Glück, das man im Hirn kribbeln spürt, wenn man etwas Spannendes oder Witziges gelernt hat, das man ursprünglich gar nicht wissen wollte.

 

Also, liebe Nerds und alle, die es werden wollen: Viel Spaß und Hirnkribbeln mit diesem fantastischen Buch!

 

* See what I did there? Ein psychologischer Trick. Jens ist hoffentlich stolz auf mich. Tatsächlich richtet sich dieses Vorwort in erster Linie an alle, die sich hier gerade im Laden durchblättern oder bei einem umstrittenen Onlinekonzern, der sich auf Mamasohn reimt, auf »Blick ins Buch« geklickt haben, um zu entscheiden, ob sie dieses Buch kaufen sollen. (Die Antwort ist JA!) Aber ich will niemanden ausschließen.

Intro

Was einen Nerd ausmacht

Was ein Nerd ist, wird seit jeher ganz unterschiedlich interpretiert. Für den Duden etwa, in den der Begriff im Jahr 2004 Eingang fand, ist das »jemand, der für ein spezielles Fachgebiet besonders großes Interesse zeigt und viel Zeit damit verbringt«. Auf Wikipedia findet man Beschreibungen von »Streber« bis »Individualist«. Und eine allgemein akzeptierte Übersetzung hat sich ebenfalls niemals wirklich herauskristallisiert. Frühe Beispiele sind »Freak« oder »Eierkopf« (wie in Jurassic Park oder Die Rache der Eierköpfe), und noch 2010 nannte Professor Farnsworth in einer Futurama-Folge eine Gruppe »these nerds« und im Deutschen »dieses Pack«.

Für mich verbindet sich mit dem Begriff eine ausgeprägte Leidenschaft für Dinge, die andere eher nicht so interessieren. Ein Nerd ist eine Person, die eine Sache gründlich betrachtet und mehr darin sieht als der unauffällig veranlagte Mensch neben ihm. Dieser schaut sich einen Regenbogen an und findet ihn schön; ein Physik-Nerd findet ihn schön und weiß gleichzeitig darüber Bescheid, wie ein Prisma einen Lichtstrahl in ein buntes Spektrum verwandelt. Ein Film-Nerd findet eine Szene nicht einfach nur spannend; er bemerkt auch, mit welchen Mitteln die Spannung erzeugt wird, etwa durch die Kameraführung. Der Nerd hat in seinem Bereich also etwas mehr Kenntnisse. Dieses Wissen ist nicht notwendig fürs Leben und gleichsam überschüssig: Man braucht es nicht, um die Schönheit des Regenbogens oder die Spannung des Films genießen zu können. Der Nicht-Nerd macht nichts falsch, auch wenn es immer arrogante Nerds gibt, die das denken. Nein: Das Wissen, das dem Nerd so viel Freude bereitet, ist zunächst mal bedeutungslos und zufällig.

Nun gibt es sehr viel unnützes Wissen. Damit es nerdig wird, muss es etwas darüber hinaus leisten: Es eröffnet eine neue Sicht auf die Welt. Nerdiges Wissen erweitert nicht nur meine Kenntnisse, sondern verändert auch meine Perspektive. Und es verleitet zu immer neuen Anschlussfragen. Ein Beispiel: Wenn mir jemand sagt: »Der Mond hat eine Masse von 73 Trillionen Tonnen«, dann ist das zwar wunderbar random, aber es vermittelt mir nicht wirklich eine neue Einsicht über die Welt. Denn dass der Mond verdammt schwer ist, habe ich mir schon vorher gedacht, und die genannte Zahl habe ich bis morgen wieder vergessen. Wenn mir aber jemand sagt: »Auf dem Mond liegen Golfbälle«, dann macht mich das stutzig. Warum liegen die auf dem Mond? Hat da etwa jemand Golf gespielt? Und wieso wurden die Bälle nicht als Andenken wieder mit auf die Erde genommen? Womit wir schon mittendrin wären im Kosmos nerdigen Wissens.

Kapitel 2 | Substanz P

Warum der Nacktmull keinen Schmerz spürt

Als Liebhaber:innen von Nerd-Wissen kennt ihr den Nacktmull eventuell bereits – während ich wette, dass ihr noch nie etwas von Substanz P gehört habt. Aber eins nach dem anderen.

Der Nacktmull ist mit das Skurrilste, was im Tierreich unterwegs ist. Zunächst mal sieht der Nager aus wie ein, nun ja, Penis mit Hasenzähnen. Er lebt in Höhlenkolonien in Ostafrika und fügt sich in eine soziale Staatsorganisation ein, die man von Bienen oder Termiten kennt, aber nicht von Säugetieren. Die Kolonie ist eine Monarchie, regiert von einer Nacktmull-Königin. Ihr Blut kann Sauerstoff so gut binden, dass Nacktmulle eine halbe Stunde ohne Atmen auskommen. Das hat sich vermutlich entwickelt, damit sie besser in ihren tiefen Höhlensystemen klarkommen, aber für putzige kleine Astronauten-Mulle wäre das ebenfalls ein wertvoller Vorteil. Wie auch, dass sie nicht trinken müssen – ihnen genügt die Flüssigkeit in der Festnahrung – und ihre Zellen außergewöhnlich krebsresistent sind. Denn bei langen Aufenthalten im Weltraum ist Krebsanfälligkeit aufgrund der kosmischen Strahlung immer ein großes Thema.

Bekannt ist der kleine Tausendsassa noch für etwas anderes: Er spürt keinen Schmerz. Zumindest hört man das immer wieder so. Tatsächlich ist die Sache, wie alles beim Thema Schmerz, ein klein wenig komplizierter. Ich habe jahrelang in der Schmerzforschung gearbeitet und mich viel mit der Frage beschäftigt, was Schmerz eigentlich ist und wie er im Gehirn funktioniert. Man sollte meinen, es sei alles ganz simpel: Schneide ich mir aus Versehen in den Finger, dann melden spezielle Nervenzellen den Schaden an mein Gehirn. Das jagt einen großen Schrecken durch meinen Körper, damit ich den Finger ganz schnell zurückziehe und am besten noch laut schreie, sodass Mitmenschen zu Hilfe eilen. Da das möglichst schnell gehen soll, werden die Nervensignale im Gehirn ohne Schnörkel verarbeitet, zack, zack.

Nun gibt es aber verschiedene Nervenfasern für verschiedene Arten von Schmerz. Der schnelle, spitze Schmerz sagt mir, dass ich eine Schnittwunde habe. Der langsame, dumpfe Schmerz, der hinterherkommt, gibt mir Informationen darüber, wie schlimm und tief die Verletzung ist. Beide Schmerzarten kommen auf unterschiedlichen Nervenwegen im Gehirn an. Dort werden die Signale gezielt verteilt. Ein Hirnbereich beschäftigt sich damit, wo genau auf der Körperoberfläche das Problem vorliegt, ein anderer kümmert sich um die emotionale Bewertung des Schmerzes, und so weiter.

Aufgrund dieser komplexen Verarbeitung löst die gleiche Verletzung nicht immer das gleiche Schmerzerleben aus. Soldaten, denen im Krieg ein Bein abgeschossen wird, spüren dabei oft gar keine Schmerzen, ihr Gehirn hat in dem Moment einfach Wichtigeres zu tun. Hinzu kommt das Fehlen dessen, was wir Adaptation nennen: Bei allen anderen Sinnen – ja, Schmerz ist ein waschechter Sinn wie Sehen und Hören – passen wir uns an die Umgebung an. Ein heller Raum erscheint nach einem kurzen Moment weniger hell, weil sich die Augen daran gewöhnen; das gleichmäßige Summen des Kühlschranks wird von unserem Gehör komplett ausgeblendet, weil es uns keine neue Information liefert. Aber wenn wir uns in einer Umgebung befinden, die Schmerz bereitet, und sie nicht gleich verlassen, nimmt der Schmerz zu. Denn der Schmerz will nicht, dass wir uns an irgendwas gewöhnen. Der Schmerz will, dass wir unser Verhalten ändern, und zwar schnell.

Im Grunde ist unser Schmerzsystem, so komplex und sinnvoll es angelegt ist, ein Geniestreich. Allerdings geht in ihm auch oft genug etwas schief. Ein religiöser Mensch könnte denken, dieses System ist so genial, dass es nur von einem himmlischen Schöpfer stammen kann; aber wenn dem so ist, hat die Hölle das Konzept chronischer Schmerzen dazu beigesteuert.

Ihr habt schon mal gehört, unser Gehirn sei wie ein Computer und die Nervenzellen seien wie einzelne Bits oder Bytes, die sich elektronisch miteinander unterhalten. Das Bild ist nicht ganz falsch, aber genauer betrachtet kommunizieren die Hirnzellen mithilfe von Botenstoffen, den Neurotransmittern. Es gibt ganz verschiedene, mit unterschiedlichen Funktionen. Einer ist Substanz P. Die erwähne ich, weil der Nacktmull als einziges Säugetier nicht über sie verfügt. Der Nacktmull nimmt bestimmte Schmerzreize wie Verletzungen durch Stiche, Säure oder Hitze zwar wahr, aber vermutlich nicht als schmerzhaft. Er ist nicht komplett schmerzunempfindlich, aber für manche Dinge schon.

Warum er sich so entwickelt hat, ist schwer zu sagen. Es wird vermutet, dass es mit dem vielen CO2 in seiner Umgebung zu tun hat. Viele Spezies empfinden eine hohe Konzentration an Kohlendioxid als schmerzhaft. Möglicherweise hat die Evolution darauf reagiert, indem sie diese Art Schmerz beim Nacktmull einfach abgeschaltet hat. Aber wenn Substanz P ein Neurotransmitter ist, können wir sie dem Nacktmull nicht einfach geben, und dann spürt er den Schmerz? Kurze Antwort: ja. Wird ihm diese Substanz in die Wirbelsäule injiziert, reagiert der Nacktmull, etwa auf eine heiße Fläche unter der Pfote. Inzwischen gibt es noch weitere Ideen dazu, was an seinem Schmerzsystem so ganz anders sein könnte, Substanz P gilt nicht mehr als allein verantwortlich. Trotzdem: Der Gedanke, dass man eine Spezies den Schmerz lehren kann, indem man ihr etwas spritzt, klingt für mich schon extrem gruselig.

Ein Problem bei dieser Art Forschung ist, dass Tiere nicht sprechen können. Beim Menschen ist der verlässlichste Weg, Schmerzen zu messen – das ist jetzt kein Witz –, indem man einfach fragt: »Tut’s weh?« Wir haben noch keinen technischen Weg gefunden, Schmerz besser zu messen. Das macht seine Erfassung bei Tieren unheimlich schwierig. Klar, wir können aufs Verhalten schauen, aber eine offensichtliche Schmerzreaktion wie Schreien oder Weinen ist zunächst vorrangig ein Signal an andere. Ein Tier, das nicht im Rudel lebt, zeigt vielleicht keine ausgeprägte Reaktion, eine laute Schmerzreaktion könnte im Gegenteil Raubtiere anlocken. In diesem Fall sollte man am besten nicht mal bei der Kindsgeburt einen Mucks von sich geben. Alle, die den Film A Quiet Place gesehen haben, wissen Bescheid. Schon Jahrzehnte vor diesem (sehr guten) Film haben sich Schmerzforscher 29 verschiedene Primatenarten in Wildnis und Gefangenschaft beim Gebären angeschaut und sie nach der Lautstärke ihrer Verhaltensreaktion eingeteilt. Einer der wenigen lautlosen »Gewinner« war der schwarz-weiße Vari, eine Lemurenart aus Madagaskar.

Kapitel 3 | Lemuria

Warum sich die Wissenschaft einen Kontinent ausgedacht hat

Den Zoologie-Nerds unter euch ist im letzten Satz etwas aufgefallen: »Lemurenart aus Madagaskar« ist doppelt gemoppelt, denn Lemuren kommen ausschließlich auf dieser einen Insel vor. Das war nicht immer so, sie lebten auch mal in Atlantis. Also, nicht wirklich Atlantis, aber so was Ähnliches. Nur, dass sie da nicht wirklich lebten. Na, alle Klarheit beseitigt?

Lemuren sind total putzige kleine Primaten, von denen es über hundert Arten gibt, alle ganz unterschiedlich, aber durch die Bank total putzig. Früher gab es noch mehr, das Riesenfingertier zum Beispiel, von dem man heute nur ein paar einzelne Zähne und Knochen kennt. Oder den riesigen Archaeoindris, groß und schwer wie ein Gorilla. An sich ist das noch nicht beeindruckend – es gibt heute viele Tierarten, die früher mal deutlich größere Artgenossen hatten. Das gigantische Krokodil Deinosuchus hat den einen oder anderen Dinosaurier das Fürchten gelehrt und, wie Bissspuren belegen, durchaus auch mal gefressen. Und wenn ich durch die Zeit reisen könnte, würde ich als Allererstes Megatherium americanum besuchen gehen, ein Faultier so groß wie ein Elefant aus der letzten Eiszeit. Stellt es euch einfach als einen zu groß geratenen Cousin von Sid aus den Ice Age-Filmen vor.

Aber hier ist der Clou: Die Riesenlemuren verschwanden nicht vor Millionen oder Zehntausenden Jahren, sondern ab dem Moment, als Madagaskar von Menschen besiedelt wurde – ein Prozess, der erst vor gut 2000 Jahren begann.

Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkte die Wissenschaft, dass es Fossilien verschiedener Tiere, unter ihnen Lemurenarten, auf Madagaskar sowie in Teilen Asiens gab, aber nicht dazwischen, etwa im arabischen Raum. Ebenso stellte man fest, dass manche Einwohner Madagaskars viel mehr mit asiatischen Kulturen verband als mit afrikanischen – obwohl Afrika um ein Vielfaches näher liegt. Das zu erklären hat die Forscher damals ziemlich überfordert, denn zwei Dinge waren ihnen noch nicht bekannt: Das ist zum einen die Plattentektonik, also das Verschieben der Kontinente. Vor Millionen Jahren war Madagaskar von Indien losgebrochen und hatte bei seiner Drift Richtung Afrika die Fossilien mitgebracht. Zum anderen unterschätzten die alten Forscher die nichteuropäischen Völker; sie trauten ihnen nicht zu, dass sie den Ozean überqueren konnten, um Madagaskar zu besiedeln. Damals wie heute hatte die mitteleuropäische und angelsächsische Wissenschaft einen gewissen arroganten Bias, der auch mal wilde Theorien hervorbrachte. In diesem Fall: einen versunkenen Kontinent.

Dass sich die Kontinente verschieben, darauf war noch niemand gekommen, aber dass Landgebiete aus dem Wasser aufsteigen und wieder versinken konnten, war den Leuten bereits bewusst. Daher war schnell klar: Die plausibelste Theorie für die Parallelen zwischen Madagaskar und Asien musste eine inzwischen verschwundene Landbrücke sein, über die Lemuren wie Menschen hin- und hergereist sind. Zu Ehren der possierlichen Wanderer wurde dieser hypothetische Kontinent Lemuria genannt. Diese Idee kam 1864 auf, und bereits 1870 stand sie, Zitat, »außer Zweifel«. Auch der einflussreiche Forscher Ernst Haeckel wurde ein Riesenfan dieser Theorie und nahm an, dass der sagenhafte Kontinent auch der Ursprung des Menschen sei. Auf einer Karte von 1887 hat er die Routen eingezeichnet, auf denen sich die »12 Rassen der Menschen«3 von Lemuria aus über die ganze Welt verteilt haben sollen. Mit einem kleinen Fragezeichen versehen, verortet er auf diesem Kontinent auch das »Paradies«. Der Philosoph Friedrich Engels beschrieb gegen Ende seines Lebens in seiner Dialektik der Natur den Ursprungsort des Menschen als »wahrscheinlich auf einem großen, jetzt auf den Grund des Indischen Ozeans versunkenen Festlande« – die hypothetische Heimat der madegassischen Flauschzottel war ins alltägliche Wissenschaftsverständnis übergegangen.

Heute weiß man, dass das nur eine aus der Not heraus, wenn auch nicht lautlos geborene Theorie war. In Fantasy und Science-Fiction ist die Region allerdings nach wie vor beliebt: Hardcore-Fans von Marvel-Comics oder Perry-Rhodan-Heften dürften schon beim Lesen der Kapitelüberschrift leuchtende Augen bekommen haben. Dass ein Fehler der Wissenschaft die Popkultur beeinflusst, ist schon nerdig genug. Aber es gab auch schon den umgekehrten Fall.

Kapitel 4 | Corrupted Blood

Was die Epidemiologie von Videospielen lernen kann

Bestimmt profitiert die Forschung immer wieder von der Popkultur, nur kann man das im Einzelfall schwer dingfest machen. Hat zum Beispiel 2001: Odyssee im Weltraum moderne Raumfahrt-Designs inspiriert, oder ist ihr der Sci-Fi-Klassiker von 1968 nur aufgrund exzellenter Recherche sehr gut zuvorgekommen? Anders gesagt: Hätte sich die Raumfahrt ohne den Film ganz genauso entwickelt? Vielleicht ja, vielleicht nein. Der immer noch fantastische Film Jurassic Park soll eine komplett neue Generation von Paläontolog:innen inspiriert und damit das Forschungsfeld verändert haben. Aber dieser Einfluss ist unmöglich zu quantifizieren; als Wissenschaftler wäre ich da erst zufrieden, wenn wir als Kontrollgruppe eine Version unserer Realität hätten, in der es diese Filme nie gab, um zu schauen, wie sich die Wissenschaft dort entwickelt. Aber technisch sind wir noch nicht ganz an dem Punkt, wo wir für ein Experiment ein neues Paralleluniversum erschaffen können. Und selbst wenn, wäre es ethisch nicht zu vertreten, denn eine Welt ganz ohne großartige Filme wäre aus meiner Sicht kein wirklich lebenswerter Ort.

Kurzum: Üblicherweise ist es nur sehr schwer oder gar unmöglich festzustellen, welchen Einfluss die Popkultur auf die Forschung hat. Aber es gibt Ausnahmen wie den »Corrupted Blood«-Vorfall im Spiel World of Warcraft. Dies ist ein sogenanntes MMORPG (»Massively multiplayer online role-playing game«), was bedeutet: Man spielt es online mit vielen anderen Menschen und kann sich einen Charakter aufbauen, der sich im Lauf des Spiels entwickelt. Und Leute, man könnte ein ganzes Buch nur über abgefahrene Vorkommnisse in MMORPGs schreiben. Falls ihr den Begriff gerade zum ersten Mal gehört habt, dann glaubt mir einfach, dass es eine große Subkultur gibt, die euch bislang entgangen ist, mit eigenen Begriffen, Geschichten und Memes.

Diese Spiele sind darauf getrimmt, dass man möglichst viel Zeit online verbringt, mit anderen zusammen Pläne schmiedet, Handel treibt und Gegenden erkundet. Das macht Spaß und eröffnet Verbindungen zu Leuten auf der ganzen Welt, die dein Interesse an virtuellen Welten teilen. Die Stärke dieser Community ist besonders deutlich zu spüren, wenn ein großer Fan in der echten Welt ums Leben kommt, was schon zu beeindruckenden emotionalen Tributen von Spieler:innen und Spieleentwickler:innen geführt hat. Daran sieht man, dass es hier nicht vorrangig um die Freude am Ballern oder Zaubern geht, sondern um die Verbindung zu anderen echten Menschen.

Die Schattenseite davon ist, vereinfacht gesagt, dass diese Interaktionen zu einer Suchtentwicklung beitragen können. So für sich genommen ist das zu vereinfacht ausgedrückt – genau genommen sehen Forscher:innen die Ursache für problematisches Online-Spielen in einer Verbindung aus Depression, sozialer Angst und Einsamkeit, was zu dem Bedürfnis führt, aus dem Alltag auszusteigen und mehr Zeit mit den Online-Bekanntschaften zu verbringen. Und noch genauer genommen ist sich die Psychologie noch gar nicht ganz einig darüber, ob es problematisches Online-Spielen als eigenständiges psychologisches Problem überhaupt gibt.

Wenn das unklar und schwammig klingt, liegt es daran, dass die Mühlen der psychologischen Forschung meist sehr langsam mahlen. World of Warcraft ist schon fast zwanzig Jahre alt, in dieser Zeit kann man durchaus zu Ergebnissen gelangen; es gibt auch schon gute Studien dazu, aber generell empfiehlt es sich in der Psychologie, lieber noch ein paar Jahre länger an einem Thema zu forschen, anstatt vorschnell auf eine Trend-Diagnose aufzuspringen. Mit Sicherheit kann man sagen, dass bei Suchtverhalten, egal ob online oder offline, mehrere Dinge zusammenkommen: Nicht alle Menschen sind gleich anfällig für eine Sucht, bei niemandem ist diese Anfälligkeit zu allen Zeiten im Leben genau gleich, und manche Dinge können eher eine Sucht auslösen als andere.

Aber nun endlich zum »Corrupted Blood«-Vorfall, nach dem dieses Kapitel benannt ist: Bei World of Warcraft gibt es Missionen, die in der Gruppe gelöst werden müssen, und das Team aus Programmierer:innen baut ständig neue Aufgaben und Hindernisse ein, mit denen die Spielenden klarkommen müssen. Eine dieser neuen Herausforderungen war ein Endgegner namens Hakkar der Seelenschinder4, der 2005 ins Spiel kam. Ihn zu besiegen, war gedacht als eine ordentliche Challenge für Spieler:innen, die bereits ein recht hohes Level erreicht hatten. Zusätzlich zu seiner Kampfstärke setzte Hakkar eine Krankheit ein (im Englischen mit Namen Corrupted Blood), die von Spielfigur zu Spielfigur übertragen werden konnte und wichtige Lebenskraft abzog. Das sollte einen Knüppel in die Strategien der Spieler:innen werfen, die nun im Kampf auf Distanz zueinander gehen und zudem wertvolle Heilzauber einsetzen mussten, um die Krankheit auszugleichen.

Dann passierte es: Manche Nutzer teleportierten sich von Hakkar weg, als es ihnen zu heikel wurde. Andere brachten ihre Haustiere in Sicherheit (ja, bei dem Spiel kann man Haustiere haben). Das Problem: Beides führte dazu, dass die Krankheit sich über das Hakkar-Kampfgebiet hinaus verbreitete – etwas, das die Entwickler:innen des Spiels nie vorhergesehen hatten. Ein Erreger, der als Gefahr für starke Charaktere gedacht war, ging plötzlich in der wehrlosen Bevölkerung um. Und es kam noch schlimmer: Im Spiel gibt es NPCs (Non-Player Characters), Figuren, die vom Spiel selbst gesteuert werden und nicht von Spieler:innen. Von denen kann man zum Beispiel etwas kaufen, oder sie geben Tipps.5 Auch die konnten sich mit dem Erreger infizieren und ihn weitergeben, waren selbst aber unsterblich – also der perfekte Träger, zumindest aus Sicht der Krankheit.

Corrupted Blood war kein Zuckerschlecken. Erinnert ihr euch noch an den R0-Wert vom Beginn der Pandemie? Er gibt an, wie viele Leute im Schnitt von einer infizierten Person angesteckt werden. Fällt er unter 1, verläuft sich die Krankheit irgendwann im Sand. Es wird geschätzt, dass dieser Wert für Corrupted Blood bei etwa 100 lag. Genügend starke Figuren konnten abwarten und wieder gesund werden oder sich und andere heilen, aber schwächere Charaktere starben innerhalb von Sekunden daran. Spieler:innen berichteten von Leichen in den Straßen, während die Betreiber des Spiels (vermutlich panisch) nach Lösungen suchten. Schließlich änderten sie das Spiel so, dass Haustiere nicht mehr infiziert werden konnten.

Kurz darauf hörten sie von der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC: Sie interessierte sich für die genauen Verbreitungsdaten des Erregers in der Spielewelt. Das wirklich Interessante an dem ganzen Event war nämlich das Verhalten der menschlichen Spieler:innen: Manche derer, die eine stärkere Spielfigur besaßen, versuchten andere zu heilen oder wiederauferstehen zu lassen (aber da die Wiederauferstandenen sich erneut anstecken konnten, haben sie die Epidemie unter Umständen verlängert). Einige schwächere Charaktere stellten sich als Informanten zur Verfügung, um vor gefährlichen Gebieten zu warnen. Es gab auch Katastrophen-Touristen, die sich die Vernichtung in den Städten anschauten, ohne sich selbst anstecken zu wollen. Wieder andere flohen aus der Stadt aufs Land. Manche infizierten sogar absichtlich andere. Eine freiwillige Quarantäne, ausgerufen von den Spielbetreibern, schlug fehl, da sich nicht genügend Leute daran hielten.

Kommt euch hier etwas irgendwie bekannt vor? Einige dieser Dinge konnten wir während unserer eigenen Offline-Pandemie in der echten Welt erleben. Die Videospiel-Welt bot ein interessantes (wenn auch fehlerbehaftetes) Modell dafür, was passiert, wenn wir plötzlich mit einer neuen Krankheit konfrontiert werden und vor der Frage stehen, wie wir uns und andere schützen können. Wissenschaft und Videospiele – zwei der nerdigsten Dinge überhaupt – endlich vereint!

Natürlich sind Videospiele zuallererst ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Sie können aber auch lehrreich sein. Wenn ihr schon mal das 2004 erschienene Strategiespiel Rome: Total War gezockt habt, wisst ihr, dass es einmal ein Volk namens Pontier gab, das den Römern Probleme bereitete. Und bei der Rom-Erweiterung des generell extrem lehrreichen Spiels Europa Universalis kann man dieses Volk sogar selbst spielen und die anderen antiken Streitmächte herausfordern. So wie es das Reich Pontos in der Antike tatsächlich getan hat.

Kapitel 5 | Mithridates VI.

Wie John Wayne verstrahlt wurde

Pontos war ein Königreich am Schwarzen Meer, dessen letzter Herrscher Mithridates VI. sich gegen die Römer auflehnte. Der König war eine eindrückliche Gestalt, er führte sein Land erst zu seiner größten Ausdehnung und schließlich in den Untergang. Mithridates VI. soll allerhand beeindruckende Eigenschaften gehabt haben, und es ranken sich um ihn viele Mythen, die es teils schwer machen, Fakten und Fiktion auseinanderzuhalten. Klar ist, dass er das Römische Reich über drei Jahrzehnte hinweg herausforderte. Gleich zu Beginn dieser Mithridatischen Kriege, um 88 v.Chr., erzielte er überraschend einen militärischen Erfolg gegen das Weltreich und terrorisierte es buchstäblich: In einer selbst für die Antike besonders grausamen Aktion ließ er alle Römer in der Provinz Asia umbringen; sie ist heute als Vesper von Ephesos bekannt, was in meinen schwäbischen Ohren immer ein wenig nach gemütlichem Abendessen klingt. Den römischen Konsul Manius Aquillius, dessen Gier er als primären Kriegsgrund ansah, ließ Mithridates in einem öffentlichen Schauspiel exekutieren, indem er ihm geschmolzenes Gold in den Rachen schütten ließ.

Was Intrigen, Grausamkeiten und Überraschungen angeht, braucht sich diese Geschichte nicht vor dem Herrn der Ringe oder Game of Thrones zu verstecken, auch wenn sie leider ohne Drachen auskommen musste. Mithridates hatte (wohl berechtigte) Angst davor, von Feinden vergiftet zu werden, und begegnete dieser Sorge mit wissenschaftlichem Sachverstand: In allen Regionen, die er auf seinen Feldzügen kennenlernte, sammelte er lokales Wissen über Heilpflanzen und Gegengifte mit dem Ziel eines Mittels, das ihn langfristig immun gegen bestimmte Gifte machen würde. Dies war in der antiken Welt bereits als Theriak bekannt. Mithridates aber modifizierte und erweiterte diesen Ansatz so sehr, dass die bedeutendste Mischung, hergestellt aus 54 Zutaten, später Mithridatikum genannt wurde. Spannend dabei: Nicht nur Heilpflanzen wurden dabei vermischt, sondern auch kleine Mengen an giftigen Pflanzen sowie das Blut von Tieren, die als besonders resistent gegen Giftpflanzen galten. Es gab also schon vor über 2000 Jahren ein archaisches Verständnis über das Wirkprinzip von Impfungen und Antikörpern, die an andere weitergegeben werden können.

Nach dem Tod von Mithridates wurden seine Aufzeichnungen nach Rom gebracht und analysiert. Die Römer waren so beeindruckt von seinen Analysen, dass man (Jahre später) sogar Julius Cäsar mit Mithridatikum behandelte. Und dieses Wissen wirkt bis heute nach: Ich schaue mir gerade eine Website an, auf der man Theriak bestellen kann, allerdings nur aus lumpigen sieben Zutaten, das Kilo für 99 Euro (man bekommt 5 Euro Rabatt, wenn man den Newsletter abonniert).

Das Leben von Mithridates VI. war also spannender als die durchschnittliche Netflix-Serie. Aber warum hört ihr dann gerade zum ersten Mal von diesem König? Warum ist er nicht genauso ein Teil des öffentlichen Geschichtsverständnisses wie, sagen wir mal, Hannibal?

Falls dieses Buch so etwas wie eine Kernfrage hat, dann sind wir eben auf sie gestoßen: Wieso gilt die eine Tatsache als »wissenswert« und die andere nicht? Wenn uns jemand sagt, er weiß nicht, wer Hannibal sein soll oder wie viele Gebote es in der Bibel gibt oder ob die Erde hohl ist, dann denken wir, er macht wahrscheinlich Witze. Aber wenn jemand nicht weiß, dass es Mithridates gab oder wie viele Grundkräfte der Physik es gibt oder warum es im Sommer wärmer ist als im Winter6, dann ist das vollkommen in Ordnung. Muss man nicht wissen.

Warum gehört das eine zur Allgemeinbildung und das andere nicht? »Unnütz« im engeren Sinne sind diese Fakten alle. Ich kann ein erfülltes Leben führen, reisen, arbeiten und lieben, ohne zu wissen, dass die Erde einen festen Kern besitzt oder wer den Verbrennungsmotor erfunden hat. Die allermeisten Informationen sind für unser Leben zunächst nicht von praktischer Bedeutung. Vielleicht komme ich mir toll vor, wenn ich weiß, welcher Philosoph des 17. Jahrhunderts anonym das Werk Zwei Abhandlungen über die Regierung veröffentlichte. Andere wissen dafür, wie der Charakter in Lost heißt, der nicht mehr gehen konnte, seitdem er im schönen Tallahassee aus einem Fenster geworfen wurde.7 Das eine sorgt in gebildeter Runde sicherlich für mehr Eindruck, aber für das echte Leben ist beides gleichermaßen verzichtbar.

Das meiste Wissen ist also unnütz, aber manches »muss man trotzdem wissen«. Wer über zu wenig Allgemeinbildung verfügt, gilt als weltfremd, faul oder dumm. Aber wenn uns bewusst wird, wie willkürlich diese Einteilung ist, dass der eine Künstler, die eine antike Zivilisation, das eine literarische Werk nicht wirklich wichtiger zu kennen ist als jemand oder etwas anderes, dann hilft uns das vielleicht, offener und toleranter zu sein. Anstatt zu denken: »Oh wow, wie kann man durchs Leben gehen, ohne zu wissen, was X ist«, denken wir doch lieber: »Oh wow, diese Person weiß nicht, was X ist – ich frage mich, was sie stattdessen gelernt hat, das mir bislang durchgegangen ist.«

Man darf dabei nicht vergessen, wie sehr der Kanon der Allgemeinbildung kulturell geprägt ist. Dort, wo Mithridates regiert hat, ist sein Name auch heute noch bekannt. Und manches Wissen gilt nur deswegen als obskur oder nerdig, weil es aus einem Teil der Welt stammt, der uns weitgehend unbekannt ist. Ignoranz und Arroganz können dabei unbewusst eine Rolle spielen. Ein Fakt wird nicht nur deswegen automatisch unnötig oder abseitig, weil er sich außerhalb meiner Alltagswelt abspielt. Vielleicht ist er für jemand anderen genau das, was »man wissen muss«.

Nehmen wir Temüdschin. Den kennt ihr ja alle. Was? Ihr kennt Temüdschin nicht? Unsinn! Über den gibt’s sogar mehrere Hollywoodfilme. In einem wurde er von dem bekannten Western-Darsteller John Wayne gespielt! Und es gibt eine vierzig Meter hohe Statue von ihm! Der muss euch doch ein Begriff sein! Nein, da klingelt nichts? Keine Sorge, ihr habt ja mich:

Temüdschin wurde in ein hartes Nomadenleben hineingeboren. Seine Mutter war von seinem Vater entführt worden, der sie zu seiner Hauptfrau nahm. Nichts Ungewöhnliches: Auch Temüdschins Frau Börte – mit der er verlobt wurde, als er neun und sie zehn Jahre alt war – wurde von einem anderen Stamm entführt, und Temüdschin musste sie retten. Kurz darauf brachte sie ihren ersten Sohn zur Welt – und zwar so kurz darauf, dass nie endgültig geklärt wurde, ob Temüdschin sein Erzeuger war. Der Sohn bekam den Namen Dschötschi, »der Fremde«, Temüdschin behandelte ihn dennoch mit allem Respekt, der dem Erstgeborenen gebührte.

Aber ich greife vor. Als Temüdschin zwölf Jahre alt war, wurde sein Vater vergiftet und die Familie verstoßen. Temüdschins älterer Halbbruder wurde das neue Oberhaupt, bis er nach einem Konflikt von Temüdschin und einem anderen Bruder getötet wurde. Und ganz nebenher wurde auch Temüdschin selbst entführt und als Sklave gehalten, bis er flüchten konnte. Nach all dieser Leiderfahrung setzte er sich insbesondere für zwei Dinge ein: die örtlichen freundlichen Stämme zu vereinen und sich so hart wie möglich an den verfeindeten Stämmen zu rächen. Man kann nicht zu sehr betonen, wie gut das funktioniert hat. Der Stamm der Entführer seiner Hauptfrau sollte nicht mehr lange existieren. Temüdschin wurde zu einem großen Strategen und Feldherrn, der im Grunde die gesamte damals bekannte Welt eroberte (bis auf komplett wertlose und rückständige Regionen wie zum Beispiel Europa). Zuvor ließ er sich einen neuen Titel verleihen, der wahrscheinlich so etwas wie »Universalherrscher« bedeutet: Dschingis Khan.

So sieht’s aus: Der allseits bekannte Mongolenfürst Dschingis Khan hatte ein extrem spannendes frühes Leben. Meist aber hören wir ausschließlich von seinem späteren Wirken und allerhand Grausamkeiten. Oder davon, dass wir alle irgendwie von ihm abstammen sollen. Diese Behauptung wird von einer Studie aus dem Jahr 2003 wissenschaftlich unterfüttert. Sie analysierte das Erbgut von etwas über 2000 Männern aus dem asiatischen Raum, um eine Übersicht zu den Abstammungen der heutigen Bewohner verschiedener Regionen zu bekommen. Das Schaubild dazu löste Verblüffung aus: Neben den erwarteten Zweigen fand sich ein sogenanntes Sternen-Cluster, bei dem überzufällig viele Abstammungslinien auf denselben Punkt zurückgingen. Ein bestimmtes Genprofil kam häufiger vor, als zu erwarten gewesen wäre, etwa 8 Prozent der untersuchten Männer trugen es in sich. Hochgerechnet auf ganz Asien, musste es in etwa 16 Millionen Männern zu finden sein.

Wo kam dieses Genprofil her? Die Verteilung der verschiedenen Abstammungslinien deutete auf die Mongolei hin, und die Zahl der Generationen, die seit der Ursprungsversion vergangen sein mussten, ließ einen Ursprung vor rund 1000