Forget me Someday - Chris Kaspar - E-Book
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Forget me Someday E-Book

Chris Kaspar

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Beschreibung

Ihre geheime Mission: Alles über ihn herausfinden.

Was sie dabei nicht verlieren darf: ihr Herz.

Alena will einen Neuanfang wagen: weg von ihrer toxischen Mutter, endlich auf eigenen Beinen stehen. Um an ihrer Traum-Uni in Hamburg studieren zu können, muss sie für ein Stipendium einen Nachruf über den YouTuber Kill einreichen. Doch der arrogante Mädchenschwarm ist nicht nur unverschämt sexy, sondern auch alles andere als tot. Wobei das niemanden wundern würde, so waghalsig wie er in seinen YouTube-Challenges mit seinem Leben umgeht. Auf der Suche nach seinem dunkelsten Geheimnis, schleicht Alena sich kurzerhand in Kills Leben. Allerdings hat sie nicht mit der Anziehung gerechnet, die ab der ersten Minute zwischen Kill und ihr herrscht. Und je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto höher steigt der Preis für das Stipendium: Denn dass Alena sich in Kill verliebt, war nie Teil des Plans …

»So emotional und spannend! Ich wünschte, ich könnte diese Geschichte vergessen und noch mal neu lesen.« Antonia Wesseling, Bestseller-Autorin

Mit sprudelnder Leichtigkeit lässt es Chris Kaspar in dieser Enemies-to-Lovers Romance ordentlich knistern – dabei sind Herzklopf- und Schnappatmungsmomente garantiert.  

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Das Buch

Ihre geheime Mission: Alles über ihn herausfinden.

Was sie dabei nicht verlieren darf: ihr Herz.

Alena will einen Neuanfang wagen: weg von ihrer toxischen Mutter, endlich auf eigenen Beinen stehen. Um an ihrer Traum-Uni in Hamburg studieren zu können, muss sie für ein Stipendium einen Nachruf über den YouTuber Kill einreichen. Doch der arrogante Mädchenschwarm ist nicht nur unverschämt sexy, sondern auch alles andere als tot. Wobei das niemanden wundern würde, so waghalsig wie er in seinen YouTube-Challenges mit seinem Leben umgeht. Auf der Suche nach seinem dunkelsten Geheimnis, schleicht Alena sich kurzerhand in Kills Leben. Allerdings hat sie nicht mit der Anziehung gerechnet, die ab der ersten Minute zwischen Kill und ihr herrscht. Und je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto höher steigt der Preis für das Stipendium: Denn dass Alena sich in Kill verliebt, war nie Teil des Plans …

Die Autorin

© Privat

Chris Kaspar, geboren 1990, liebt es, Leser*innen an ihre Geschichten zu fesseln. Dafür braucht sie weder Seil noch Klebeband, nur Worte. »Forget me Someday« ist ihr hochemotionales New Adult Romance Debüt. Weil ihr Herz für Bücher schlägt, arbeitet sie seit 2014 in einem Verlag. Die Autorin lebt mit Mann und Katze in Unterfranken.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autor*innen und Illustrator*innen:www.planet-verlag.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Larissa.Weil es ohne dich dieses Buch nicht geben würde.Danke.

»Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen«,sagte der Fuchs. »Aber du darfst sie nicht vergessen.Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was dudir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Roseverantwortlich.«

Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry

ALLO?«, rufe ich in mein Handy.

Die Antwort geht im nervtötend lauten Brummen der Bodenwischmaschine unter, die Sandro durchs Foyer des Planetariums schiebt. Ich beuge mich über das Treppengeländer im ersten Stock und wedle wild mit meinem Putzlappen. Sandro sieht mich nicht. Toll.

Seufzend lasse ich den Lappen zurück in den Putzeimer fallen und drücke mir das Handy fester ans Ohr. »Einen Moment bitte!« Ich haste zum Ausgang Nord. Die schwere Glastür fällt hinter mir ins Schloss. Endlich verstummt das Brummen.

»Spreche ich mit Ally Dannenberg?«, fragt eine Frauenstimme aus dem Handy.

Alena, nicht Ally! Ich schlucke die Antwort runter. »Ja?« Es klingt wie eine Frage, als wüsste ich selbst nicht so recht, wer ich bin.

»Hier ist Juliana von Style Your Life.«

Mein Herz macht einen Hüpfer gegen den Brustkorb und ich schnappe nach Luft. Auf diesen Moment warte ich seit FÜNF Tagen. Nein, eigentlich schon mein halbes Leben!

»Bist du noch da?« Dass mich die Chefredakteurin des angesagtesten Onlinemagazins Hamburgs duzt, macht diesen Moment nicht gerade realer. Schon beim Vorstellungsgespräch letzte Woche hat mich das ziemlich aus dem Konzept gebracht. Aber genau deshalb ist Style Your Life genau das Richtige für mich: jung, modern, kein Stock im Arsch. Der Fokus des Magazins liegt auf so gut wie allem, was die Gen Y und Z bewegt. Zum Glück kann Juliana mich gerade nicht sehen. Mein Arbeits-Outfit wirkt wie eine Aufforderung an die Modepolizei, mich ganz lange wegzusperren.

»Äh … ja. Sorry, bin da.« Innerlich würde ich mir gerne eine verpassen. Juliana Langfeld ruft MICH an und ich verhalte mich, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Unterhaltung führen. Sehr professionell …

»Ich möchte dir gratulieren. Du hast es in die engere Auswahl geschafft.«

Mein Mund klappt auf. »Das ist … wow!« Ein aufgeregtes Kieksen entweicht meiner Kehle. Ja, das ist wirklich wow, absolut WOW sogar! Aber ich muss mich jetzt echt zusammenreißen und wenigstens einen vernünftigen Satz von mir geben!

Juliana stößt ein freundliches Lachen aus. »Drei weitere Kandidatinnen sind im Finale.«

»Oh!« Eine Welle der Enttäuschung erfasst mich und spült meine Euphorie davon. Drei Konkurrentinnen? Das ist nicht gut, gar nicht gut. Ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. Zu gerne würde ich das der Sommerhitze in die Schuhe schieben, aber die Sonne geht auf der anderen Seite des Planetariums auf, was bedeutet, ich stehe im kühlen Schatten. Außerdem ist es windig, typisch Hamburg eben.

»Damit wir eine Entscheidung treffen können, bekommen alle Finalistinnen dieselbe Aufgabe. Möge die Beste gewinnen!«

»Ich mach ALLES!« Die Worte sind raus und schon fällt mir auf, wie verzweifelt sie klingen. Grandios.

»Dann solltest du mit einem Nachruf keinerlei Probleme haben. Abgabe ist in zwei Wochen, am vierzehnten Juli.«

»Ein … Nachruf?« Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Wer ist denn gestorben?« Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich hoffe, es war eine wichtige Persönlichkeit. Obwohl … die Person kann nicht besonders wichtig gewesen sein, wenn ich zwei Wochen Zeit habe, den Nachruf zu schreiben. Ich beiße mir auf die Zunge, um die nicht gerade sehr einfühlsamen Gedanken zu verdrängen.

»Niemand.«

»Niemand?«

»Wir wollen vorbereitet sein, das ist alles.«

Oje, ich weiß, was das bedeutet. Bei berühmten Persönlichkeiten halten die Medien Nachrufe und Dokumentarfilme in der Hinterhand, um im richtigen Moment handlungsfähig zu sein – wobei richtig bedeutet, dass die Person gestorben ist. Makaber? Hell, yes! Aber das ist nun mal das Business. Der Tod der Queen ist ein Paradebeispiel für die enorme Reaktionsfähigkeit. Kaum kam die Meldung, dass die Queen gestorben ist, schon überschlugen sich die Medien mit ihren Nachrufen. Sogar Biografien lagen in Rekordzeit in Buchhandlungen, Bücher, die längst geschrieben waren, in denen nur noch das Sterbedatum ergänzt werden musste, bevor sie in den Druck gingen.

»Und wer ist nicht gestorben?« Ich lehne mich mit der Schulter gegen einen der riesigen rotgeziegelten Pfeiler, die das Planetarium umgeben.

»Kill von Kill Your Fears.«

Innerlich stöhne ich auf. »Der YouTuber?«

»Ich dachte, du kennst ihn womöglich sogar persönlich. Immerhin seid ihr beide in den gleichen Kreisen unterwegs.«

Wenn sie damit meint, dass Kill und ich ein Leben vor der Kamera führen – führten, verdammt! – mag das stimmen. Ansonsten könnten unsere Kreise nicht weiter voneinander entfernt sein. Bestimmt hat er schon mal von Allys World of Beauty gehört, ja. Ab einer bestimmten Followerzahl kennt man sich einfach, auch ohne sich zu kennen. Wir waren sogar schon ab und zu auf den gleichen Events, aber da war meist so viel Trubel, dass wir uns nie begegnet sind. Und mein Bauchgefühl sagt mir, Kills Interesse für die neuesten Trends in Sachen Make-up, Haarroutine oder Klamotten hält sich in Grenzen. Liegt vielleicht daran, dass er immer den gleichen Look trägt: schwarzes Shirt, schwarze Slim Fit Jeans, schwarze Sneaker. Aber vielleicht unterschätze ich ihn auch. Vielleicht steckt in seiner Just-out-of-bed-Wuschelmähne jede Menge Arbeit und Haarspray. Vielleicht könnte seine Sammlung an Hautpflegeprodukten meiner Konkurrenz machen. Und vielleicht sind seine Wangen- und Kieferknochen nur dank aufwendigem Contouring so markant. Wer weiß? Bei zwei Dingen bin ich mir allerdings sicher: Er ist keiner meiner Follower und die Schnittmenge unserer Community ist vielleicht gerade mal vierstellig.

»Ich habe ein paar seiner Videos gesehen, aber persönlich kenne ich ihn nicht.« Ersteres ist die Untertreibung des Jahrhunderts, weil ich einige seiner Videos sehr wohl kenne, Letzteres die Wahrheit.

»Schade …« Juliana seufzt so tief, das man glauben könnte, ihr heiß geliebter Chihuahua wäre vor Kurzem eingeschläfert worden.

»Äh … ja … schade …« Ich spüre einen Stich in meinem Bauch. Bin ich nur wegen meinen Followerzahlen in der engeren Auswahl? Geht es hier gar nicht um mich, sondern nur um Allys World of Beauty?

»Du verstehst sicher, warum wir für Kill einen Nachruf auf Lager haben wollen.«

Ich nicke.

»Absolut«, platze ich heraus, als mir klar wird, dass sie mich nicht sehen kann. Oh heiliger Schokobrownie, was ist nur los mit mir?! Haben die Putzmitteldämpfe mein Hirn angegriffen?

»Wunderbar. Dein Beitrag sollte maximal eine Minute lang sein, je mehr Bildmaterial desto besser – du weißt ja, die Gen Z mag es knackig.«

»Wie … eine Minute? Ich dachte, ich soll den Nachruf schreiben?«

»Oh, hatte ich das beim Vorstellungsgespräch nicht erwähnt?« Tastaturklappern ist zu hören. »Wir wollen wieder näher an der Zielgruppe dran sein.«

Mein Mund wird trocken. »Das heißt …?«

»TikTok wird unser neues Steckenpferd.«

Die Worte TikTok und Steckenpferd in einem Satz zu hören, klingt definitiv falsch. Aber das ist nicht der Grund für den eisigen Schauer, der von meinem Haaransatz über den Nacken jagt. »Sie wollen, dass ich einen Nachruf in ein TikTok verpacke?«

»Ganz genau. Die Details zur Aufgabe schickt dir meine Assistentin per Mail. Am wichtigsten sind die Emotionen, die müssen gut rüberkommen. Aber das brauche ich dir ja nicht zu erklären, du bist ja eine alte Häsin was TikTok angeht.« Sie lacht glockenhell auf. »Sei kreativ, alles ist erlaubt, nichts ist verboten. Je exklusiver das Material, desto besser. Ich bin gespannt auf deinen Beitrag – überrasch mich! Einen schönen Tag noch.«

Überrasch mich! Überraschen? Mit einem Nachruf? Wie soll ich das bitte anstellen?

»Ja … also, danke«, antworte ich wenig überzeugend.

Keine Reaktion.

»Hallo?« Ich nehme das Handy vom Ohr und schaue aufs Display. Der Anruf wurde beendet. Für Verabschiedungsfloskeln hat die Chefredakteurin von Style Your Life offenbar keine Zeit.

Unschlüssig bleibe ich an den Pfeiler gelehnt stehen und starre auf mein Handy. Ist das gerade wirklich passiert? Als Kat, meine Mitbewohnerin, mir vorgeschlagen hat, ich sollte mich auf das Stipendium bewerben, hätte ich nie zu träumen gewagt, dass ich mit meinem unterirdischen Abi auch nur zum Vorstellungsgespräch eingeladen werde. Und jetzt das. Ich bin im Finale! Der Traum vom Studium ist in greifbare Nähe gerückt. Medien- und Kommunikationswissenschaft – ich komme!

Aber … neben der Tatsache, dass es nicht um einen geschriebenen Artikel geht, hinterlässt vor allem Julianas Enttäuschung darüber, dass ich Kill nicht persönlich kenne, einen faden Beigeschmack. Was, wenn sie mich wirklich nur wegen Allys World of Beauty in die engere Auswahl genommen hat? Weil sie hofft, dass ich Connections habe – zum Beispiel zu Kill oder anderen reichweitenstarken Social-Media-Größen? Glaubt sie etwa, ich würde das Magazin mit meinem Namen und meiner Reichweite pushen? So oder so wird das nicht passieren! Ally und mich trennen über 300 Kilometer. Ich habe sie – genau wie Mum – in Berlin zurückgelassen. Alena Dannenberg und Ally Influencerin haben nichts mehr miteinander zu tun!

Nicht umsonst habe ich in meinen Bewerbungsunterlagen kein Wort über Allys World of Beauty verloren. Schon allein deshalb, weil das nie mein Baby war. Die Accounts auf Insta und TikTok müssten eigentlich Monis World of Beauty heißen – nach meiner Mum. Immerhin ist sie der Kopf hinter allem. Sie managt mich, koordiniert die Kooperationen, fädelt Lives, Hashtag-Challenges, Duette und alles, was man sonst noch auf TikTok machen kann, ein, leuchtet Fotosettings aus und plant den Instafeed vor, damit auch ja alles farblich aufeinander abgestimmt ist – zumindest war es bis vor 33 Tagen so. Aber damit ist Schluss. Ich werde das Stipendium aus eigener Kraft bekommen!

Natürlich hätte es mir einen Vorteil verschafft, wenn Kill und ich best buddys wären. Aber davon bin ich mindestens genauso weit entfernt, wie aus heiterem Himmel doch an einer staatlichen Uni angenommen zu werden. Zugleich würde es mir nicht im Traum einfallen, hysterisch loszukreischen, wenn Kill und ich im Supermarkt nach demselben Nutellaglas greifen würden.

Ich stecke das Handy weg, dabei fällt mein Blick auf meine Sneakers, die in einem anderen Leben mal weiß waren. Ich kenne sie allerdings nur mit den rosa Flecken, die von verschüttetem Rotwein stammen. Als ich frisch zu Kat in die WG gezogen bin, lagen die Schuhe neben dem Mülleimer in der Küche, bereit, entsorgt zu werden. Kat hatte nichts dagegen, dass ich ihnen ein zweites Zuhause gebe – oder besser gesagt, meine Füße.

Da ich offenbar einen Hang zum Sadistischen habe, stelle ich mir Julianas Reaktion vor, wenn sie hier aufgekreuzt wäre, statt mich anzurufen. Bestimmt wären ihr bei meinem Outfit vor Schock die Augen aus dem Kopf gefallen. Mindestens.

Kombiniert habe ich die fleckigen Schuhe nämlich mit dem mausgrauen Schlabber-Kittel, den mir das Planetarium als Arbeitsuniform gestellt hat. Mindestens genauso schlimm dürfte der ausgefranste und schiefe Saum meiner beigen Marc O’Polo Chino aussehen, der unter dem Kittel hervorragt. Er ist das beste Beispiel dafür, dass mich keine glorreiche Karriere als Schneiderin erwartet. Aber nachdem ich die hautenge High Waste Levis nach der ersten Schicht im Planetarium beinahe von meinen verschwitzten Beinen schneiden musste, war klar: Ich brauchte eine luftige kurze Hose, der ich keine Träne hinterherweinen würde, wenn sie dreckig wird. Also hab ich kurzerhand Kats Küchenschere genommen, mit der sie normalerweise Schnittlauch oder Pizza schneidet, und die Chino über dem Knie abgeschnitten. Nicht schön, aber praktisch.

Bei meinem überstürzten Auszug von zu Hause hab ich versucht, möglichst alltagstaugliche Sachen einzupacken. Dummerweise bestanden neunzig Prozent des Inhalts meines Kleiderschranks aus schicken Markenprodukten. Überbleibsel von Kooperationen, Geschenke von Werbepartnern, Zeug, das ich bei Shoots anhatte und danach behalten durfte. Irgendwann hab ich dann aufgegeben und einfach wahllos Klamotten in meinen Koffer gestopft. In den ersten Tagen in Hamburg hab ich das meiste online verkauft und mir von dem Geld Basics zugelegt, die mich zumindest durch den Sommer bringen werden. Nur wenige Schätze, wie die abgeschnittene Chino, durften bleiben und das auch bloß, weil sie mir noch passt. Viele der verkauften Sachen wären mir vermutlich inzwischen zu eng.

Ob Juliana mich so ganz ohne Schminke überhaupt erkannt hätte? Das allmorgendliche Schminkritual wegzulassen, war für mich die größte Hürde meines neuen Lebens. Aber als ich mich entscheiden musste, ob ich vor der Schicht im Planetarium lieber eine Stunde länger schlafe oder die Zeit vor dem Spiegel verbringe, hat der Schlaf ziemlich schnell gesiegt. Das oder ich hätte den Job im Planetarium gleich wieder an den Nagel hängen können. Denn genau das wäre passiert, wenn ich ein weiteres Mal zu spät gekommen wäre, so wie die ersten drei Tage. Also hörte ich auf, mir jeden Tag aufs Neue eine Tonne Makeup, Concealer und unechte Wimpern ins Gesicht zu klatschen.

Ich war es so gewohnt, mir dank Contouring eine schmalere Nase, markantere Wangenknochen und ein weniger dominantes Kinn – wie Mum es nennt – zu verpassen, dass ich mich die ersten Tage ohne mein Schminkritual nackt, verletzlich und hässlich gefühlt habe. Vor allem beim Putzen der Spiegel in den Toiletten hatte ich das Gefühl, einer Fremden gegenüberzustehen. Das war nicht ich. Dieses blasse Mädchen mit den riesigen Poren, den Augenringen, Mitessern auf der Nase und viel zu kurzen Wimpern hatte nichts mit Ally, der Beauty-Queen zu tun. Die kann sich nämlich besser schminken als jede Stylistin in Hollywood. Mindestens. Was mich natürlich nie davon abhielt, vor jedem Live und jeder Story die Regler der Beautyfilter weit nach rechts zu schieben. Es war wie eine Sucht. Ich wollte perfekt aussehen. Blöd war nur, dass das nichts mit der Realität zu tun hatte. Erst als ich das Make-up wegließ, wurde mir bewusst, wie sehr es zusammen mit den Filtern zu einer Maske geworden war, hinter der ich mich jahrelang versteckt hatte.

Inzwischen schminke ich mich sehr selten, zum Beispiel wenn ich mit Kat ausgehe und auch dann nur dezent: Wimperntusche, Augenbrauenstift und ein bisschen Puder – mehr nicht. Mein größter Fortschritt diese Woche: Ich zucke beim Blick in den Spiegel nicht mehr zusammen. Das letzte Mal hab ich vor meinem Vorstellungsgespräch mit Juliana tief in meinen Schminkkoffer gegriffen. Ich war so nervös, dass ich mich ohne meine Ally-Maske vermutlich nicht zum Vorstellungsgespräch getraut hätte.

Ein Mädchen mit flamingopinken Haaren, kaum jünger als ich, geht an mir vorbei. Neben ihr trippelt ein Corgi. Viele Leute nutzen den riesigen Park um das Planetarium für einen Morgenspaziergang. Der Corgi zieht an der Leine in meine Richtung. Schwanzwedelnd schnüffelt er an meinem Bein. Ich muss grinsen.

»OH. MEIN. GOTT! ALLY? Bist du das wirklich?!«

Mein Grinsen gefriert. Oh nein.

Das Mädchen bleibt stehen, bekommt rote Flecken auf den Wangen und ihre Augen fangen an zu leuchten. Diesen Blick habe ich schon zu oft gesehen. Ich zwinge mich, mein erstarrtes Grinsen in ein freundliches Lächeln zu verwandeln. Die Blondierung aus dem Supermarkt – ein verzweifelter Versuch, mich von Ally zu distanzieren – hätte ich meinen Haaren echt ersparen können.

»Was machst du denn hier? Dachte, du lebst in Berlin?!« Sie klingt, als wären wir alte Freundinnen und ich wäre einfach in ihre Stadt gezogen, ohne ihr etwas davon zu sagen. Frech von mir. Oder auch nicht, denn ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, wer da vor mir steht. Wobei das nichts Neues ist. Wenigstens ist sie mir nicht gleich um den Hals gefallen. Daran werde ich mich nie gewöhnen. Will ich auch gar nicht.

Ich überlege fieberhaft, wie ich reagieren soll, starre dabei auf ihre Haare, deren Farbton mich wirklich sehr an einen Flamingo erinnert.

Wenn es heiß ist, pinkeln Flamingos ihre Füße an, um sich abzukühlen.

Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht laut loszulachen. Ab und zu meldet sich in meinem Kopf die Stimme meines Lieblings-Dokumentarfilmsprechers: Olaf Weinberger. Ich liebe Tierdokus und da ich in meinem bisherigen Leben sehr viel allein war, hatte ich genügend Zeit, mir einen enormen Schatz an völlig unnötigem Wissen aufzubauen. Wissen, das Olaf mir in fachmännisch-trockenem Tonfall zu den unpassendsten Momenten um die Ohren haut.

Wenigstens hat er mich auf eine Idee gebracht: Tiere sind die beste Ablenkung der Welt! Ich beuge mich zu dem Corgi runter und wuschle ihm durch das fluffige Fell. »Wer bist du denn?«, frage ich, um von mir abzulenken.

»Keks«, sagt das Mädchen.

Jetzt muss ich wirklich lächeln. »Süßer Name.« Ich richte mich wieder auf. »Und deiner?«

»Viola.« Ihr Blick schweift über mein Outfit. Die Augenbrauen verschwinden unter dem Pony – klar, was sie denkt: Ally von Allys World of Beauty ist total abgestürzt.

Ich verkrampfe mich. Die Muskeln in meinen Wangen tun weh, so sehr muss ich mich anstrengen weiterzulächeln. All die negativen Gefühle, die ich besiegt zu haben glaubte, kommen zu mir zurück wie ein Bumerang, den ich eigentlich nie wiedersehen wollte.

»Darf ich?« Viola zückt ihr Handy.

Ich schlucke. Wenn ich etwas nicht gebrauchen kann, dann, dass mein neuer Look gleich auf Insta die Runde macht. »Wie wäre es mit einem Autogramm? Ich bin sozusagen … inkognito hier.«

»Ahh!« Sie lacht erleichtert auf und deutet auf meine Haare. »Dann ist das nur eine Perücke?« Ihr Gesichtsausdruck wechselt zu einem, den ich für angemessen empfinden würde, hätte ich ein totes Stinktier auf dem Kopf. Eine weitere Frage, die ich ohne schlechtes Gewissen ignorieren kann.

»Wollte einfach mal rauskommen, verstehst du?«

Nein, tut sie nicht. Ihre Lippen werden zu einem schmalen Strich. Dann breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. »Ich hab aber keinen Stift dabei.«

Mir ist klar, was sie denkt. Sie glaubt, sie hätte ein Schlupfloch gefunden, um doch noch an ein Selfie mit mir zu kommen, aber da muss ich sie enttäuschen. »Heute ist dein Glückstag!« Ich greife in meine Hosentasche und zaubere drei Stifte hervor, die ich seit Wochen bei mir trage – nur für den Fall.

Viola schiebt die Unterlippe nach vorne. »Können wir nicht lieber ein Foto machen? Ich zeig’s auch keinem!«

Klar, und gleich ruft die Uni Hamburg bei mir an, um mir auszurichten, sie haben den NC für Medien- und Kommunikationswissenschaft auf 4,0 gesenkt und mir einen Platz freigehalten. Weil sie – genau wie ich – der Meinung sind, dass dieser Studiengang fantastisch zu mir passen würde.

Aber irgendwie kann ich Viola und all die anderen Selfiejägerinnen auch verstehen. Ein Autogramm hat nur einen Wert, wenn es durch ein Foto belegt wird. Der offizielle Beweis. Was nicht als Bild oder Video festgehalten wird, existiert nicht.

Ich existiere nicht.

Dieser Moment existiert nicht.

Mein Magen fühlt sich an, als hätte ich einen Liter Sekundenkleber getrunken. Wie ich diesen Gedanken hasse. Niemand zu sein, solange keine Kamera auf mich gerichtet ist. Genau das ist einer der Gründe dafür, warum ich das Stipendium unbedingt bekommen muss. Ohne kann ich mir den Traum vom Studieren in die Haare schmieren.

Ich behalte mein Lächeln, auch wenn sich meine Mundwinkel anfühlen, als würden Gewichte daran hängen. »Wo soll ich unterschreiben?«, frage ich und zücke den schwarzen Permanentmarker.

Das Mädchen scheint zu kapieren, dass es mir ernst ist, und dreht murrend ihr Handy um. Meine Hand zittert, als ich Ally und ein paar Herzchen auf die Rückseite ihres Smartphones kritzle. Nicht gerade mein schönstes Werk.

»Cool, danke.« Sie macht sich nicht mal die Mühe, aufrichtig zu klingen. Ihr ist klar, dass dieses Autogramm wertlos ist. Genauso gut hätte sie es selbst auf ihr Handy kritzeln können.

Ich stecke die Stifte zurück in meine Tasche. »Also dann, mach’s gut, Viola«, sage ich, um klarzustellen, dass das unfreiwillige Meet and Greet beendet ist.

»Komm, Keks!« Sie zieht an der Leine des Corgis, der gerade sein Bein gehoben hat, um an den Pfeiler zu pinkeln. Für Verabschiedungsfloskeln haben wohl auch enttäuschte Followerinnen keine Zeit.

Ich sehe den beiden nach, um sicher zu sein, dass Viola nicht doch noch heimlich ein Foto von mir macht. Als sie aus meinem Sichtfeld verschwindet, fällt endlich das verkrampfte Lächeln aus meinem Gesicht. Was zurückbleibt, ist ein schmerzhaftes Ziehen in den Wangen, das ich sonst nur von anderen Körperregionen kenne, vor allem wenn Mum mich wieder mal überredet hat, doch endlich mit dem Joggen anzufangen.

»Alena? Alles in Ordnung?«

Ich verkrampfe mich. Schon wieder.

Ein Lachen. »Warum so schreckhaft?«

Ich drehe mich um. Sandro streckt seinen Kopf aus der Tür. Erleichterung erfasst mich. Er ist genau der Mensch, den ich jetzt brauche, um mich abzulenken. Die Euphorie, die von der Welle aus Enttäuschung über die drei Konkurrentinnen weggespült wurde, schwappt zurück. Wenn sich jemand mit mir freuen wird, dann Sandro … und Kat natürlich.

»Mehr als das, ich bin in der finalen Auswahl!« Aufgeregt springe ich auf und ab. Bestimmt sehe ich aus wie ein wildgewordener Flummi, aber das ist mir total egal. Ich brauche das jetzt.

»Wusste ich doch, dass sie deinem Charme nicht widerstehen können!« Sandro kommt zu mir, hebt die Hand und ich schlage ein.

»Ich kann es noch gar nicht glauben.« Und das stimmt, denn unter normalen Umständen könnte ich mir das Studium an der Macromedia niemals leisten, selbst wenn ich Tag und Nacht im Planetarium putze. Sogar die einmalige Anmeldegebühr übersteigt meinen aktuellen Kontostand um Weites. Die Aussichten, dass die monatlichen Studiengebühren in Höhe eines neuen Smartphones übernommen werden, sind einfach der Oberhammer.

Sandro tätschelt mir die Schulter. »Ich werde dich fast ein bisschen vermissen!«

»Noch hab ich es nicht geschafft!« Ich boxe ihm gegen den Oberarm.

»Mein Glück.« Grinsend wedelt Sandro mit ein paar gelben Gummihandschuhen. »Heute bist du an der Reihe, amore mio.«

Schnell schnappe ich mir die Handschuhe. »Niemand kann Toilettenputzen so verführerisch klingen lassen wie du.«

»Ach!« Er winkt ab. »Du solltest mal hören, wie ich das Telefonbuch vorlese. Oder meine Hausarbeit über Algorithmen, die ich in zwei Wochen abgeben muss.«

»Bitte nicht, sonst werde ich ganz wuschig!«

Sandro lacht so laut auf, dass ich einfach mitlachen muss. Ich mag ihn seit unserer ersten Begegnung vor fast vier Wochen, als er mich in die Geheimnisse der Putzmitteldosierung für die Bodenwischmaschine eingeweiht hat. Er studiert IT, wohnt in einem winzigen Zimmer in einer Fünfer-Jungs-WG und bessert sein BAföG mit der Arbeit im Planetarium auf. Eigentlich könnte er sich auch einfach reich hacken, hat er mir mal erzählt, aber dafür fließt wohl zu wenig kriminelle Energie durch seine Adern. Und das Allerbeste ist: Er hat keine Ahnung, wer oder was Allys World of Beauty ist – und so soll es auch bleiben.

Ich folge Sandro nach drinnen. Im Vorbeigehen klopfe ich Stella, der Kuh im Weltraumanzug, auf den Astronautenhelm. Das bringt Glück – bilde ich mir zumindest ein, immerhin ist Stella das Maskottchen des Planetariums.

Ich steuere die Toiletten an. Dabei komme ich nicht umhin, zu der von weißen Säulen gestützten Decke des Foyers hinaufzusehen. Der dort aufgemalte Sternenhimmel wird von blauem Licht angestrahlt und haut mich jedes Mal aufs Neue um. Die goldgelben Sternbilder der Tierkreiszeichen haben in diesem Moment sogar irgendwie etwas Magisches.

Während ich die Damentoiletten betrete, ziehe ich mir die Gummihandschuhe über. Bald werde ich diese Dinger nicht mehr tragen müssen. Bald werde ich Mum beweisen, dass sie unrecht hatte und ich es sehr wohl ohne sie und Ally schaffe.

Bald.

on der guten Laune und meiner optimistischen Einstellung ist nichts mehr übrig. Beides ist irgendwo zwischen einem minder dramatischen WC-Enten-Unfall und der U-Bahnfahrt nach Hause verloren gegangen. Zum Glück hab ich auf dem Heimweg einen Abstecher in den Supermarkt gemacht, weshalb auf dem Küchentisch neben meinem Laptop ein Süßigkeitenbüfett aufgebaut ist, bei dessen bloßem Anblick Mum auf einen Schlag Pickel, Karies, Cellulite und ein Doppelkinn bekommen würde. Ach was, ein Dreifachkinn! Mindestens. Und höchstwahrscheinlich verkürzt sich mein Leben mit jeder Zuckerportion um drei Stunden. Ebenfalls mindestens.

Ich stecke meine Hand in die XXL-Packung M&Ms und spiele einarmiger Bandit – mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass ich immer die Gewinnerin bin. Anschließend schaufle ich mir meine bunte Ausbeute in den Mund. Meine imaginäre Lebensuhr verliert drei Stunden, dabei gibt sie ein Geräusch von sich, wie bei Wer wird Millionär, wenn die Kandidaten eine Frage falsch beantwortet haben. Tapfer warte ich darauf, dass der Zucker meine Laune hebt.

Nichts passiert.

Mein Schokopegel scheint irgendwo zwischen Fresskoma und Zuckerschock hängen geblieben zu sein. Jap, jetzt ist der Tag ganz offiziell im Arsch.

»Ich schaffe das niemals!« Frustriert lege ich die Stirn auf der Tastatur meines Laptops ab. Dass dabei unendlich viele Buchstaben in das Worddokument gehackt werden, ist mir völlig schnuppe.

»H-h-h-h-z-z-z-z-z-z-g-g-g-g-g-g«, liest Kat vor, was meine Stirn gerade unter die Überschrift »Nachruf Storyline« tippt. »Hmm, wenn du das auf TikTok tanzt, wird es vermutlich wirklich eng für dich.« Sie lässt sich gegenüber von mir am Küchentisch nieder. »Kopf hoch, Alena.«

Seufzend richte ich mich auf und reibe mir über die Stirn, die sich ungewohnt geriffelt anfühlt. »Das sagst du so leicht.«

»Eigentlich wollte ich nur vermeiden, dass du deine Tastatur schrottest.«

Ich beuge mich rüber zur Spüle, schnappe mir den Schwamm und werfe ihn nach Kat. Zum Glück ist er trocken, was allerdings auch bedeutet, dass der Abwasch noch auf uns wartet.

»Hey!«, lacht Kat und wehrt meinen Angriff mit erhobenen Händen ab. »Im Herbst, wenn dein Studium an der Macromedia losgeht, wirst du mir danken, dass du einen funktionierenden Laptop hast.«

»Ach!« Ich winke ab. »Hab doch eh keine Chance.«

»Und woher kommt diese brillante Erkenntnis? Du hast es doch schon so weit geschafft!«

»Weil ich keine Ahnung habe, wie ich einen Nachruf als TikTok verpacken soll! Mal ganz abgesehen davon, dass ich null über den Mensch hinter Kill Your Fears weiß.«

Und das stimmt … leider. Obwohl ich jedes von Kills You-Tube-Videos angeschaut habe – natürlich rein aus Recherchegründen und nicht, weil er verdammt heiß aussieht. Er erfüllt alle optischen Einstellkriterien eines Influencer-Mädelsschwarms. Vermutlich könnte er sogar den Absatz eines Staubsaugers verfünffachen, würde er ihn in eines seiner Videos einbauen.

Ich klicke den Tab mit dem Wikipedia-Artikel an, den ich schon mindestens dreimal gelesen habe. »Kilian ›Kill‹ Jansen, zwanzig Jahre alt, geboren in Hamburg, ist ein deutscher Webvideoproduzent, dessen Videos sich vor allem um Extremsport und Lifestyle drehen. Sein Kanal ›Kill Your Fears‹ gehört zu den meistabonnierten YouTube-Kanälen Deutschlands.«

Ich scrolle bis zur Überschrift Leben. »Er wuchs in Hamburg auf und ist bis heute der Hansestadt treu geblieben. Über seine Familie ist nur wenig bekannt.« Wieder scrolle ich weiter. »Bei Karriere steht: Nach seinem Abitur lud er das erste Video auf seinem Kanal hoch. In wenigen Monaten gewann er eine beeindruckende Abonnentenzahl. Inzwischen hat ›Kill Your Fears‹ über fünf Millionen Abonnenten auf YouTube. Jeden Monatsbeginn dürfen seine Follower auf Instagram über eine Challenge abstimmen, die Kill in seinem nächsten Video umsetzt. Nicht selten kam es in der Vergangenheit zu Festnahmen und Geldstrafen, da sich einige Aktionen außerhalb der Legalität bewegen. Auch Verletzungen sind keine Seltenheit. So brach sich Kill während einer Challenge das linke Bein, als er versuchte, auf eine fahrende U-Bahn aufzuspringen. Wann und wo ein Dreh stattfindet, ist geheim, seit es bei einem öffentlich bekannt gegebenen Drehort zu einer Massenhysterie unter seinen Fans kam, die von der Polizei aufgelöst werden musste. Fünfzehn Jugendliche kamen mit leichten Verletzungen ins Krankenhaus. Mindestens genauso berühmt-berüchtigt sind die After-Show-Partys, die nach jedem gelungenen Dreh stattfinden. Seit auch diese immer wieder eskalierten, können Follower nur noch über ein Losverfahren die Möglichkeit zur Teilnahme an einer After-Show-Party ergattern. Die Gewinner erhalten die Daten zur Location allerdings erst kurz vor Start der aktuellen Challenge. Bevor die Party startet, wird der Livestream der Challenge gemeinsam angesehen.«

Ich scrolle zur letzten Überschrift Kritik. »Für seine gefährlichen, extremen und größtenteils illegalen Aktionen erntete er bereits einigen Gegenwind, vor allem da der Großteil seiner Abonnenten Jugendliche sind. Vergangenen Sommer bekam er für eins seiner Videos, in dem er auf dem Geländer der Aussichtsplattform der Elbphilharmonie balancierte, einen gewaltigen Shitstorm. Ein Nachahmer war bei dem Versuch beinahe in den Tod gestürzt. Und auch mit den After-Show-Partys werden immer wieder Gesetze gebrochen. So brach die Partycommunity unter anderem in die Eisbahn Stellingen ein und hinterließ einen Schaden, der in die Tausende ging.«

Ich sehe Kat an. »Das war’s.«

»Was? Das ist alles? Mehr weiß man nicht über einen der größten YouTuber Deutschlands?«

»Danach kommen nur Weblinks, die zu Seiten führen, auf denen genau das Gleiche steht.«

»Und was ist mit seinen Videos? Erfährt man da etwas Persönliches über ihn?«

»Bis auf die Tatsache, dass er nicht mehr alle Latten am Zaun hat? Glaub mir, er ist keiner von der gesprächigen Sorte.«

Kat verdreht die Augen. »Scheint echt ein ganz schön mysteriöser Typ zu sein.«

»Du meinst wohl, er ist irre?!«

»Ja, das auch. Aber warum macht er so ein Geheimnis um sich?«

»Weil es genau das ist, was ihn so interessant macht. Niemand weiß, warum er ständig sein Leben aufs Spiel setzt. Wahrscheinlich können wir froh sein, dass er sich nicht mit Maske vorm Gesicht durch seine Videos hangelt. Ein Affengesicht hätte gut gepasst.«

Kat schnaubt. »Du hast den Typ echt gefressen, was?«

»Warum?«

»Äh, Affe?«

»Also … eigentlich … nee, das war nur das erste Tier, das mir auf die Schnelle eingefallen ist, das klettern kann. Panda ist ja schon vergeben.«

»Oh Alena!« Kat verdreht die Augen, was sie wirklich gut kann.

Ich lächle in mich hinein. Sie hat keine Ahnung, wie gut es tut, dass sie mich Alena nennt. Als ich in Hamburg angekommen bin, hatte ich nichts als zwei vollgestopfte Koffer und ein paar Hundert Euro in der Tasche. Und genau so bin ich auf WG-Suche gegangen. Nach zehn Besichtigungen war ich schon fast so weit, zurück nach Berlin zu fahren. Und dann hat Kat mir die Wohnungstür geöffnet. Meine Entscheidung fiel in nur wenigen Sekunden. Denn Kat war die Einzige, die bei meinem Anblick nicht gleich in aufgeregtes Kichern ausgebrochen ist oder sofort ein Foto machen wollte. Stattdessen nickte sie mir bloß zu und meinte ganz trocken: »Wenn deine Follower hier vor der Wohnung rumlungern, fliegst du.« Ich musste lachen, sie musste lachen, der Rest ist Geschichte. Sie ist der erste Mensch, der mich ganz normal behandelt, und dafür liebe ich sie.

»Wobei es auch echt schade wäre, wenn er sein hübsches Gesicht hinter einer Maske verstecken würde«, sagt Kat. »Ich meine: Der Kerl ist doch ein echtes Schnittchen! Hast du das Video gesehen, in dem er bei Minustemperaturen durch die Elbe schwimmt?« Sie seufzt übertrieben lang. »Wie das Shirt an seinen Muskeln geklebt hat! Er hätte es genau so gut ausziehen können.«

Meine Wangen werden warm. Natürlich habe ich dieses Video gesehen … mehr als einmal. Dabei war es nicht sein – zugegeben – durchtrainierter Körper, der mich faszinierte, sondern Kills Gesichtsausdruck. Eine Mischung aus Schmerzen, Kampfgeist und Angst lag darin. In den meisten seiner Videos war davon nicht viel zu sehen, aber in diesem einen schon. Und trotzdem hat er den Dreh nicht abgebrochen. Seine Videos enden entweder mit Bestehen der Challenge oder einem Zwischenfall, der es ihm unmöglich macht, die Aufgabe zu beenden. Das kann eine Verletzung sein oder das überraschende Auftauchen der Polizei.

Mit Anfang zwanzig hat Kill schon alles erreicht, wovon andere ihr Leben lang träumen: Ruhm und Reichtum. Er könnte sofort alles stehen und liegen lassen und auf die Bahamas auswandern. Trotzdem tritt er sein Leben mit Füßen, indem er es in jeder Challenge wieder aufs Spiel setzt. Die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet.

Ich habe große Lust, meine Stirn erneut auf der Tastatur abzulegen, entscheide mich aber lieber für eine Handvoll saurer nimm2 – wobei ich mich wieder mal frage, ob die Hersteller beim Namen nicht eine Null vergessen haben: nimm20 würde viel besser passen. Leider schaffen es auch diese bunten Köstlichkeiten heute nicht, mich aufzumuntern. Wie soll ich bloß einen Nachruf über einen Typen vorbereiten, der null über sich preisgibt? Bestimmt ist das der Grund, weshalb Style Your Life nicht schon längst etwas über ihn in petto hat. Gleichzeitig warten sie sicher schon darauf, dass eine seiner waghalsigen Aktionen schiefgeht.

»Und was machst du jetzt?«, fragt Kat. »Einen Zusammenschnitt aus seinen Videos erstellen, traurige Musik in den Hintergrund legen und ein paar Eckpunkte aus dem Wikipedia-Artikel einsprechen?«

»Das machen die drei anderen Finalistinnen bestimmt auch.« Ich seufze und denke an Julianas Worte: Je exklusiver das Material, desto besser. Überrasch mich! »Ich muss mehr abliefern als das.« Lustlos scrolle ich durch den Wikipedia-Artikel.

»Moooment!« Kat springt auf. »Hast du nicht gerade vorgelesen, dass er hier in Hamburg lebt?«

»Na und? Niemand weiß, wo er wohnt, und die Adresse in seinem Impressum führt nur zu einer Medienagentur.«

»Vielleicht kannst du rausfinden, wo sein nächster Dreh stattfindet.«

Mein Herzschlag beschleunigt sich. »Du meinst, ich soll ihn persönlich treffen und … interviewen? Für seinen eigenen Nachruf?«

Kat zuckt mit den Schultern. »Das musst du ihm ja nicht auf die Nase binden.«

Meine Begeisterung fällt in sich zusammen wie eins dieser aufblasbaren Werbe-Männchen, dem man den Stecker gezogen hat. »Aber sein nächster Drehort ist immer geheim! Kein Wunder, sonst würde ihn die Polizei ja einfach dort erwarten. Oder eine Horde kreischender, anschmachtender und bewundernder Fans.«

»Ja, schon. Da stand aber auch, dass seine Fans jeden Monatsanfang über eine Aktion abstimmen dürfen.« Sie wirft einen Blick auf ihr Handy. »Und wie es der Zufall will, ist heute der erste Juli. Jackpot, würde ich sagen!« Sie steht auf und setzt sich neben mich, damit wir beide auf ihr Handy schauen können. Der Insta-Account von Kill Your Fears ist darauf geöffnet. »Bestimmt hat er eine Umfrage in der Story gepostet.« Kat drückt auf Kills Profilbild. Die Story öffnet sich und mit ihr erscheint Kills Gesicht in Nahaufnahme.

Sein Gesicht ist so stark herangezoomt, dass ich die beneidenswert dichten Wimpern zählen könnte und die Spiegelung des Ringlichts um seine Pupillen deutlich erkennen kann. Es wirkt, als würden seine Augen leuchten. Aber das ist es nicht, was mich jedes Mal aufs Neue umhaut, sondern ihre Farbe. Sie sind in einem so stechenden Grünton, dessen Anblick mich einerseits Frösteln lässt und mir andererseits heiße Schauer bereitet. Wärme und Kälte, so nah beieinander, dass es fast wehtut hinzusehen, und zugleich bin ich so fasziniert, dass es an Unmöglichkeit grenzt, den Blick abzuwenden.

»Hey Leute, bevor wir zur heutigen Abstimmung kommen, könnt ihr mir bei einer Locationsuche helfen.« Mit einer lässigen Geste fährt er sich durch die dunkelbraune Strubbelmähne. Ob hinter diesem Just-out-of-bed-Look wirklich jede Menge Arbeit mit dem Föhn oder sogar einem Glätteisen und eine halbe Tonne Haarspray steckt? Kill lächelt, als hätte er meine Gedanken gehört, wodurch sich über seinem linken Mundwinkel ein verdammt süßes Grübchen bildet. »Manche von euch erinnern sich vielleicht: Es steht eine Kletterchallenge aus. Nur fehlt uns das passende Gebäude. Kennt ihr eins, das sich dafür anbietet? Dann schreibt es mir. Und denkt daran: Je höher und gefährlicher, desto besser.« Die Story springt weiter und ein Antwort-Button erscheint mit der Überschrift Kletter-Location in Hamburg, dort kann man seine Ideen eintragen.

Kat presst ihren Daumen auf das Display, um die Story anzuhalten. »Denkst du das Gleiche wie ich?«

Ich verdrehe die Augen. »Wenn du meinst, dass er total gaga ist, dann ja.«

»Nee, ich meine das Planetarium.«

»Was ist damit?«

»Er sucht ein hohes Gebäude, an dem er hochklettern kann.« Kat hebt die Augenbrauen und sieht mich erwartungsvoll an. »Das Planetarium ist ein hohes Gebäude.«

»Oookay, ich möchte meine Antwort von eben korrigieren: Du bist total gaga.«

»Vielleicht. Aber so wüssten wir genau, wo er sich aufhält.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Man kann an der Außenwand vom Planetarium nicht einfach so hochklettern – zumindest nicht vom Boden aus, dafür sind die Wände viel zu glatt. Ab der Aussichtsplattform ginge es vielleicht, aber dazu müsste er ins Planetarium einbrechen.«

»Müsste er?« Kat grinst mir verschwörerisch zu. »Ich kenne jemand mit einem Schlüssel und dem Code für die Alarmanlage.«

»Kat!«, rufe ich empört. »Willst du, dass ich meinen Job verliere?«

»Wenn du dafür das Stipendium bekommst, brauchst du ihn sowieso nicht mehr.«

»Und wenn wir erwischt werden, kriege ich statt dem Stipendium ein Ticket in den Knast. Dann hab ich die doppelte Arschkarte gezogen. Mal ganz abgesehen davon, dass mir Orange nicht steht.«

Mit der nicht-Handy-haltenden-Hand drückt Kat ein Toffifee aus der Verpackung und wirft es sich in den Mund. »Beschtimmt kommscht du mit einer Geldschtrafe davon«, schmatzt sie und schluckt. »Außerdem sind wir nicht in den USA, hier tragen die Knastis bestimmt nicht Orange.«

»Na, welch Erleichterung.«

»Okay, okay. Lass uns mal die Umfrage zur heutigen Challenge anschauen. Vielleicht bringt uns die ja weiter.« Kat hebt ihren Daumen vom Display und die Story verändert sich.

Zwei weiße Textfelder sind auf einem schwarzen Hintergrund zu sehen. Im linken steht: Sieben Gleisüberquerungen mit verbundenen Augen, im rechten: Drei Minuten auf einem Gleis liegen. Darunter befindet sich ein Umfragebutton mit einem Pfeil nach links und einem nach rechts.

Gänsehaut kriecht meine Arme hoch. Jap, Kill ist eindeutig gaga!

Kat drückt auf den linken Button.

»Was machst du denn?!«, rufe ich erschrocken.

»Na, ich will wissen, welche Challenge bisher die meisten Stimmen bekommen hat.« Sie deutet aufs Display, wo nun angezeigt wird, dass 56 % für die Gleisüberquerung abgestimmt haben und 44 % dafür, dass Kill drei Minuten auf ein und demselben Gleis liegen bleibt.

»Und was machen wir mit der Info?«, frage ich nachdenklich.

»Na ja, jetzt wissen wir wenigstens, dass seine nächste Challenge in der Nähe von Bahngleisen stattfindet.«

»Und davon gibt es ja sooo wenige in Hamburg.« Ich muss ein Augenrollen unterdrücken.

Kat schnalzt mit der Zunge. »Wir können immer noch das Planetarium für die Kletterchallenge vorschlagen.«

»Niemals!«, rufe ich. »Außerdem haben wir keine Ahnung, wann die überhaupt stattfinden soll. Vielleicht erst in zwei Monaten. Das bringt uns nicht weiter.«

»Wenn wir nur jemanden kennen würden, der jemanden kennt …«, überlegt Kat laut.

Nachdenklich kratze ich blauen Lack von meinen Fingernägeln. Wie soll ich rausfinden, wo Kill als Nächstes sein wird? Könnte ich doch bloß einen Blick in seine Chatverläufe werfen. Bestimmt schreibt er seinem Kameramann oder seinen Freunden, wo die nächste Aufgabe … »Sandro!«, platze ich heraus.

»Franz!«

»Hä?«

Kat grinst. »Ich dachte, wir schreien uns jetzt einfach wahllos Namen zu?!«

»Boah, Kat!« Lachend schüttle ich den Kopf. »Ich meine: Sandro. Du weißt schon, aus dem Planetarium.«

»Ach, der Italiener, von dem du mir erzählt hast? Der, der so auf die Bodenschwischmaschine abfährt?«

»Ja, okay, er hat ein echt fragwürdiges Verhältnis zur Wischmaschine. Hab ich dir erzählt, dass er sie Nancy getauft hat?«

»Äh, das ist … interessant.« Kat sieht aus, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie lachen oder das Gesicht verziehen soll. Das Resultat ist ein ziemlich schräges Grinsen. »Ich kapiere zwar immer noch nicht, wie dir ein professionell gereinigter Boden weiterhelfen soll, aber von mir aus kann Sandro gerne vorbeikommen.« Sie deutet in die Zimmerecke neben dem Kühlschrank. »Da hinten ist mir mal ein Glas Honig runtergefallen. Der Boden klebt seitdem wie die Innenseite eines Zuckerwattekessels.«

»Das würde dir so passen, was?« Ich unterdrücke ein Lachen. »Hast du vergessen, was ich dir noch über ihn erzählt hab?«

»Er nennt dich ständig amore mio, drückt sich beim Putzen liebend gerne vor den Toiletten, studiert irgendwas mit Computer und …« Ihr Gesicht hellt sich auf. »Aaaah!«

»Genau. Aaaah!« Ich entsperre mein Handy und wähle Sandros Kontakt aus.

»Hi, amore mio, was gibt’s?«, meldet sich Sandro nach dem dritten Klingeln.

»Was würde es mich kosten, wenn du rausfinden sollst, wann und wo der nächste Dreh von Kill Your Fears geplant ist?«

Sandro lacht und ich höre seinem Lachen an, dass ich nicht billig davonkommen werde. »Wie viele Male Kloputzen ist dir diese Info denn wert?«

Ich räuspere mich, damit er mir mein Grinsen nicht anhört. »Drei.«

»Zehn!«

»Vier.«

»Acht!«

Ich verdrehe die Augen. »Fünf. Das ist mein letztes Angebot.« »Wusste gar nicht, dass du hier die Forderungen stellst.«

»Okay, dann sechs.«

»Abgemacht!«

Mich beschleicht das Gefühl, dass ich diesen Handel bald bereuen werde.

as war eine ganz miese Idee!«, rufe ich Kat zu, um das ohrenbetäubende Rattern und Bremsenquietschen eines dicht an uns vorbeifahrenden ICEs zu übertönen. Mit rasendem Herzen schaue ich dem Metallungetüm hinterher, das in den knapp zweihundert Meter entfernten Hauptbahnhof einfährt.

Kat reckt ihren Kopf über das Gebüsch, hinter dem wir seit zehn Minuten kauern. Zum Glück befindet sich direkt neben den Gleisen, die zum Hauptbahnhof führen, eine kleine Parkanlage, die vor allem von Hundebesitzern zum Gassigehen benutzt zu werden scheint. Um zu den Gleisen zu gelangen, mussten wir nur den gepflasterten Weg verlassen, eine schmale Rasenfläche überqueren und uns durch das Dickicht schlagen, das den Park von den Gleisen abgrenzt.

»Mies, wie in mies aber brillant?«

Ein ersticktes Kichern entweicht meiner Kehle. »Ja, genau … ganz bekanntes Sprichwort.«

Die Lichter des Hauptbahnhofs in der Ferne schweben über Kats Long Bob und lassen ihre Highlights leuchten. Sieht aus, als hätte sie einen Heiligenschein. Ausgerechnet Kat.

»Was hast du denn zu verlieren? Entweder treffen wir auf Kill und du bekommst eine Chance, ihm auf den Zahn zu fühlen. Oder eben nicht und du bist dazu verdammt, den Wikipedia-Artikel zusammenzufassen.«

Ein Teil von mir weiß, dass sie recht hat. Aber ein anderer, viel größerer, krampft sich jedes Mal zusammen, wenn einer der Züge so nah an uns verbeidonnert, dass der Boden regelrecht vibriert.

»Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?« Kat deutet zu den Gleisen. »Ich kann da niemanden entdecken und so langsam wird es echt verdammt dunkel.«

Eine Lautsprecherdurchsage hallt zu uns rüber. Ich verstehe kein einziges Wort, aber ich versuche es auch nicht wirklich.

»Sandro hat gesagt, wir sollen gegenüber vom längsten Bahnsteig warten. Das ist der für Gleis sieben und acht.« Ich deute zu ebendiesem Bahnsteig, der auf Google Maps wie ein ausgestreckter Mittelfinger aus dem Bahnhofsgebäude herausragt. Nur zwei Männer stehen dort, ganz am Ende des Steigs. Obwohl uns einige Gleise trennen, kann ich erkennen, dass der eine ein Stückchen kleiner ist und einen Rucksack trägt.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. »Außerdem soll es erst in zwei Minuten losgehen.«

»Und warum warten wir nicht einfach auf dem Bahnsteig?«

»Genau und am besten rufen wir auch gleich nach Kill, damit er mir ein Interview gibt.« Ich verdrehe die Augen. »Geht’s noch auffälliger?«

»Schon gut, war ja nur eine Frage«, murrt Kat.

»Außerdem hat Sandro rausgefunden, dass Kill von diesem Bahnsteig aus die Gleise in unsere Richtung überqueren wird.«

Kat schnalzt mit der Zunge. »Das heißt, er läuft uns direkt in die Arme?«

»Wenn alles gut geht, jap.« Wieder donnert ein Zug an uns vorbei – dieses Mal auf dem Gleis, das am weitesten von unserem Versteck entfernt ist. Ich atme tief ein und aus, um mein wildgewordenes Herz zu beruhigen.

Der Zug hält mit einem Geräusch, das jedem Kreidequietschen auf einer Tafel Konkurrenz machen könnte. Zischend öffnen sich die Türen. Ich mustere die Menschen, die sitzen bleiben. Die meisten hängen am Handy oder starren mit leeren Blicken zu mir hinaus in die Dunkelheit. Ob Kill in diesem Zug ist und gerade aussteigt?

Eine erneute Lautsprecherdurchsage. Die Türen schließen sich. Der Zug verschwindet und gibt uns wieder die Sicht frei auf den Bahnsteig. Leute mit Taschen, Rucksäcken und Koffern hasten in Richtung Bahnhofsgebäude. Dann kehrt Stille ein.

»Sag mal, standen die beiden nicht eben schon da?« Kat deutet geradeaus über die Gleise, wo die beiden Männer als Einzige auf dem Steig zurückbleiben.

»Die warten bestimmt nur auf ihren Anschluss.«

Der warme Sommerwind trägt den Klang einer tiefen Stimme zu uns herüber, die mir seltsam bekannt vorkommt. Worte kann ich keine verstehen.

Grelles Licht flammt auf. Doch es verschwindet nicht, wie bei einem Fotoblitz. Mir ist sofort klar, wovon es verursacht wird: einem Handy. Der kleinere der beiden Männer richtet es direkt auf das Gesicht des größeren. Kill.

»Das ist er«, flüstere ich. Offenbar hab ich die sechs Mal Toilettenputzen doch ganz gut investiert.

»Was macht der denn da?«, zischt Kat.

Kill verbindet sich die Augen mit einem dunklen Stück Stoff oder einem Schal, so genau kann ich es nicht erkennen. Als Nächstes setzt er sich Over-Ear-Kopfhörer auf.

Plötzlich holt sein Kumpel aus und schlägt Kill direkt ins Gesicht. Ich zucke zurück, Kill auch – aber erst, nachdem ihn der Schlag getroffen hat.

»Oh shit!«, flucht Kat. »Was sollte das denn?«

»ALTER!«, ruft die tiefe Stimme, die ich jetzt mit Sicherheit als die von Kill identifizieren kann. Er reibt sich die Wange. Sein Kumpel lacht.

»Auch eine Möglichkeit, zu testen, ob der andere wirklich nichts sieht«, murmle ich.

»Wozu hat man Freunde?«, sagt Kat trocken.

Kill wendet sich vom Handylicht ab. Er geht in die Hocke, tastet nach der Kante des Bahnsteigs und lässt sich langsam ins Gleisbett hinab. Sein Kumpel, der wohl auch sein Kameramann ist, bleibt zurück.

»Oh Gott! Es geht los!« Kat packt meine Hand und drückt zu. Eigentlich müsste es höllisch wehtun, aber ich spüre den Schmerz kaum. Es ist, als hätte mein Geist meinen Körper verlassen und würde die Szene aus der Ferne beobachten, die sich auf den Gleisen abspielt.

Das matte Licht der Bahnsteigbeleuchtung umreißt Kills hochgewachsene und breitschultrige Gestalt, die sich nun mit nach vorne gestreckten Armen in unsere Richtung bewegt. Ich muss an die Beschreibung der Challenges in Kills Insta-Story denken.

Entweder er legt sich jetzt auf eins der Gleise oder er überquert sie allesamt. So oder so stehen seine Chancen, hier auf einen Zug zu treffen, verdammt gut.

Ich spüre, wie der Boden unter mir zu vibrieren beginnt, und sehe, dass eine S-Bahn auf uns zukommt. Sie fährt auf dem Gleis, das Kat und mir am nächsten ist, wird Kill also nicht gefährlich. Das kann er aber nicht wissen …

Die S-Bahn ist wesentlich leiser als der ICE zuvor und nimmt mir die Sicht auf Kill. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ist er noch da? Oder hat ein zweiter Zug … nein! So weit will ich gar nicht denken.

Der letzte Waggon zieht vorüber. Mein Herz setzt einen Schlag aus, da entdecke ich Kill. Er ist langsamer geworden, bestimmt hat auch er die Vibration gespürt.

Vier Gleise trennen uns. Von hinten strahlt ihn das Licht des Handys an, sein Gesicht liegt völlig im Schatten. Seine Schritte sind unbeholfen, immer wieder stolpert er, vermutlich über Steine oder Schienen – genau kann ich es nicht erkennen.

Mir wird übel. Es muss sich schrecklich anfühlen, in der Dunkelheit mit dem Wissen gefangen zu sein, dass man jederzeit von tausend Tonnen Stahl mitgerissen werden kann. Obwohl – Kill hat es sich ja so ausgesucht, niemand zwingt ihn, sich diesen Aufgaben zu stellen.

Erneut stolpert er … und fällt hin. Mitten auf einem Gleis.

Ein erschrockener Schrei entfährt mir. Ich will nicht mehr hinsehen. Kann nicht. Was mache ich hier bloß?