Forever Material - Alexis Hall - E-Book

Forever Material E-Book

Alexis Hall

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Beschreibung

Gesucht: Der Mann fürs Leben. Muss nicht perfekt sein ...

Aus ihrer Fake-Beziehung ist längst etwas Echtes geworden. Luc und Oliver sind verliebt und könnten eigentlich nicht glücklicher sein. Doch dann bricht auf einmal der Heiratswahn aus, und alle um sie herum geben sich das Jawort. Von den ganzen Zukunftsplänen in seinem Bekanntenkreis unter Druck gesetzt, beginnt Luc sich zu fragen, ob Oliver und er auch den nächsten Schritt wagen sollten. Aber beide merken schnell, dass es für ein Happy End mehr braucht als bloß einen Heiratsantrag ...

"Unterhaltsam und authentisch. Niemand verdient ein Happy End mehr als Luc und Oliver!" BOOKPAGE

Die Fortsetzung der romantischen Liebesgeschichte rund um Luc und Oliver

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

TEIL 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

TEIL 2

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

TEIL 3

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

TEIL 4

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

TEIL 5

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Danksagung

Der Autor

Die Romane von Alexis Hall bei LYX

Leseprobe

Impressum

Alexis Hall

Forever Material

Roman

Ins Deutsche übertragen von Carina Schnell

ZU DIESEM BUCH

Zwei Jahre nach ihrem chaotischen Fake-Dating-Experiment ist die Beziehung zwischen Luc und Oliver stabiler als je zuvor, und die beiden schweben gemeinsam auf Wolke sieben. Und wenn es nach Luc ginge, könnte alles auch genauso bleiben, wie es gerade ist. Aber dann bricht in ihrem Bekanntenkreis der Heiratswahn aus, und während Luc versucht, die Probleme rund um die Hochzeit seiner besten Freundin zu regeln, taucht auch noch Miles, Lucs verlogener Ex-Freund, wieder auf. Sogar er hat vor, in den Hafen der Ehe einzulaufen, und besitzt dabei die Dreistigkeit, Luc zur Hochzeit einzuladen! In all dem Stress ist Oliver, der perfekte Freund, immer an seiner Seite – oder wenigstens nur eine Textnachricht entfernt. Luc will ihn um keinen Preis verlieren, und von all den Zukunftsplänen um sich herum unter Druck gesetzt, beginnt er sich zu fragen, ob Oliver und er auch den nächsten Schritt wagen sollten. Schließlich lieben sie sich. Doch es zeigt sich, dass diese beiden mehr brauchen als vier Hochzeiten und einen Todesfall, um von »Vielleicht« zu »Für immer« zu kommen.

Für Mary

Danke, dass du an diese Bücher geglaubt hast.

Der Sinn von Junggesellinnenabschieden hatte sich mir noch nie erschlossen. Aber wenn ich mir meine Erfahrungen mit Gartenpartys, Dinnerpartys und Kostümpartys so ansah, war ich wohl allgemein kein großer Fan von Partys. Rückblickend mochte das der Grund dafür sein, dass ich meine Partyjahre in erster Linie damit verbracht hatte, mich elend zu fühlen und mich selbst zu hassen. Ich hatte mich weiterentwickelt. Darin war ich sogar verdammt gut. Ebenso wie darin, Bridges Junggesellinnenabschied zu organisieren. Oder eher ihren geschlechtsneutralen Abschied vom Singleleben, denn sie hatte die Hälfte ihres Freundeskreises nicht ausschließen wollen. Und da sie mich zu ihrer »Maid of Honour« gemacht hatte, hätte es auch mich ausgeschlossen, was seltsam gewesen wäre. Obwohl ich insgeheim einen Abend zu Hause mit meinem wundervollen Anwaltsfreund vorgezogen hätte.

Mein wundervoller Anwaltsfreund, der sich auch nach zwei Jahren noch wie mein wundervoller Anwaltsfreund anfühlte.

Mein wundervoller Anwaltsfreund, der gerade spät dran war – was dem Anwaltsteil und nicht dem Freundteil zuzuschreiben war.

Hier saß ich also im abgesperrten VIP-Bereich einer schicken, aber erschwinglichen Cocktailbar und trug eine gehäkelte Mütze in Form einer Vulva auf dem Kopf. Eine maßgefertigte Häkelmütze in Form einer Vulva, die ich bei einer von Bridges Freundinnen in Auftrag gegeben hatte, nachdem mir klar geworden war, dass es sich bei Genitalien-Merch für Junggesellinnenabschiede fast ausschließlich um Penisse handelte. Natürlich hätte ich einfach auf Deko in Form von Genitalien verzichten können, aber dann wäre es kein richtiger geschlechtsneutraler Abschied vom Singleleben gewesen, was Bridge traurig gemacht hätte. Und sowohl als Trauzeuge als auch als Freund wollte ich es unbedingt vermeiden, Bridget traurig zu machen.

James Royce-Royce fischte einen schwanzförmigen Lolli aus dem schwanzförmigen Lolliglas. Es war das erste Mal seit Monaten, dass ich ihn oder seinen Ehemann James Royce-Royce ohne ihren frisch adoptierten Sohn sah. Ihr frisch adoptierter Sohn, den sie selbstverständlich James genannt hatten. Um Verwirrung zu vermeiden, nannten sie ihn allerdings Baby J. »Ich muss schon sagen, Luc«, meinte er. »Ich bin beleidigt, weil du dich für kommerziell produzierte, penisförmige Süßigkeiten entschieden hast, statt mich um Hilfe zu bitten.«

Bernadette May, eine recht bekannte Kochbuchautorin, mit der Bridge so viele Arbeitskrisen durchgestanden hatte, dass sie zwangsläufig Freundinnen geworden waren, starrte auf der anderen Seite des Tischs düster vor sich hin. Sie war die Art Person, die wegen allem und jedem düster vor sich hinstarren konnte – und es meistens auch tat. »Das liegt daran, dass du wahrscheinlich einen echten, in Safran gerollten und mit Blattgold verzierten Pferdepenis mitgebracht hättest.«

»Wohingegen dein Beitrag ein mit Marzipanschwänzen verzierter Biskuitkuchen gewesen wäre«, entgegnete James Royce-Royce.

»Aus ebendiesem Grund«, ich zupfte meine Vulvamütze zurecht, »habe ich euch beide nicht um Hilfe gebeten. Heute Abend feiern wir Bridget. Es sollte keine Gelegenheit für euch werden, euch in einem Cook-off mit Penisthema zu battlen.«

Bridge saß neben mir, trug eine Penismütze und, wie wir alle, ein T-Shirt mit der Aufschrift Bridge’sBitches.Nein,Oliver,ichglaube,dasgehtinOrdnung,wirbenutzendasWortimempowerndenSinn,undjetztistessowiesozuspät,eszuändern, was auf ein Missverständnis mit der Druckerei zurückzuführen war.

»Ein Cook-off mit Penisthema wäre eigentlich ziemlich cool gewesen«, sagte sie.

»Ein geschlechtsneutrales Genitalien-Cook-off«, warf Priya ein. »Ich werde nicht nach Hause zu meinen Freundinnen zurückkehren und ihnen erzählen, dass ich einem Back-Event beigewohnt habe, bei dem sich alles um Schwänze drehte.«

Freundinnen, Plural. Das war eine neue Entwicklung in Priyas Leben, die Bridges Hochzeitssitzordnung durcheinandergebracht hatte. Priya und Theresa waren nach wie vor zusammen, hatten aber über Weihnachten einen Dreier ausprobiert, der sich zu regelmäßigen Treffen und schließlich zu einer festen Beziehung entwickelt hatte. Natürlich gerade zu dem Zeitpunkt, als ich Bridge mit den Hochzeitseinladungen geholfen hatte.

»Weißt du«, sagte ich zu Priya, »Theresa und Andi hätten heute Abend super gerne kommen können. Ich habe sogar T-Shirts für sie drucken lassen.«

Priya zuckte abfällig mit den Schultern. »Ja, aber das Gute an einer Dreierbeziehung ist, dass sich deine Partnerinnen gegenseitig bespaßen können, statt dich zu einer Scheißveranstaltung wie dieser zu begleiten, wo sie so tun müssen, als würden sie deine Arschlochcrew mögen.«

Ich zuckte zusammen. »Vergessen wir bitte nicht, dass sich nicht alle anwesenden Personen kennen, also könnte es falsch rüberkommen, sie als Arschlöcher zu betiteln.«

»Ist schon gut.« Das war Jennifer, die auf dem Schoß ihres Mannes Peter saß und ihren Cocktail übrigens aus einem völlig normal geformten Strohhalm trank. »Brian redet auch ständig so daher.«

»Aber Brian ist selbst ein ziemliches Arschloch«, kommentierte Peter.

Bridget breitete die Arme weit aus, als wollte sie die ganze Gruppe umarmen. »Belassen wir es doch einfach dabei, dass ich euch Arschlöcher lieb habe.«

»Wenn ich so darüber nachdenke«, James Royce-Royce inspizierte nach wie vor seinen unangetasteten Schwanzlolli, »müsste es eigentlich auch arschlochinspirierte Dekoration geben.«

Ich funkelte ihn an. »Müsste es absolut nicht. Mein Onlinesuchverlauf ist sowieso schon schlimm genug.«

»Ach, wirklich?« Priya bedachte mich mit einem Das-glaube-ich-nicht-Blick. »Du und Oliver, ihr wohnt doch praktisch zusammen. Ich könnte wetten, dein Suchverlauf besteht nur aus ›Rezepte für vegane Marmelade‹ und ›schöne Spaziergänge in und um Clerkenwell‹.«

Sah man von meiner Recherche zu geschlechtsneutraler Deko für den Abschied vom Singleleben ab, kam sie damit der Wahrheit erschreckenderweise ziemlich nahe. »Das kannst du nicht wissen.«

»Letzte Woche hast du mir eine E-Mail geschrieben, um zu fragen, was ich von einer Tischlampe halte.« Priya klang vernichtend monoton.

Alle Anwesenden keuchten im Chor.

»Luc«, rief James Royce-Royce. »Nein. Keine Tischlampe.«

»Halt die Klappe«, antwortete ich äußerst erwachsen.

Priya nickte ernst. »Ja, er und Oliver stehen so richtig auf rohes Hardcore-Tischlampenshopping.«

»Halt die Klappe«, antwortete ich äußerst erwachsen.

»Sie tun es fast jedes Wochenende«, fuhr sie fort. »In jedem Zimmer. Auf jedem Tisch.«

»Es war ein Tisch.« Verzweifelt wedelte ich mit den Händen. »Ein einziges Mal.«

James Royce-Royce grinste mich schelmisch über den Rand seines Martini-Glases an und hob eine Braue. »So fängt es immer an. Aber ehe du dich’s versiehst, landet ihr bei dem richtig versauten Zeug wie Deckenflutern.«

»Keine Deckenfluter«, rief ich. Obwohl Oliver erst vor Kurzem behauptet hatte, dass sich ein Deckenfluter gut in meinem Wohnzimmer machen würde.

»Ich hoffe doch sehr, dass ihr wenigstens an Stromschlagverhütung gedacht habt«, sagte Peter.

Ich stand auf, in der Hoffnung, entschlossen und nicht beleidigt rüberzukommen. »Ich hasse euch alle. Will noch jemand etwas zu trinken?«

Glücklicherweise waren die meisten versorgt, nur ein paar von Bridges Kolleginnen verlangten nach einer Runde Cosmos. Cosmoi?

Auf dem Weg zur Bar checkte ich mein Handy, um zu sehen, ob mein wundervoller Anwaltsfreund heute noch kommen würde.

Es tut mir so leid. Stecke bis zum Hals in Arbeit. Ich komme so schnell wie möglich.

Es tut mir so leid. Ich kann immer noch nicht gehen.

Es tut mir so leid. Ich breche in zehn Minuten auf.

Bitte mach dir keine Sorgen. Alles ist gut, und ich werde mich definitiv bald auf den Weg machen.

Ich bin mir sicher, dass du eine großartige Party auf die Beine gestellt hast.

Mir ist bewusst, dass ich gerade einen mangelhaften Freund abgebe. Ich werde es wiedergutmachen, für dich und Bridget.

Ich fahre jetzt los. Bin in zwanzig Minuten da.

Der Verkehr ist schlimmer als erwartet. Sorry.

Das war so typisch für Oliver. Es nervte mich schon ein wenig, dass er nicht hier war, aber seine panischen Nachrichten waren so süß, und ich war in ihn verliebt. Also … Fuck.

Gerade war ich dabei, eine spielerisch frustrierte Antwort zu tippen, damit er sich beruhigen konnte, als ich von hinten in ein Pärchen hineinlief.

»Scheiße.« Mein Daumen rutschte ab, und ich schickte Oliver versehentlich eine Nachricht, die keinerlei Sinn ergab. »Sorry, ich habe nicht –«

Und dann drehte sich mein verdammter Ex zu mir um. Das Schlimmste war, dass ich mich für den Bruchteil einer Sekunde – bevor sich alles zu drehen begann und sich Frösche in meiner Kehle einnisteten – beinahe freute, ihn zu sehen. Schließlich waren wir fünf Jahre zusammen gewesen, und der Teil meines Gehirns, der sich daran gewöhnt hatte, in ihn verliebt zu sein, brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, dass er ein verräterischer Scheißkerl mit Engelsgesicht war.

»Oh mein Gott«, sagte der Mann, von dem ich einst dachte, er hätte mein Leben zerstört. »Luc.«

»Miles«, quiekte ich. »Ist lange her.« Seit du die intimsten Details unserer Beziehung für fünfzig Riesen an die Klatschpresse verkauft hast. Doch ich lächelte trotzdem, weil er meine emotionale Authentizität nicht verdient hatte.

Er lächelte hingegen, als wäre er aufrichtig erfreut, mich zufällig zu treffen. Er hatte schon immer ein umwerfendes Lächeln gehabt, und sein neuer, perfekt gepflegter Bart machte es noch umwerfender. Arsch, Arsch, Riesenarsch.

»Ja, es ist so lange her!« Er wandte sich dem unglaublich perfekt aussehenden jungen Mann neben ihm zu, ein Traum in Glitzer und Regenbögen. »JoJo, das ist Luc, Luc, das ist JoJo.«

»Hi.« JoJo reckte sich auf die Zehenspitzen, um mich auf beide Wangen zu küssen. »Woher kennst du Miles?«

Hatte er mich etwa nie erwähnt? Andererseits, wie sollte er? Übrigens, Darling, du solltest wissen, dass meine letzte Beziehung damit endete, dass ich den Kerl total hintergangen habe? »Oh, wir … wir waren mal zusammen.«

Miles stand plötzlich ganz dicht bei mir. Er hatte mir eine Hand auf den unteren Rücken gelegt. Eine Geste, die halb freundlich, halb besitzergreifend war. »Was für eine wilde Zeit, was, Luc? Wir haben uns so viel zu erzählen. Möchtest du etwas mit uns trinken?«

Selbst wenn ich nicht zurück zu Bridges Party gemusst hätte, stünde das sehr weit unten auf der Liste der Dinge, die ich gern tun würde. Irgendwo zwischen mir meine Augenbrauen mit einer Lötlampe abfackeln lassen und ein Wochenende in einer Badewanne voller toter Tintenfische verbringen. »Das würde ich total gern, aber ich bin gerade sehr beschäftigt. Bridge heiratet, und ich bin ihr Trauzeuge, außerdem müsste mein Freund jeden Moment hier sein …« Als ich Oliver erwähnte, fiel mir auf, wie lächerlich das klang. Ich hätte direkt hinzufügen können: Aber ihr kennt ihn bestimmt nicht, weil er auf eine andere Schule geht.

»Oh, du bist nach wie vor mit Bridge befreundet?«, fragte Miles. »Cool. Ihr beide hattet immer dieses Neunzigerjahre-mein-bester-schwuler-Freund-Ding am Laufen.«

Meinte er das ernst? Meinte er das verdammt noch mal ernst? »So würde ich es nicht gerade …«

»Da wir schon von Hochzeiten sprechen.« JoJo strahlte wie eine Cartoon-Sonne. »Darf ich es ihm erzählen?«

Miles küsste seinen Freund oben auf dessen winzigen Kopf. »Ich glaube, jetzt musst du es sowieso.«

»Wir werden heiraten!«

Ich blickte auf JoJos ausgestreckte Hand hinab. An einem Finger steckte ein funkelnder Diamantring, der viel geschmackvoller war, als ich es Miles je zugetraut hätte – nicht dass ich selbst mehr Geschmack hatte. Vielleicht hatte er ihn mit dem Geld bezahlt, das er für meine Geschichte bekommen hatte. »Oh«, sagte ich, bevor mir auffiel, dass er vermutlich eine etwas ausgelassenere Reaktion erwartete. »Glückwunsch.«

Eine Sekunde lang sagte niemand ein Wort, doch der verlegene Moment sprach für sich. Und wie sollte ich auch sonst reagieren? Miles stand vor mir, grinste mich mit seinem Schuhverkäuferlächeln an, stellte seinen bezaubernden Verlobten zur Schau, als wäre er einer dieser Welpen, die in Designerhandtaschen herumgetragen werden, und tat so, als hätte er mich nicht verdammt noch mal völlig hintergangen.

»Wie dem auch sei«, fuhr ich fort. »Ich sollte. Ich muss. Ja.«

Ich hatte mich gerade erst von ihnen entfernt, als ein neues Lied begann.

Tartarus. Die Single von Jon Flemings mehrfach mit Platin ausgezeichnetem neuen Album Pendulum of the World. Um den Hype um die zweite Staffel von Das ganz große Ding für sich zu nutzen, hatte mein Dad ein paar eindrucksvolle, emotionale Interviews über seinen Kampf gegen den Krebs gegeben, durch den er sich mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert gesehen und gelernt hatte, was wirklich im Leben zählte. Aus irgendeinem Grund war die Tatsache, dass er nie an Krebs erkrankt war – dass niemand ihm je gesagt oder ihm Grund zu der Annahme gegeben hatte, er hätte Krebs –, untergegangen. Er war zum Aushängeschild sämtlicher überlebender Personen geworden. Gerade war er sogar in einer öffentlichen Aufklärungskampagne des National Health Service zu sehen.

In dem Album Pendulum of the World ging es darum, wie verdammt weise und brillant er nun als egoistischer alter Sack im Gegensatz zu dem egoistischen jungen Sack von früher war. Tartarus war sein tiefgründiges Trauerlied darüber, wie er in den Abgrund gestarrt hatte und stärker daraus hervorgegangen war. Dafür hatte er einen Grammy bekommen, und er konnte sich verdammt noch mal ins Knie ficken. Denn das Letzte, was ich gerade brauchte, nachdem ich meinen narzisstischen Ex getroffen hatte, der mich für kurzweiligen Profit verraten hatte, war eine Erinnerung an meinen narzisstischen Dad, der mich für kurzweiligen Profit verraten hatte.

Um mich abzulenken, sah ich auf mein Handy. Die Autokorrektur hatte meine Nachricht an Oliver von »Kein Problem, wir sehen uns dann« in »Kein Problem, siehe Dokument« verwandelt. Darauf folgten mehrere Antworten.

Was für ein Dokument?

War die Nachricht für jemand anderen gedacht? Lucien, stimmt etwas nicht?

Ich komme, so schnell ich kann. Sag mir bitte, falls etwas nicht stimmt. Es tut mir leid, dass es so lang gedauert hat.

Wahrscheinlich hätte ich antworten sollen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen. Das Schicksal – oder das Universum oder was auch immer – hatte mich innerhalb von dreißig Sekunden mit meinem glücklichen und erfolgreichen Arschloch-Ex und meinem glücklichen und erfolgreichen Arschloch-Dad konfrontiert. Und während ich eigentlich auch glücklich und erfolgreich war, war ich mir dessen gerade weniger bewusst, weil mein wundervoller Anwaltsfreund im Stau feststeckte, während mir der fabelhafte, perfekte, Sieh-nur-wie-verlobt-und-wunderschön-ich-bin-JoJo mit seiner farbenfrohen Weste und seinem funkelnden Ring vorgestellt wurde.

Zu allem Überfluss fiel mir gerade wieder ein, dass ich eine gehäkelte Vulva auf dem Kopf trug.

Bridgets Freundinnen zählten auf mich, was ihre nächste Cosmo-Runde anging, aber plötzlich kamen mir meine Trauzeugenpflichten unwichtiger vor als der Drang, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. In der Bar war es zu laut und zu heiß, und ich brauchte frische Luft. Also verstaute ich das Handy in meiner Jeans und zog ab, um mich draußen in Selbstmitleid zu suhlen.

Doch selbst das war leichter gesagt als getan, denn ich befand mich in London, wo »draußen sitzen« bedeutete, meinen Hintern auf einen Gehsteig zu betten, auf dem gleichzeitig siebenundzwanzig Millionen Leute zu laufen versuchten, alle in verzweifelter Eile auf dem Weg irgendwohin und nicht gewillt, auf einen Typen Rücksicht zu nehmen, der ihnen im Weg saß.

Mein Selbsthass war nicht stark genug, um mich von einer gesamten Stadt niedertrampeln zu lassen, also machte ich mich auf die Suche nach einem geeigneteren Ort. Doch weil ich mich in London befand, gab es keinen Platz, der nicht bereits besetzt war. Also schlenderte ich irgendwann in einen schlecht beleuchteten Park, den ich in einem besseren geistigen Zustand gemieden hätte, um nicht ermordet und/oder verhaftet zu werden.

Und da wurde mir bewusst, dass meine beste Freundin mich zu ihrer Maid of Honour gemacht hatte, um mit ihr die Hochzeit zu feiern, von der sie seit ihrem fünften Lebensjahr träumte, und ich mich gerade von ihrem geschlechtsneutralen Abschied vom Singleleben verkrümelt hatte.

Fuck.

Fuckity, fuckity, fuck.

Auf gewisse Weise war es tröstlich. Alle befürchteten immer, sich in einer Beziehung zu verändern, also war es beruhigend zu wissen, dass Oliver meine Fähigkeit, ein schäbiger Freund zu sein, nicht völlig zerstört hatte. Und ein schäbiger fester Freund. Und überhaupt ein schäbiger Mensch.

Fuck.

Schließlich fand ich eine freie Bank und ließ mich darauf plumpsen wie ein Sack verdammt schäbiger Kartoffeln – wenn sie zu lange in der Küche herumlagen und diese komischen knubbeligen Dinger aus ihnen wuchsen. Denn das war ich. Ich war eine Kartoffelperson, aus der knubbelige Dinger wuchsen. Mir war die einfache Aufgabe übertragen worden, ein paar Leuten, die sich gernhatten, einen schönen Abend mit fruchtigen Drinks und Penissnacks in einer Bar zu bescheren, und ich hatte selbst das vermasselt.

Ich sah wieder auf mein Handy.

Wo bist du?

Fuck. Das hatte ich auch vermasselt.

WO BIST DU??!!?? DU OK???!

Das war nicht Oliver, sondern Bridge. Was bedeutete, ihr war meine Abwesenheit aufgefallen. Was bedeutete, dass ich mich an ihrem besonderen Abend – na ja, streng genommen war ihr besonderer Abend sicher ihr Hochzeitsabend, also an ihrem etwas weniger besonderen Abend – in den Vordergrund gedrängt hatte.

Ich zog mir die gehäkelte Vulva vom Kopf und starrte sie an. Sie starrte anklagend zurück, als wäre sie das sexualisierte Auge von Sauron.

Fuck.

Ich war der schäbigste Trauzeuge aller Zeiten.

Fuck.

Ich war ein schlechter Freund und ein schlechter fester Freund, und Leute verarschten und verließen mich ständig, weil ich scheiße war und es verdiente.

Fuck.

»Ist da noch frei?«

Als ich mich umdrehte, stand Oliver hinter mir. Lustigerweise sah er gleichzeitig elegant und zerzaust aus. Die Krawatte hing ihm locker um den Hals, und unter seinem aufgeknöpften Hemd kam das T-Shirt mit der Aufschrift Bridge’s Bitches. Nein, Oliver, ich glaube, das geht in Ordnung, wir benutzen das Wort im empowernden Sinn, und jetzt ist es sowieso zu spät, es zu ändern zutage. Er sah eher besorgt als wütend aus.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte ich.

»Bridget sagte, du wärst verschwunden, also habe ich mich umgehört, ob jemand einen großen Mann mit einer Vagina auf dem Kopf gesehen hat, der aus einer Cocktailbar gerannt ist.«

»Vulva«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Die Vagina ist der innere Teil. Das Äußere nennt sich Vulva.«

Oliver schenkte mir sein wärmstes, beruhigendstes Lächeln. »Jedenfalls ist dein Outfit so auffällig, dass es nicht schwer war, dich zu finden.« Er kam um die Bank herum, setzte sich neben mich und legte mir einen Arm um die Schultern. Ich lehnte mich an ihn, ohne darüber nachzudenken. »Bridget hat mir erzählt, dass sie Miles gesehen hat. Sie dachte, dass du vielleicht deshalb fortgelaufen bist.«

Ich nickte. »Und der Song von meinem Dad lief in der Bar.«

Oliver drückte mich. »Das klingt nach ziemlich viel auf einmal. Es tut mir leid, dass ich nicht da war.«

»Mir auch. Fuck, sorry, ich meinte … Ich meinte, es wäre schön gewesen, wenn du bei mir gewesen wärst. Ich meinte nicht … Ich weiß, du musstest arbeiten.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Es wäre einfach schön gewesen, sagen zu können ›Hi, Miles, fick dich, mein Leben ist super‹.«

Oliver versuchte sich an einem Lachen. »Das hättest du trotzdem sagen können.«

»Ja, aber ich hatte keine Beweise.«

»Du bist der Beweis.«

Irgendwann würde es mich nicht mehr überraschen, wenn Oliver genau das Richtige sagte. Aber nicht heute. »Verdammt, Oliver. Hör auf, so … so … vollkommen umwerfend zu sein.«

Eine Weile saßen wir dort, und ich ließ zu, dass ich mich sicher und geborgen und geliebt fühlte, und er nahm meine Hand und schwieg, weil er nichts sagen musste.

»Außerdem«, fuhr ich fort, weil ich fand, dass sich gut zu fühlen überbewertet wurde, und ich den Moment zerstören wollte, »ist sein Verlobter zwölf Jahre alt oder so.«

»Ich nehme an, du meinst das im übertragenen Sinn?«

»Ja, aber er ist … irgendwie … ein kleiner hübscher Junge namens JoJo. Ich meine, wer heißt schon JoJo?«

»Ich nehme an, das ist rhetorisch gemeint?«

»Ich sage dir, wer JoJo heißt«, fuhr ich fort. »Ein Schwanzgesicht.«

Oliver war immer noch hier und verurteilte mich nicht, trotz meiner Entscheidung, einen unschuldigen Fremden zu beleidigen. »Vielleicht. Aber meiner Meinung nach ist der Mann, der dich für Geld verraten hat und verantwortlich für deine Furcht davor ist, anderen Leuten zu vertrauen, ein viel größeres Schwanzgesicht.«

»Oh ja. Er ist ein riesiges Schwanzgesicht. Was ironisch ist, weil sein Schwanz echt winzig ist.«

»Wirklich?« Oliver lächelte wieder. »Oder willst du nur, dass ich mich besonders fühle?«

»Ach, weißt du, ich erinnere mich nicht. Aber er hat es verdient, einen winzigen Schwanz zu haben. Und wenn du bitte jedem berichten könntest, dass er einen winzigen Schwanz hat, wäre das fantastisch, danke.«

Das brachte Oliver zum Lachen. »Für dich, Lucien, tue ich alles.« Also musste ich ihn wohl oder übel küssen.

Und dann musste ich ihn wohl oder übel noch mal küssen. Nur für den Fall. Und dann fühlte es sich … okay an. Denn der Rest der Welt war mir egal. Also eigentlich nicht, weil ich einen Freundeskreis und einen Job hatte und Dinge, die mir etwas bedeuteten. Aber Miles war mir egal und JoJo erst recht. »Ich glaube …«, sagte ich. »Ich bin bereit zurückzugehen.«

Also standen wir auf, ich setzte mir die Vulvamütze wieder auf den Kopf und ließ mich von Oliver Blackwood – meinem wundervollen Anwaltsfreund – zurück zum geschlechtsneutralen Abschied vom Singleleben meiner besten Freundin führen. Und tief in meinem Herzen wusste ich, dass alles gut werden würde.

Denn es war ja nicht so, als würde ich Miles jemals wiedersehen.

»Okay«, sagte ich zu Alex Twaddle. Mittlerweile gingen mir die Witze aus, doch das Ritual war ein dermaßen fester Bestandteil meines Lebens geworden, dass ich es nicht aufgeben wollte. »Versuchen wir es mal damit. Ein Anwalt kommt zu seinem Mandanten, der bald auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden soll.«

»Das ist ja furchtbar.« Alex sah empört aus. »Und dann auch noch auf so grausame Art und Weise.«

»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Und den Teil mit dem elektrischen Stuhl solltest du dir merken.«

»Gut zu wissen.« Einen Moment lang blickte Alex nachdenklich drein. »So eine Warnung würde allgemein bei deinen Witzen helfen. Ein kleiner Hinweis, worauf zu achten ist.«

»Okay, ich merke es mir fürs nächste Mal. Also, er soll hingerichtet werden, und sein Anwalt kommt zu ihm.«

Alex nickte. »Wissen wir, was er verbrochen hat?«

Wahrscheinlich würde Alex gleich die Pointe vorwegnehmen – wie immer. »Nein, aber da er auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird, muss es etwas Schlimmes sein. Mord oder so.«

»Das sollte aber Teil des Witzes sein.«

Witz abbrechen. Witz sofort abbrechen. »Es tut nichts zur Sache, du wirst gleich sehen.«

»Aber es wäre schon wichtig zu wissen. Vor allem, da ihm der Anwalt bestimmt mitteilen will, dass er doch nicht hingerichtet werden muss. Wäre das nicht lustig? Wenn er die ganze Zeit über dachte, dass er bald stirbt, und dann stirbt er doch nicht.«

»Ja.« Ich war gefangen. Gefangen in dieser absurden Situation mit einem Clown aus der britischen Oberklasse, der ein heimliches Genie war und dem es Spaß machte, mich zu foltern. »Ja, das wäre wirklich lustig. Wie dem auch sei. Der Anwalt erklärt ihm: ›Ich habe eine schlechte und eine gute Nachricht. Meine Bitte, die Hinrichtung zu verschieben, wurde abgelehnt.‹«

Alex grinste. »Ah, eine unerwartete Wendung?«

»Ja. ›Und was ist die gute Nachricht?‹, fragt der Häftling. Und der Anwalt antwortet: ›Ich konnte sie überreden, die Spannung zu halbieren.‹«

»Oh. In der Umsetzung war es doch nicht so lustig, wie ich es mir vorgestellt hatte.«

Es müsste eine Notfallhotline für missglückte Witze geben. Damit jemand kommen und mich aus solchen Situationen retten konnte. »Sorry.«

»Ist nicht deine Schuld. Obwohl ich sagen würde, dass es weniger lustig war, weil ich die Pointe vorher kannte.«

»Meinst du wirklich?«

Alex nickte. »Ja. Weißt du, der entscheidende Bestandteil von Humor ist der Überraschungseffekt. Wenn du also besser im Witze-Erzählen werden willst, solltest du dir nicht in die Karten schauen lassen.«

»Danke, das werde ich mir zu Herzen nehmen.« Okay, das wars. Ich würde jeden Moment …

»Lass mich dir zeigen, wie es geht.« Das konnte unmöglich gut ausgehen.

»Rhys.« Alex steckte den Kopf in unser Social-Media-Büro. »Hast du eine Sekunde?«

Rhys Jones Bowen kam rückwärts aus dem Raum, während er mit seinem Handy sprach, das er hochhielt, als wollte er ein Selfie machen. »Hallo, Internet«, sagte er gerade. »Hier ist Rhys Jones Bowen von C-R-A-P-P, der Wohltätigkeitsorganisation für Mistkäfer. Ich habe gerade meinen Morgenkaffee getrunken, und jetzt hat mich Alex von der Rezeption gerufen, weil er etwas von mir will, also werde ich mal schauen, was –«

»Rhys, was machst du da?«, fragte ich.

Er sah mich an, als hätte ich eine wirklich törichte Frage gestellt, was ich, zugegebenermaßen, auch getan hatte. »Nach was sieht es denn aus: Ich mache einen Livestream.«

»Machen wir so was jetzt?«

»Wir müssen mit der Zeit gehen, Luc.«

Ich bedachte ihn mit meinem skeptischsten Blick. »Absolut nicht. Die Hälfte unserer Computer läuft noch mit Windows 7, und auf der Karte im Flur ist Deutschland in zwei geteilt.«

Leider ignorierte Rhys mein Flehen, das einundzwanzigste Jahrhundert weiterhin aus unserem Büro zu verbannen. »Warum sagst du dem Internet nicht Hallo, Luc?«

»Ich weigere mich zu glauben, dass irgendjemand zuschaut.«

»Wie bitte? Ich habe fünfhundertdreiundsiebzig Zuschauende.«

Das kam mir gleichzeitig wie eine niedrige und eine viel höhere Zahl als angenommen vor. »Bist du dir sicher?«

Er zeigte mir sein Handy, und ich sah dabei zu, wie die Zahl von 573 auf 574 anstieg, während in dem Chat unter dem Video Nachrichten wie »Wer ist dieser Arsch?« und »Wo ist Rhys hin?« auftauchten.

»Kann ich dir jetzt meinen Witz erzählen?«, fragte Alex. »Obwohl es genau genommen Lucs Witz ist.«

Rhys drehte sich, um Alex mit der Handykamera zu erfassen, und nickte ihm zu. »Das wird toller«, er malte mit der freien Hand Anführungszeichen in die Luft, »Content, wie wir Influencer es nennen.«

Alex strich sich übers Haar und gab sein Bestes, um streambar auszusehen. »Also, es geht um einen Häftling, der vielleicht jemanden umgebracht hat. Und er soll auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden.«

»Vielleicht? Auf dieser Grundlage erscheint es mir ein wenig übertrieben, ihn hinrichten zu lassen.« Rhys wandte sich wieder seinem Handy zu. »Seht ihr, das ist das Problem mit dem Strafrechtssystem. Die Reichen und Mächtigen können sich alles erlauben. Aber normale Menschen wie ihr und ich und dieser arme Häftling werden sofort ohne jegliche Beweise hingerichtet.«

Wäre ich schlau gewesen, hätte ich mich davongeschlichen, während sich die beiden gegenseitig ablenkten. War ich aber nicht. »Es ist nur ein Witz, Rhys.«

»Ja, vielleicht ist es nur ein Witz, aber dieser Fall ist ein perfektes Beispiel für die sehr reale soziopolitische Ungleichheit.«

Er hatte nicht ganz unrecht. »In der ursprünglichen Version des Witzes erfahren wir nicht, was der Häftling verbrochen hat.«

»Aber das ist doch ein wichtiges Detail.« Rhys Jones Bowen sah sehr ernst aus. »Oder war er vielleicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Du hast leicht reden, Luc. Sitzt hier bequem in deinem Büro und verurteilst einen Mann, aber so etwas passiert jeden Tag. Wahrscheinlich war der arme Kerl nichts ahnend auf dem Weg zu seinem Job mit grauenhaften Arbeitsbedingungen in einem zunehmend privatisierten System …«

»Nun mach aber mal halblang.« Alex entwickelte ein plötzliches Interesse. »Ich kenne viele, die sehr gut an der Privatisierung verdienen. Sind einen guten Deal eingegangen und verdienen sich jetzt eine goldene Nase. Und das sind alles feine Kerle.«

Oh Gott, was hatte ich getan? Ein simpler Flachwitz hatte sich zu einer Debatte über die langfristigen Auswirkungen der Politik von Margaret Thatcher entwickelt. »Ja, für diese Kerle läuft es super«, sagte Rhys. »Aber für jeden deiner Bekannten, der Profit aus dem Kumpel-Kapitalismus geschlagen hat, gibt es da draußen ein Gegenstück. Wie den armen Mann, der bloß auf dem Weg zur Arbeit war und versehentlich jemanden angefahren hat, weil er drei Schichten hintereinander geschoben hat, da seine Tochter eine Herz-OP braucht und beim National Health Service keine Betten frei sind und –«

»Hätte ich …«, fragte ich hilflos. »Hätte ich einen anderen Witz erzählen sollen? Zum Beispiel: Was ist rund und liegt unterm Baum?«

»Was ist denn rund und liegt unterm Baum?«, fragte Alex.

Ich schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. »Ein schattiges Plätzchen.«

Alex nickte zustimmend. »Ja, den hättest du erzählen sollen. Dann wäre es sicher nicht so politisch geworden.«

Rhys zeigte mir mit einem breiten Grinsen, dass alles in bester Ordnung war. »Es ist doch schön, ab und zu eine ordentliche Diskussion zu führen, oder nicht? Nächste Woche widmen wir uns dem Thema Religion.« Er wandte sich wieder seinem Handy zu. »Wie dem auch sei, liebe Leute, das war es erst einmal von mir. Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Vergesst nicht, auf der C-R-A-P-P-Website vorbeizuschauen und uns auf dem Twitter, dem YouTube, dem Instant Gram, Tick Tocks sowie OnlyFans zu folgen. Wir sehen uns.«

Er beendete den Stream und ließ das Handy in seine Hosentasche gleiten.

»Äh, Rhys«, begann ich zögerlich. »Was ist das für eine Plattform, die du zuletzt genannt hast?«

»Tick Tocks? Heutzutage muss man bei Tick Tocks aktiv sein, Luc. Es dreht sich alles um Video-Content.«

»Wir befinden uns schließlich im zwanzigsten Jahrhundert«, pflichtete Alex ihm bei.

»Nein, nicht TikTok«, sagte ich. »Die danach.«

Rhys strahlte. »Oh, OnlyFans? Ja, ich habe letztens einen Artikel gelesen, und darin stand, dass es total im Kommen ist, also dachte ich, als Social-Media-Manager sollte ich uns dort auch vertreten. Bisher läuft es recht gut.«

»Wirklich?«

»Oh ja. Allerdings bitten mich die Leute ständig, mein Hemd auszuziehen.«

Ich war mir nicht sicher, wie viel ich tatsächlich wissen wollte. »Und hast du es getan?«

»Nun ja, nicht in den letzten Wochen, weil es draußen recht frisch war.«

Okay. Die Grenze war erreicht. Mehr wollte ich nicht wissen. »Toll. Schön, dass du so viel Initiative zeigst. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe wichtige … Fundraising-Sachen zu tun.«

Ich flüchtete zwar nicht Hals über Kopf, aber es war definitiv eine Art Flucht. Ein eigenes Büro hatte den Vorteil, dass ich mich verstecken konnte, wenn ich herausfand, dass sich mein Kollege unabsichtlich in die Welt der Softcore-Pornografie verirrt hatte. Zugegeben passierte so etwas nicht oft, aber bei C-R-A-P-P lag es dennoch so sehr im Bereich des Möglichen, dass ich sehr, sehr froh war, einen Zufluchtsort zu haben.

Mein uralter Computer war kaum vollständig hochgefahren, als mein Handy vibrierte. Auf dem Sperrbildschirm las ich »Nur zu deiner Information«, also wusste ich, dass die Nachricht von Oliver war, bevor ich seinen Namen sah.

Nur zu deiner Information, ich glaube, wir wurden fotografiert, als wir zurück zur Party gegangen sind.

Ich kann dir den Artikel schicken, wenn du möchtest, aberer ist nicht besorgniserregend.

Vor zwei Jahren hätte ich es dank meiner Google-Benachrichtigungen längst gewusst. Doch die neue, verantwortungsbewusste Ich-habe-mein-Leben-im-Griff-Version von mir verspürte nicht mehr den Drang, jeden Artikel in jedem Klatschblatt zu lesen, in dem ich erwähnt wurde. Ich antwortete:

Ist in Ordnung. Ich vertraue dir.

Die Tür öffnete sich, und Alex Twaddle steckte den Kopf herein. »Luc, altes Haus, Dr. Fairclough möchte dich sofort sprechen. Es hat etwas mit Medien zu tun.« Fuck. Nicht schon wieder.

Wenn ich es mir recht überlege, schick ihn mir doch. Ich könnte ihn zur Verteidigung gebrauchen.

Einige Sekunden später tauchte ein Link zu dem anstößigen Artikel auf. Der Titel war: »Wir wussten immer, dass er eine *ussy ist«, was ich aus zweierlei Gründen als unfair empfand: erstens, weil sie es offensichtlich nicht schon immer wussten, sondern das Wortspiel nur wegen der Mütze gewählt hatten, und zweitens, weil ich gar nichts Schlimmes tat. Ich lief mit meinem Freund durch einen Park. Hätte ich keine Vulva auf dem Kopf, wäre es ein wirklich süßes Foto. Verdammt, sogar mit der Vulva war es süß.

Aber Dr. Fairclough wollte mich trotzdem sprechen. Und das war … nicht okay. Knapp zwei Jahre lang war alles gut gelaufen. Der letzte Beetle Drive war ein riesiger Erfolg gewesen. Wir hatten mehr Spendende als je zuvor. Wie viel mehr konnte ich leisten? Sollte ich mir etwa einen zweiten, noch respektableren Freund anschaffen?

Ich beschloss, dass sich Empörung besser anfühlte als Angst, und marschierte, ohne anzuklopfen, direkt in Dr. Faircloughs Büro.

»Ah, O’Donnell«, sagte sie. »Ich habe gerade das Foto gesehen.« Sie drehte ihren Bildschirm zu mir herum, und da waren wir: ich, Oliver und die Vulvamütze.

Und diesmal würde ich nicht klein beigeben. »Jap, das bin ich. Und das ist mein Freund, den ich liebe, und das ist eine Mütze in der Form einer Vulva, weil ich den Junggesellinnenabschied einer Freundin gefeiert habe, und ich dachte, es wäre heteronormativ und / oder transfeindlich, nur Penismützen zu verteilen, also ja, ich bin mit gehäkelten Schamlippen auf dem Kopf durch den Park gelaufen und schäme mich nicht dafür, und wenn C-R-A-P-P ein Problem damit hat, sollten Sie nicht vergessen, dass ich mittlerweile einen Anwalt date und wir uns verdammt noch mal vor Gericht wiedersehen werden.«

Dr. Fairclough blinzelte ein einziges Mal. »Ich wollte nur sichergehen, dass es Ihnen gut geht.«

»Oh.« Es war ja nicht so, als wäre ich auf Streit aus gewesen, aber ich fühlte mich ein bisschen wie ein Matador, der in der Arena auftauchte und freundlich von dem Stier gefragt wurde, ob er seinen Umhang für ihn halten solle.

»Es ist ein durchaus gemeiner Titel«, fuhr sie fort. »Die nennen Sie Tussi.«

Sie hatten mich nicht Tussi genannt. »Ich habe schon Schlimmeres gesehen.«

Dr. Fairclough blinzelte erneut. Ein einziges Mal. Manchmal glaubte ich, dass sie halb Gottesanbeterin war. »Also dann, danke für dieses Gespräch. Ich hoffe, Sie fühlen sich emotional von mir unterstützt.«

Lustigerweise fühlte ich mich wirklich von ihr unterstützt. Ja, ich war mir ziemlich sicher, dass Dr. Fairclough glaubte, menschliche Gefühle wären aus evolutionärer Sicht betrachtet eine Sackgasse, für die unser fehlendes Außenskelett verantwortlich war, aber sie hatte es versucht, was ich ihr zugutehalten musste. »Danke, Dr. F.«

»Nennen Sie mich nicht Dr. F.«

»Sorry. Danke, Dr. Fairclough.«

Mein Leben lief derzeit gut genug, dass die Tatsache, dass gerade nicht von mir verlangt worden war, meine komplette Persönlichkeit zu ändern, um meinen Job nicht zu verlieren, Erleichterung und keine Hochstimmung in mir auslöste. Trotzdem war ich guter Laune, als ich in mein Büro zurückkehrte und E-Mails an Leute verfasste, die uns beim letzten Beetle Drive Geld versprochen hatten.

Etwa eine Stunde später klopfte es an meiner Tür. Das war ungewöhnlich, weil wir bei CRAPP sonst nicht an anderer Leute Türen klopften. Eher steckten wir den Kopf in Büros, liefen uneingeladen in Räume und bekleckerten einander mit heißem Kaffee.

»Herein?«, sagte ich, ohne wirklich darüber nachzudenken.

Und da stand Miles. Auch ohne seinen Verlobten sah er wie ein Mann aus, dem sehr bewusst war, dass er mit einem winzigen glitzernden Wunder verlobt war. So richtig selbstgefällig. »Hi.«

Ich war zu schockiert, um wütend zu sein, zu wütend, um deprimiert zu sein, und zu deprimiert, um schockiert zu sein. »Hallo?« Ich ließ es absichtlich wie einen Gruß und ein Verhör klingen.

»Ich … nachdem wir uns letzte Nacht über den Weg gelaufen sind … Ich habe JoJo erklärt, wer du bist und warum das Gespräch so unangenehm war –«

»War es unangenehm?«, fragte ich in meinem lässigsten Ich-musste-danach-definitiv-nicht-weglaufen-und-mich-verstecken-Tonfall.

»Du weißt, dass es unangenehm war. Und ich weiß, dass wir beide nicht im Guten auseinandergegangen sind.«

Beinahe hätte ich es nicht über mich gebracht, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Fast. »Nicht im Guten auseinandergegangen? Du hast mich verfickt noch mal an ein Klatschblatt verkauft. Das ist nicht Im Schlechten auseinandergehen, das ist Du hast mich aufs Übelste hintergangen.«

»Ich war jung und töricht und rücksichtslos.«

»Du warst jung und ein Arschloch.«

»Sei doch mal fair, Luc.« Er schenkte mir sein umwerfendes Lächeln. »Du warst selbst ein ziemliches Arschloch.«

»Okay, also waren wir beide Arschlöcher. Aber nur eins von uns Arschlöchern ist fünfzigtausend Pfund reicher aus der Beziehung hervorgegangen.«

Aus irgendeinem Grund besaß er die Frechheit, enttäuscht dreinzuschauen. »Reite doch nicht auf dem Geld herum. Es ging dabei nicht ums Geld.«

»Oh, gut. Es ging also darum, mich absichtlich zu verletzen? Das ist so viel besser.«

Ohne zu fragen, setzte sich Miles auf den einzigen freien Stuhl in meinem Büro. »Das habe ich nicht gemeint. Ich … ich habe mich eingesperrt gefühlt, und es kam mir wie ein Fluchtweg vor.«

»Und das Geld war einfach ein Bonus?«

Endlich hatte er den Anstand, beschämt dreinzuschauen.

»Du kommst also nach all den Jahren hierher und erzählst mir das, und was jetzt? Soll das plötzlich alles wiedergutmachen?«

Er ließ den Kopf hängen. »Nicht gut, nein. Ich wollte … JoJo woll– Wir wollen dich zu unserer Hochzeit einladen.«

»Entschuldige.« Ich funkelte ihn an. »Einen vollkommen absurden Moment lang dachte ich, du hättest gerade gesagt, ihr wolltet mich zu eurer Hochzeit einladen.«

»Ja.«

Das konnte ich auf keinen Fall auf mir sitzen lassen. »Lass mich mal nachdenken. Wie wäre es mit … nein? Wie wäre es mit auf gar keinen Fall, selbst wenn die Hölle zufriert; wovon faselst du da überhaupt, du riesiges Stück Scheiße?«

»Du hast –«

Fuck. Es passierte schon wieder. Ich war Bruce Willis in Stirb Langsam 2, und derselbe Bullshit passierte mir gerade ein zweites Mal. »Und sag jetzt bloß nicht, ich hätte jedes Recht dazu, sauer zu sein. Ich weiß, dass ich das Recht dazu habe. Bevor du in mein Büro gewalzt bist wie … wie … wie Walter McWalzface … musste ich nicht sauer sein, weil ich überhaupt nicht an dich denken musste. Ich konnte an normale Dinge denken, wie meinen Job und meinen Freund und die Tatsache, dass einer meiner Kollegen nicht checkt, dass er ein Amateurpornodarsteller ist.«

»Ein Amateur–«

»Frag nicht.«

Miles stand auf und strich seine Jacke auf eine Art glatt, die ausdrückte Ich bin die einzige vernünftige Person in einer unvernünftigen Situation. »Ich wusste, dass es ein Risiko war, hierherzukommen.«

»Und was genau dachtest du, dass du riskierst? Weil es mir so vorkommt, als hättest du bei diesem kleinen Besuch absolut nichts zu verlieren.«

Er entschied sich, meine Bemerkung zu übergehen. »Es würde JoJo viel bedeuten, wenn du kommst.«

»Ich kenne JoJo nicht mal. Warum ist es ihm nicht scheißegal? Warum sollte es mir nicht scheißegal sein?«

»Du warst ein großer Teil meines Lebens, also ist es nur richtig, dass du –«

Das ergab Sinn. Einen verdrehten Sinn. Einen egoistischen Sinn. Einen für Miles sehr, sehr typischen Sinn. »Oh, ach so, es geht also um Absolution. Du willst, dass ich komme, damit du diese Scheißsache, die du mir angetan hast, hinter dir lassen und dein neues Glitzerleben mit deinem neuen Glitzermann beginnen und dir sagen kannst: Ist okay, ich muss mich nicht schlecht fühlen, Luc ist drüber weg, er ist ja zu meiner Hochzeit gekommen.«

»Denk drüber nach.« Aus seiner Jacke holte Miles eine hübsch bedruckte, cremefarbene Karte und legte sie neben mich auf den Schreibtisch. »Es wird für uns beide das Beste sein, wenn wir die Vergangenheit hinter uns lassen.«

Und das war das Problem. Ich hatte die Vergangenheit hinter mir gelassen. Und zwar verdammt gut. »Geh einfach.«

Er ging einfach, blieb aber an der Tür noch mal stehen, um sich mit einem »Bis die Tage mal« zu verabschieden. Dann war ich plötzlich allein in meinem Büro und starrte auf eine Hochzeitseinladung, auf der mit wirbelnden silbernen Lettern stand:

MR MILES EDWARD GREENE UND MR JOHN JOSEPH RYAN FREUEN SICH DARAUF, IHRE VERMÄHLUNG MIT EUCH ZU FEIERN. UM ANTWORT WIRD GEBETEN.

Ich war mit Kochen dran. Was bedeutete, dass heute der eine Abend pro Monat war, an dem meine Schuldgefühle, weil ich nie kochte, stärker waren als Olivers und meine Gewissheit, dass ich furchtbar darin war. Nach einem langen E-Mail-Austausch mit Bronwyn war Oliver zu dem Entschluss gekommen, dass es für eine Person, der Tiere am Herzen lagen, ethisch nicht vertretbar war, vegetarisch, aber nicht vegan zu leben, weshalb er nun komplett auf tierische Produkte verzichtete. Aus diesem Grund hatte ich mich für eine Süßkartoffel-Mangold-Selleriepastete entschieden. Als ich vor ein paar Tagen guteveganeRezepte gegoogelt hatte, war es mir wie eine tolle Idee vorgekommen. Aber als ich auf der Suche nach dem verdammten Sellerie durch die Tesco-Gänge geirrt war, kam es mir bereits wie eine schlechte Idee vor. Und als ich nun zu kochen versuchte, stellte es sich als eine absolut grauenhafte Idee heraus.

Beispielsweise war Teig aus dem Supermarkt nicht vegan, also musste ich ihn selbst machen. Wie sich zeigte, war es sehr, sehr schwierig, einen Teig aus Kokosnussmilch, Mehl und Mandelöl herzustellen. Vor allem, da ich es laut Rezept in den zwanzig Minuten schaffen sollte, in denen die Rote Bete im Ofen röstete, damit alles gleichzeitig fertig wäre.

Nach einer Stunde und zehn Minuten – im Rezept war wohlgemerkt von einer Stunde Vorbereitungszeit die Rede gewesen – war ich bis zu den Ellbogen mit Mehl bedeckt, jonglierte mit drei verschiedenen Auflaufformen, die alle zu unterschiedlichen Zeiten in den Ofen sollten, und versuchte herauszufinden, ob mein Teig mehr Kokosnussmilch brauchte (ich hatte extra mehr gekauft) oder mehr Mehl (ich hatte extra mehr gekauft) oder weniger von einer der beiden Zutaten (wie sollte ich die im Nachhinein rausfischen?). Kurz: Wie jeden Monat wurde mir erneut klar, dass ich in Küchen nicht erlaubt sein dürfte.

Irgendwann erinnerte die Konsistenz des Teigs vage an Kinderknete, sodass ich sie in die Form quetschen und damit beginnen konnte, die verschiedenen Lagen aus Mangoldblättern und Grieß dazuzugeben, die später die Flüssigkeit aufsaugen sollten, obwohl ich bereits ahnte, dass sie das nicht tun würden. Vorsichtig schob ich alles in den Ofen, stellte den Timer ein und unternahm einen kurzen verzweifelten Aufräumversuch, ehe mir auffiel, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte.

Oliver kam in dem Moment nach Hause, als der Rauchmelder losging. »Es duftet köstlich«, rief er aus dem Flur, bevor er ins Wohnzimmer eilte, sich einen Stapel Dokumente schnappte, an denen er gearbeitet hatte, und damit wild unter dem Rauchmelder herumwedelte.

»Danke. Es sollte eigentlich eine Pastete werden.«

»Und was wird es stattdessen?«

»Um ehrlich zu sein …« Ich kam aus der Küche, nahm ihm sanft die Dokumente ab und übernahm das Wedeln. »Wahrscheinlich müssen wir bestellen.«

Das Piepen verklang, und Oliver holte sich seine Dokumente zurück, bevor er mir einen verspäteten Schatz-ich-bin-zu-Hause-Kuss auf die Wange gab. »Ich bin mir sicher, dass es gut wird.«

Das wurde es nie. Doch im Laufe unserer Beziehung hatte ich Oliver dabei zugesehen, wie er tapfer halb garen Kürbis gelöffelt hatte, bei dem es sich praktisch um Mulch handelte, Spinatsuppe geschlürft hatte, die eher an Marmelade erinnerte, und sich durch mehr wässrige Eintöpfe gearbeitet hatte, als ich zählen konnte.

Schließlich servierte ich ihm etwas, das wie Gemüsegrütze aussah, in der stellenweise verbrannte oder rohe Krustenstücke herumschwammen wie ziemlich schäbige Dumplings. Oliver würzte seine Portion großzügig und begann zu essen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er, nachdem er einen besonders widerspenstigen Mangoldklumpen heruntergeschluckt hatte. »Das Essen ist okay, aber das Chaos lässt vermuten«, er deutete auf die Küche, die einem Schlachtfeld glich, »dass du abgelenkter warst als sonst.«

Ich atmete tief durch. Es war keine große Sache. Ich würde nicht zulassen, dass es zu einer großen Sache wurde. »Es ist Miles.«

»Bitte verzeih. Mir war nicht bewusst, dass es dich so aufgewühlt hat, ihn wiederzusehen.«

»Nein, ich meine, es ist schon wieder Miles. Er hat mir einen Besuch abgestattet.«

Durch seine Ausbildung zum Anwalt, dem lebenslangen Nicken und Lächeln gegenüber seinen voreingenommenen Eltern und den zwei Jahren, während denen er so getan hatte, als schmeckte ihm, was ich kochte, hatte Oliver ein beachtenswertes Pokerface entwickelt. Doch nun glaubte ich, einen Hauch von Eifersucht in seinem Blick zu entdecken. »Wann?«

»Heute. Auf der Arbeit.«

Oliver runzelte die Stirn. »Das erscheint mir unangemessen.«

»Ja, Miles hat sich noch nie angemessen verhalten.« Ich mich allerdings auch nicht.

»Was wollte er?«

»Er wollte mir sagen Ich habe einen furchtbaren Fehler begangen, lass uns zusammen durchbrennen, und ich habe geantwortet Natürlich, Big Boy. Ich packe heute Abend meine Sachen.«

Oliver legte seine Gabel ab und bedachte mich mit einem ernsten Blick. »Lucien.«

»Er hat mich zu seiner Hochzeit eingeladen.«

»Ah.« Er schwieg einen Moment. »Möchtest du hingehen?«

Ich war etwas überrascht, dass er überhaupt fragte. »Natürlich nicht. Das wäre verdammt seltsam.«

»Nun denn.« Er nahm meine Hand. Es sollte eine liebevolle Geste sein, aber wahrscheinlich suchte er auch nach einer Ausrede, keine Pastete mehr essen zu müssen. »Das erscheint mir wie ein Problem mit einer sehr einfachen Lösung.«

»Es ist nur …« Fuck. Er teilte mir mal wieder mit, dass er all meine Entscheidungen unterstützen würde, um mich mit der Tatsache zu konfrontieren, dass ich mir selbst nicht sicher war, was ich tun sollte. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob es vielleicht gut für mich wäre?«

Mit dem Daumen fuhr er sanft über meine Fingerknöchel, als hätten wir alle Zeit der Welt. Als gäbe es in diesem Augenblick nichts Wichtigeres als dieses Gespräch. »In welchem Sinn?«

»Ich weiß es nicht. In dem Sinn, dass ich danach damit … abschließen könnte. Sodass ich aufstehen und sagen könnte Hey, du hast mich total zerstört, aber jetzt geht es mir gut, und ich wünsche dir alles Gute. Außerdem würde ich auf seiner Hochzeit gern mit meinem wunderschönen, erfolgreichen Freund auftauchen, um ihm das selbstzufriedene Grinsen aus dem lächerlichen, bärtigen Gesicht zu wischen.«

Oliver lachte. »Sollte ich das als Kompliment nehmen oder mich benutzt fühlen?«

»Oh, sind wir uns etwa zu schade, um ein bisschen ausgenutzt zu werden?«

»Das kommt auf die Situation an.«

Es war schön, einfach mit Oliver hier zu sitzen und ein bisschen zu flirten, obwohl ich in einer Minikrise steckte. Das machte die Minikrise jedoch nicht weniger krisenhaft. »Ich drehe mich im Kreis«, sagte ich. »Im einen Moment denke ich Warum ziehst du es überhaupt in Betracht, scheiß auf ihn, und dann denke ich wieder Aber gibst du ihm damit nicht noch mehr Macht über dich, und dann komme ich wieder zu Oder vielleicht will er, dass ich so denke und … gah!«

»Du bist ein komplizierter Mann, Lucien O’Donnell.«

»Danke, ich gebe mir Mühe.« Ich seufzte. »Ich glaube, das ganze Vertragen-wir-uns-wieder-obwohl-ich-dich-hintergangen-habe-Ding bringt ziemlich viel Zeug zurück ans Licht, und ich bin mir nicht sicher, wohin ich … na ja … dieses Zeug stecken soll.«

Oliver nickte. »Das ergibt Sinn. Aber ich glaube nebenbei bemerkt nicht, dass sich die Situation so gut mit der Sache mit deinem Dad vergleichen lässt, wie du vielleicht denkst.«

Das war genau, was ich gedacht hatte. Auch wenn ich es nicht so formuliert hatte. »Nicht? Bringe ich mich in meinem Leben nicht immer wieder in eine Lage, in der Leute auf mich scheißen und dann sagen ›Hey, erinnerst du dich an das eine Mal, als ich auf dich geschissen habe? Wäre super, wenn wir das hinter uns lassen könnten‹?«

»Ich denke oder hoffe vielmehr«, er sah mich über den Rand seiner Schale mit Nichtpastete ernst an, »der Unterschied ist, dass dir nicht so viel an Miles liegt. Er versucht nicht, Teil deines Lebens zu sein, er bittet dich lediglich, zu seiner Hochzeit zu kommen. Und das vermutlich aus egoistischen Gründen. Ich bezweifle nicht, dass es darum geht, dass er und sein neuer Ehemann sich besser fühlen, und weniger darum, dass du dich besser fühlst. Aber er verlangt nicht von dir, dich zu irgendetwas anderem zu verpflichten.«

»Sie werden ein Geschenk erwarten.«

Oliver lächelte. »Dann kauf ihnen einen Toastständer und lege eine Nachricht rein, in der du fragst, wann er dir die fünfzigtausend Pfund zurückzahlt, die er dir schuldet.«

Olivers fiese Seite gefiel mir. Sie zeigte sich nicht oft, aber damit brachte er die Dinge immer auf den Punkt. »Das könnte ich tun. Falls ich hingehe. Sollte ich hingehen?«

»Du weißt, dass ich dir diese Entscheidung nicht abnehmen kann.«

»Warum nicht? Das wäre so hilfreich. Du könntest einfach sagen ›Sorry, Lucien, ich bin über die Maßen eifersüchtig, und ich lasse dich nicht zu Miles’ Hochzeit gehen‹.«

»Sorry, Lucien«, wiederholte Oliver zuvorkommend. »Ich bin über die Maßen eifersüchtig und lasse dich nicht zu Miles’ Hochzeit gehen.«

»Ach, das ist doch scheiße.« Ich bemühte mich um meinen besten Schmollmund. »Du meinst es eindeutig nicht ernst.«

Oliver sah mich gespielt reuig an. »Ich weiß, ich bin ein unzulänglicher Freund und habe keine Ahnung, wie du es mit mir aushältst.«

»Aber du musst doch eine Tendenz haben, oder?«, bohrte ich nach.

Oliver dachte einen Moment nach. Er gab nie übereilte Antworten auf wichtige Fragen. »Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich großen Spaß auf der Hochzeit einer völlig fremden Person hätte. Und du bist Miles nichts schuldig, also solltest du weder ihn noch JoJo in deine Entscheidungsfindung miteinbeziehen.«

»Ich habe das Gefühl, dass gleich ein riesiges Aber kommt.«

»Ich war auf dem Weg dahin, aber jetzt hast du mein Hintertürchen unwiederbringlich zugeworfen.«

Dies war ein sehr ernstes Gespräch über sehr ernste Themen, und Oliver nahm sich die Zeit, ein guter Freund zu sein, aber ich konnte das unmöglich unkommentiert lassen. »Oliver, ich würde dein Hintertürchen niemals mit Ignoranz strafen.«

»Lucien.« Sein Blick war weich geworden, während er verbissen versuchte, den ernsten Zug um seinen Mund beizubehalten. »Du machst es mir nicht leicht, meinen Satz zu Ende zu bringen.«

»Sorry. Sorry.« Ich zögerte kurz. »Bitte erläutere mir dein Hintertürchen.«

»Aber«, begann Oliver vorsichtig, »nur weil Miles sich egoistisch verhält, bedeutet das nicht, dass es nicht gut für dich wäre, zu seiner Hochzeit zu gehen. Wenn es dir wirklich hilft, mit der Vergangenheit abzuschließen, und es dir danach besser geht, solltest du es nicht allein aus dem Grund nicht tun, weil es ihm dann auch besser gehen würde. Ergibt das Sinn?«

Das tat es. Irgendwie. »Aber was, wenn es mir schlechter geht, weil ich weiß, dass es ihm dadurch besser geht?«

»Vielleicht solltest du dich dann nochmals fragen, ob er nicht doch Macht über dich hat.«

Oh. Ja, richtig. Ich ließ die Schultern hängen. Eigentlich war ich doch nicht mehr … so. »Warum haben andere Personen immer noch ständig Macht über mich?«

»Nun ja, eine dieser Personen war dein Vater, also ist seine Macht über dich vorprogrammiert. Und die andere ist der Mann, den du mal geliebt hast und der dich hintergangen hat.«

»Also muss ich zu der Hochzeit gehen, um zu beweisen …«

Ich hatte keine Ahnung, worauf ich hinauswollte, doch dankenswerterweise unterbrach Oliver mich. »Du musst überhaupt nichts tun, um irgendeiner Person irgendetwas zu beweisen. Nicht Miles gegenüber und nicht mir gegenüber, nicht einmal dir selbst.«

Das dachte er. Er war aber nicht ich.

»Wie dem auch sei«, fuhr er fort. »Du hast noch Zeit, um darüber nachzudenken. Und wenn du hingehen möchtest, werde ich dich natürlich begleiten. Und wenn nicht … dann werde ich auch an deiner Seite sein. Und wir werden etwas viel Interessanteres machen, als deinem Ex-Freund dabei zuzusehen, wie er gemeinsam mit einem Mann, den du erst einmal getroffen hast, eine riesige, teure Party schmeißt, um eine Beziehung zu feiern, die dir nichts bedeutet.«

Ich blinzelte. »Wow. Das ist selbst nach meinem Empfinden eine ziemlich zynische Einstellung zum Thema Hochzeit, und mein Dad war ein Junkie-Arschloch, der meine Mum sitzen lassen hat, bevor ich sprechen konnte.«

»Ich habe nichts gegen die Ehe im Allgemeinen.« Oliver schenkte mir ein knappes Lächeln. »Ich bin nur nicht die Art von Person, die ein derartiges Ereignis genießen würde, wenn mir nichts an dem Pärchen liegt.«

Da ging es mir ähnlich. Ich hatte lediglich zugesagt, Bridge bei ihren Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, weil sie meine beste Freundin war und ich ziemlich sicher war, dass sie das Wichtigste selbst schaffen würde. Natürlich lag das teils daran, dass ich die meiste Zeit meines Lebens geglaubt hatte, ich würde nie heiraten dürfen. Und irgendwie war die Vorstellung schön, dass ich, wäre ich heutzutage Kind, die Möglichkeit hätte, meine Traumhochzeit mit dem Mann meiner Träume zu planen. Auf der anderen Seite fühlte es sich so an, als hätte ich etwas verpasst. »Ich verstehe, was du meinst. Und nur um das klarzustellen: Mir liegt absolut nichts an Miles. Gar nichts. Noch nicht mal ein klitzekleines bisschen.«

»Gut.«

Er sprach das Wort so fest aus, dass es sich endgültiger anfühlte als sein Ich-unterstütze-dich-egal-wie-du-dich-entscheidest-Gebaren. »Oliver«, sagte ich, weil ich das auf jeden Fall festhalten wollte. »In Wahrheit bist du ein kleines bisschen eifersüchtig, oder?«

»Nein.«

Seine Antwort kam viel zu schnell, als dass sie mich hätte überzeugen können. Ich grinste triumphierend. »Doch, bist du. Oh mein Gott, du bist eifersüchtig. Das ist großartig, weil es bedeutet, dass du mich so sehr magst, dass du nicht willst, dass mich eine andere Person bekommt. Oder es ist total beleidigend, weil es bedeutet, dass ich so gebrochen bin, dass ich zu einem Typen zurückgehen würde, der mich verraten hat und jetzt einen anderen Mann heiratet.«

»Natürlich mag ich dich, Lucien«, murmelte Oliver. »Generell. Wenn auch nicht gerade in diesem Moment. Und ich weiß, dass es irrational ist. Ich wurde zwar schon oft verlassen, aber meistens aus banalen Gründen, und nicht, weil einer meiner Partner mit seinem Ex bei dessen Hochzeit durchgebrannt ist.«

Früher wäre dies eine verlockende Möglichkeit für mich gewesen, etwas in die Richtung von Ich verspreche dir, wenn ich dich verlasse, wird es wegen etwas Banalem sein zu sagen. Aber Oliver war oft verlassen worden, und auch wenn er es als Witz verstanden hätte, hätte ich ihn damit verletzt. »Ich verspreche dir, dass ich dich nicht verlassen werde. Nicht wegen Miles. Nicht weil du Veganer bist. Nicht einmal wegen dem einen Mal, als du total sauer auf mich warst, weil ich meine Socken im Wohnzimmer liegen lassen habe.«

Das ließ ihn sofort aufleben. Sein Blick wurde stahlhart. »Es gibt einen Ort für Socken.«

Und wahrscheinlich sagte es etwas darüber aus, wie seltsam mein Gehirn war oder wie merkwürdig unsere Beziehung war, aber es turnte mich ein bisschen an, wenn er mich wegen meiner Socken schimpfte. »Tut mir leid.« Ich versuchte vergeblich, zerknirscht zu klingen. »Ich bin eine dreckige Sockenhure.«

»Lucien, versuchst du etwa, aus meiner Verärgerung über deine Unfähigkeit, hinter dir aufzuräumen, eine Art Sexspiel zu machen?«

Ich sah ihn hoffnungsvoll an. »Funktioniert es?«

»Du hast die Küche ins Chaos gestürzt.«

»Ich weiß. Ich muss bestraft werden.«

»Du wurdest bereits bestraft. Du musstest diese schreckliche Pastete essen.«

»Das ist ganz und gar nicht die Art Bestrafung, die ich im Sinn hatte.«

Oliver erhob sich und räumte die Schalen vom Tisch. »Im Gegensatz zu dir empfinde ich es nicht als Kompliment, dass du Sex mit mir als Bestrafung ansiehst.«

»Ach, das ist nur, weil ich nicht finde, dass ›Komm und gib’s mir, weil ich dich so gern habe‹ besonders sexy klingt.«

»Aber Lucien.« Olivers Tonfall war sehr tief und sehr weich geworden. »Ich habe dich tatsächlich gern. Sogar sehr, sehr gern.«

Okay, vielleicht funktionierte das doch. Allerdings machte es mir immer noch Angst, wie verletzlich ich mich selbst nach zwei Jahren Beziehung und Selfcare und emotionaler Entwicklung beim Sex fühlen konnte. Also war es um einiges leichter ›Versohl mir den Hintern, Daddy‹ zu sagen, was ich eindeutig nicht ernst meinte, wenn wir beide wussten, dass es eigentlich ›Halte mich in deinen Armen, ich liebe dich‹ bedeutete, was ich auf jeden Fall ernst meinte. Gerade versuchte ich, die richtigen Worte zu finden, um ihm das mitzuteilen – was auf die oben genannte emotionale Entwicklung zurückzuführen war –, als Oliver, der die Schalen in der Küche abgestellt hatte, zurückkam und mich fest am Handgelenk packte.

»Was machst du –«, begann ich, wurde jedoch im nächsten Moment auf den Tisch gedrückt.

»Ich zeige dir, wie gern ich dich habe.«

Argh. Hilfe. Meine Gefühle. Ich versuchte, nicht überall zu schmelzen. »Ich werde ein schlechtes Gewissen haben, falls wir den Tisch kaputt machen.«

»Wirklich?«, fragte er. »Ich überhaupt nicht.«

Und dann küsste er mich, und es kümmerte mich auch nicht mehr. Denn egal, was sonst noch in meinem Leben abging – trotz Miles und JoJo, Ryan und Bridges Hochzeit und dem Chaos meiner Vergangenheit und dem Chaos, das ich wahrscheinlich aus meiner Zukunft machen würde –, ich hatte Oliver, und er hatte mich, und ich war auf peinliche, eklige Weise total in ihn verliebt. Ganz besonders wenn er wie jetzt genau wusste, wie er mich berühren musste – rau und sanft und vorsichtig und unendlich … Oliver. Wenn er wusste, wie er mich meine Unsicherheiten und meine Befangenheit vergessen lassen konnte, sodass ich mich nicht dafür schämte, mich an ihn zu klammern, wie ich es gerade brauchte, und ihn sich an mich klammern ließ, wenn er es brauchte. Oder dafür, ihm zu sagen, wie wundervoll er war, wie glücklich er mich machte. Und all die anderen Dinge, für die ich gerade erst die richtigen Worte zu finden begann.

Und ich sagte nicht mal ›Ich habe es dir ja gesagt‹, als wir den Tisch total zerstörten.

Während der nächsten Tage beschäftigte mich die Frage, ob ich zu Miles’ Hochzeit gehen wollte oder nicht. Die Liste mit Contra-Argumenten war lang: Es wäre Zeitverschwendung, Oliver würde dort niemanden kennen und deshalb einen schrecklichen Abend haben, und, ach ja, da war noch das winzig kleine Detail, dass ich mit meiner Anwesenheit die Message verbreiten würde, dass es vollkommen okay war, dass Miles mich aufs Übelste verraten hatte.

Doch aus irgendeinem Grund hielt mich all das nicht davon ab, heimlich hingehen zu wollen.

Weil es bei mir gut lief. Mein Job gefiel mir – auch wenn ich das meiner CRAPP-Kollegschaft gegenüber niemals zugegeben hätte. Meine Beziehung mit Oliver war stärker als je zuvor, obwohl ich bei Miles nach zwei Jahren natürlich auch nicht gedacht hatte Wow, dieser Typ wird mich schlimmer verletzen, als es irgendein Mensch je getan hat. Und, Herrgott, was tat mein Gehirn? Warum verglich es das egoistische Arschloch, mit dem ich vor einem knappen Jahrzehnt zusammen gewesen war, mit dem objektiv gesehen besseren Mann, mit dem ich aktuell zusammen war?

Oliver war doch objektiv gesehen besser, oder? Unsere Beziehung war objektiv gesehen besser. Wir waren älter und erwachsener und vernünftiger und … Moment. Waren wir einfach bloß langweilig? War unsere Beziehung sicher und vorhersehbar und voller Tischlampen? Okay, aufgrund des letzten Vorfalls steuerten wir auf den Punkt zu, an dem wir mehr Lampen als Tische besaßen. Was eindeutig nicht langweilig war. Da wir immer noch Möbel zerstörten, mussten wir irgendetwas richtig machen.

Okay. Das war genau der Grund, aus dem ich zu der Hochzeit gehen musste. Um meinem Ex-Freund, dem Verlobten meines Ex-Freundes, den ich erst ein einziges Mal getroffen hatte, und einem Haufen fremder Personen zu beweisen, dass ich frei und glücklich und darüber hinweg war und einen unendlich viel besseren neuen Freund hatte. Und wenn mir das gelang, würde mir vielleicht auch mein Hirn glauben.

Bis dahin musste ich jedoch a) mich in den Griff bekommen und b) zurück in die Realität finden. Vor allem da Oliver und ich heute Abend ausgingen, und zwar auf ein richtiges erwachsenes Wir-sind-in-einer-Beziehung-Date. Wir planten – und es fiel mir schwer, das in aller Ernsthaftigkeit zu sagen – ein schickes Abendessen und danach einen Musicalbesuch. Er hatte uns einen Tisch im Stem & Glory reserviert, offenbar eins der besten veganen Restaurants in London. Und mir wurde langsam wirklich bewusst, dass die besten veganen Restaurants der Stadt besser waren als gewöhnliche Restaurants, wo sie mir ein Stück tote Kuh serviert hätten. Und danach … Das war schwieriger gewesen. Oliver wollte Tod eines Handlungsreisenden