Folge dem Ruf der Liebe - Karin Bucha - E-Book

Folge dem Ruf der Liebe E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. Der erste Blick, den Doktor Konrad Eisler, von seinen Freunden Conny genannt, in die »Ohio-Bar« wirft, trifft Susanna Holden. Es hat einige Schwierigkeiten gegeben, mit seinen Freunden jetzt noch in die Bar zu gelangen. Erst als ein Geldschein aus seiner Hand in die des brummenden Portiers wechselte, durften sie eintreten. Nur zu einem Mokka. Wenn es einen Liebesgott Amor gibt, dann hat er sofort seinen Pfeil abgeschossen und Doktor Eisler mitten ins Herz getroffen. Zögernd geht er der Gesellschaft voran. Er bemerkt nicht die Leere des guteingerichteten Raumes. Er sieht nur ein zartes blasses Gesicht, graugrüne Augen, in denen Verzweif­lung liegt, und er sieht einen betrunkenen Gast, der die zierliche Mäd­chengestalt gegen die Säule drückt, so daß sie keinen Ausweg weiß. Er sieht auch, wie der weiche Mund hastige Worte hervorstößt, die er nicht hört. Aber er hört das darauffolgende grölende Gelächter des Betrunkenen. »Lassen Sie mich los, hören Sie«, schreit Susanna Holden laut auf und versucht sich aus der Umklammerung des fremden Mannes zu lösen. »Sei doch nicht so albern, Kleine«, lallt der Mann. »Was hast du hier um diese Zeit zu suchen. Vermutlich ein Abenteuer. Das biete ich dir. Also los, sträube dich nicht…« »Laß die Frau in Ruhe!«

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Karin Bucha Classic – 17 –

Folge dem Ruf der Liebe

Karin Bucha

Der erste Blick, den Doktor Konrad Eisler, von seinen Freunden Conny genannt, in die »Ohio-Bar« wirft, trifft Susanna Holden. Es hat einige Schwierigkeiten gegeben, mit seinen Freunden jetzt noch in die Bar zu gelangen. Erst als ein Geldschein aus seiner Hand in die des brummenden Portiers wechselte, durften sie eintreten. Nur zu einem Mokka.

Wenn es einen Liebesgott Amor gibt, dann hat er sofort seinen Pfeil abgeschossen und Doktor Eisler mitten ins Herz getroffen. Zögernd geht er der Gesellschaft voran.

Er bemerkt nicht die Leere des guteingerichteten Raumes. Er sieht nur ein zartes blasses Gesicht, graugrüne Augen, in denen Verzweif­lung liegt, und er sieht einen betrunkenen Gast, der die zierliche Mäd­chengestalt gegen die Säule drückt, so daß sie keinen Ausweg weiß.

Er sieht auch, wie der weiche Mund hastige Worte hervorstößt, die er nicht hört.

Aber er hört das darauffolgende grölende Gelächter des Betrunkenen.

»Lassen Sie mich los, hören Sie«, schreit Susanna Holden laut auf und versucht sich aus der Umklammerung des fremden Mannes zu lösen.

»Sei doch nicht so albern, Kleine«, lallt der Mann. »Was hast du hier um diese Zeit zu suchen. Vermutlich ein Abenteuer. Das biete ich dir. Also los, sträube dich nicht…«

Gabriela, die schwarzhaarige, rassige Bardame, wirft einen Blick auf die beiden, dann ruft sie mit vor Ärger dunkel gefärbter Stimme hin­über:

»Laß die Frau in Ruhe!«

Zu einer Antwort kommt der Betrunkene nicht. Er fühlt sich zur Seite gerissen. So heftig ist Anprall und Griff, daß er zwischen die nächsten Tische taumelt und am Boden landet.

Doktor Eisler neigt sich über das todblasse Mädchengesicht.

»Kommen Sie«, sagt er barsch, und willig folgt Susanna ihrem Retter. »Wenn der Schuft wieder zu sich kommt, könnte es erneut einen Zwischenfall geben.«

Er geht an den Tisch, wo seine Freunde Platz genommen und die peinliche Szene verfolgt haben.

»Bestellt für mich auch einen Mokka«, sagt er kurz. »Bin sofort zurück.«

Er schiebt seine Hand unter Susannas Ellbogen und führt sie dem Ausgang zu.

»Wohnen Sie weit von hier?« fragt er. Jetzt schwingt in seiner Stimme Mitleid, denn das junge Mädchen kann sich kaum auf den Beinen halten. Es wankt, und schnell legt er den Arm um sie.

»Ich bringe Sie heim.«

»Nein, nein!« wehrt sie heftig ab. Doch sie hat nicht mit Doktor Eislers Sturheit gerechnet.

»Wohnen Sie weit von hier?«

»Zehn Minuten zu Fuß«, erwidert sie widerwillig. Er nimmt ihre Hand und zieht sie zu einem parkenden Wagen. Öffnet die Tür.

»Steigen Sie ein!«

»Aber – ich –«

»Steigen Sie ein«, wiederholt er geradezu unfreundlich, und Susanna gehorcht wortlos, nimmt Platz, schmiegt sich in das weiche Polster und blickt starr geradeaus.

»Sie müssen mir den Weg weisen.«

Kurz dirigiert sie ihn.

»Bitte, halten Sie hier«, sagt sie und schwingt sich aus dem Wagen.

Zögernd reicht sie ihm die Hand. »Ich – glaube, ich muß mich bei Ihnen bedanken.«

»Nicht nötig«, wehrt er ab, keinen Blick von dem durchsichtig zarten Mädchengesicht lassend, das von einer Fülle blonden Haares umrahmt ist. Kindhaft jung sieht sie aus. Nichts von Verderbtheit kann er an ihr feststellen, und doch möchte er gern wissen, was sie zu dieser Stunde in der »Ohio-Bar« zu schaffen hat.

Scheu reicht sie ihm die Hand, die er aufnimmt und festhält.

»Was haben Sie in der Bar zu suchen?« fragt er mit zusammengezogenen Brauen. Heftig entzieht sie ihm die Hand.

»Das – das ist meine Angelegenheit.« Ihre Augen verdunkeln sich. Ihre ganze Haltung drückt Abwehr aus.

»Schön«, sagt er gleichmütig. »Wenn Sie es nicht sagen wollen… Ich möchte Ihnen nur einen Rat geben, meiden Sie derartige Lokale. – Gute Nacht!« Er verneigt sich ironisch und hätte doch am liebsten über den gesenkten Kopf gestrichen. »Vielmehr – guten Morgen«, verbessert er und geht rasch auf seinen Wagen zu.

Nachdenklich fährt er zurück. Sie hat einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn hinterlassen.

*

Lähmende Stille liegt über dem weiten Rund des Gerichtssaales. Die etwas knarrende, durchdringende Stimme des Vorsitzenden klingt noch nach, mit der er das Urteil verkündet hat.

»… und so halten wir eine Strafe von drei Monaten Jugendarrest sowie anschließend Einweisung in eine Erziehungsanstalt für unbedingt nötig.«

Strafverteidiger Doktor Martin Wegner blickt gespannt hinüber zu Doktor Clemens, dem Mann, der die junge Angeklagte Susanna Holden verteidigt hat. Sein Gesicht trägt einen Ausdruck von Gleichgültigkeit. Jedenfalls scheint er von dem Urteil keineswegs überrascht.

Um so mehr ist er es, Strafverteidiger Doktor Wegner. Sein helles, wachsames Auge sucht die jugendliche Gestalt der soeben Verurteilten. Er hat sie während der ganzen Verhandlung nicht aus dem Auge gelassen. Er hat dieses blasse junge Gesicht studiert. Er hat keinerlei Angst in diesem jungen Gesicht gesehen, nur Trotz, manchmal etwas wie Nichtbegreifen, aber niemals Reue.

Doch jetzt wird dieses hochmütige junge Gesicht schneeweiß, und langsam, ganz langsam sinkt der blonde Kopf auf das Holzgeländer. Mitleid überschwemmt Doktor Wegner, wie er es schon während der ganzen Zeit mit ihr gehabt hat. Er fragt nicht danach, ob sie dieses Mitleid verdient, denn sie hat sich mit ihren Taten außerhalb der Welt gestellt, die von Gesetzen regiert wird.

Ganz genau glaubt er den Weg zu kennen, den diese junge Susanna Holden gehen wird. Auf ihrem weiteren Weg wird es kaum Liebe und Verständnis geben.

So tief ist er in seine Gedanken eingesponnen, daß er aus diesen erst erwacht, als der Saal sich zu leeren beginnt. Auch Susanna Holden hat man davongeführt. Nur Doktor Clemens ist noch da, packt seine Akten zusammen. Einen scheuen Blick läßt er in die Richtung gleiten, wo er immer noch den berühmten Strafverteidiger Doktor Wegner weiß. Rasch schließt er seine Aktentasche und kommt auf den sich langsam erhebenden Wegner zu.

»Nun, Herr Kollege?« Diese Frage klingt wie ein heimlicher Angriff. »Wieder einmal nicht einverstanden mit dem Urteil?«

Doktor Wegner schließt seine Robe und bückt sich nach seiner Mappe. »Allerdings«, sagt er knapp und müde. Er spürt nicht die geringste Lust, sich mit dem Kollegen in irgendwelche Diskussionen einzulassen. Viel lieber wird er versuchen, eine Unterredung mit diesem jungen Mädchen herbeizuführen.

Doktor Clemens nagt verdrießlich an seiner Unterlippe. »Sie müssen doch einsehen…«

Strafverteidiger Doktor Wegner legt dem etwas kleineren Mann die Hand auf die Schulter. »Später, Kollege, unterhalten wir uns einmal über diesen Fall. Jetzt bin ich in Eile.«

»Ja, dann Wiedersehen!«

Doktor Wegner eilt schnell davon, und Doktor Clemens zuckt mit den Schultern. Langsam verläßt er den Gerichtssaal.

*

»Was wollen Sie von mir?«

Susanna Holdens Augen funkeln Doktor Wegner böse an. Es ist ihm tatsächlich gelungen, mit ihr sprechen zu dürfen. Er übergeht ihre offensichtliche Verachtung, die ihm wie eine Woge entgegenrollt. Ruhig sagt er:

»Ich möchte Ihnen helfen.«

Ihre Augen weiten sich. Es sind schöne graugrüne Augen, dunkel umsäumt. »Sie – Sie möchten mir helfen?«

Und als er nickt, lacht sie kurz und hart auf. Auch dieses Lachen paßt nicht zu ihr. »Ich will aber keine Hilfe.«

In seinen hellen Augen steht ein leichtes Lächeln. »Und warum nicht?«

»Weil ich keinem Menschen zu Dank verpflichtet sein möchte. Meinen Weg finde ich auch ohne Hilfe.«

Er neigt die hohe Gestalt ein wenig zu ihr und fragt eindringlich: »Soll er in derselben Richtung verlaufen wie bisher?«

Ihr Gesicht überflutet dunkles Rot. Sie streckt die zierliche Gestalt und wirft das blonde Haar mit einer eigenwilligen Bewegung in den Nacken.

»Was habe ich schon getan? Die Schule geschwänzt, Entschuldigungsschreiben gefälscht und einen Fünfzigmarkschein aufgehoben, den ein anderer verloren hat, weil er zuviel davon besaß. Ich aber hatte Hunger, sehr großen Hunger, und habe mich einmal richtig sattgegessen. Wissen Sie überhaupt, wie Hunger weh tun kann?«

»Doch«, behauptet er sehr ernsthaft, »das weiß ich genau. Hätte ich Ihre Verteidigung bekommen, wäre das Urteil vielleicht anders ausgefallen.«

Wortlos, verstört schaut sie zu ihm auf. »Sie – Sie –«

»Ich bin Strafverteidiger«, erklärt er ihr gelassen. »Sie haben ausgesagt, Sie hätten zum erstenmal gestohlen. Ihre Mutter hat es anders behauptet.«

Wieder bäumt sich dieser junge Körper wie unter einem Angriff auf. »Nennen Sie diese alte Schlampe nicht Mutter. Man hat es mich gelehrt, Mutter zu ihr zu sagen. Als ich größer und verständiger wurde, begriff ich, daß eine richtige Mutter niemals so sein kann wie diese – diese –«

»Schlampe –«, hilft er ihr fast liebevoll aus.

Sie wendet sich hastig von ihm ab, Tränen der Wut steigen in ihren Augen auf. Er sieht, wie ihr Körper zittert. Auch ihre Lippen zittern, die rauh hervorstoßen:

»Sie – Sie machen sich nur lustig über mich, dabei – dabei –«

Sie verstummt, und er dreht sie wieder zu sich um. »Dabei – ?« fordert er sie zum Weitersprechen auf. »Was wollten Sie sagen?«

»Nichts!« kommt es kurz und ablehnend, und ihre Augen blicken ihn feindselig an.

»Sie haben kein Vertrauen zu mir«, stellt er mit ruhiger Sachlichkeit fest, und wieder ertönt dieses ihn schmerzlich berührende harte Lachen.

»Zu niemandem und zu keinem habe ich Vertrauen. Nur mir allein vertraue ich.«

»Haben Sie aus diesem Grund verbissen geschwiegen?« fragt er und hebt ihr Kinn etwas an. Sie kann seinen hellen Augen einfach nicht ausweichen.

»Was wissen Sie denn alle von mir?« Sie schnippt mit dem Finger. »Nichts, gar nichts. Sollen sie mich ruhig in eine Erziehungsanstalt schicken. Ich werde ihnen zeigen, was in mir steckt, alle, die mich heute vor Gericht verurteilt haben. Sie wissen nicht, wie ich mich nach – nach –« Wieder spricht sie nicht zu Ende, preßt die Lippen trotzig zusammen. Aber der Mann ihr gegenüber scheint ihre Gedanken zu erraten.

»Sie sehnen sich nach sauberen, geordneten Verhältnissen?«

Sie starrt ihn beinahe fassungslos an. Von allen ist sie nur herumgestoßen worden, lieblos und nach Laune. Man hat ihren jungen schwachen Körper ausgenutzt zu schwerer Arbeit. Man hat ihr den Schlaf geraubt. Und diese Frau, die sie niemals wieder Mutter genannt hat, nachdem sie ihre Schlechtigkeit erkannte, hat das alles verschuldet. Nur sie allein! Aber das wird sie keinem erzählen. Ganz gewiß nicht, nicht einmal diesem Fremden, der sich ihrer in einer bisher nicht gekannten Weise annimmt.

»Passen Sie auf, Susanna Holden.« Doktor Wegner legt leicht seine Hände auf ihre Schultern. »Meine ganze Liebe gehört unserer Jugend, zu der Sie gehören. Aus diesem Grund werde ich mich um Sie kümmern und alles versuchen, Sie vor der Erziehungsanstalt zu bewahren. Noch weiß ich wenig von Ihnen, und was ich zu wissen glaube, das habe ich mehr erahnt. Man soll der Jugend Verständnis und Liebe entgegenbringen. Das ist mein Prinzip. Nur aus diesem Grund bin ich Strafverteidiger geworden. Meistens setze ich mich für junge Menschen ein, weil ich ganz einfach an das Gute im Menschen glaube.«

Ihre Augen hängen atemlos an seinem Mund. Sie möchte aufweinen.

Aber sie unterdrückt das quälende Gefühl, gegen das sie schon die ganze Zeit über ankämpfen muß.

Sie will nicht weich werden.

»Ihre Mutter –«

»Sie sollen diese Frau nicht Mutter nennen«, fährt sie ihm leidenschaftlich ins Wort. Dann erschrickt sie selbst vor ihrer Heftigkeit.

Urplötzlich schießen die Tränen aus ihren Augen; verwirrt wischt sie diese mit dem Ärmel weg. »Ach, lassen Sie mich in Ruhe. Sie sind auch nicht anders als die anderen.«

Da ist sie wieder, die Schranke aus Trotz und Verachtung, die er schon ein wenig eingerissen hatte.

»Lassen Sie mich in Ruhe, bitte!«

Schluchzend rennt sie zur Tür, reißt sie auf und fällt dem im Gang auf und ab gehenden Beamten direkt in die Arme.

Strafverteidiger Dr. Wegner steht sekundenlang reglos und blickt auf die geschlossene Tür, lauscht den sich entfernenden Schritten.

Nicht das erste Mal hat er solche Szenen erlebt. Man muß viel Geduld mit diesen jungen Menschen haben, die verlernt haben, an Liebe zu glauben.

*

Nach dem langen, ereignisreichen Tag freut Doktor Wegner sich doppelt auf sein gemütliches Heim, das ihm immer wie eine Insel des Friedens vorkommt. Wenn auch darin das Kostbarste fehlt, die geliebte Frau. Dafür aber hat er seinen Sohn Peter, der ihn so sehr an die tote Frau erinnert. Er hat das feingezeichnete Gesicht seiner Frau geerbt, die klugen, gütigen Augen. Das dunkelbraune Haar. Von ihm hat er die hochgewachsene Gestalt.

Er findet, nachdem er sich erfrischt hat, Peter im Salon im Gespräch mit seiner Schwägerin Lydia, die nach dem Tod seiner Frau in sein Haus gekommen ist und Peter die Mutter zu ersetzen versuchte. Sie ist zierlich, wie es seine Frau war, und hat lockiges braunes Haar wie Peter. Sie ist lebendig und unbestechlich in ihrem Urteil. Sie hat für alles Verständnis, was mit dem Haus Wegner zusammenhängt, und sie ist eine tadellose Hausfrau. Sie hat verstanden, die gleiche Atmosphäre von Wärme und Behaglichkeit um sich zu verbreiten, wie einst seine Frau.

»Abend, Papa«, wird er fröhlich von Peter begrüßt. Auch Lydia ist überrascht, den Schwager so zeitig im Haus zu sehen.

»Hast du endlich genug Aktenstaub geschluckt?« erkundigt sie sich lächelnd bei ihm. »Dann wäre ja die ganze Familie einträchtig beisammen, und wir können zu Abend essen.«

»Das können wir, Ly«, erwidert Doktor Wegner und läßt sich neben seinem Sohn nieder. »Gib mir eine Zigarette, Peter.«

Peter bedient seinen Vater und dann sich selbst.

»Nun, wie war es heute, Papa?« Peter betrachtet forschend das müde und abgespannt wirkende Gesicht seines Vaters. Er fragt nicht nur aus Höflichkeit. Er weiß, daß sein Vater gern diese und jene Dinge, die mit seinem Beruf zusammenhängen, im Familienkreis bespricht. Vielleicht will er seinen Vater auch damit etwas entschädigen, daß er für den Beruf eines Anwaltes, viel weniger noch für den eines Strafverteidigers, nichts übrig hat. Er will Ingenieur werden, und Doktor Wegner hat es ihm gestattet, zumal er die natürlichen Fähigkeiten seines Sohnes erkannt hat.

Nach einem tiefen Zug aus der Zigarette wendet Wegner sich seinem Sohn aufmerksam zu. »Verzeih, Peter – mir geht da eine Sache durch den Kopf.«

Peter lacht. Er kennt solche Situationen zur Genüge. »Hast du wieder ein verlorengegangenes Schäfchen gefunden?«

»Noch nicht«, erwidert Doktor Wegner sehr ernst. »Aber ich werde mich weiterhin bemühen.«

Peter sieht nachdenklich dem Rauch seiner Zigarette nach.

»Ich weiß nicht, Papa –« Er zögert, nimmt einen kurzen Anlauf und spricht überlegend weiter: »Du machst dir so viel Mühe um diese jungen Menschen, die auf die schiefe Bahn gekommen sind. Ob du auch immer den Dank dafür ernten wirst?«

»Dank?« Doktor Wegner sinnt hinter diesem Wort her. Sein Mund verzieht sich zu einem nachsichtigen Lächeln. »Mein lieber Junge, wenn man an eine Sache herangeht, um dafür Dank zu ernten, soll man überhaupt die Finger davonlassen. Dank ist etwas sehr Schönes, gebe ich unumwunden zu, aber man soll nie damit rechnen. So erspart man sich auch die Enttäuschung. Man soll es einfach um der guten Sache willen tun.«

Peters helle Augen, die er von seinem Vater geerbt hat, sehen voll Liebe und Verehrung auf seinen Vater.

»Ob ich jemals so selbstlos handeln könnte wie du, Papa? Ich glaube es nicht. Ich bin aus anderem Holz geschnitzt. Ich bin egoistisch. Mein kleines ›Ich‹ bedeutet mir mehr als der Kummer der anderen –«

»Na, na!« beschwichtigt Doktor Wegner ihn. »Nun mach dich nicht schlechter als du bist, Peter.«

»Meinst du nicht, daß in jedem Menschen der sogenannte Schweinehund wohnt, der einmal, irgendwann zum Durchbruch kommt?«

»Natürlich bin ich der Meinung, Junge – aber dann wirst du ihn überwinden.«

Peter will zu einer Antwort ansetzen, als Tante Ly erscheint und zum Abendessen bittet. Doktor Wegner legt seine Hand um Peters Schulter.

»Komm, Peter, lassen wir Tante Ly nicht warten. Wir können uns später weiter unterhalten, obwohl wir uns doch eigentlich einig sind. Oder nicht –?«

Peter dreht das junge sympathische Gesicht lächelnd dem Vater zu. »Im allgemeinen ja, denke ich.«

Nach dem Abendessen zieht Doktor Wegner sich in sein Arbeitszimmer zurück. Es gilt für den morgigen Tag vorzuarbeiten.

Peter ist zu einem Freund eingeladen, und Tante Ly hat sich mit einem spannenden Kriminalroman – Kriminalromane sind ihre Schwäche – in ihr Zimmer zurückgezogen.

Eine wohltuende Ruhe herrscht im Haus. Doktor Wegner hat sie noch nie so stark empfunden wie an diesem Abend, der sich bis in die Nacht hineinzieht.

Kurz nach Mitternacht hört Wegner den Schlag eines Wagens zuklappen, helle Stimmen, fröhliches Gelächter.

Er lächelt vor sich hin. Peter ist von seinem Besuch heimgekehrt. Gähnend erhebt er sich. Nun kann er sich auch Ruhe gönnen.

*

Beim Frühstück treffen sie wieder zusammen.

»Nun«, richtet Doktor Wegner das Wort an seinen emsig kauenden Sohn, »wie war es bei Eislers?«

»Nett wie immer, Papa.« Peter reicht Ly die Tasse zum Nachfüllen. »Danke schön, Tante Ly. Du, Papa, ich habe gar nicht gewußt, daß du in Conny Eisler einen so leidenschaftlichen Verehrer hast.«

»Wie meinst du das?« fragt Doktor Wegner überrascht. »Ist der ruhige, besonnene junge Doktor Eisler überhaupt zu irgendwelchen Temperamentsausbrüchen fähig?«

Peter nickt heftig. »Und wie, Papa, vor allem, wenn es sich um seinen Beruf handelt. Wir hatten ein sehr langes Gespräch gestern. Dabei erfuhr ich, daß er, wenn es seine Zeit erlaubt, stets im Saal ist, wenn du deine berühmten Verteidigungsreden hältst. Er meinte, Doktor Clemens sei eine lahme Ente gegen dich. Du hättest dieses junge Mädchen bestimmt herausgehauen. Jawohl, Papa, genauso hat er sich geäußert.«

Doktor Wegner lächelt zufrieden. »Freut mich, dann will er wohl auch Strafverteidiger werden?«

»Ich glaube – ja.«

»Soso«, macht Doktor Wegner nachdenklich. »Gelegentlich werde ich mich mit diesem hoffnungsvollen Mann einmal intensiver befassen.«

»Du, Papa«, schlägt Peter begeistert vor, »da wäre doch zu meinem Geburtstag die beste Gelegenheit dazu. Wäre es dir recht, wenn ich meine Freunde dazu einlade?«

Doktor Wegner wechselt einen verständnisvollen Blick mit seiner Schwägerin. »Das wäre mir sehr recht, Peter. Ich hatte sowieso die Absicht, deinen ein­undzwanzigsten Geburtstag besonders festlich aufzuziehen.«

Impulsiv steht Peter auf und gibt seinem Vater einen leichten Schlag auf die Schulter.

Doktor Wegner bemerkt den Blick, den Ly hinter Peter her schickt. Es liegt viel freudiger Stolz in ihren Augen.

»Er ist wie ein großes Kind«, sagt sie und blickt in das interessante Gesicht Doktor Wegners.

Ein wenig verändert er den Ausdruck seiner Züge. Aus dem Lächeln wird ernste Nachdenklichkeit.

»Richtig, ein großes Kind ist Peter. Manchmal habe ich etwas wie Angst um ihn. Er weiß so wenig von der Schlechtigkeit der Menschen. Er glaubt bedingungslos an das Gute –«

»– weil wir es ihm vorleben«, unterbricht sie ihn schnell.

Er zögert und pickt mit dem Zeigefinger die Krümel auf seinem Teller zusammen.

Peter ist völlig kompromißlos. Er würde zum Beispiel nie Strafverteidiger werden können. Er könnte den Schwächen der Menschen keinerlei Verständnis entgegenbringen. Das weiß er selbst genau. Hoffentlich bleiben ihm Seelenkonflikte jeder Art erspart.«

Ly lacht belustigt auf. »Natürlich bleiben sie ihm erspart, Martin«, sagt sie mit Betonung. »Er wird seinen Doktor machen, wird eine gute Anstellung bekommen. Er wird einmal eine Frau aus der besten Gesellschaft heiraten, Kinder zeugen und glücklich sein.«

*

Das Haus Wegners inmitten des großen Gartens mit bunten Blumenrabatten, mit kurzgeschorenem Rasen, süß duftenden Büschen und alten schattenspendenden Bäumen, strahlt in festlichem Glanz.

In der Halle tanzt die Jugend nach den neuesten Platten. Weit sind die Flügeltüren zur Terrasse geöffnet. Die älteren Herrschaften haben sich in den anschließenden Gesellschaftsräumen niedergelassen. Alle Freunde des Hauses Wegner sind der Einladung gefolgt. Doktor Wegner hat sogar Peters Oma, die siebzigjährige Frau Justizrat Heine aus Bremen geholt, damit sie den Ehrentag ihres einzigen Enkels mitfeiern kann.

Sie ist eine vollendete Dame, klein, beweglich, mit lebhaften braunen Augen unter dem schneeweißen Haar. Sie fühlt sich im Hause ihres Schwiegersohnes Doktor Wegner sehr wohl, obgleich sie ungern ihr ebenfalls schönes Heim verläßt.

Peter ist für einen Sprung zu seiner Oma gekommen, die stolz in sein lachendes Gesicht blickt.

»Fein, Oma, daß du gekommen bist. Ohne dich wäre es halb so nett.«

Sie schiebt ihn von sich. »Geh, Peter«, sagt sie, und es blitzt dabei der Schalk in ihren Augen, »machst mir alter Frau noch Komplimente?«

»Aber Oma«, entrüstet er sich und wirft sich in die Brust. »Du weißt ganz genau, daß du die eigentliche Königin des Festes bist. Alle mögen dich gern, alle meine Freunde und –«

»– Freundinnen«, vollendet sie trok­ken.

»Auch die«, bestätigt er überzeugt. »Mir zu Ehren müßtest du einen Tanz wagen.« Er blinzelt ihr vergnügt zu. »Einen ganz langsamen Walzer. Was meinst du?«

Sie erhebt sich, und er hilft ihr höflich dabei. »Ich meine, wir sollten es einmal zusammen versuchen. Aber denke dabei an mein Herz, Junge.«

»Ganz langsam, Oma«, verspricht er und führt sie behutsam in die Halle. »Hallo, Conny«, ruft er hinüber zu seinem Freund, »einen langsamen Walzer für uns.«

»Sofort. Augenblick, Peter«, kommt es erfreut zurück. Die jungen Leute treten ehrfurchtsvoll vor dem ungleichen Paar zurück, und nach wenigen Minuten ertönt eine weiche, einschmeichelnde Melodie.

Peter macht eine vollendete Verbeugung. »Darf ich bitten, Oma?«

Sie nickt ihm strahlend zu und legt die Hand auf seinen Arm. Langsam beginnen sie die ersten Tanzschritte. Mit unvergleichlicher Anmut tanzt die alte Dame, sich der Führung ihres Enkels völlig überlassend.

Es ist ein ausnehmend schönes Bild. Peter hochgewachsen und die zierliche Frau im schlohweißen Haar.

Nur ein paar Runden drehen sie, dann gibt Peter sie frei. Die Gäste überschütten sie mit Beifall, so daß Agnes Heine errötet.

»Na, Oma«, Peter neigt sich tief zu ihr hinab, »war es nicht schön?«

Ihre Augen funkeln vor Freude. »Sehr schön, mein Junge. Nun lauf zu deinen Freunden. Ich werde mich einmal um deinen Vater kümmern. Ich glaube, er fachsimpelt wieder.«

Agnes Heine strebt sofort dem Herrenzimmer zu, wo sie ihren Schwiegersohn inmitten seiner Kollegen vorfindet. Sie läßt ihre Augen umhergleiten, überzeugt sich, daß es den Herren an nichts fehlt, und nimmt dann abseits Platz.

Immer, wenn sie im Hause ihres Schwiegersohnes weilt, wird sie von wehmütigen Gedanken überfallen. Niemand als ihm hätte man die Tochter lieber gegeben. Sie waren unsagbar glücklich, Martin und Inge, und Peter war sozusagen die Krönung dieser Ehe.

Immer sieht sie ihre Tochter vor sich, schön, anmutig, immer zufrieden und heiter. Aber Lydia hat Inges Stelle eingenommen, und sie steht dem Haushalt in vorbildlicher Weise vor. Warum Ly wohl nicht geheiratet hat? An Verehrern hat es ihr wahrhaftig nicht gefehlt.

Nun, so ausgeglichen Ly immer erscheint, irgendwo gibt es eine verwundbare Stelle bei ihr. Vielleicht eine unglückliche Liebe, über die sie schweigt?

Aufmerksam lauscht sie dem Gespräch der Herren, wie sie früher den Ausführungen ihres Gatten, des Justizrats Heine, gelauscht hat.

»Und ich sage Ihnen, Wegner«, hört sie Doktor Clemens sagen, »die Jugend kann nicht hart genug gestraft werden. Wohin soll es denn führen, wenn wir ruhig zusehen, wie unsere Jugend die Straßen unsicher macht, Autos stiehlt und Banken überfällt?« Beifallheischend sieht er sich in dem kleinen Kreis von Männern um. Auf Doktor Wegners gesenktem Gesicht bleibt sein Blick haften. »Die Härte des Gesetzes kann diese Außenseiter der menschlichen Gesellschaft nicht genug treffen.«

Alle im Kreis sehen auf Doktor Wegner. Sie wissen, daß es ein Wortgefecht zwischen den beiden Strafverteidigern ist. Und Doktor Wegner nimmt den Ball auf, den ihm sein Kollege zugeworfen hat.

»Zugegeben«, beginnt er in seiner bedächtigen Art, »daß sich keiner ungestraft außerhalb der menschlichen Gemeinschaft und ihrer Gesetze stellen darf. Aber was geschieht nach dem Strafvollzug? Warum reicht man den jungen irregeleiteten Menschen nicht die Hand? Warum überläßt man sie erbarmungslos ihrem Schicksal? Warum sieht man zu, daß sie abermals straffällig werden? Hier muß unsere Fürsorge einsetzen, und das mit aller Liebe.«

Ein mokantes Lächeln umspielt Doktor Clemens’ Mund. »Lieber Wegner«, beginnt er in einem salbungsvollen Ton. »Das ist doch nicht unsere Angelegenheit. Tun wir nicht ohnehin schon alles, um die straffällig gewordenen jungen Menschen möglichst billig davonkommen zu lassen? Sollen wir noch eine Wohlfahrtseinrichtung ins Leben rufen, damit sie auf Kosten der Allgemeinheit ein bequemeres Leben führen können?«

Doktor Wegner wirft einen schnellen, scharfen Blick auf seinen Gast. »Tun wir wirklich alles?« fragt er ruhig, und dabei meint er insbesondere seinen Kollegen. »Sie sprechen von Wohl­­fahrts­einrichtungen und vergessen dabei, daß auch die Jugend ihren Stolz besitzt. Sie will verstanden werden. Man muß alles tun, um sie auf den richtigen Weg zu führen. Aber man muß verstehen, sie zu überzeugen, daß es auch der richtige Weg ist.«

»Bravo!«

Alles dreht sich um zu der zierlichen Dame, die aufrecht in ihrem Sessel sitzt und Beifall klatscht.

Man erhebt sich und schart sich um sie. Nur Doktor Clemens bleibt mit verbissenen Zügen auf seinem Platz sitzen. Er hätte die Debatte gern noch weitergeführt, die alte nach außen hin zerbrechlich wirkende Dame hat ihm die Führung aus der Hand gerissen. Er weiß aber, daß sie alles andere denn zerbrechlich ist. In diesem zarten Körper steckt noch ein starker Wille.

Und noch jemand hätte gern »Bravo« gerufen, Doktor Konrad Eisler, der junge Rechtsanwalt.

»Aha, da ist ja mein junger Freund.« Conny, wie er allgemein genannt wird, dreht sich rasch um und begegnet den hellen Augen des Strafverteidigers Doktor Wegner. »Haben Sie ein bißchen Zeit für mich?«

»So viel Sie wollen, Herr Doktor«, erwidert Conny eifrig und folgt dem Hausherrn auf einen Wink hin auf die Terrasse. Es ist ein wundersamer, warmer Juniabend. Die Terrasse ist hell erleuchtet. In einer der gemütlichen Ecken lassen sie sich nieder.

»Zigarette?« Doktor Wegner hält seinem jungen Gast die goldene Dose entgegen.

»Danke sehr.«

Nach ein paar Zügen und einem kurzen Schweigen richtet Doktor Wegner das Wort an seinen Gast, den er ausgesprochen sympathisch findet mit seinen warmen braunen Augen, dem schlicht zurückgekämmten Haar, dem energischen Kinn und dem weichen, Güte und gesunde Sinnlichkeit verratenden Mund.

»Was macht der Beruf?«