Forever in Love - Keine ist wie du - Cora Carmack - E-Book

Forever in Love - Keine ist wie du E-Book

Cora Carmack

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Beschreibung

Dylan hat eine Schwäche für hoffnungslose Fälle und engagiert sich deshalb in den verschiedensten Protestbewegungen. Bis sie auf einer Demonstration festgenommen wird und für ein paar Stunden im Gefängnis landet. Dort lernt sie Silas Moore kennen, der ganz eigene Probleme hat. Eigentlich ist Silas überhaupt nicht ihr Typ, und doch fasziniert er sie. Als Silas seine Position im Footballteam der Rusk University zu verlieren droht, bietet Dylan ihm ihre Hilfe an. Und die beiden stellen fest, dass sich Gegensätze durchaus anziehen können.

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog Eine Woche später

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Die Autorin

Cora Carmack bei LYX

Impressum

CORA CARMACK

Forever in Love

Keine ist wie du

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Nele Junghanns

Zu diesem Buch

Partys, Alkohol, Sex … Dylan Brenner kann mit dem ausschweifenden Studentenleben ihrer Kommilitonen nicht viel anfangen. Sie verbringt ihre Freizeit lieber damit, sich zu engagieren. Ob Umwelt, Menschenrechte, Bildung oder Tierschutz, es gibt nichts, wofür Dylan nicht schon mal auf die Straße gegangen ist. Ihre Freunde ziehen sie damit auf, dass sie eine Schwäche für hoffnungslose Fälle hat, dabei verspürt Dylan einfach nur den Wunsch, die Welt Stück für Stück ein bisschen besser zu machen. Umso empörter ist sie, als sie während einer Protestaktion verhaftet und für eine Nacht ins Gefängnis gesteckt wird! Dort trifft sie auf den Footballstar Silas Moore, der in eine wilde Schlägerei verwickelt war. Silas ist der Inbegriff eines Bad Boy und eigentlich ganz und gar nicht Dylans Typ. Trotzdem herrscht von der allerersten Sekunde an zwischen ihnen ein heftiges Prickeln, und es besteht kein Zweifel: Die beiden werden sich wiedersehen. Nach und nach lernt Dylan, dass es zwei Seiten von Silas gibt: den selbstbewussten Weltklassesportler, den nichts und niemand erschüttern kann, sowie den jungen Mann, der alles daran setzt, die Schatten seiner Vergangenheit ein für alle Mal loszuwerden. Und ehe sie sich versieht, hat sie ihr Herz an beide verloren …

Kapitel 1

Silas

Das Blitzlicht einer Kamera blendet mich, als ich mich vorne im Raum auf meinen Platz setze. Ich rücke meinen Stuhl heran, und das Geräusch, als er über den Boden kratzt, reißt an meinen Nerven.

Ein zweiter Blitz. Dann ein dritter. Dann höre ich auf zu zählen. In meinem Nacken sammelt sich der Schweiß, und ich habe Mühe, noch langsam und gleichmäßig zu atmen.

Was für ein Scheiß.

Ich will nicht hier sein. Ich spiele Football, damit ich nicht denken oder reden muss. Generell rede ich lieber mit dem Körper, wenn irgend möglich.

Football. Fights. Ficken.

Damit kenne ich mich aus.

Hiermit nicht.

Der Coach hat sich endlich hingesetzt, und als er beginnt, zur Presse zu sprechen, spüre ich, wie die Anspannung in meiner Wirbelsäule nachlässt. Er sitzt in der Mitte, ich, Carson McClain, Jake Carter und Mateo Torres, die Anführer der Mannschaft, um ihn herum. Der Coach bringt das Vorgeplänkel hinter sich und fängt an, über seinen Plan für das Vorsaison-Trainingslager zu reden, während ich unsere Gruppe betrachte. Alle außer mir wirken ruhig. McClain ist ein verfluchter Chorknabe. Wahrscheinlich lebt er für solchen Mist. Torres ist noch keinem Streit begegnet, aus dem er sich nicht rausreden konnte, und keinem Rock, in den er sich nicht reinzureden versucht hat. Und Carter hat so viel Schwachsinn im Kopf, dass er kein Problem damit hat, die anderen damit zuzutexten. Und ich? Meine Hände zittern unter dem Tisch wie bei einem Junkie, der dringend einen Schuss braucht.

Wenn der Coach nicht so streng und wachsam wäre, hätte ich versucht, meine Nerven vor diesem ganzen Medienrummeltag ein bisschen mit Gras zu beruhigen. Aber nie im Leben hätte ich es an ihm vorbeischmuggeln können. Und seit Levi hopsgenommen wurde, versuche ich das zu lassen. Der Coach ist wie einer von diesen sadistischen Lehrern geworden, die liebend gern unangekündigte Tests schreiben lassen … nur dass es Drogentests sind.

»Wir haben ein junges Team. McClain und Moore haben beide noch zwei Jahre Spielberechtigung«, sagt der Coach, was mich schlagartig wieder in die Gegenwart versetzt. »Torres drei. Und es ist zwar Carters letztes Jahr mit uns, aber wir haben eine solide Gruppe von Linemen, die aufrücken. Wir haben unser Fundament, und ich denke, wir werden die Leute damit überraschen, was wir in dieser Saison aufbauen können.«

Der Coach stellt sich den Fragen, und obwohl ich weiß, was kommt, verkrampft sich mein Körper trotzdem bei der ersten.

»Coach Cole, Ihr Team wurde im letzten Jahr von einem Skandal erschüttert, nämlich der Verhaftung des Starting Quarterback, Levi Abrams. Trotzdem konnte die Mannschaft ein paar beeindruckende Siege einfahren, aber in der zweiten Saisonhälfte ist dann doch alles auseinandergebrochen. Wo steht Ihr Team im Moment mental?«

»Letzte Saison mussten wir aus dem Stegreif einiges lernen und herausfinden. Und unglücklicherweise gleichzeitig versuchen, Spiele zu gewinnen. Aber ich bin stolz auf die Saison, die diese Jungs hingelegt haben.«

Sein Ausdruck wird hart, und ich bin froh, dass ich nicht der Einzige bin, der ein finsteres Gesicht macht. Ich widerstehe dem Drang, die Flasche Wasser vor mir zu nehmen und sie nach dem Reporter zu schmeißen.

»Ich finde nämlich nicht, dass sie auseinandergebrochen sind. Die letzte Hälfte unseres Zeitplans war sicherlich anspruchsvoller, mit größeren und besseren Konkurrenten. Aber gewonnen oder verloren, die Mannschaft ist nie auseinandergebrochen. Sie hat jedes Mal bis zur letzten Sekunde gekämpft, und ich bin mir sicher, dass sie alles gegeben hat. Wo die Jungs jetzt mit ihren Köpfen sind, kann ich natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Aber ich weiß, wo ich ihnen rate zu sein.«

Ein Lachen geht durch den Raum, und derselbe Reporter sagt: »Carson McClain, möchten Sie das kommentieren?«

McClain beugt sich zum Mikrofon vor und sagt in aller Seelenruhe: »Die Mannschaft ist konzentriert. Wir haben in diesem Sommer konzentriert und hart gearbeitet. Wir sind bereit für das Trainingslager. Alles in allem sind wir fest entschlossen, dass dieses Jahr hauptsächlich darüber gesprochen wird, was wir auf dem Spielfeld tun, nicht außerhalb davon.«

Ein neuer Journalist meldet sich zu Wort. »Silas Moore, Sie waren eng mit Levi Abrams befreundet. Sie haben als Freshman mit ihm zusammen mit Redshirt zu trainieren begonnen. Wie ist es, ohne ihn zu spielen?«

Besser. Schlechter. Beschissen. Keine Ahnung.

Ich kann nicht über Levi sprechen. In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen, wenn ich über ihn nachdenke. Er hatte alles – eine gute Familie, Geld, ein Stipendium, Talent, Köpfchen –, und er hat es total vergeigt. Ich habe von alldem nicht halb so viel. Es ist ein Witz, dass ich überhaupt hier sitze. Wenn er es nicht packt, ohne abzukacken, wie viel Hoffnung hab ich dann?

Meine Hand zittert, als ich das Mikrofon zurechtrücke, und ich balle sie zu einer harten Faust. »McClain ist ein guter QB.« Der ganze Raum hält den Atem an, und der Reporter schaut mich erwartungsvoll an, und mir wird klar, dass ich mehr sagen soll. Mist. »Er ist ehrgeizig und konzentriert, und der Rest der Mannschaft arbeitet seinetwegen härter.«

Ich belasse es dabei, denn über Levi rede ich nicht. Als die Diskussion weitergeht, ist es, als hätte man mir einen Felsbrocken von der Brust gerollt. Ich habe kein Lampenfieber oder so was. Es ist nur … ich gehöre einfach nicht hierher. Und immer wenn wir so was hier haben, fühle ich mich, als würden die mich unter ein Mikroskop klemmen, und wenn sie mal richtig hinsehen, werden sie feststellen, wie sehr ich mich von diesen anderen Jungs hier unterscheide, und mir alles wegnehmen.

Ein anderer Reporter fragt mich, ob ich glaube, dass unsere Offense trotz des turbulenten letzten Jahrs (wer zum Geier sagt turbulent?) gut zusammengefunden hat.

»Ich denke schon.«

Wieder warten sie darauf, dass ich mehr sage, aber diesmal gebe ich ihren Blicken nicht nach. Wenn sie wollen, dass jemand munter drauflosplappert, hätten sie Torres fragen müssen.

Der Reporter stochert nach: »Was glauben Sie, wodurch das gelungen ist?«

»Harte Arbeit«, sage ich.

Mir wird nur noch eine Frage gestellt, und als ich wieder eine knappe Antwort gebe, fangen sie an, mich zu ignorieren, und halten sich an den Coach und die anderen Spieler. Endlich gelingt es mir, mich ein bisschen zu entspannen. Ich will nur noch nach Hause und das Wochenende damit verbringen, Dampf abzulassen, bevor am Montag das Vorsaison-Trainingslager beginnt.

Als die Pressekonferenz zu Ende ist, hole ich Torres ein, der diesen Sommer Levis WG-Zimmer übernommen hat.

Ich frage ihn: »Was dagegen, wenn heut Abend ’n paar Leute vorbeikommen? Sonst schick ich Brookes ’ne Nachricht, er soll es weitersagen.«

»Da fragst du noch? Ich bin ziemlich sicher, mein erstes Wort war Party.«

»Ich halte das für keine gute Idee«, sagt McClain, der sich im Gehen zu uns gesellt.

Torres stöhnt. »Jetzt lass uns doch auch unseren Spaß. Nicht jeder von uns hat das Glück, mit der Tochter vom Coach nach Hause zu gehen.«

McClain verpasst Torres einen Faustschlag gegen die Schulter, und ich sehe mich um und versichere mich, dass der Coach nicht in Hörweite ist. Nein. Er ist mit ein paar Presseleuten ins Gespräch vertieft. Als ich wieder zu Torres schaue, lässt er seinen Arm kreisen, als würde er versuchen, den Schmerz wegzutrainieren.

»Mann, QB. Wenn du schon bei ihrer bloßen Erwähnung so reagierst, wie soll ich denn dann die ganzen schmutzigen Witze loswerden, die ich auf Lager habe?«

Torres macht nur Spaß. Das wissen wir alle, aber McClain versteht keinen Spaß, wenn es um Dallas geht. Bei allem anderen ist er locker, aber nicht bei ihr. Vielleicht, weil er sich wochenlang anhören musste, wie Levi damit rumgeprahlt hat, dass er auf der Highschool mit ihr zusammen war (ja, okay, und wie ich auch ziemlichen Mist verzapft habe). Oder vielleicht wegen der ganzen Gerüchte, die es ihnen letztes Jahr für eine Weile vermasselt haben. Jedenfalls ist der Kerl heftig drauf, wenn es um sie geht. Heftiger als auf dem Spielfeld.

Wo er schon verdammt heftig ist.

»Reiß deine schmutzigen Witze doch über Carters Freundin«, sage ich.

Torres macht ein spöttisches Gesicht. »Carters Beziehungen werden schneller schlecht als das Essen in unserem Kühlschrank. Als würde ich mein Comedy-Gold dafür verschwenden.«

Carter gibt als Antwort nur ein Grunzen von sich.

»Und du.« Torres wendet sich an mich, »ich bin mir nicht mal sicher, ob du ohne Anfall bis zur dritten Silbe in dem Wort Beziehung kommen würdest.«

Ich verdrehe die Augen und lenke das Gespräch wieder auf wichtigere Themen. »Ich will mich heute Abend volllaufen lassen. Mir egal, ob zu Hause oder in der Kneipe. Aber der arme Torres hier ist noch minderjährig, ich versuche ihm also nur entgegenzukommen.«

»Du alter barmherziger Samariter«, sagt Carson. Er seufzt und fügt hinzu: »Haltet einfach den Ball flach. Den ganzen Morgen haben wir diesen Reportern erzählt, wie konzentriert wir sind. Seht zu, dass es nicht aus dem Ruder läuft.«

Sein Blick fällt erst auf Torres, dann auf mich.

Er versucht mir ein schlechtes Gewissen zu machen, damit ich zum Langweiler werde, aber da hat er sich geschnitten. Ich lasse mir kein schlechtes Gewissen machen. Ich mache, was ich will. Das Leben ist zu kurz und zu beschissen für irgendwas anderes.

»Oh, ich werde aus dem Ruder laufen, McClain. Verlass dich drauf. Wenn du uns vor Ärger bewahren willst, wirst du wohl selbst aufkreuzen müssen.«

Torres grinst. »Ja, und bring –«

Carson boxt ihm so hart in die Magengrube, dass er verstummt.

Er keucht ein paarmal, um es hochzuspielen, und sagt: »Chips, wollte ich sagen, Mann. Bring Chips mit.«

Die Party ist schon voll im Gange, als wir am Nachmittag nach Hause kommen. Offensichtlich bin ich nicht der Einzige, der etwas Entspannung gebrauchen kann. Im Garten haben sie eine Wasserrutsche aus Plastikfolie ausgerollt, und Mädchen tragen ihre Bikinis zur Schau. Ein paar Leute spielen Frisbee. Ich gehe direkt rein, um mir ein Bier zu schnappen und das Unwohlsein zu vertreiben, das mich nach dem Pressetag immer noch verfolgt.

Ich warte nach wie vor darauf, dass es weggeht. Dieses Gefühl, als würde jeden Moment etwas passieren. Aber nachdem ich es schon drei Jahre mit mir rumtrage, hat es keinerlei Anzeichen gezeigt, nachzulassen.

Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank, und schon als sich meine Finger um den kalten Flaschenhals legen, fühle ich mich etwas mehr in meinem Element. Als mein Bruder mir zum ersten Mal ein Bier in die Hand gedrückt hat, war ich zehn, vielleicht elf. Das ist meine Welt. Es ist das, was ich kenne. Heute muss ich mich darauf konzentrieren, das alles zu verdrängen, der Silas Moore zu sein, den die Leute beobachten und respektieren und von dem sie etwas erwarten. Der Silas Moore, der zählt.

Anscheinend mache ich meine Sache nicht besonders gut, denn mein Mitbewohner Brookes taucht neben mir auf. Ein dunkler Arm greift nach einem Bier, und er fragt: »Alles klar?«

Überaufmerksamer Wichser. Woher der bloß immer auf einen Blick weiß, was mir durch den Kopf geht, ist mir schleierhaft. Aber es gefällt mir nicht.

Es gibt einen Grund, warum ich mein Bestes tue, entspannt und lässig zu wirken. Wenn du aussiehst, als wäre dir alles scheißegal, löchern die Leute dich nicht mit Fragen, wie es dir geht. Sie löchern dich nicht mit Fragen, Punkt.

»Klar«, antworte ich und köpfe mein Bier an der Kante der Küchenarbeitsplatte. Ich nehme einen großen Schluck, stoße mit der Flasche in seiner Hand an und verschwinde aus der Küche, bevor er noch auf die Idee kommt, den Seelenklempner zu spielen.

Mein Handy summt, die dritte Nachricht in der letzten Stunde, und fast ignoriere ich sie. Ich weiß, von wem sie sein wird. Und genau deshalb bin ich gerade beschissen darin, Haltung zu bewahren … weil mein altes Ich zu nah an der Oberfläche ist.

Ich nehme stark an, dass der Pressekram heute Morgen mich irgendwie auf ihren Schirm gebracht hat. Vielleicht hat sie zufällig auf einem Regionalfernsehsender reingeschaltet oder einen Artikel im Internet gelesen, denn das Gesimse hat eine oder zwei Stunden nach dem Pressetermin angefangen.

Vielleicht haben alle abwesenden Moms Google Alerts für ihre Söhne eingerichtet. Oder meine hat einfach einen unheimlichen sechsten Sinn, der ihr verrät, wann ich ihre Aufmerksamkeit wert bin.

Das letzte Mal, als sie die Hand ausgestreckt hat, war in meinem Senior-Jahr auf der Highschool, als die Anwerber in Scharen kamen. Damals hat mir mein Coach den Rücken freigehalten. Solange er mich kannte, war sie nicht auf der Bildfläche erschienen, also hatte er auch kein Problem damit, sie von dem ganzen Vorgang fernzuhalten. Und da ich in meinem Abschlussjahr die meiste Zeit in Gästezimmern von Freunden oder Trainern gewohnt habe, konnte sie schlecht bei mir zu Hause aufkreuzen.

Aber jetzt liegt die Sache anders. Hier ist niemand, der mir den Rücken freihalten kann, weil es keiner weiß. Rusk ist eine Privatschule. Teuer und privilegiert. Die Leute hier gehen in der Regel davon aus, dass du aus einem Elternhaus wie ihrem kommst, und ich habe mir nie die Mühe gemacht, diese Annahme zu korrigieren.

Ich gehe raus auf die vordere Veranda, um dem Partygeschehen zuzusehen, und fische das Handy aus meiner Tasche, um zu sehen, was sie dieses Mal geschrieben hat.

Nur, dass die SMS gar nicht von meiner Mutter ist.

Sondern von Levi.

Fuck.

Ich habe also einen Menschen, von dem ich nichts wissen will, gegen einen anderen eingetauscht. Einen anderen, der in diesem Moment nicht mal Zugang zu einem Handy haben dürfte, weil er im Gefängnis sein müsste.

Ich lümmele mich auf das Geländer mit abblätternder Farbe und nachgebendem Holz, das unsere Veranda umgibt, und lese die Nachricht.

Bin draußen, Arschloch. Komm, schießen wir uns ab.

Er ist draußen? Ich rechne die Monate zurück. Letzten Herbst war er erwischt worden, als er Hasch vertickt hat, unter anderem, aber seine eigentliche Verurteilung kann nicht länger als sechs Monate her sein.

Sechs läppische Monate?

Wenn ich es gewesen wäre, hätte ich da drin mindestens ein paar Jahre vor mich hin gegammelt. Andererseits bin ich eben in einer Wohnwagensiedlung aufgewachsen und Levi in einem Haus, in dem die Badezimmer größer sind als mein altes Wohnzimmer.

Wenn man so aufgewachsen ist wie ich, braucht einem niemand zu sagen, dass die Welt ungerecht ist. Man kommt ziemlich schnell selbst drauf.

Eine Gestalt lässt sich neben mir am Geländer nieder, schlank und zierlich, und ich blicke rüber zu Stella Santos. Sie sagt: »Du siehst noch nachdenklicher aus als sonst.«

Ich sehe mich um und rechne damit, dass ihre beste Freundin Dallas an ihr klebt. Aber sie ist allein, was entweder bedeutet, dass Dallas und Carson noch nicht aufgetaucht sind, oder dass die Tochter vom Coach beschlossen hat, dass sie nicht mit mir reden will und sich rarmacht.

Wahrscheinlich Letzteres.

Ich schätze, wenn man versucht, ein Mädchen wegen einer Wette ins Bett zu bekommen, wird man so schnell nicht zu seinem Party-Buddy.

»Ich dachte mir, Mädchen stehen auf nachdenklich.«

Sie streicht sich das kurze schwarze Haar aus den Augen und nimmt einen Schluck aus einem roten Plastikbecher. Ihre Lippen sind in fast derselben Farbe angemalt, und sie spitzt sie, bevor sie antwortet: »Kommt auf die Situation an. Es gibt einen schmalen Grat zwischen nachdenklich und potenzieller Soziopath. Im Moment bewegst du dich genau auf dieser Linie.«

Sie rundet die kleine Stichelei mit einem verschlagenen Lächeln ab, und ich schiebe mein Telefon tief in meine Tasche, bereit, mich von ihr von meiner Mom, meinem ehemals besten Freund, überhaupt von allem ablenken zu lassen. Dasselbe Lächeln hat sie mir letztes Jahr auf einer Party zugeworfen, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich danach noch viel gegrübelt hätte. Zugegeben, ich erinnere mich nicht mehr an viel, außer dass sie herausfordernd war und wusste, was ihr gefällt – zwei Dinge, für die ich immer zu haben bin. Normalerweise hole ich mir bei meinen Aufrissen keinen Nachschlag, aber Stella ist anders. Sie wird nicht versuchen, etwas daraus zu machen, das es nicht ist. Ich weiß es zwar nicht mit Sicherheit, weil wir nicht darüber gesprochen haben, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir uns ähnlich sind … dass wir beide eine andere Seite der Welt kennen als alle anderen hier.

Mein Blick wandert an ihr hinunter, um sie auf mich wirken zu lassen, und ich deute mit dem Kopf auf die Wasserrutsche im Garten. »Wo ist dein Bikini?«

Sie verdreht die Augen. »Also bitte. Ich überlasse gern noch ein paar Dinge der Vorstellungskraft. So verzweifelt bin ich auch wieder nicht.«

Ich grinse. »Wer braucht Vorstellungskraft, wenn er Erinnerungen hat?«

Sie schubst mich. Oder versucht es zumindest, und ich muss lachen. Die Kleine ist so winzig, dass sie nicht die geringste Chance hat, mich zu bewegen.

Sie funkelt mich böse an, aber ihre vollen Lippen biegen sich an den Mundwinkeln nach oben.

Ich deute mit dem Kopf auf das T-Shirt und die Shorts, die sie trägt, und sage: »Du hast einen da drunter, oder?«

Sie sieht aus, als wollte sie mich wieder schubsen, tut es aber nicht. Stattdessen schnaubt sie und sagt: »Na schön. Stimmt. Aber ich bin nur leicht verzweifelt. Ein ganz, ganz kleines bisschen.«

»Dir ist schon klar, dass du die Hälfte der Typen auf dieser Party ohne Mühe haben könntest, oder?«

»Aber die Mühe ist doch gerade das, was Spaß macht!«

Sie sagt es mit einem Lächeln, aber ich glaube, sie meint es todernst. Wenn du ein hartes Leben führst, wünschst du dir jahrelang, dass mal was leicht ist, aber wenn du es dann bekommst, fühlt es sich nie richtig an. Du gewöhnst dich daran, um die Dinge, die du haben willst, kämpfen, sie dir regelrecht krallen zu müssen, und wenn du das nicht mehr musst, ist alles irgendwie dumpf.

So ist es zumindest bei mir.

Ich frage: »Lässt du deswegen den Manager immer noch zappeln?«

Das Funkeln, das sie mir zuwirft, ist nicht mehr verspielt. Es ist härter. Und irgendwas, das ich nicht identifizieren kann, liegt darin. »Ich lasse Ryan nicht zappeln. Wir sind Freunde.«

»Ja, klaaar.«

»Komm mir nicht mit Ja klaaar, Mister. Als wüsstest du irgendwas über Beziehungen.«

Das ist schon das zweite Mal heute, dass mir das unter die Nase gerieben wird. Wenn es nicht so vollkommen zutreffend wäre, wäre ich glatt beleidigt.

»Ich erkenne Fickfreunde, wenn ich welche sehe.«

»Wir sind keine.« Sie hält inne und reguliert ihre Lautstärke, bevor sie leise hinzufügt: »Wir sind keine Du-weißt-schon-was.«

»Noch nicht.«

»Ich bring dich echt um. Ich leg dir meine Hände um den Hals und behaupte dann, ich hätte einen Wundstarrkrampf gehabt und wäre nicht in der Lage gewesen, meine Muskeln zu entspannen.«

»Ich wusste ja gar nicht, dass du auf erotische Atemkontrolle stehst, Santos.«

»Ich wusste nicht, dass du weißt, was erotische Atemkontrolle bedeutet.«

Lachend drehe ich mich um und lehne mich mit dem Rücken ans Geländer. Langsam macht sich ein Grinsen auf meinem Gesicht breit. »Wo wir gerade von Erotik sprechen … da kommt dein Fickfreund …«

Eine Gruppe von Leuten strömt aus der Haustür, darunter Ryan Blake, der Teammanager und Stellas verhinderter Freund.

Stella sagt: »Wir sind keine …«, verstummt dann aber, und ihre Wangen laufen rot an, als sich Ryan neben sie stellt und leicht mit seiner Schulter gegen ihre stößt. Hinter ihm ist McClain, den Arm um Dallas gelegt, deren Augen zwischen mir und Stella hin- und herschnellen. Ich schenke ihr mein charmantestes Grinsen, aber zur Antwort kneift sie nur die Augen zusammen.

»Bist ja doch aufgetaucht«, sage ich zu McClain, als er rüberkommt.

»Na ja, irgendjemand muss ja ein Auge auf euch Deppen haben.«

Da kommt Torres vorbeigerannt und zieht dabei sein Hemd aus. Er brüllt: »Sieh dir das an, McClain!« Dann hechtet er kurz hinter einer kurvenreichen Brünetten auf die Wasserrutsche, und die beiden landen als glitschiges Knäuel am anderen Ende.

Keinem von beiden scheint es etwas auszumachen.

Dallas sieht auf ihre Uhr und sagt: »Hey. Torres macht Fortschritte. Es hat ganze fünfzehn Minuten gedauert, bis er sein Hemd ausgezogen hat. Das muss ein neuer Rekord sein.«

Er muss uns lachen hören, denn er lässt von der Brünetten ab und sagt: »Moore! Beweg deinen Arsch hierher!«

Als ich mich nicht rühre, versetzt Stella mir einen Schubser. »Geh schon. Du hast doch gehört, was der Mann gesagt hat.«

»Du willst mich nur dazu bringen, mich auszuziehen, stimmt’s?«

»Kenn ich schon. Hab ich alles schon hinter mir. So viele Mädchen haben es gesehen, vielleicht solltest du ein T-Shirt drucken lassen.«

Ich schüttele den Kopf und bewege mich auf die Treppe zu. »Vielleicht wollt ihr anderen ja auch mitkommen. Die spielen bestimmt gleich –«

Ich habe meinen Satz noch nicht beendet, als Torres aus voller Kehle »SLIP CUP!« schreit.

»Was in aller Welt ist Slip Cup?«, fragt McClain.

Widerwillig schließt sich mir die ganze Gruppe an, und wir versammeln uns mit den restlichen Partygästen um Torres, als er sein Rutschbahn-Becher-Staffelspiel erklärt. Man rutscht, wird nass und seifig, und am Ende muss man einen Plastikbecher mit Bier auf ex austrinken und ihn dann mit einem Finger umdrehen. Wenn der Becher perfekt kopfüber landet (was nicht leicht ist, wenn man total voll Seife und total betrunken ist), darf der Nächste aus deiner Mannschaft die Rutsche runter. Auf wundersame Weise schafft es Torres, unsere ganze Gruppe (und um die zwanzig weitere) zum Mitspielen zu überreden. Amüsiert sehe ich zu, wie Stella sich bis auf ihren Bikini auszieht und dabei Ryan in die Augen blickt, der dasselbe macht. Kopfschüttelnd ziehe ich mein Hemd aus. Ich trage keine Badehose, aber die Sportshorts, die ich anhabe, tun es auch.

Torres teilt uns in Teams ein und erntet von McClain schon wieder einen Hieb auf den Arm, als er sich zu lang in der Nähe von Dallas-im-Bikini aufhält.

Die Leute grölen schon, als das Spiel beginnt, und es gibt genug Alk und Brüste, um mich komplett vergessen zu lassen, dass ich je schlechte Laune hatte. Ich warte darauf, dass die schon ziemlich beschwipste Kleine vor mir ihren Becher auf den Kopf stellt und ich loskann. Irgendwann zwischen ihrem siebten und achten Versuch fange ich an, die Geduld zu verlieren, und mein Blick schweift zur Seite ab, als gerade eine abgewrackte Limousine am Bordstein vorfährt.

Auf der Fahrerseite steigt ein Mädchen aus, und ich kann zwar sein Gesicht nicht sehen, aber es hat weißblondes Haar, das ihm auf den Rücken fällt, und gebräunte Haut, und irgendein Typ hinter mir, den ich nicht kenne, sagt: »Hammer.«

Ich bin so mit Hinsehen beschäftigt, dass ich nicht mal mitkriege, als die Beschwipste es endlich schafft, ihren Becher umzudrehen.

Die Frau geht um das Heck des Wagens herum und schiebt sich eine dunkle Sonnenbrille aus dem Gesicht. Der Typ schubst mich von hinten und sagt mir, dass ich dran bin, aber ich kann nicht aufhören zu starren.

Nicht, weil sie hübsch ist, knappe Klamotten trägt und mich direkt anlächelt.

Sondern weil es meine Mutter ist.

Kapitel 2

Silas

Sie trägt Schuhe mit lächerlich hohen Absätzen, die in meinem Rasen versinken, als sie ihn betritt. Sie hebt eine Hand und winkt mir zu, und ich weiß nicht genau warum, aber es ist dieses Scheißwinken, das mir den Rest gibt.

Ich ignoriere mein Team, das auf mich einbrüllt, als ich den Rasen überquere. Sie sieht genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Gott, wie lang ist das her? Acht beschissene Jahre? Sie zieht sich immer noch an, als wäre sie halb so alt, und trägt zu viel Make-up, aber hübsch ist sie trotzdem. Vielleicht sogar schön. Eins von diesen Gesichtern, die schon immer Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Ihr ganzes Leben hat sich immer um ihr Aussehen gedreht und so auch das von meinem Bruder und mir. Wenn Mom gut aussah, wenn sie einen Typen hatte, hatten wir einen Platz zum Schlafen. Wenn nicht, dann nicht.

Aber diese Scheiße ist vorbei. Kein Teil meines Lebens dreht sich mehr um sie, und ich habe nicht vor, mich von ihr wieder da reinziehen zu lassen.

»Steig wieder in dein verdammtes Auto und verschwinde«, sage ich, als ich vor ihr stehe.

Sie antwortet nicht. Klimpert nur ein paar Sekunden, die sich zu einer Ewigkeit ausdehnen, mit ihren langen Wimpern und studiert mein Gesicht. Als ich den Mund aufmache, um ihr noch mal zu sagen, dass sie abhauen soll, hebt sie die Hand und berührt mein Gesicht.

Ich packe sie am Handgelenk und schiebe ihre Hand weg.

»Steig in deine Scheißkarre.«

»Baby …«, sagt sie.

»Ich bin schon lange nicht mehr dein Baby. Und daran ändert sich auch nichts, also mach dich vom Acker.«

Ihre Lippen verziehen sich zu einem Flunsch. »Du wirst immer mein Baby bleiben.«

Sie versucht noch mal, mich zu berühren, und ich weiche zurück.

»Ich war es bei deinen ganzen beschissenen Freunden. Als du uns das erste Mal verlassen hast und das zweite Mal. Verflucht, ich war es sogar all die Jahre, als du weg warst und Sean und ich bei Grams gelebt haben, oder welche Familie uns auch immer aufgenommen hat. Aber ungefähr zu der Zeit, als Sean im Gefängnis gelandet ist und du dir nicht mal die Mühe gemacht hast, ein Telefon in die Hand zu nehmen, geschweige denn, dich blicken zu lassen, habe ich aufgehört, es zu sein. Also, Megan, ich schlage vor, dass du tust, was du am besten kannst. Steig in dein Auto und hau ab, bevor ich die Bullen rufe und die dich zwingen.«

Sie zieht ihre Unterlippe zwischen die Zähne und macht diese großen, unschuldigen Augen, und, großer Gott, ich will irgendwo gegenhauen. Meine Vergangenheit und meine Gegenwart sollten voneinander getrennt bleiben. Aber jetzt hat sie einen verdammten Kollisionskurs eingeschlagen, und dieses Gefühl der Unvermeidlichkeit, das ich immer hatte – sein Zug ist im Moment so stark, dass die Erdanziehung ein Witz dagegen ist.

Als sie sich nicht schnell genug bewegt, hole ich mein Handy raus, und sie hebt ihre manikürten Hände. »Schon gut! Ich geh ja schon.«

Ich behalte mein Handy in der Hand, lasse es aber sinken. Mom stakst über den Rasen zurück auf die Straße. Eine Sekunde schwankt sie unschlüssig auf ihren hohen Absätzen, dann dreht sie sich um und zuckelt zurück zu ihrem Auto, als wäre alles in bester Ordnung.

Sie öffnet die Tür, und ehe sie einsteigt, sagt sie mit einem Lächeln: »Geh wieder auf deine Party, Baby. Wir reden ein andermal.«

Meine Faust verkrampft sich so sehr, dass ich überrascht bin, dass ich nicht mein Telefon zerquetsche. Sie schlüpft in ihr Auto, und es erwacht stotternd zum Leben – alt und verrostet will es so gar nicht in das Bild passen, um das sie sich bemüht.

Dann ist sie weg, und es scheint, als würde alles, was ich mir hier aufgebaut habe, jede Sekunde auf mich einstürzen. Zerstört wie ein Kartenhaus von einem winzigen Atemhauch. Und ich kann nur noch denken: Wenn sich alles in Wohlgefallen auflöst, werde ich nicht hier stehen und versuchen, die Scherben aufzusammeln.

Ich drehe mich um. Das Spiel ist zwar noch im Gange, aber ein halbes Dutzend Leute steht an der Seite und beobachtet mich. McClain. Stella. Brookes. Torres. Und ein paar andere.

Ich entferne mich vom Bordstein, und Torres grinst mich an. »Hast du uns etwa was verheimlicht, Moore? Wer war denn diese heiße –«

»Noch ein verdammtes Wort und du verlierst deine Zunge.«

Er hebt kapitulierend die Hände, lächelt aber immer noch. Alle lächeln. Außer Stella und Brookes. Sie sehen mich beide an, als wenn auch sie damit rechnen, dass jeden Moment der Himmel über mir einstürzt. Als wären sie die Einzigen, die das, was sie gerade gesehen haben, wirklich kapiert haben.

Wieder summt mein Telefon in meiner Hand, und ich bin drauf und dran, es wegzuwerfen, bis ich die Nachricht sehe. Sie ist wieder von Levi.

Komm schon, Mann. Ich muss ein bisschen Dampf ablassen. Beweg deinen Arsch ins Trent’s.

Ich marschiere an der Gruppe vorbei, ignoriere die Blicke, die ich ernte, und hebe mein Hemd auf, das ich ins Gras geworfen hatte. Dann renne ich rein und tausche meine Sportshorts gegen eine Jeans. Denn wie es der Zufall will, muss ich auch ein bisschen Dampf ablassen.

Das Trent’s ist eine muffige, schäbige Straßenkneipe, um die die meisten Studenten einen großen Bogen machen und stattdessen lieber in die neueren, beliebten Bars auf dem Campus gehen. Die Klingel kreischt, als ich zur Tür hereintrete, und obwohl später Nachmittag ist, ist es drinnen so dunkel, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, um Levi überhaupt zu finden.

Er sitzt an der Theke und führt gerade eine Flasche zum Mund, und neben ihm steht eine zweite, die vermutlich für mich ist.

Einen Moment lang zögere ich. Etwas dreht sich mir im Magen um, ich presse die Kiefer aufeinander und weiß eigentlich gar nicht, warum ich hergekommen bin. Ein Teil von mir will sagen: Scheiß auf alles, gib dir mit Levi die Kante und füge dich der Unvermeidlichkeit dieses Super-GAUs. Ein anderer, größerer Teil will meinem alten Kumpel die Hölle heißmachen und meine Gefühle mit meinen Fäusten abarbeiten.

Irgendwo in meinem Unterbewusstsein weiß ich, ich sollte mich umdrehen und wieder raus zu meinem Truck gehen. Hier warten nur Fehlentscheidungen auf mich.

Aber von Klugheit habe ich noch nie viel gehalten.

Ich marschiere durch die Kneipe und rutsche auf den Barhocker neben ihm. Dann stürze ich einen Riesenschluck Bier hinunter und richte den Blick stur auf das Baseballspiel, das auf dem alten Fernseher läuft, der neben den Schnapsflaschen im Regal steht.

»Wie? Kriege ich nicht mal ein Hallo?«, fragt Levi.

Ich spare mir das Hallo und frage stattdessen: »Wie war’s im Knast? Bist ja schnell wieder rausgekommen.« Muss nett sein, einen Anwalt als Vater zu haben. Verflucht, muss nett sein, überhaupt einen Vater zu haben, der in Erscheinung tritt.

Levi hebt achselzuckend die Hände und sagt: »Die kriegen mich nicht klein.«

Das Traurige ist … er hat wahrscheinlich recht. Typen wie er kriegen immer eine zweite, dritte und vierte Chance.

»Was machst du hier, Levi?«

»Wonach sieht’s denn aus? Einen trinken und danach einen wegstecken. Prioritäten, oder?«

»Ich meine … was hast du jetzt vor?«

»Ich dachte, das hätte ich gerade ausgeführt.«

»Du willst einfach hier in der Stadt rumhängen? Wo du keinen Fuß auf den Campus setzen darfst? Darfst du überhaupt in diesem Moment in einer Kneipe hocken?«

Er zuckt die Achseln. »Ich darf nur nichts mit Drogen aller Art zu tun haben. Vielleicht zählt Alkohol auch, aber das kriegt doch eh keiner raus. Und warum soll ich mir jetzt Gedanken machen, was ich mache? Ich häng einfach ab. Es wird genauso sein wie bisher … nur dass ich jetzt in keine Kurse mehr muss.«

»Genauso wie bisher«, murmele ich und leere den Rest von meinem Bier in drei großen Zügen. Ich gebe dem Barkeeper ein Zeichen, dass ich noch eins will, während Levi fortfährt.

»Ja, Mann. Wir sollten am Wochenende runter nach Austin fahren. In die Sixth Street gehen. Uns volllaufen lassen. Vielleicht eine Bootstour auf dem Fluss machen.«

»Ich hab am Montag Training.«

»Du wirst rechtzeitig zurück sein.«

Ich schüttele den Kopf. »Vergiss es, Mann. Wir sollen uns bedeckt halten.«

Er schnaubt verächtlich. »Scheiße. Coach Cole ist ja echt ätzend. Bald dürft ihr gar nichts mehr.«

»Es ist nicht nur der Coach. Es sind wir alle.«

»Ihr alle?«

»Ja. Wir wollen, dass die Mannschaft konzentriert ist. McClain und ich –«

»McClain? Das ist jetzt nicht dein Ernst.«

»Doch, das ist mein Ernst. Du scheinst vergessen zu haben, dass du uns alle nach Strich und Faden verarscht hast. McClain ist aufgerückt.«

»Der Typ ist ein Nichts. Ein beschissener Walk-on vom Junior College.«

Ich habe mich bei Levi immer wohler gefühlt als bei allen anderen. Irgendwie hat er mich an meinen Bruder erinnert. Allerdings war mein Bruder auch irgendwie immer ein Arschloch.

Und jetzt, wo mich gerade die Vergangenheit einholt, weiß ich, ich habe zwei Möglichkeiten. Ich kann den einfachen Weg wählen, den für mich natürlichen. Ich kann in dieser Kneipe bleiben, mich besaufen, ein paar Mädchen aufreißen und meine Zeit hier an der Rusk überstehen, indem ich mache, was ich verdammt noch mal will. So habe ich schon immer gelebt – alles Gute mitnehmen, solange es geht, bevor einen das Miese einholt.

Aber bei dem Gedanken, mit Levi hierzubleiben, wird mir speiübel. So leicht es auch sein würde, so oft ich auch diese Wahl getroffen habe, es hat jetzt nicht mehr denselben Reiz. Es kam mir schlau vor, so als hätte ich der Welt etwas voraus, aber jetzt kommt es mir vor, als würde ich bergab rennen, weil ich ein zu großer Schlappschwanz bin, um mich umzudrehen und mich der Steigung zu stellen.

Ich stehe auf, nehme einen letzten Zug von meinem Bier und werfe etwas Kleingeld auf die Theke.

»Ich muss weg.«

Levi setzt sich auch in Bewegung. Sein Stuhl schrappt über den Zementboden, als er ihn zurückschiebt. »Was soll das denn jetzt, Alter? Du bist doch grade erst gekommen.«

»Ich sehe keinen Grund zu bleiben.«

»Willst du mich verarschen?«, schnauzt Levi mich an. »Ich dachte, wenigstens du wärst auf meiner Seite.«

»Ich bin auf meiner Seite.« Das ist das Einzige, was ich immer konnte. Ich kann mich auf niemanden verlassen, außer auf mich selbst. »Das Einzige, was für mich zählt, ist, in dieser Mannschaft zu bleiben. Du hast deine Chance bereits vertan. Und ich lasse nicht zu, dass du oder irgendjemand anders dasselbe bei mir macht.«

»Ohne mich wird diese Mannschaft auseinanderfallen. Und was willst du dann machen? Zurück in die Wohnwagensiedlung rennen, aus der du kommst?«

Das sollte mich eigentlich nicht treffen. Weder heute noch an irgendeinem anderen Tag, aber ich kann nichts gegen den Gedanken machen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis jeder hier das über mich weiß.

Ich will zurückschnauzen, den Spieß umdrehen, damit er sich wie der Blindgänger vorkommt. Aber ich habe das Gefühl, dass das alles genau deswegen passiert. Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der heute das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren.

»Nee, Mann. Genau falsch. Die Mannschaft ist ohne dich besser dran.«

Ich drehe mich zum Gehen um, und er stößt mich hart von hinten. Ich stolpere vorwärts, laufe gegen ein paar Barhocker, werfe sie um und schaffe es gerade so, auf den Beinen zu bleiben.

Ich versuche zu atmen, aber mein Blickfeld wird schwarz um die Ränder, und dieses vertraute Verlangen, auf irgendetwas einzuschlagen, kehrt mit Getöse zurück. Ich balle die Fäuste, um es im Zaum zu halten, und stehe auf, die Augen auf die Tür gerichtet.

»Du bist nichts, Silas. Dir steht das Wort ›abgehalftert‹ schon auf die Stirn geschrieben.« Ich blicke mich zu ihm um, obwohl ich weiß, dass er genau das will. »Behandele mich nicht so verdammt von oben herab. Ich kenne dich, Alter. Ich komme wieder auf die Beine, aber du? Es ist nur eine Frage der Zeit, dass du es total verkackst. Und was hast du dann noch? Gar nichts.«

Und das – das trifft mich ins Mark.

Ich komme ihm ganz nah, Nase an Nase. »Du kennst mich? Du weißt einen Scheiß.«

»Ich weiß genug. Bruder im Knast. Mom eine Hure. Abschaum bleibt Abschaum, egal, ob du ihn mit einem Stipendium und einer Uniform verkleidest oder nicht.«

Sein Gesicht gibt ein befriedigendes Knacken von sich, als meine Faust es trifft. Das schmerzhafte Zucken in meinem Handgelenk, das Beißen gerissener Haut an meinen Fingerknöcheln … es stumpft meine Gedanken ab und schärft alles andere.

Zufriedenheit, Zorn und ein Hochgefühl brennen sich durch mich hindurch, und so sicher wie das Amen in der Kirche fühlt sich die Welt jetzt nicht mehr dumpf an.

Er braucht lange, bis er sich erholt hat und zum Vergeltungsschlag ausholt, und obwohl ich ihn kommen sehe, lasse ich ihn einen Treffer landen. Er geht auf meine Körpermitte, aber er muss noch von meinem Schlag benommen sein, denn es macht mir noch weniger aus als erwartet. Ich spüre es kaum. Und ich weiß nicht warum, aber dieser armselige Schlag macht mich nur noch wütender.

»Komm schon, Levi. Ich bin vielleicht Abschaum, aber du bist erbärmlich. Stinkfaul. Du konntest nicht mal Football spielen, ohne zu schummeln.«

Er holt wieder aus, und ich weiche weit genug zurück, dass er meinen Kiefer nur streift. Der Stoß reicht, um wehzutun und die Schleusen meines dringend benötigten Adrenalins zu öffnen. Ich packe ihn am Hemd und ramme ihn zu meiner Rechten gegen die Theke. Ein paar Gläser kommen ins Rutschen und knallen auf den Boden. Ich versetze ihm meinerseits einen Hieb in die Magengrube, gefolgt von einem zweiten.

Er brüllt und stößt mich zurück, und ich stolpere gegen einen Stuhl und bringe noch ein paar Gläser dazu, auf dem Betonboden zu zerschellen. Er geht auf mich los, und ich ändere die Position und benutze seine Geschwindigkeit, um ihn an mir vorbeizuhebeln, werfe ihn vorwärts gegen einen Tisch, der unter seinem Gewicht kippt und zerbirst.

Stöhnend rollt er auf seinen Rücken, aber ich lasse ihn nicht da unten liegen. Ich brauche noch mehr. Also zerre ich ihn auf die Beine und bringe ihn dazu, mir in die Augen zu sehen. Er schwingt herum und versetzt mir einen Schlag seitlich an den Kopf, aber mein Blut pumpt so rasend schnell, dass es eher nervig ist als schmerzhaft. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch mal schlagen oder ihn bloß schütteln will, so fest ich kann. Während ich wie ein Spinner dastehe und nachdenke, gelingt ihm ein ordentlicher Schlag in meine Niere, und mein ganzer Körper verschließt sich für ein paar Sekunden gegen den Schmerz. Bevor er einen weiteren loswerden kann, stoße ich ihn gegen die Wand. Er trifft hart auf, und nur meine Hände hindern ihn daran, zu Boden zu sacken.

»Du konntest es verdammt noch mal nicht lassen, oder?«, frage ich. »Verzogener reicher Junge ist unglücklich, also muss er alle anderen mit hineinziehen.«

Levi beginnt, sich zur Seite zu neigen, und ich bin sicher, wenn ich ihn losließe, würde er absinken, bis er am Boden aufschlägt. Was für Schmerzen er auch immer hat, es ändert nichts an dem wütenden Blick, den er mir zuwirft.

Er spuckt aus, und sein blutiger Speichel landet auf meinem Schuh. Ich hab ihn festgenagelt, und das gefällt ihm ganz und gar nicht.

Er sagt: »Tu nicht so, als hätte ich dich runtergezogen. Du bist doch hergekommen, weil du auf Streit aus warst. Du funktionierst besser in der Gosse.«

»Ja, vielleicht.«

Dann versetze ich ihm noch einen Fausthieb, seine Gesichtszüge entgleiten ihm und er sackt an der Wand zu meinen Füßen zusammen. Sein Kopf sinkt auf seine Brust, und Blut tropft ihm aus dem verunstalteten Mund.

Reflektierende bunte Lichter tanzen jetzt über die Wände, und ich höre Polizeisirenen. Und, verdammte Scheiße, ich glaube, ich bin vielleicht sogar neidisch auf diese schwarze, nichtige Welt, in der sich Levi verloren hat.

Wie zum Henker konnte es von dem Entschluss, wegzugehen, zu dem hier kommen?

Zum ersten Mal mache ich eine Bestandsaufnahme von der Kneipe um uns herum. Zerschmettertes Glas. Kaputte Möbel. Die Handvoll Gäste, die vorhin noch hier gewesen waren, sind längst weg. Eine Frau hinter der Theke beobachtet mich misstrauisch mit einem Handy am Ohr, und der Barkeeper presst unter seinen Handflächen einen Baseballschläger auf die hölzerne Theke.

Ich drehe mich um und laufe auf die Tür zu, aber noch bevor der Bulle reinkommt, weiß ich, dass ich keine Chance hab, hier einfach so rauszuspazieren. Der Polizist fragt mich, was passiert ist, aber es hat keinen Sinn, wie eine kleine Heulsuse zu sagen: Er hat angefangen. Nicht, wenn man schon mal eine Jugendstrafe hatte. Er bekommt einen kurzen Abriss vom Barkeeper und der Frau, die die Polizei gerufen hat. Während sich ein Sanitäter den fast bewusstlosen Levi ansieht, werde ich auf den Rücksitz eines Polizeiwagens verfrachtet.

Es heißt ja, ein Unglück kommt selten allein, aber ich habe schon lange aufgehört zu zählen.

Das Unglück scheint mich zu verfolgen. Oder die Hölle. Vielleicht hat Levi recht. Vielleicht bin ich es, der das Unglück verfolgt.

Vielleicht weiß ich ohne nicht, wer ich bin.

Kapitel 3

Dylan

Die Plastikkabelbinder schneiden in die Haut an meinen Handgelenken, während ich warte, und meine Schultern tun weh, weil mir die Hände auf den Rücken gefesselt sind. Mein Herz rast schon, seit ich mich dem Befehl des Polizisten widersetzt habe, den Protest aufzugeben, und dafür verhaftet wurde. Ich frage mich, wie lang mein Herz in dem Tempo schlagen kann, ohne zu versagen. Vielleicht falle ich bald in Ohnmacht und bekomme wenigstens ein klein wenig Entlastung von den Schuldgefühlen und der Angst, die an mir nagen.

Die Polizistin bringt meinen Papierkram zu Ende, während mein Freund Matt von einem anderen Beamten in die Gewahrsamszelle gebracht wird. Unsere Blicke begegnen sich, und er macht ein albernes Gesicht. Ich weiß nicht, wie er so ruhig sein kann. Mit seinem üppigen rostroten Bart sieht er eher furchterregend aus als blöd. Er ist gut fünfzehn Zentimeter größer als der Typ, der uns verhaftet hat, und ich kann dem Polizisten seine Nervosität nicht verdenken. Matty sieht aus, als wenn er jeden Moment einen auf Bigfoot macht, alle umrennt und hier rausstürmt.

»Miss Brenner?« Officer Tribble steht vor mir. Sie ist Mitte dreißig, hat dunkles Haar und Falten um den Mund, weil sie ihn so oft verzieht. Sie kennt meinen Vater. Jeder kennt meinen Vater. Wahrscheinlich ist es naiv zu glauben, dass er noch nicht erfahren hat, dass ich hier bin. Mir dreht sich wieder der Magen um, und ich krümme mich auf meinem Stuhl nach vorne, in der Hoffnung, dass das die bohrende Sorge verschwinden lässt. Aber mir bleibt nicht viel Zeit, um rauszufinden, ob es funktioniert. Sie fasst mich sanft am Ellbogen und hilft mir, aufzustehen, und dann gehen wir in die Richtung, in die auch Matt gebracht wurde.

Am Ende des Flurs befinden sich einander gegenüber zwei Gewahrsamszellen. In der linken, die im Boden verankerte Metallbänke hat, befinden sich drei Männer. Ein Typ mittleren Alters mit einem schäbigen T-Shirt liegt schlafend auf einer Bank in der Ecke. Auf der anderen Seite der Zelle sehe ich Matt mit seiner ganzen Bartpracht. Obwohl es mehrere leere Bänke gibt, sitzt er auf einer mit dem dritten Insassen der Zelle. Er redet, aber sein Zellengenosse scheint ihn zu ignorieren, was meinen Freund nicht im Geringsten tangiert. Er zwinkert mir zu, als Officer Tribble mich vorbeiführt und vor der leeren Zelle gegenüber von Matts stehen bleibt. Erleichtert seufze ich auf. Trotz meiner Angst muss ich lachen, als Matt den Kopf leicht zu seinem Zellengenossen neigt, dabei mich ansieht und vielsagend mit den Augenbrauen wackelt. Der Typ neben Matt sieht hoch, und das Lachen bleibt mir im Hals stecken.

Sein Kiefer ist stark lädiert, ein tiefvioletter Fleck erblüht unter stoppeliger Haut. Sein wirres hellbraunes Haar fällt ihm in die Stirn und lenkt meinen Blick auf ein Paar haselnussbraune Augen, die erstaunlich schön sind und ganz und gar nicht zum Rest seiner brutalen Erscheinung passen. Auch seine Fingerknöchel sehen aufgerissen aus, und seine Augen folgen meiner Bewegung mit einer Intensität, bei der sich mein Magen vor Angst umdreht, eine Angst, die sich komplett von dem Gefühl unterscheidet, das ich in der letzten Stunde hatte. Trotzdem beobachte ich ihn weiter … genauer gesagt, ich beobachte, wie er mich beobachtet, als Officer Tribble mir die Plastikfesseln durchschneidet und mich in der leeren Zelle einschließt.

Ich setze mich auf dieselbe Seite wie Matt, damit wir leise miteinander reden können, aber der Fremde mit den intensiven Augen sitzt näher an den Stangen und verdeckt alles, bis auf den Schwall roter Haare, der Matts ohnehin große Gestalt noch mal um fünf Zentimeter höher macht.

Der Typ ist jung, etwa mein Alter, würde ich schätzen, und ich frage mich, ob die blauen Flecken etwas damit zu tun haben, weshalb er hier ist, oder ob sie ein separater Teil seines geheimnisvollen Bad-Boy-Nimbus sind. So was wie: Huch, ich hab ja ganz vergessen, Leder anzuziehen, als ich aus dem Haus gegangen bin, dann sorge ich mal lieber dafür, stattdessen ein bisschen blutig zu werden.

Matt scheint sich keine Sorgen zu machen, dass er gefährlich sein könnte. Allerdings macht sich Matt eigentlich selten um irgendwas Sorgen. Als er seinen umfangreichen Körper hinter seinem Zellengenossen vorbeugt, schaffe ich es endlich, mich loszureißen.

»Alles klar, Pickle?«, fragt er.

Dafür, dass er diesen Spitznamen benutzt, werde ich ihm später eine reinhauen. Das ist kein Spitzname, den man vor schönen Menschen benutzt, nicht mal vor potenziell kriminellen.

»Bestens, Matty.«

Im Widerspruch zu dieser Behauptung krümme ich mich wieder nach vorn. Die Sorge ist ein Gewicht in meinem Bauch, ein Stein, der auf meine Eingeweide drückt, und ich frage mich, wie schnell man wohl ein Magengeschwür entwickeln kann.

»Sieht aber nicht so aus«, sagt mein Kumpel. »Du siehst eher aus, als würdest du gleich alles vollkotzen.«

Allerliebst. Als wäre ich durch meine Aktionen heute nicht schon gedemütigt genug. Aber ich kann Matt nicht böse sein. Wenn er nicht bei mir geblieben wäre, wäre ich jetzt allein hier, was unendlich viel schlimmer wäre. »Tut mir leid. Das hier ist meine Schuld. Ich fühle mich schrecklich, weil du bei mir geblieben bist und ich dich da mit reingezogen habe.«

Er zuckt die Achseln. »Is’ doch nix passiert.«

Nur Matt würde verhaftet zu werden nix passiert nennen. Der Typ ist so gelassen, dass er das menschliche Äquivalent von Xanax zu sein scheint. Das will ich jetzt. Das brauche ich jetzt – einfach alle Gefühle betäuben. Alles, woran ich denken kann, ist, was mein Vater sagen wird, ob das hier in mein Vorstrafenregister kommt, ob es sich auf mein Stipendium auswirkt und was Henry sagen wird.

Aber halt. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, was Henry sagen wird, weil es aus ist. Das sollte mir was ausmachen. Wir haben vor einer Woche Schluss gemacht, und nach vier gemeinsamen Jahren sollte ich am Boden zerstört sein. Ich sollte mich gerade im Übergang vom Schock in die Phase befinden, in der man von morgens bis abends in der Jogginghose rumläuft.

Ich weiß nicht, was es über mich aussagt, dass das nicht der Fall ist. Dass ich nur aus Gewohnheit an ihn denke, sonst nichts.

Ich mache weiter, beschimpfe mich selbst, wie ich es mir von Matt wünschen würde. »Es gibt einen Grund, warum wir Pläne machen, und ich habe mich nicht daran gehalten. Ich hätte gehen sollen, sobald der Auflösungsbefehl ausgesprochen wurde. Das nächste Mal, wenn ich etwas so Bescheuertes mache, wag es ja nicht, es mir nachzumachen.«

»Nö. Nächstes Mal ziehe ich dir einfach eins über und erspare uns beiden den Ärger.«

Ich verdrehe die Augen, denn wir wissen beide, dass das nie passieren wird. Matt gehört zu den Typen, die sich jederzeit für einen Freund in die Schusslinie begeben würden. Er würde durchaus als lebensechter Disney-Prinz durchgehen … wenn es bei Disney bärtige, bisexuelle Prinzen gäbe.

»Trotzdem … es war nicht toll von mir. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich war einfach so frustriert und hatte die Schnauze voll vom Skandieren und auch davon, dabei völlig ignoriert zu werden. In dem Moment hat das Sinn ergeben.«

»Na ja. Du hast in letzter Zeit ja auch viel um die Ohren.«

Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Er denkt, ich verhalte mich wegen der Trennung irrational, aber das ist lächerlich. Ich bin doch nicht verrückt. Matt, meine Mutter, meine Zimmergenossin Nell – alle warten nur darauf, dass es klick macht, dass ich zusammenbreche und mich vergesse, weil Henry und ich Vergangenheit sind. Und vielleicht haben sie ja recht. Vielleicht ist es irgendein merkwürdiger emotionaler Schock und in ein paar Wochen trifft mich der Schmerz wie aus heiterem Himmel. Aber im Moment weckt dieses Herumschleichen um den heißen Brei in mir nur den Wunsch zu schreien. »Damit hat dasnichts zu tun.«

Klar, mein Lebensplan hat eine Bauchlandung erlitten. Und es wäre nicht unangemessen, auszuflippen, weil die Zukunft, die ich vor mir gesehen habe, seit Henry und ich vor vier Jahren zusammengekommen sind, in tausend Stücke zerplatzt ist.

Aber im Moment muss ich mich einfach auf mich konzentrieren. Mein Partner (oder dessen Fehlen) kann nicht das Wichtigste an mir sein. Also pfeif ich auf Pläne und Zukunft und Herzschmerz und das alles.

Sonst mache ich noch weiterhin so irrsinnige Sachen wie einen direkten Polizeibefehl zu missachten, nachdem wir einen Tag lang ignoriert und verspottet wurden, weil wir es gewagt haben, uns für die Obdachlosen in der Stadt einzusetzen, die kurz davor sind, eine von nur zwei Unterkünften im Umkreis von zwanzig Meilen zu verlieren. Na ja … vielleicht bin ich ein bisschen weiter gegangen, als bloß einen direkten Befehl zu missachten. Möglicherweise habe ich mich selbst mit Handschellen an einen Pfosten vor dem Heim gekettet.

»Und worum ging es dann? Warum hast du’s gemacht?«, fragt Matt.

»Weil ich es nicht nicht tun konnte.«

»Oooooh ja … diese Erklärung wird dein Vater dir sofort abnehmen.«

»Ich verspreche dir, nächstes Mal werde ich mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen lassen, wenn es was mit Handschellen zu tun hat.«

Der attraktive potenzielle Kriminelle rührt sich, und als ich ihn ansehe, hat er interessiert die Augenbrauen hochgezogen. Seine Augen sind wirklich viel zu schön für einen Kerl wie ihn. Typen, die gefährlich sind, sollten einfach nur gefährlich aussehen. Punkt. Ende. Aus. Sie sollten nicht gefährlich und schön gleichzeitig sein. Das bringt das Universum aus dem Gleichgewicht und lässt mich Dummheiten machen, wie zum Beispiel starren. Einen Typ hinter Gittern anzustarren. Wenn es je eine Sorte Kerle gab, die ich nicht anstarren sollte, rangiert jemand, der möglicherweise in den Knast wandert, definitiv unter den ersten drei.

Matt streckt seine langen Beine aus. »Sag mir nächstes Mal einfach vorher Bescheid, dass du dich verhaften lassen willst. Dann kann ich dafür sorgen, dass wir vorbereitet sind. Javier wird stinksauer sein. Es sei denn, natürlich, du willst deinen lieben Daddy anrufen, damit er uns hier rausholt.«

Ich brauche ihm nicht mal einen bösen Blick zuwerfen, damit er kapitulierend die Hände hebt.

»Warum solltest du dich verhaften lassen wollen?« Der Gefährliche spricht. Seine Stimme ist tief und weich, mit einem leichten texanischen Akzent, der seine Worte in die Länge und meinen Blick auf seine Lippen zieht.

»Handschellen-Fetisch«, sagt Matt, und ich laufe knallrot an.

Ich werde ihm mehr als eine reinhauen.

Ich funkele ihn an und räuspere mich. »Sich verhaften zu lassen kann manchmal der effektivste Weg sein, um die Aufmerksamkeit auf eine Sache zu lenken.«

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Eine Sache?«

»Eine politische.«

Die Augenbraue fällt herunter, er nickt, verschränkt die Arme und wendet seine Aufmerksamkeit von mir ab.

Ich muss immer noch einen Dachschaden haben, denn seine totale Ablehnung erinnert mich an unseren Protest heute, daran, wie die Stadt, ohne mit der Wimper zu zucken, Leuten einen Unterschlupf wegnehmen kann, die nirgendwo anders hinkönnen. Es weckt in mir den Wunsch, noch mehr Dummheiten zu machen. Ich stehe auf, umfasse die Stangen vor mir und sage: »Weißt du, es sind Jugendliche wie du, denen unsere ganze Generation ihren schlechten Ruf zu verdanken hat.«

Er lehnt sich zurück und sieht mich verärgert an. »Jugendliche? Wie alt bist du denn?«

Ich winke ab. »Junge Leute. Wie auch immer. Der Punkt ist, dass uns alle für die ignoranten Kids halten, die sich mehr mit ihren Smartphones beschäftigen als mit der Lage der Welt, und das liegt daran, dass Leute wie du die Nase rümpfen, sobald das Stichwort Politik fällt.«

Er steht auf und imitiert meine Position, nur dass er viel größer ist, seine Schultern breit und seine Arme zu muskulös, um ganz zwischen die Stangen zu passen. »Leute wie ich? Was zum Henker soll das heißen? Arm? Ungebildet? Abschaum?«

Ich zucke zusammen. »Was? Nein. Davon habe ich nichts gesagt. Ich meine bloß die stereotypen jungen Erwachsenen, die –«

»Sich nur mit ihren Smartphones beschäftigen. Ja, den Teil hab ich gehört. Lieber wäre ich dieser Stereotyp als das verwöhnte, reiche kleine Mädchen, das glaubt, es ist ein Spaß, verhaftet zu werden. Eines, das Geld zum Fenster rausschmeißt, damit es einen Wutanfall hinlegen kann über das, was es diese Woche an der Welt gerade stört.«

»Wutanfall?« Mir ist bewusst, dass ich fast kreische und mich genauso anhöre wie das verwöhnte kleine Mädchen, als das er mich gerade hingestellt hat. »Ich lege keinen Wutanfall hin.«

Matty, der ewige Pazifist, sagt: »Vielleicht sollten wir alle einfach mal durchatmen.«

Aber ich presche weiter voran, weil ich heute unbedingt wenigstens einen Streit gewinnen will.

»Ich habe Leute so satt, die denken, was wir tun, ist Zeitverschwendung. Wenigstens tun wir was, statt den Kopf in den Sand zu stecken, während die Welt um uns herum zur Hölle fährt.«

»Für manche von uns war die Welt schon immer die Hölle, Prinzessin.«

Das lässt mich mitten in meiner Tirade abbrechen, und ich fange wieder an zu starren und meinen Mund wie ein Frosch zu bewegen … was definitiv nichts zu meinem Standpunkt beiträgt.

Schließlich schnaube ich wütend, und ein Teil meiner Verzweiflung bricht durch. Ich bin nicht mal sicher, ob ich verzweifelt bin, weil ich um seine Zustimmung ringe, oder einfach nur will, dass mal irgendjemandzuhört. »Wolltest du noch nie irgendwas tun, von dem dir jeder sagt, dass es unmöglich oder sinnlos ist? War dir noch nie irgendwas wichtig genug, um dafür Opfer zu bringen? Egal, wie dumm oder unwahrscheinlich es erscheint? Wolltest du noch nie einfach, dass sich etwas ändert?«

Er mustert mich eine Weile lang und hebt seine großen Hände, um die Stangen zu umklammern. Und als ich damit rechne, dass er wieder einen gemeinen Witz darüber reißt, wie verwöhnt oder naiv ich bin, überrascht er mich.

»Was genau hoffst du denn zu ändern?«

Matt schnauft. »Gratulation, Alter. Damit hast du eine Möglichkeit gefunden, dir die restlichen Stunden hier zu vertreiben. Dieses Mädchen will die ganze Welt verändern.«

Da kommt ein Beamter und nimmt Matt mit, damit er seinen Anruf machen kann. Er wirft mir einen Blick zu und formt mit den Lippen: »Javi?«

Ich nicke und schaue ihm hinterher.

Ich weiß, dass er bohrt, in der Hoffnung, dass ich nachgebe und einwillige, stattdessen Dad anzurufen. Aber ich kann einfach nicht. Ich weiß, er könnte uns schneller rausholen, aber ich kann ihm jetzt noch nicht unter die Augen treten. Nicht, bevor ich mir irgendeine Ausrede habe einfallen lassen. Nicht, bevor ich nicht rausgekriegt habe, was für ein Knacks in meinem Hirn mich heute so leichtsinnig gemacht hat.

Es liegt nicht daran, dass ich wegen Henry aufgewühlt bin, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass trotzdem alles irgendwie zusammenhängt. Meine Gefühle sind ein komplettes Chaos, und das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich mich heute bei dem Protest unsichtbar gefühlt habe.

Und erst, als ich diese Handschellen einrasten ließ, habe ich gemerkt, dass das schon lange bevor wir unser Lager vor diesem Obdachlosenheim aufgeschlagen haben, so war.

»Also, was hast du versucht zu ändern?«, fragt er.

Jetzt, da Matt weg ist, bin ich komischerweise irgendwie schüchtern und verspüre nicht mehr das Bedürfnis, meine zehnminütige Schimpftirade über den politischen Status quo in diesem Land anzustimmen.