Forschen lernen - Martin Gertler - E-Book

Forschen lernen E-Book

Martin Gertler

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Beschreibung

Wissenschaft ist, wenn jemand auf wissenschaftliche Weise neues Wissen schafft! Daher geht es in diesem Lehr- und Nachschlagebuch nicht nur um Techniken, sondern auch um eine konsequent untersuchende Haltung und Vorgehensweise. Wer dem Ansatz dieses Buches folgt, wird künftig nicht mehr "über etwas schreiben", sondern etwas untersuchen wollen - und das mit der Leidenschaft eines Forschenden. Diese Grundlagen des forschenden wissenschaftlichen Arbeitens helfen allen Studierenden. Die hier vorgestellten Prinzipien der Wissenschaftlichkeit gelten für nahezu alle Problemstellungen und Lösungsziele des Einzelnen und der Gesellschaft. Daher wurde dieses Buch so erarbeitet, dass es jedermann nützlich sein kann. Zugleich dient es als Begleitbuch zu unseren Onlinekursen und hilft so beim vertieften Selbststudium. Die Inhalte dieser 4., erweiterten und überarbeiteten Auflage: 1. Forschung verstehen 2. Forschen realisieren 3. Grundelemente formulieren 4. Gliederungen strukturieren 5. Empirie verstehen 6. Quellen verwenden 7. Kritisch denken 8. Wissenschaftlich schreiben 9. Qualitätskriterien einhalten

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Vorwort

Eine wissenschaftliche Arbeit ist immer ein Produkt, das ein Ziel hat und einen Zweck erfüllen soll. Dies gilt für jede Hausarbeit im Studium ebenso wie für Referate, Projekt- und Abschlussarbeiten.

Wissenschaftliche Arbeiten können im Studium und in der Berufspraxis gelingen und hilfreich sein, wenn sie so ausgerichtet sind, dass sie forschend neues Wissen schaffen.

Wissenschaft ist, wenn jemand mit wissenschaftlichen Methoden neues Wissen schafft!

Die Prinzipien und Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens lassen sich daher nicht auf die Formalien des Strukturierens und Zitierens oder auf Recherche- und Schreibtechniken reduzieren: Es geht um eine konsequent forschende Haltung und Vorgehensweise.

Wer diesen Weg geht, wird nicht mehr „über etwas schreiben“, sondern etwas erforschen wollen – mit der Leidenschaft eines Forschers.

Dieses Buch und der gleichnamige Online-Kurs sind für Sie hilfreich, wenn

Ihnen noch die Grundlagen für Ihre eigene, anstehende wissenschaftliche Arbeit fehlen,

Ihnen noch nicht klar ist, was Wissenschaftlichkeit bedeutet und wie Sie sie umsetzen können,

Sie wissen möchten, welche Grundelemente Sie verwenden müssen,

Ihnen die Grundregeln des Zitierens und Strukturierens für anstehende wissenschaftliche Arbeiten fehlen,

Sie noch nicht genau wissen, wie Sie Ihre anstehende Abschlussarbeit schreiben sollen,

Sie selbst bzw. Ihre Prüfer:innen mit Ihren bisherigen Einreichungen von Haus- oder Projektarbeiten nicht zufrieden sind.

Diese Zusammenstellung der Grundlagen des forschenden wissenschaftlichen Arbeitens erschien in erster Auflage 2015. Mit wiederkehrenden Praxisbeispielen aus der veganen Lebens- und Wirtschaftsweise habe ich darin verdeutlicht, dass jede wissenschaftliche Beschäftigung stets auch wissenschaftlicher Grundlagen und Forschungsergebnisse bedarf.

Die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit, die in diesem Buch vorgestellt werden, gelten für nahezu alle Probleme und Lösungsziele des Einzelnen und der Gesellschaft. Deshalb ist dieses Buch so geschrieben, dass es für jeden von Nutzen sein kann.

Die Kapitel der vorherigen Auflagen wurden für diese vierte Auflage aktualisiert und erweitert. Hinzugekommen sind neue Kapitel zum Strukturieren von Gliederungen, zum vertieften Verstehen des empirischen Forschens und zum Anwenden des in der Wissenschaft stets notwendigen kritischen Denkens.

Zudem enthält das Buch immer wieder „Arbeitsblätter“, die Ihnen als Lese- und Orientierungshilfe auf Ihrem Weg des forschenden Lernens hilfreich sein mögen.

Inzwischen konnte mehr als nur ein erster Onlinekurs zum Forschenlernen auf der Grundlage der ersten Auflagen dieses Buches erscheinen: Derzeit sind bereits acht Selbstlernkurse online verfügbar. In passend aufbereiteter Form sind ihre Inhalte nun auch in dieser vierten Auflage vertreten.

3. April 2023

Prof. Dr. Martin Gertler

Inhaltsverzeichnis

Forschung verstehen

1.1 Ihr Arbeitsblatt für dieses Kapitel

1.2 Definieren

1.3 Erkenntnisse als Ziel

1.4 Forschendes Vorgehen

1.5 Methodengeleitete Resultate

1.6 Die Wahrheit der Ergebnisse

1.7 Falsifikation als Arbeitsprinzip

1.8 Wissenschaft und Kommunikation

1.9 Wirklichkeitskonstruktionen

1.10 Passende Vorgehensweisen

Forschen realisieren

2.1 Ihr Arbeitsblatt für dieses Kapitel

2.2 Forschen in Prozessen

2.3 Unterschiedliche Forschungsarten

2.4 Forschung und Praxis

2.5 Primär oder sekundär forschen

2.6 Induktive und deduktive Vorgehensweise

2.7 Empirisch forschen

2.8 Hypothesen nutzen

2.9 Bedeutung der erlangen Ergebnisse

Grundelemente formulieren

3.1 Ihr Arbeitsblatt für dieses Kapitel

3.2 Die Säulen verbinden

3.3 Ihr Thema

3.4 Ihre Problemstellung

3.5 Ihre Zielsetzung

3.6 Ihre Forschungsfrage

3.7 Instrumente

3.8 Ihr Schlusskapitel

Gliederungen strukturieren

4.1 Ihr Arbeitsblatt für dieses Kapitel

4.2 Kick-off

4.3 Der Faktor Wissenschaftlichkeit

4.4 Das Grundmodell im Überblick

4.5 Schritt 1: Die Einleitung

4.6 Schritt 2: Der Untersuchungsgegenstand

4.7 Schritt 3: Forschungsstand und Methodologie

4.8 Induktion und Deduktion –Schritte 4 bis 6

4.9 Grundlegendes zum Weg [A] Induktion

4.10 Schritt 4 [A]: Datengewinnung

4.11 Schritt 5 [A]: Datenauswertung

4.12 Schritt 6 [A]: Arbeitshypothesen erstellen

4.13 Grundlegendes zum Weg [B] Deduktion

4.14 Schritt 4 [B]: Vorhersage, Stichprobe, Erhebung

4.15 Schritt 5 [B]: Datenauswertung

4.16 Schritt 6 [B]: Interpretation der Ergebnisse

4.17 Schritt 7: Diskussion der Ergebnisse

4.18 Schritt 8: Theoriebildung bzw. Lösungsvorschläge

4.19 Ein konkretes und vollständiges Beispiel

4.20 Die Empirie – unsere ständige Begleiterin

4.21 Das Grundmodell im Schnelldurchlauf

4.22 Abschließende Tipps

Empirie verstehen

5.1 Ihr Arbeitsblatt für dieses Kapitel

5.2 Grundlegendes für das empirische Arbeiten

5.3 Quantitativ empirisch forschen

5.4 Qualitativ empirisch forschen

5.5 Vorgehensweisen kombinieren

5.6 Definitionen

5.7 Mit Hypothesen arbeiten

5.8 Zum Schluss

Quellen verwenden

6.1 Einführung und Aufgabenblatt

6.2 Mit Quellen arbeiten

6.3 Die Literaturverwaltung

6.4 Referenzmanager

Kritisch denken

7.1 Einführung und Arbeitsblatt

7.2 Dem „Roten Faden“ folgen

7.3 Zum Schluss

Wissenschaftlich schreiben

8.1 Arbeitsblatt für dieses Kapitel

8.2 Wissenschaftlich strukturieren

8.3 Die Elemente der Einleitung

8.4 Eigenständig untersuchen!

8.5 Grundlagen einbauen

8.6 Das Schlusskapitel

8.7 Kostengünstig Daten auswerten

8.8 Allgemeine Zitierregeln einhalten

8.9 Darstellungsverzeichnisse

8.10 Quellenarten im Quellenverzeichnis

8.11 Benötigte Elemente

8.12 Hochschulische Standards

8.13 Keine „Deppenleerzeichen“

8.14 Konsistente Seitenzahlen

8.15 Bewertung und Benotung

8.16 Nachbemerkung

Qualitätskriterien einhalten

9.1 Zielgerichtetheit

9.2 Besonderheit

9.3 Relevanz

9.4 Logik

9.5 Nachvollziehbarkeit

9.6 Ehrlichkeit

9.7 Überprüfbarkeit

9.8 Transparenz

9.9 Validität

9.10 Reliabilität

9.11 Signifikanz

9.12 Repräsentativität

Abbildungsverzeichnis

Quellenverzeichnis

Über die Initiative „forschenlernen.jetzt“

Über den Autor

Weitere Angebote

1 Forschung verstehen

In diesem Kapitel wird der Kern des Ganzen erarbeitet.

Die Teilnehmenden eines hochschulischen Studienangebotes sollen eines Tages eine wissenschaftliche Abschlussarbeit erstellen können und werden daher mit den Grundlagen der Durchführung von Forschung vertraut gemacht.

Lern- und Qualifikationsziele dieses Kapitels:

Die Studierenden kennen die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens.

Sie leiten aus diesem Wissen Optimierungsmaßnahmen bzw. Kurskorrekturen für ihr eigenes Vorgehen und ihre Methodenwahl ab.

Sie sind darauf vorbereitet, eine strikt forschende und ergebnisoffene Haltung einzunehmen, um zu validen und reliablen Ergebnissen zu gelangen.

Vertiefen wir uns zunächst in das, was Wissenschaft an sich bedeutet und was Wissenschaft für uns bedeuten kann. Werfen wir also einen Blick auf die Definitionen von Wissenschaft. Klären wir auch, was das eigentliche Ziel von Wissenschaft ist: Wissen zu generieren.

Wir lernen, welche Elemente nicht fehlen dürfen, wenn wir forschen, und dass unsere Ergebnisse den Methoden folgen, die wir anwenden.

Ein bisschen Wissenschaftsphilosophie gehört dazu – und auch die Frage, wie wir erkennen können, welches Vorgehen für unser eigenes Forschungsprojekt „passend“ sein könnte...

Lassen Sie sich auf diese Grundlagen ein. Das wird Ihnen helfen, die nächsten praxisorientierten Schritte auf einem soliden Fundament zu tun.

Und überprüfen Sie Ihren eigenen Lernerfolg anhand der Arbeitsfragen auf den jeweiligen Arbeitsblättern!

1.1 Ihr Arbeitsblatt für dieses Kapitel

Es ist Ihr Wegbegleiter! Nehmen Sie es einfach ausgedruckt mit, wenn Sie die Lektionen durcharbeiten, und gehen Sie die gestellten Aufgaben direkt an.

1. Was sind die wesentlichen Merkmale des Begriffs Wissenschaft?

2. Wie unterscheiden sich die Wissenschaftsbereiche – und was haben sie gemeinsam?

3. Wie stellen Sie sich interdisziplinäres Arbeiten vor? Beschreiben Sie dies an einem denkbaren Beispiel, z.B. Ihrem eigenen Projekt.

4. Warum entdecken die Wissenschaften nach Hans-Peter Dürr keine Eigenschaften der Natur – und wie stehen Sie zu seiner Ansicht, dass die verwendeten Methoden das Ergebnis vorgeben? Begründen Sie Ihre Position an einem nachvollziehbaren Beispiel.

5. Wie verstehen Sie Paul Watzlawicks Kritik an der Vorstellung einer „wirklichen Wirklichkeit“ – und was bedeutet sie für Ihre eigene Vorstellung: Bestätigung oder Infragestellung? Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus für Ihr eigenes Projekt?

6. Wenn wir nicht an der Entwicklung allgemeiner Antworten interessiert sind, sondern am Erlernen von Vorgehensweisen bei der Suche nach möglichen Lösungen: Welche sind Ihnen bereits bekannt oder sogar vertraut?

7. Welche Konsequenzen für Ihre eigene erste oder nächste Untersuchung könnte die Forderung von Sir Karl R. Popper haben, nach widersprechenden Beobachtungen zu suchen, um Theorien und Behauptungen zu widerlegen?

8. Diskutieren Sie – im Hinblick auf eine zu untersuchende Fragestellung – die konstruktivistische Sichtweise, nach der sich Erkenntnis nicht auf die Wirklichkeit außerhalb des Menschen beziehen kann, sondern nur auf die Bewusstwerdung der Operationen des eigenen Denkens und Handelns.

1.2 Definieren

Wissenschaft im Sinne dieses Abschnitts ist die Tätigkeit wissenschaftlicher Arbeit als planmäßiges Vorgehen mit dem Ziel der Gewinnung neuer Erkenntnisse und Kenntnisse sowie der Lösung praktischer Probleme. Konkrete Verwertungsabsichten sind dabei keine Voraussetzung und es wird stets an vorhandenes wissenschaftliches Wissen angeknüpft.

Wir erkennen, dass Wissenschaft nur dann vorliegt, wenn neues Wissen geschaffen wird.

Außerdem werden verschiedene Definitionen von Wissenschaft vorgestellt, die helfen können, Sinn und Zweck von Wissenschaft zu verstehen.

Was ist Wissenschaft?

Die Frage, wann überhaupt von Wissenschaft gesprochen werden kann, wann also wissenschaftlich vorgegangen wird und entsprechende Ergebnisse erzielt werden, ist vermutlich einfacher zu beantworten als diese. Dennoch sollen Definitionen in diesem ersten Kapitel nicht fehlen – sie sind auch für wissenschaftliches Arbeiten unverzichtbar.

Wissenschaft soll im Rahmen dieses Grundkurses als die Tätigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens verstanden werden. In Anlehnung an Balzert et al. (2022)

handelt es sich um ein planmäßiges Vorgehen mit dem Ziel, neue Erkenntnisse zu gewinnen und praktische Probleme zu lösen;

Konkrete Verwertungsabsichten sind keine Voraussetzung;

knüpft man an vorhandenes wissenschaftliches Wissen an und kennt den aktuellen Stand;

werden die gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht und müssen für andere nachvollziehbar und überprüfbar sein;

hält man sich an wissenschaftliche Methoden und anerkannte Qualitätskriterien (vgl. Balzert u. a. 2022: 7f.).

Wann kann man also von Wissenschaft sprechen? Nun, auf jeden Fall – und hier sei die Marke gleich zu Beginn und mit allem Nachdruck gesetzt – nur dann, wenn jemand mit Wissenschaft neues Wissen schafft.

Das mag in manchen Ohren wie ein Kalauer klingen. Aber es ist tatsächlich ein Grundsatz: Nur wenn wir – aufbauend auf vorhandenem Wissen und mit der Erkenntnis, dass dieses vorhandene Wissen für das konkrete Problem noch nicht ausreicht – mit dem Ziel beginnen, das benötigte neue Wissen forschend zu generieren, dann arbeiten wir wissenschaftlich.

Definitionen

Welche Definitionen gibt es, die helfen können, Sinn und Zweck von Wissenschaft zu verstehen? Zum einen gibt es diese kurze, noch recht allgemeine Definition:

Die Wissenschaft ist eine „(organisierte) Form der Erforschung, Sammlung und Auswertung von Kenntnissen“ (Pfeifer o. J.).

Eine ausführlichere und schon recht umfassende Definition stammt von den Autoren des bereits zitierten Lehrbuchs zum wissenschaftlichen Arbeiten:

„Wissenschaftliches Arbeiten ist ein planvoll geordnetes Vorgehen mit dem Ziel, neue Erkenntnisse und neues Wissen zu gewinnen sowie Praxisprobleme zu lösen. Dies kann ohne oder mit konkreten Verwertungsabsichten geschehen, im eigenen Fachgebiet oder interdisziplinär.

Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört es, an das weltweit gesammelte und wissenschaftlich erworbene Wissen anzuknüpfen, vorhandene Wissensbestände zu analysieren und zu überprüfen und sich über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion im eigenen Sachgebiet kundig zu machen.

Wissenschaftliches Arbeiten ist zugleich ein kommunikativer Prozess. Die eigenständig und im Austausch mit anderen gewonnenen Erkenntnisse sowie die systematisch und kreativ entwickelten Lösungen werden veröffentlicht und müssen für andere nachvollziehbar, überprüfbar und nutzbar sein.

Damit dies gelingt, gibt es wissenschaftliche Methoden und international anerkannte Qualitätskriterien für gutes wissenschaftliches Arbeiten. Jeder, der eine wissenschaftliche Arbeit anfertigt, muss sich daran orientieren und kann auf diese Weise die Qualität seiner Arbeit für sich und andere sichern und dazu beitragen, den Wissensschatz der Welt zu erweitern.“ (Balzert u. a. 2022: 7f.).

Wissenschaft ist zwar ein Substantiv, ein Hauptwort. Und doch möchte ich daraus in Ihrem und in meinem Sinne ein Verb machen, also ein „Tu-Wort“:

Wir verstehen Wissenschaft nicht als eine Kategorie oder als etwas Statisches, sondern als eine Tätigkeit.

„Wissenschaft“ bedeutet dann: mach es auf wissenschaftliche Weise! Nicht mehr und nicht weniger.

1.3 Erkenntnisse als Ziel

In diesem Abschnitt wird beschrieben, dass Wissenschaft eine zielgerichtete Tätigkeit ist. Ihr Ziel ist es, neues, noch nicht vorhandenes Wissen zu gewinnen. Der Wissenschaftler beginnt mit einer sorgfältigen Prüfung des bereits vorhandenen Wissens zu seiner Fragestellung und bezieht es in seine Untersuchung ein. Er will zu Ergebnissen gelangen, die eine ehrliche Antwort auf seine klar definierte Fragestellung geben oder die helfen, zuvor analysierte Probleme zu lösen.

Hervorzuheben ist, dass wissenschaftliches Arbeiten ein nützliches Erkenntnisziel haben und dieses im Auge behalten muss.

Damit ist bereits die Bedeutung eines konsequent wissenschaftlichen Vorgehens angesprochen. Wer Wissenschaft betreibt, sucht nach neuer, bisher nicht vorhandener Erkenntnis. Insofern ist Wissenschaft eine forschende, zielgerichtete Tätigkeit. Forschung, so der Wissenschaftsrat, ist eine „Praxis eigener Art, eine Erkenntnispraxis, die zuerst der Logik der Wahr-heitssuche folgt“ (Wissenschaftsrat 2011: 11).

Ein Wissenschaftler strebt demnach nach Ergebnissen, die seine zuvor genau definierte Fragestellung wahrheitsgemäß beantworten bzw. zuvor nachvollziehbar analysierte Probleme lösen helfen.

Er tut dies aber nicht, ohne zuvor sorgfältig geprüft zu haben, welche bisherigen Antworten oder Lösungsangebote es zu seiner Fragestellung bereits gibt; und er bezieht diese bisherigen Wissensbestände in jedem Fall in seine Untersuchung ein. Reichen diese Bestände für das Erkenntnisziel bereits aus, wird das Forschungsvorhaben als nicht notwendig erachtet und abgebrochen.

Es ist daher immer notwendig, sich zu Beginn über den bereits vorhandenen, aktuellen Stand der Wissenschaft zur konkreten Fragestellung zu informieren und auch eventuell bereits vorhandene Gegenpositionen zur eigenen Lösungsidee zu berücksichtigen.

Das Erkenntnisziel vor Augen

So gehört die Informationsbeschaffung zu jedem wissenschaftlichen Vorhaben, einschließlich der Strukturierung und Operationalisierung vorhandener Daten und Erkenntnisse. Deren Zusammenstellung allein wird aber heute nicht mehr als hinreichend für ein Forschungsvorhaben angesehen, auch wenn sie im Rahmen eines Forschungsvorhabens notwendig ist – ein Forschungsvorhaben braucht ein nutzbringendes Erkenntnisziel.

Ein solches Ziel kann in der Formulierung von Hypothesen, in der Skizzierung von Theorien oder in der Überprüfung von Hypothesen oder Theorien auf ihre Anwendbarkeit bestehen. Auf diese Weise werden Entwürfe oder sogar Konzepte und Strategien für deren Umsetzung durch wissenschaftliches Vorgehen vorbereitet.

Wir müssen also unser Erkenntnisziel definieren. Es ist kein Praxisziel, kein Umsatzziel, kein Kommunikationsziel, kein Lernziel und schon gar kein persönliches Ziel (z.B. einen Abschluss und Titel zu erwerben) – es ist allein ein Erkenntnisziel. Es ist wichtig, sich dies klar vor Augen zu halten.

Es ist wie bei jedem Weg durch die Umwelt und durch das Leben: das Ziel bestimmt den Weg. Aber: Es muss ein erreichbares Ziel sein.

Damit schwingt sofort die Frage mit: Kann ich das angestrebte Erkenntnisziel mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln überhaupt erreichen...? Auch darüber werden wir weiter nachdenken.

Wissenschaftliche Disziplinen

Die Wissenschaftsgebiete nach Art und Ausrichtung:

Formal- bzw. Strukturwissenschaften – Mathematik und Informatik

Geisteswissenschaften – Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaften

Ingenieurwissenschaften – Bauingenieurwesen, Elektrotechnik, Maschinenbau u. a.

Naturwissenschaften – Biologie, Chemie und Physik

Sozialwissenschaften – umfassen jene Wissenschaftsgebiete, die sich mit den Zusammenhängen des menschlichen Zusammenlebens und damit verbundenen Handlungen und Verhaltensweisen befassen

Für sie alle gilt, dass sie nach Vertiefung und Erweiterung des Grundlagenwissens und nach neuen Erkenntnissen für anwendbare Lösungen forschen.

Auch wenn sie dazu ganz unterschiedliche Methoden entwickelt haben und anwenden, so verbindet sie doch der grundlegende Ansatz, auf der Grundlage des vorhandenen Wissens in systematischer, nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise neues Wissen zu schaffen.

Dies unterscheidet die Wissenschaftsdisziplinen von anderen Lösungswegen, die wir aus unserem Alltag kennen, wie Intuition, bloße praktische Erfahrung und Ausprobieren.

Ohne zuvor gesichertes Wissen, das methodisch-wissenschaftlich erarbeitet und überprüft wurde, kann sich niemand auf den Weg des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns machen.

Damit erschließt sich auch der Sinn des Studiums an einer Hochschule. Wer den Abschluss nur machen will, um einen halbwegs gut bezahlten Job zu bekommen, hat sein Ziel falsch gesetzt. Arbeitgeber erwarten von Hochschulabsolventen, dass sie die Gepflogenheiten ihrer wissenschaftlichen Disziplin nicht nur kennen, sondern auch anwenden können. Das bedeutet, systematisch wissenschaftlich, d.h. methodisch sauber und unter Berücksichtigung des vorhandenen Wissens, neues Wissen zu generieren, das im praktischen Umfeld des Unternehmens benötigt wird.

Dies gilt grundsätzlich, aber auch in jedem Moment neu: Wenn sich eine berufliche Frage und Herausforderung stellt, gehen Hochschulabsolventinnen und -absolventen wissenschaftlich vor – also nicht rein intuitiv, auf praktische Erfahrung setzend oder einfach ausprobierend. Deshalb sind Grundkenntnisse des wissenschaftlichen Arbeitens für sie alle unverzichtbar und wichtig.

1.4 Forschendes Vorgehen

In diesem Abschnitt geht es um das Konzept des forschenden Vorgehens in der Wissenschaft. Es wird betont, dass Wissenschaftlichkeit nicht als eine formale Anforderung zu verstehen ist, wie z.B. zu gliedern, zu zitieren und zu referenzieren, sondern als forschendes Vorgehen. Um eine wissenschaftliche Arbeit zu erstellen, müssen eine Problemstellung, ein Ziel und eine Forschungsfrage erarbeitet sein. Ferner gilt, dass eine Arbeit, die keinen Forschungsbeitrag leistet, nicht als wissenschaftlich angesehen werden kann.

Gehen wir nun in die Details. Aus der Erfahrung der Hochschulpraxis kann festgehalten werden, dass jede wissenschaftliche Arbeit eine klare Problemstellung, Zielsetzung und Forschungsfrage benötigt, um zu einem Ergebnis zu kommen. Wissenschaftlichkeit wird bereits hier also nicht reduziert auf Formalia – wie Gliederung, Zitieren, Verzeichnisse etc.

Auf „gutefrage.net“ wollte am 1. April 2015 jemand wissen: „Wann wird wissenschaftlich gearbeitet?“. Als Antwort erschien dort innerhalb weniger Minuten kurz und knapp: „Es wird in der Forschung eingesetzt.“ (vgl. KoraChany 2015). Der Umkehrschluss aus dieser richtigen Antwort lautet: Wenn wissenschaftlich gearbeitet werden soll, muss geforscht werden, es kann also nicht einfach ein Aufsatz, ein Essay entstehen.

Wissenschaftliches Arbeiten soll hier als forschendes Arbeiten definiert werden.

Insofern wird auch der an manchen Hochschulen anzutreffenden Praxis widersprochen, dass eine wissenschaftliche Arbeit zwar „nach wissenschaftlichen Qualitätskriterien verfasst sein, aber keinen substanziellen Beitrag zur Forschung leisten“ können müsse (Balzert u. a. 2022: 54). Solche Vorstellungen finden sich gelegentlich in einigen als „kreativ“ bezeichneten Studiengängen, etwa im Mediendesign. Balzert u. a. haben jener zuvor formulierten Möglichkeit, man müsse keinen substanziellen Beitrag zur Forschung leisten, allerdings auch widersprochen, wenn sie betonen, dass ohne Relevanz für die eigene Wissenschaftsdisziplin eine Fragestellung nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit bearbeitet werden sollte (vgl. Balzert u. a. 2022: 63; vgl. dort auch das wissenschaftliche Qualitätskriterium „Relevanz“: 32 ff.)

Auch der deutsche Wissenschaftsrat unterstreicht, dass sich gute Forschung durch Relevanz auszeichnet (vgl. Wissenschaftsrat 2011: 11), wobei von Relevanz in der Wissenschaft nur dann gesprochen werden kann, wenn tatsächlich ein Forschungsbeitrag geleistet wird.

Dazu bedarf es halt grundlegender forschungstypischer Elemente. Aus langjähriger hochschulpraktischer Erfahrung lässt sich festhalten, dass jede wissenschaftliche Arbeit eine klare Problemstellung, Zielsetzung und Forschungsfrage benötigt, um zu einem Ergebnis zu kommen, ansonsten entsteht keine wissenschaftliche Arbeit.

Wissenschaftlichkeit wird hier somit nicht als reduziert auf Formales – wie Gliederung, Zitierungen, Verzeichnisse etc. – verstanden, sondern auf die Art des Vorgehens.

Da jeder Forschende verpflichtet ist, das vorhandene Wissen seines Wissenschaftsgebietes einzubringen, fügt er diesem sein neues Wissen hinzu und leistet damit einen Beitrag zur Forschung, wie hoch oder niedrig dieser auch von anderen eingeschätzt werden mag.

Ja, wissenschaftliche Arbeit ist in der Tat Forschung: Es geht um eine Untersuchung, nicht um einen Aufsatz!

Es geht also nicht (nur) um formale Merkmale des Forschens, sondern es geht um die Substanz: Hier wird geforscht.

Dafür sind die genannten Grundelemente unerlässlich, die erkennbar in einem logischen Zusammenhang stehen: Problemstellung, Zielsetzung und Forschungsfrage.

1.5 Methodengeleitete Resultate

In diesem Abschnitt wird beschrieben, wie die eigene Herangehensweise die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen beeinflussen kann. Zur Veranschaulichung wird das Gleichnis eines Fischers verwendet, der entdeckt hatte, dass alle Fische größer als fünf Zentimeter sind und Kiemen haben, aber der Wissenschaftler erklärte ihm, dass es sich dabei um die Maschenweite des Fischernetzes handelt und nicht um die tatsächlichen Grundeigenschaften von Fischen. Dieses Gleichnis wenden wir auf die Wissenschaft an, um zu zeigen, dass die Messmethoden und ihre Möglichkeiten einen erkennbaren Einfluss auf unsere Ergebnisse haben können.

Wir untersuchen immer mit definierten Mess- und Beurteilungskriterien, die dabei unausweichlich unsere Ergebnisse bestimmen. Was wir nicht gemessen oder analysiert haben, steht uns nicht als Ergebnis zur Verfügung – doch vielleicht sind es gerade diese Ergebnisse, oft Daten, die wir zur Erklärung oder Lösung eines Problems benötigen.

Abbildung 1: Hans-Peter Dürr im Interview (Quelle: Screenshot aus Gertler 1997b)

Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts in München, Hans-Peter Dürr, hat mir in einem spannenden Interview über seine Herangehensweise und seine Ergebnisse deutlich gemacht, wie sehr gerade die eigene Herangehensweise die Ergebnisse bestimmt. Er meinte damit, dass die Wirklichkeit des Naturwissenschaftlers die ihm erscheinende, nicht aber die wirkliche Wirklichkeit der Natur sei.

Das Gleichnis

Dürr verwendet dazu das Gleichnis eines Fischers, der aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen beim jahrelangen Fischen zu zwei „Grundgesetzen der Fischerei“ gekommen sei: Erstens seien alle Fische größer als fünf Zentimeter und zweitens hätten alle Fische Kiemen.

Beides nannte der Fischer einfach Grundgesetze, weil sich diese Tatsachen bei jedem Fang so bestätigt hätten, so dass er davon ausgehen könne, dass es auch in Zukunft immer so sein werde.

Dann begegnete der Fischer dem Philosophen, der ihm zu dieser seiner Grundgesetz-Erkenntnis sagte, dass die Fünf-Zentimeter-Aussage sicher kein Grundgesetz sei: Die Maschenweite des Netzes bestimme vielmehr, dass kleinere Fische nicht gefangen werden könnten. Das habe den Fischer aber nicht beeindruckt, denn was er mit seinem Netz nicht fangen könne, sei für ihn kein Fisch.

Die Anwendung

Dieses Bild überträgt Hans-Peter Dürr auf die Naturwissenschaften, die seiner Meinung nach auch immer wieder behaupten, sie hätten etwas gefunden und das Gefundene sei eine Eigenschaft der Natur – und nicht vielmehr eine Eigenschaft, die die Natur ihnen offenbart: durch ihre Messmethoden und so weiter. (Vgl. Hans-Peter Dürr in Gertler 1997b von 22:30 bis 24:22)

In diesem Fall bestimmte also die Maschenweite des Netzes, was gefangen und damit als Fisch deklariert und untersucht werden konnte. Die Messmethode und ihre Möglichkeiten haben erkennbare Auswirkungen auf das Ergebnis, und zwar in erheblichem Maße, wie das Gleichnis deutlich macht.

Allgemeiner gesprochen: Wir untersuchen immer mit Kriterien des Messens und Beurteilens, die aber tatsächlich unsere Ergebnisse vorbestimmen. Denn was wir nicht gemessen oder analysiert haben, steht uns nicht als Ergebnis zur Verfügung – und vielleicht wären es gerade diese Ergebnisse, oft Daten, die wir zur Erklärung oder Lösung eines Problems benötigen.

Versuchung zur Verallgemeinerung

Auf der Basis der gewonnenen Daten lassen wir uns schnell zu Verallgemeinerungen hinreißen. Dann werden die Gesetze der Logik bemüht, z. B. so: Da es sich hier – wie so oft – um ein grundsätzliches Problem handelt, zu dem wir nun Daten haben und eine Lösung entwerfen können, dürfen wir daraus diese oder jene allgemeine Schlussfolgerung ziehen.

Dürfen wir das wirklich? Skepsis ist angesagt – und genau dazu ermunterte uns Hans-Peter Dürr, denn sein Fischer hatte allein aufgrund der Maschenweite seines Netzes jenes allgemeingültige „Grundgesetz der Fischerei“ erfunden, wonach Fische immer mindestens fünf Zentimeter lang sind. Inzwischen wirft der Nachbar und Konkurrent des Fischers vielleicht ein Netz aus, dessen Maschen acht Zentimeter lang sind; sein „Grundgesetz“ würde also lauten, dass Fische immer mindestens acht Zentimeter lang sind... (Lesetipp: Dürr 2011)

Interdisziplinäres Arbeiten

Wenn der Naturwissenschaftler Hans-Peter Dürr die Geschichte vom Fischernetz und seinen Maschen vor Augen hat, ist der Physiker am Werk. Er misst und ermittelt aus den Daten sein Ergebnis – bis hin zum Naturgesetz.

Andere Wissenschaften gehen anders vor. In den Geisteswissenschaften etwa gehören Logik, Plausibilität und Verstehen zum notwendigen Handwerkszeug des Wissenschaftlers, in den Sozialwissenschaften etwa geht es um statistisch und empirisch gewonnenes und vertieftes Wissen über Zusammenhänge.

Und wenn die Methoden der eigenen Disziplin manchmal nicht ausreichen, gehen Wissenschaftler auch über deren Grenzen hinaus und forschen interdisziplinär. Sie bauen dann in ihre Projekte Phasen ein, in denen sie das Instrumentarium anderer Disziplinen fruchtbar machen. So werden empirische Methoden der Sozialwissenschaften häufig auch von anderen Disziplinen genutzt, um die jeweilige Hypothesen- oder Theoriebildung zu untermauern oder die Alltagstauglichkeit und Gültigkeit einer These zu überprüfen. (Lesetipp: Jungert 2010)

Voneinander lernen

Die Begegnung mit Hans-Peter Dürr hat mich für meine eigene Forschung sehr motiviert. Das war 1997, er war damals noch Direktor am Max-Planck-Institut in München und zuvor Assistent von Werner Heisenberg. Als Astrophysiker schaute er sehr methodisch auf alles, was da ist (oder zu sein scheint) und sich bewegt. Ich kam aus den Geisteswissenschaften, er war Naturwissenschaftler.

Ich war mit meinem Kamerateam bei ihm, um Statements für meine TV-Dokumentationsreihe „Aus Sternenstaub – Der Mensch im Kosmos“ aufzunehmen. Dabei hatte ich zu Beginn der Dreharbeiten noch vermutet, dass vor allem in „meinen“ Geisteswissenschaften alles in Bewegung ist, dass es ständig neue Impulse, ja philosophische „Schulen“ gibt, nicht aber in den Naturwissenschaften.

Doch Hans-Peter Dürr machte mir klar, dass wir alle in unserem Denken, Handeln und in unseren Ergebnissen immer von den Rahmenbedingungen geleitet, ja geradezu bestimmt werden. Was immer also unser Ergebnis sein wird, wird auch Ihr Ergebnis sein:

Unser Ergebnis wird unweigerlich von den Methoden bestimmt, die wir anwenden!

1.6 Die Wahrheit der Ergebnisse

In diesem Abschnitt wird erläutert, wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit betrachtet werden sollten. Es wird argumentiert, dass das Ziel wissenschaftlichen Arbeitens darin besteht, grundlegende und übertragbare Verfahren zur Ermittlung möglicher Lösungen zu erlernen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass Wissenschaftler oft versuchen, verbindliche Aussagen über die Wahrheit zu machen. Doch wird dies von vielen Wissenschaftszweigen in Frage gestellt. Es wird argumentiert, dass es die Aufgabe der Wissenschaft sei, Methoden zu entwickeln, die für einen bestimmten Zweck effektiv sind, und dass diese Methoden in der Zukunft stets durch bessere ersetzt werden können.

Beim Forschenlernen können wir offenbar wirklich sagen: Alles ist relativ...! Denn diese Erkenntnis drängt sich nun auf: Wir lernen beim wissenschaftlichen Arbeiten keine inhaltlich immer wiederholbaren Lösungsschritte, sondern wir lernen vielmehr grundsätzlich und damit übertragbar die Vorgehensweisen zur Ermittlung von Lösungsmöglichkeiten an sich.

Zuvor hatte bereits Hans-Peter Dürr mit seinem Gleichnis vom Fischernetz deutlich gemacht, welches Paradigma die Wissenschaften bestimmt: Sie suchen nach Wahrheit und wollen darüber allzu gerne verbindliche Aussagen machen. Das liegt nicht nur in der Natur des Forschenden, sondern resultiert oft auch aus den Erwartungen seiner Auftraggeber. Es liegt nahe, diesen Anspruch näher zu beleuchten – und zwar durchaus kritisch.

Dazu werden wir zunächst mit dem Psychotherapeuten und Konstruktivisten Paul Watzlawick ins Gespräch kommen und uns dann mit den wissenschaftstheoretischen Anforderungen auseinandersetzen, die uns Sir Karl Raimund Popper mit auf den Weg des wissenschaftlichen Arbeitens gegeben hat. Dabei werden wir weiteren Paradigmen der Wissenschaft begegnen, mit denen wir uns vertraut machen müssen.

Überholte Sichtweisen

Schon 1997 hat mir Paul Watzlawick in einem Interview im Mental Research Institute (MRI) im kalifornischen Palo Alto gesagt, dass in seinem Fach, der Psychotherapie, immer noch davon ausgegangen werde, dass es eine „wirkliche Wirklichkeit“ gebe, die den sogenannten geistig Normalen und damit vor allem den Therapeuten bewusst sei. Die sogenannten psychisch Kranken hätten dagegen eine verzerrte Sicht dieser Wirklichkeit.

Abbildung 2: Paul Watzlawick im Interview (Quelle: Screenshot aus Gertler 1997c)

Diese Auffassung sei in anderen Wissenschaftszweigen längst überwunden und nicht mehr haltbar. In der heutigen Erkenntnistheorie sei es die Aufgabe der Wissenschaft, Verfahrensweisen zu entwickeln, die für einen ganz bestimmten Zweck wirksam sind. Watzlawick folgerte daraus:

„Das mag sehr wohl bedeuten, dass in fünf Jahren diese heutige, beste Art und Weise, mit dem Problem umzugehen, bereits durch eine bessere abgelöst wird“ (Watzlawick in Gertler 1997c).

Auch dieser erkenntnistheoretische Gesichtspunkt spricht also dafür, nicht nach allgemeinen und zeitlos gültigen Erkenntnissen zu streben, sondern sich auf den konkreten und aktuellen Zweck der Lösung eines vielleicht sogar lokal begrenzten Erkenntnisproblems zu konzentrieren und sich wirklich darauf zu beschränken.

Anwendung auf Fragestellungen

Wenn wir dieser Sichtweise von Paul Watzlawick folgen wollen und uns dazu auf mögliche Fragestellungen der veganen Ökonomie im engeren und weiteren Sinne einlassen, dann stellen wir keine allgemein ausgerichtete Fragen mehr wie die folgenden:

Wie können Landwirte bio-vegan anbauen, um zu wirtschaftlichen Erträgen zu gelangen und nicht bankrott zu gehen?

oder:

Worin unterscheidet sich das Managen eines veganen von dem eines konventionellen Supermarktes?

Wir müssen also wegkommen von allgemeinen Antwortversuchen, weil sie faktisch so gut wie nie möglich sind – wir müssen uns auf Lösungsversuche für ganz konkrete und abgegrenzte Herausforderungen konzentrieren.

Bleibt wissenschaftliches Arbeiten dann nicht immer im Detail stecken? Was kann ich lernen und mitnehmen, wenn ich immer wieder die Faktoren und Kriterien für nur individuell gültige Ergebnisse herausarbeiten darf?

Die Antwort könnte lauten:

Wir lernen beim wissenschaftlichen Arbeiten keine inhaltlich immer wiederholbaren Lösungsschritte, sondern wir lernen die Verfahren zur Ermittlung von Lösungsmöglichkeiten.

Dem bio-vegan wirtschaftenden Landwirt, der dauerhaft wirtschaftlich überleben muss, liefern wir also keine Patentrezepte, sondern er muss die Determinanten seines Problems gründlich herausfinden, um eine für ihn passende Lösung zu finden.

Und dem angehenden Manager eines veganen Supermarktes hilft kein grundlegendes Managementhandbuch, sondern nur die in der wissenschaftlichen Praxis geschulte Fähigkeit, die Konkurrenzsituation, die Bezugsquellen, die Zielgruppen und deren Präsenz in einem zu definierenden Umkreis usw. zu analysieren.

Von Paul Watzlawick wissen wir, dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, Verfahren zu entwickeln, die für einen ganz bestimmten Zweck wirksam sind. Je mehr und je öfter wir selbst solche Verfahren als Lösungsangebote entwickeln, desto besser werden wir darin geschult, wissenschaftliche Lösungen zu entwickeln.

Genau dafür brauchen wir also immer wieder die eigene Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens, wie sie im universitären Umfeld durch entsprechende Haus-, Projekt- und Abschlussarbeiten realisiert wird.

Das ist schon etwas! Wissenschaft produziert also keine allgemeingültigen Wahrheiten. Hätten Sie das gedacht? Ob ja oder nein – ist Ihnen klar, dass das jetzt auch für Ihr eigenes Forschungsprojekt gilt?

Paul Watzlawick hat es uns gesagt: Aufgabe der Wissenschaft ist es, Methoden zu entwickeln, die jeweils für einen ganz bestimmten Zweck wirksam sind.

Daraus können Sie nun ableiten, dass auch Sie sich ausschließlich auf Ihren eigenen Zweck, auf das Ziel Ihres Forschungsvorhabens in einem konkreten Fall konzentrieren müssen.

Denn Verallgemeinerungen aufgrund eines Einzelbefundes wären unwissenschaftlich.

1.7 Falsifikation als Arbeitsprinzip

In diesem Abschnitt stelle ich Ihnen die Idee der Falsifikation als Arbeitsprinzip vor, die von Sir Karl Raimund Popper eingeführt wurde. Er argumentierte, dass wissenschaftliche Theorien nicht durch Beobachtungen bestätigt werden können, sondern durch die Suche nach Widersprüchen widerlegt werden müssen.

Der Abschnitt enthält Beispiele aus dem täglichen Leben, wie die Idee der Falsifikation veranschaulicht werden kann, z.B. die Behauptung, dass alle Schwäne weiß sind – wenn ein schwarzer Schwan entdeckt würde, wäre diese Theorie widerlegt und als falsch erkannt. Popper hält falsifizierendes Vorgehen für sicherer als die Annahme, dass Theorien durch Beobachtungen bestätigt werden können.

Also: wir können nie etwas beweisen!

Sir Karl Raimund Popper steht im Mittelpunkt dieser Lektion. Er hat mit seinen Arbeiten wesentliche Beiträge zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie geleistet und ein gängiges Wissenschaftsverständnis kritisiert, nach dem aus konkreten Beobachtungen verallgemeinernde Schlüsse für wissenschaftliche Theorien gezogen werden.

Nehmen wir als Beispiel die alltägliche “Erkenntnis“ oder besser: Alltagsvorstellung, dass wir Menschen „von Natur aus“ auf tierliche Nahrung angewiesen sind. So sind wir meist aufgewachsen, programmiert mit Slogans wie „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ und „Milch macht müde Männer munter“.

Daraus resultiert bei vielen Zeitgenossen der unerschütterliche Glaube, dass es ohne tierliche Nahrung nicht geht, weil man sonst schnell krank wird und vorzeitig stirbt.

Auch die meisten Mediziner und Ernährungswissenschaftler hängen noch dieser Vorstellung einer notwendigen Ernährung mit tierlichen Bestandteilen an. Sie alle hatten einst ihre wissenschaftliche Ausbildung genossen und wurden dort mit dem damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand geprägt, der die sogenannte Mischkost als gesund und notwendig bezeichnete.

Das Mantra der gesunden Mischkost lebt also auch weiterhin von wissenschaftlichen Ergebnissen, selbst wenn der heutige Wissensstand dieses Denken inzwischen als überholt erscheinen lässt.

Hatten wir eben noch von Paul Watzlawick gelernt, dass viele Erkenntnisse nach einiger Zeit durch neue Erkenntnisse und Untersuchungen überholt werden, so lernen wir nun bei Karl Popper eine weitere kritische Sichtweise zum Umgang mit wissenschaftlich begründeten Theorien kennen.

Er lehnte schon vor Jahrzehnten grundsätzlich alle induktiv (aus Beobachtungen) gewonnenen Theorien als unsichere Spekulationen ab und forderte, sie durch die Suche nach widersprechenden Beobachtungen zu widerlegen.

Beispiele aus dem Alltag

Am Beispiel der Behauptung, alle Schwäne seien weiß, lässt sich dies gut nachvollziehen. Eine solche Behauptung kann nur so lange Bestand haben, bis der erste schwarze Schwan gesichtet wird.

Und als der erste schwarze Schwan nachweisbar auftauchte, wurde die bisherige Theorie von den immer weißen Schwänen natürlich sofort „falsifiziert“, d.h. als falsch erkannt und verworfen.

Kehren wir zurück zu unserem oben gewählten Beispiel – der Behauptung, dass Menschen immer tierliche Nahrung benötigen.

Diese als Wissen bezeichnete Behauptung wird in Deutschland bereits in mehr als einer Million Fällen täglich widerlegt – denn 1,58 Millionen Menschen in Deutschland lebten im Jahr 2022 bereits vegan, also ohne Lebensmittel tierlicher Herkunft oder Bestandteile (vgl. Pawlik 2022).

Die mit viel Förder- und Forschungsgeldern untermauerte Theorie von der Notwendigkeit einer Ernährung mit tierlichen Bestandteilen ist also längst durch den für jedermann beobachtbaren Alltag falsifiziert.

Das heißt aber nicht, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland eine so widerlegte Theorie wie die von der Notwendigkeit tierlicher Nahrungsbestandteile sofort ablehnen würde – im Gegenteil. Wir erleben in vielen Bereichen unseres Alltags, dass frühere Theorien offensichtlich nicht stimmen: in der Ökonomie, der Ökologie, der Politik, der Gesundheit.

Dennoch halten viele Menschen zum Teil sehr hartnäckig an längst überholten und widerlegten Vorstellungen und Theorien fest.

Von Sir Karl Raimund Popper nehmen wir daher eine grundsätzlich kritische Haltung mit:

Prüfe immer, was behauptet wird – und lass dich sogar dazu anregen, nach allem zu suchen, was dieser Behauptung widersprechen könnte!

Einfach deshalb, damit nicht aus bloßen Behauptungen, die sich vielleicht auf Beobachtungen stützen, vermeintlich „gültige“ Theorien werden, denen dann niemand mehr widersprechen mag. Schon deshalb ist die kritische Reflexion notwendig, damit nicht falsche „Wahrheiten“ bestehen bleiben – mit dem Hinweis auf ihre früher noch mögliche, aber vorläufige Bestätigung.

Verifikation ist nicht möglich

Hinzu kommt Poppers Hinweis, dass sich nichts „verifizieren“ – also für immer und ewig für wahr erklären – lässt. Denn wir können für jetzt und für die Zukunft prinzipiell keine Situation ausschließen, die der zuvor aufgestellten Theorie widerspricht.

Also: Wir können und sollen falsifizieren – aber wir können und sollen nicht verifizieren wollen.

Solange es (noch) nicht gelungen ist, eine Behauptung oder gar eine Theorie zu falsifizieren, gilt sie nach Popper keineswegs als verifiziert, sondern immer nur als „vorläufig bestätigt“. Das Ergebnis „verifiziert“ kann es also nie geben.

Die Annahme, dass unsere Ernährung tierliche Bestandteile benötigt, um gesund zu bleiben, ist – um es mit Sir Popper zu sagen – seit Jahrzehnten nicht mehr „vorläufig bestätigt“, sondern längst widerlegt, „falsifiziert“. Sie ist also falsch, solche Behauptungen sind nach heutigem Wissen nicht mehr korrekt.

Warum ist uns das wichtig? Weil es seit Popper zu den selbstverständlichen Aufgaben eines jeden Wissenschaftlers gehört, einmal – und einmal reicht wirklich – widerlegte Behauptungen und Theorien nicht weiter zu verwenden, sondern zu verwerfen.

Diese Widerlegungen aufzuspüren und zu berücksichtigen, gehört zu den Grundsätzen unserer wissenschaftlichen Arbeit.

Damit sollte nach Watzlawick nun auch mit Popper noch einmal deutlich geworden sein, wie wichtig eine konsequente Praxis wissenschaftlichen Arbeitens für uns selbst ist: Sie schützt uns davor, „Allgemeinplätze“ für wahr und richtig zu halten, und sie motiviert uns, nach Untersuchungen zu suchen, die Behauptungen mit dem Ziel der Falsifizierung überprüft haben.

Das bewahrt uns davor, mit ungültigen Theorien untaugliche Lösungen zu schaffen. (Lesetipp: Popper 1966a)

Vielleicht haben Sie gerade den Kopf geschüttelt. Wir sollen nicht etwas beweisend zusammentragen, wie es immer noch und oft, auch an den Universitäten, geschieht – sondern alles mit dem Ehrgeiz analysieren, es zu „falsifizieren“, also für ungültig zu erklären? Harter Tobak.

Aber wenn man sich auf Poppers Gedanken einlässt, ist es vielleicht auch einleuchtend. Auch wenn etwas als momentan bestätigt gilt, könnte im Laufe des Tages jemand einen Weg gefunden haben, das als bestätigt Akzeptierte (und damit meist für „wahr“ und „richtig“ Gehaltene) zu falsifizieren, also zu widerlegen.

Vielleicht weckt es sogar Ihren Sportsgeist, wenn Sie sich diese Haltung zu eigen machen: „Ich will nicht mehr etwas behaupten (wie in Aufsätzen / Essays), sondern etwas kritisch hinterfragen, am besten mit der Chance, es zu widerlegen“.

1.8 Wissenschaft und Kommunikation

Die Bedeutung der Kommunikation in der Wissenschaft wird in diesem Abschnitt reflektiert. Es wird betont, dass das Verstehen von Aussagen und Zusammenhängen sowie der eigenen Methodik und Vorgehensweise für wissenschaftliches Arbeiten unabdingbar ist. Dies erfordert die Auseinandersetzung mit den Verstehensmöglichkeiten anderer und das Verstehen von Quellen, Aussagen und Daten. Betont wird auch, dass Forschende immer mit vorhandener Literatur und im Austausch mit anderen Forschenden arbeiten und die Bereitschaft zur fachlichen Kommunikation wichtig ist, um Ergebnisse und Methoden transparent und überprüfbar zu machen. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass neue Erkenntnisse aus der Forschung oft in die Entwicklung einfließen und neue Forschungsthemen entstehen können.

Zwei Prozesse bedingen einander: Wissenschaft und Kommunikation. Das Verstehen von Aussagen und Zusammenhängen, aber auch der eigenen Methodik und Vorgehensweise ist unabdingbar, um überhaupt wissenschaftlich arbeiten zu können.

Ein wichtiger Begriff ist hier die Hermeneutik, die sich mit den Grundlagen und Prozessen des Verstehens befasst. Sie ist nicht nur den Geisteswissenschaften eigen. Erinnern wir uns an Hans-Peter Dürr oder nehmen wir die Aussagen von Paul Watzlawick: Das Verstehen von Aussagen und Zusammenhängen, aber auch der eigenen Methodik und Vorgehensweise ist unabdingbar, um überhaupt wissenschaftlich arbeiten zu können. Das klingt banal, hat aber eine wichtige grundsätzliche Komponente.

Verstehen erfordert die Auseinandersetzung mit den Verstehensmöglichkeiten anderer. Wer wissenschaftlich arbeitet, muss Quellen, Aussagen und Daten verstehen, interpretieren und für sein Erkenntnisziel nutzbar machen können. Und er muss seine eigenen Wege und Ergebnisse anderen verständlich machen können.

Verstehen wird geübt im zwischenmenschlichen Dialog und in der Auseinandersetzung mit Aussagen und Texten aus anderen als den eigenen Alltags- und Kulturbereichen. (Lesetipp: Jung 2012)

Wissenschaft braucht Dialog

Ein Wissenschaftler arbeitet immer mit vorhandener Literatur und oft im Austausch mit anderen Forschern, auch aus anderen Disziplinen. An Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen bestehen zudem in der Regel Betreuungsverhältnisse oder auch konkrete Kooperationsphasen mit anderen Forschern.

Spätestens bei der Veröffentlichung von Ergebnissen, häufig auch schon bei Zwischenergebnissen, tritt der Forscher in einen Dialog mit anderen, es gibt Feedback und Korrekturhinweise. Es ist daher notwendig, sich von vornherein auf diese fachliche Kommunikation einzustellen und alles, was schriftlich verfasst wird, so zu gestalten, dass es für andere gut nachvollziehbar und überprüfbar ist.

Mit einer solchen dialogischen Haltung stellt ein Forscher sicher, dass er nicht nur für seine eigenen Zwecke eine im definierten Kontext nützliche Lösung erarbeiten kann, sondern dass er auch seine Vorgehensweise und seine Ergebnisse einschließlich der Methodenanwendungen für alle anderen transparent und damit nützlich macht.

Forschung und Entwicklung

Dieser Nutzen aus neuen Erkenntnissen, die durch Forschung gewonnen werden, wird häufig als Grundlage für die Anwendung im Bereich der Entwicklung eingebracht; aus der Entwicklung können auch neue Forschungsthemen entstehen (vgl. Balzert u. a. 2022: 49 f.).

Insofern bezeichnen die in Unternehmen typischerweise anzutreffenden Bereiche „F&E“ häufig das Zusammenspiel von anwendungsorientierten Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.

Dennoch muss gerade die Relativität aller Ergebnisse von „F+E“ stets im Auge behalten werden: Die gewonnenen Erkenntnisse gelten für einen bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum und für einen bestimmten Kontext – mehr in der Regel nicht, siehe Paul Watzlawick. Und sie sind zu verwerfen, wenn sie einer falsifizierenden Überprüfung auch nur in einem einzigen Fall nicht standgehalten haben – siehe Sir Karl Raimund Popper.

Interaktion in F&E geschieht durch Kommunikation. Das ist eigentlich ein geflügeltes Wort. Ich verwende es hier im Sinne von Wechselwirkung, von Verständigung, von Erklärung.

Das hat auch Auswirkungen auf unsere eigene wissenschaftliche Arbeit. Denn es muss kommuniziert werden! Nicht nur an die Prüfer:innen, sondern letztlich auch auf dem Marktplatz der wissenschaftlichen Produkte und ebenso gegenüber den Verwandten und Bekannten.

1.9 Wirklichkeitskonstruktionen

In diesem Abschnitt gehen wir der Frage nach, wie unser Verständnis von der Realität entsteht und warum es sich dennoch so oft von der tatsächlichen Realität unterscheidet. Wir erkennen, dass Erkenntnisse, die zu Theorien geworden sind, schnell überholt oder widerlegt werden können. Wir erkennen, dass es keinen Automatismus zwischen Wissen und Handeln gibt und dass es sich lohnt, über die Realität unserer Lebenswirklichkeiten nachzudenken.

Als einen wichtigen Bezugsrahmen für unsere wissenschaftliche Arbeit stelle ich Ihnen den „Radikalen Konstruktivismus“ vor.

Eine erste Prämisse des Konstruktivismus lautet: Unsere eigenen Realitäten sind nicht identisch mit der Wirklichkeit.

Erkenntnisse, die sich zu Theorien verdichtet haben, können sehr schnell überholt oder in der Zwischenzeit schlicht widerlegt sein. Wie kann das sein? Schließlich prägen sie unsere Wirklichkeit oft entscheidend – und in anderen Fällen kaum.

Wir stellen uns nun die Frage nach der Wirklichkeit unserer Wirklichkeit – oder besser gesagt: unserer Wirklichkeiten. Denn alle Erkenntnisse, die zu Theorien und damit zur Wirklichkeit geworden sind, können schon sehr bald überholt oder inzwischen schlicht widerlegt sein.

Früher galt tierliche Nahrung als Quelle der Gesundheit und Kraft des Menschen. Inzwischen ist klar, dass der Verzehr von Fleischprodukten sowohl sogenannte Zivilisationskrankheiten fördert oder sogar auslöst; klar ist auch, dass er für lebensbedrohliche Antibiotikaresistenzen verantwortlich ist, die nach Recherchen von Journalisten allein in Deutschland jährlich bis zu 40.000 Todesfälle verursachen (vgl. ZEIT ONLINE 2014) – dennoch ist der Fleischkonsum derzeit nicht spürbar zurückgegangen.Längst ist klar, dass Apple demnächst wieder eine neue iPhone-“Generation“ vorstellen wird – und ebenso absehbar ist, dass wieder viele Menschen alles daran setzen werden, eines der ersten Geräte dieser Art in ihren Besitz zu bringen, obwohl sie es eigentlich gar nicht brauchen und obwohl die Produktion unsere Umwelt, Menschen, Tiere und Ressourcen unnötig belastet und ausbeutet.

In beiden Fällen ist es möglich, aus solchen Informationen eine Erkenntnis zu gewinnen, die lauten könnte: „Vorsicht, schädlich!“ – aber logische Konsequenzen aus dieser Information sind nicht zu erwarten. Es scheint also keinen „mechanischen“ Wirkungszusammenhang zwischen erworbenem Wissen und daraus resultierendem Handeln zu geben.

Erkenntnistheoretiker der letzten Jahrzehnte haben mit dem „Radikalen Konstruktivismus“ ein Paradigma, also einen Bezugsrahmen beschrieben, der für unsere wissenschaftliche Arbeit immer bedeutsamer geworden ist.

Schließlich untersuchen wir Wirklichkeiten – durch Analysen, Befragungen, Interpretationen, durch das Verstehen von Quellen unterschiedlicher Art. Aber wie können wir dabei überhaupt sicherstellen, dass wir sie „richtig“ erfasst haben und damit zu validen, also gültigen Ergebnissen kommen?

Wir konstruieren die Wirklichkeit selbst

Der Grundgedanke des Konstruktivismus ist, dass der Mensch bei der Wahrnehmung seiner Umwelt nicht passiv rezipiert, sondern sich aus dem, was ihm seine Sinne liefern, durch Selektion, Projektion und Bedeutungszuweisung seine Welt selbst konstruiert (vgl. Pörksen 2002). Er „konstruiert“ seine Welt also auf individuelle Weise, ist dabei aber von sozialen und kulturellen Gegebenheiten geprägt.

Der Mensch als konstruierendes, auf sich selbst bezogenes, in sich geschlossenes System weiß immer nur etwas über sich selbst, aber nie etwas über die Wirklichkeit außerhalb seiner selbst.

Die „radikalen Konstruktivisten“ leugnen zwar nicht die Existenz dieser Realität, sie sprechen dem Menschen aber grundsätzlich die Möglichkeit ab, etwas über sie zu erfahren und zu wissen, wie die wirkliche Realität beschaffen ist.

Wenn wir also nach dem Wissensstand und der Funktionsweise unseres Gehirns nur Vorstellungen von der Wirklichkeit entwickeln, aber nicht direkt auf so etwas wie „die Wirklichkeit“ zugreifen können (vgl. Weischenberg 1998: 60), müssen wir über die Subjektivität unserer Wirklichkeiten nachdenken.

An Absolutheit orientierte Maßstäbe wie „wahr“ oder „richtig“ oder „falsch“ weichen dann dem Maßstab der Viabilität: Was ist oder war in dieser Situation und aus dieser Perspektive „nützlich“, „hilfreich“, „erfolgreich“.

Fakten wurden geschaffen

Dieser Konstruktivismus erscheint uns zunächst unvereinbar mit unserem traditionellen, ontologisch orientierten Denken, das immer davon ausgeht, dass etwas so und nicht anders „ist“.

Selbst ein Satz wie „Das sind Fakten!“ suggeriert uns das Unumstößliche, das Vorgegebene, das Vorgefundene – entsprechend unserer Sehnsucht nach dem Endgültigen.

Eine genauere Betrachtung des Wortes „Faktum“ erweist sich jedoch als Hinweis auf eine andere Dimension, die bereits in unserer Sprache verankert ist: „Gemachtes“ wäre nämlich die wörtliche Übersetzung des lateinischen Wortes „factum“, so wie auch das Wort „Tatsachen“ verrät, dass da offensichtlich von jemandem Dinge gemacht worden sind.

Über das Wie nachdenken

Der radikale Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie, in der es bei der Erkenntnis nicht mehr um eine „objektive“ Wirklichkeit – also um das „Was“ – geht, sondern um die Ordnung und Organisation von Erlebnissen und Erfahrungen – also um das „Wie“.

Der eigentliche Unterschied des Konstruktivismus zum ontologischen Denken liegt also in der Einschätzung des Verhältnisses von Erkenntnis und Wirklichkeit. Der Mensch kann nur wissen, wie er zu seiner Vorstellung von Wirklichkeit gekommen ist, aber er kann deshalb nichts Definitives über die „Wirklichkeit“ sagen, die außerhalb seiner selbst existiert. Nur das eigene Scheitern sagt etwas über diese „Wirklichkeit“ aus: Wer irgendwo aneckt, stolpert, strandet – der weiß, dass seine Vorstellung von Wirklichkeit dort nicht gepasst hat.

In ähnlicher Weise spricht die Wissenschaft davon, dass eine Hypothese nur falsifiziert, nicht aber verifiziert werden kann, weil jederzeit Bedingungen eintreten können, die eine vorläufige Bestätigung widerlegen.

Eine endgültige Wahrheit scheint es für den Menschen nicht zu geben.

Erkenntnis ist für den Konstruktivisten nicht die Erkenntnis einer Realität außerhalb seiner selbst, sondern nur die Bewusstwerdung der Operationen des Gehirns, deren Ergebnis unsere Erfahrungswelt ist.

Auf diese Erkenntnis kommt es ihm an.

Das ist schwere Kost – ich weiß. Als ich selbst zum ersten Mal mit dem Radikalen Konstruktivismus zusammenstieß, gingen bei mir auch erst einmal innerlich die Rollläden runter.

Aber schon am nächsten Tag blieben sie oben. Denn ich hatte schnell begriffen, dass wir, wie alle fühlenden Lebewesen, unsere eigene Wirklichkeit konstruieren. Daran kommt offenbar niemand vorbei.

Auch die Wissenschaft geht – bestenfalls – konstruktivistisch vor. Es gibt jene Erkenntnistheorie, die unser Beobachten und Erkennen beobachtet und bewertet.

1.10 Passende Vorgehensweisen

In diesem Abschnitt wird dargelegt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien unsere Vorstellungen von der Realität beeinflussen und wie sich diese Vorstellungen im Laufe der Zeit ändern können. Es wird betont, dass Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Überprüfbarkeit wichtige Qualitätskriterien der Wissenschaft sind, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse fundiert sind. Es wird auch darauf hingewiesen, dass selbst Naturgesetze sich im Laufe der Zeit ändern können und nur ein Ergebnis der Evolution sind, und dass es andere Möglichkeiten geben kann.

Einen gangbaren Weg finden!

Verantwortungsbewusstes Handeln von Wissenschaftlern bedeutet auch, die Schritte, die zu einem Ergebnis geführt haben, nachvollziehbar zu machen. Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Überprüfbarkeit sind damit verbundene wissenschaftliche Qualitätskriterien.

Im wissenschaftlichen Alltag setzen wir auf Bewährtes – also auf das, was sich durch Wiederholung bewährt hat und noch nicht widerlegt wurde. (Lesetipp: Von Foerster 1997)

Abbildung 3: Siegfried Peterseim im Interview (Quelle: Screenshot aus Gertler 1997a)

Der Astronom Siegfried Peterseim hat mir zum Beispiel erklärt, dass man die Entfernung der Sterne von der Erde messen kann, indem man den Umlauf der Erde um die Sonne ausnutzt. Man sieht eine Verschiebung des Sterns vor dem Hintergrund, die umso kleiner ist, je weiter der Stern von