Fox and the Falcon - Piper CJ - E-Book

Fox and the Falcon E-Book

Piper CJ

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Beschreibung

Viele Jahre dachte Marlow, dass der geheimnisvolle Schattendämon, den sie liebt, nicht echt sei. Doch Caliban ist nicht nur real, sondern auch der Prinz der Hölle – und er schwebt in tödlicher Gefahr. Um ihn zu retten, muss Marlow in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren: das Pantheon der nordischen Götter. An diesem Ort ist Blutsverwandschaft noch lange keine Garantie für Loyalität und die Grenzen zwischen Göttern und Dämonen verschwimmen. Aber niemand hat gesagt, dass es einfach ist, im Spiel der Götter mitzuspielen, und Marlow ist bereit, alles für ihre große Liebe zu riskieren ...

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Seitenzahl: 618

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Viele Jahre dachte Marlow, dass der geheimnisvolle Schattendämon, den sie liebt, nicht echt sei. Doch Caliban ist nicht nur real, sondern auch der Prinz der Hölle – und er schwebt in tödlicher Gefahr. Um ihn zu retten, muss Marlow in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren: das Pantheon der nordischen Götter. An diesem Ort ist Blutsverwandtschaft noch lange keine Garantie für Loyalität und die Grenzen zwischen Göttern und Dämonen verschwimmen. Aber niemand hat gesagt, dass es einfach ist, beim Spiel der Götter mitzuspielen, und Marlow ist bereit, alles für ihre große Liebe zu riskieren …

Die Autorin

Piper CJ ist Autorin, Fotografin, Hobbylinguistin und Pommes-Liebhaberin. Sie hat Ethnologie, Film und Radio studiert, was zu einem früheren Leben als Wetterfee im Frühstücksfernsehen, als Eishockey-Podcasterin und zur Arbeit an Audio-Dokumentationen geführt hat. Wenn sie nicht gerade mit ihren Hunden Arrow und Applesauce spielt, bastelt Piper TikToks, studiert Märchen oder verfasst mit großer Begeisterung Fantasy-Romane. Mit ihrer No-Other-Gods-Serie schrieb sie sich auf Anhieb in die Herzen der Fans.

Website: pipercj.com

Instagram: @piper_cj

TikTok: @pipercj

Piper CJ

THE FOX AND THE FALCON

No Other Gods 2

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erscheint unter dem Titel

THEFOXANDTHEFALCON bei Bloom Books,

an imprint of Sourcebooks, Naperville, Illinois.

Deutsche Erstausgabe 2025

Copyright © 2025 by Piper CJ

Copyright © 2025 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Bloom in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Übersetzung: Martin Bayer

Redaktion: Jara Dressler

Covergestaltung: t.mutzenbach design

nach einer Originalvorlage von Sourcebooks

Coverdesign & Illustrationen: Helena Elias / Sourcebooks

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32814-6V001

www.penguin.de/verlage/bloom

Für E –du warst so schlecht im Bett, dass ich meine Entscheidung überdachte und mein Leben änderte. Dafür habe ich dir nie gedankt.

Bevor es losgeht, zunächst noch ein Wort von Piper

Haftungsausschluss zu Religion und psychischer Gesundheit:

Du hältst ein Werk der Fiktion, der Komik, der Erläuterung und der Pietätlosigkeit in deinen Händen. Auch wenn es gründlich recherchiert und durch meine eigenen Erfahrungen in der Kirche geprägt wurde, ist es in keinster Weise repräsentativ für die religiöse Mehrheit oder ein Handbuch für den Umgang mit dem Übernatürlichen eines Reichs oder Pantheons oder eine Reflexion über die Persönlichkeiten der Wesen in ihnen. Manchen Lesenden gefällt Respektlosigkeit in Glaubenssachen nicht, und Personifikationen von Göttern, Feen und Aspekten der Religion und Mythologie mag vielleicht auch nicht jeder.

In Bezug auf die psychische Gesundheit befinden wir uns in der Lage von Marlow, unserer Protagonistin, die ihre psychische Gesundheit selbst nicht mit Wohlwollen betrachtet. Dies entspricht zwar meiner eigenen Erfahrung und der vieler anderer, aber es unterstützt keineswegs eine Sichtweise, die psychische Probleme als beschämend betrachtet oder leichtfertig abtut, sondern es beschreibt lediglich den Weg einer einzigen Figur, die diese Erfahrung macht. Das gilt auch für die Art, wie Marlow über sich selbst und ihre Erlebnisse denkt und erzählt, wobei sie auch missbilligende Bemerkungen anderer über ihre geistige Gesundheit nicht ausspart.

Anmerkungen zu Sexarbeit

Es gibt keine Triggerwarnung für Sexarbeit, genauso, wie es auch keine Triggerwarnungen für Kreditberater*innen, Immo­bilienmakler*innen, Tierärzt*innen oder Schriftsteller*innen gibt. Die Stärkung von Sexarbeiter*innen und ihre Entstigmatisierung sind Themen, die mir wichtig sind und die in vielen meiner Arbeiten vorkommen. Wenn dir Sexarbeit etwas Unbehagen bereitet, dann ist es nicht mein Ziel, die Umgebung für dich angenehmer zu machen, sondern dich zu ermutigen, dich mit Gedanken und Gefühlen zur Prostituiertenphobie auseinanderzusetzen. Weitere Informationen findest du in den Erfahrungsberichten, Artikeln und Beiträgen von Sex­arbeiter*innen, die aus dem Nähkästchen plaudern.

Warnhinweise zum Inhalt

Dieser Roman ist für ein erwachsenes Publikum bestimmt und enthält Themen und Elemente aus den Bereichen psychische Gesundheit, Götter, Religion, Glauben und sexuelle Aktivitäten, die für manche Leser*innen beunruhigend oder ungeeignet sind. Eine ausführliche Liste der Warnungen zum Inhalt für dieses Werk sowie für alle anderen Werke von ­Piper CJ findest du unter:

pipercj.com/gallery/content-and-trigger-warnings

No Other Gods

Originalsoundtrack zum Buchvom Bookish Songs Collective

The Deer and the Dragon Lindsay Dills (No Other Gods Theme)

Only Yours Victoria Carbol (Caliban and Marlow Theme)

Stay Wild Giorgia (Fauna and Azrames Theme)

Cycles Ellyse Moir (Caliban Theme)

Maribelle, Merit, Marlow Taylor Ash (Marlow Theme)

Imagine Me Kendra Dantes & Nino Tosco (Marlow and Caliban Theme)

Wake Up ARCANA(The Deer and the Dragon Theme)

Eins

Das Weltall und seine seltsame, düstere Finsternis waren eine abstrakte Sache. Sterne, Planeten und ein heller silber­farbener Mond wurden angeblich alle durch das Nichts zusammengehalten. Sie interessierten mich genauso wenig wie das Wissen, dass wir erst fünf Prozent der Meere erforscht haben oder dass alle Blutgefäße eines einzelnen menschlichen Organismus zusammengenommen rund 100 000 Kilometer lang wären – genug, um sie mehr als zweimal um die Erde zu wickeln. Alle diese Daten hortete ich wie glatte bunte Strandkiesel: schön, aber nutzlos und fast vergessen.

Ich wusste, dass es sie gab – die Schwarzen Löcher, die Leere, das große, endlose Nichts –, aber sie hatten nichts mit meinem Leben zu tun. Bis ich ihn verlor. In dem Moment, als Caliban und ich auseinandergerissen wurden, trat ich in diese Leere ein. Ich keuchte, ich versuchte, mich festzukrallen, ich bekam keine Luft. Und endlich begriff ich, was der Weltraum bedeutet. Ich erfuhr den erstickenden Schmerz eines Lebens ohne Luft.

Zwei

November, 20 Jahre

Es gab Dutzende Gründe, jemanden in sein Bett zu lassen. Intimität, Entspannung, Langeweile, Experimente und Lust, um ein paar zu nennen. Einmal schlief ich mit einem Mädchen – es war nicht mal besonders gut übrigens –, das sich jahrelang nach mir verzehrt hatte, nur damit sie diese Fantasie aus ihrem Kopf bekommen und sich klarmachen konnte, dass wir in Wirklichkeit überhaupt nicht zusammenpassten. In einem parfümierten bunten Hochglanzmagazin hieß es einmal, dass Frauen, die mehr als zwanzig Partner hatten, kaum noch die Liebe finden würden.

Gut, hatte ich gedacht. Dann habe ich wenigstens eine Ausrede.

Caliban war der Erste oder der Dritte oder der Fünfte für mich.

Es gab ihn schließlich nicht wirklich – den Mann, der meine Schritte so lange verfolgt hatte, wie ich zurückdenken konnte. Aber es war eine fantastische Coping-Strategie, um Schwierigkeiten zu bewältigen, und diese schöne, vollkommene Ausgeburt meiner Fantasie hatte mir geholfen, meine chaotische Jugend zu überleben. Caliban war bei mir gewesen, als ich mühsam aus der schützenden Umgebung der Kirche in den liberalen Hedonismus eines nichtchristlichen Colleges fand. Jetzt, so Gott wollte, würde er mir helfen, den Kopf über Wasser zu halten, als ich für die Midterm-Prüfungen lernte und gleichzeitig einen Roman schrieb. Warum ich gedacht hatte, es sei eine gute Sache, die Freizeit, die mir im dritten Studienjahr noch blieb, damit zu verschwenden, Schriftstellerin zu spielen, war und blieb ein Rätsel für mich.

Ich hatte natürlich auch daran gedacht, mit Caliban ins Bett zu gehen. Während ich die Schultern desjenigen umklammerte, der gerade auf mir lag, dachte ich an seine silbrigen Augen. Ich stellte mir vor, es wären seine kalten Lippen, die mir Gänsehaut den Nacken hinunterkriechen ließen. Ich hatte meiner Einbildungskraft erlaubt, sich die verbotene Begierde dieser vertrauten Gestalt auszumalen, die aus den Schatten trat, um mir die Hände unters Kleid zu schieben, unter mein Top, bis er mein Gesicht umfasste und meinen Mund mit einem Kuss eroberte.

An diesem Abend war er da, bevor ich meinen Tagtraum zu Ende geträumt hatte.

Der Duft des Waldbodens überwältigte mich. Die Kerze auf dem Nachttisch flackerte, und The Weeknd ertönte aus dem Lautsprecher neben dem Bett. Vielleicht hatte Caliban gespürt, dass ich Angst hatte, weil ich gerade versuchte, ­Booker, den Topspieler der Basketballmannschaft, wieder aus meinem Bett zu bekommen. Ich fragte mich, ob er auch diesen unverwechselbaren Geruch wahrnahm – eine Mischung aus regennasser Erde und magischer anderer Welt –, aber vielleicht glaubte er auch, es sei bloß die Duftkerze. Er war schließlich ein Mann.

Kaum war Booker fertig, hatte ich mir meine Unterhose geangelt und ein T-Shirt über den Kopf gezogen, sammelte seine Sachen ein und warf sie ihm zu. Seine Gürtelschnalle klapperte, als er seine Hose auffing. Er grinste.

»Na komm«, meinte Booker, ein muskulöses Bein noch unter der Bettdecke, »lass mich über Nacht bleiben.«

Je schneller er ging, desto schneller konnte ich die Nachttischschublade öffnen und es mir selbst machen. Booker war nicht unbedingt schlecht im Bett, aber er war leider sehr groß gebaut. Das bedeutete einen hohen Verbrauch an Gleitgel und dieses Zurückzucken, wenn der Penis an den Muttermund stößt, und das ist weniger schön. Aber ein paar verschwitzte Minuten lang war ich meinem alltäglichen Leben entkommen und ganz in der Gegenwart aufgegangen. Außerdem würde ich lügen, wenn ich behauptete, ich wüsste nicht, dass die Mädels sich um ihn rissen und meine Attraktivität für ihn größtenteils darin bestand, dass ich ihn trotzdem aus dem Bett warf.

Ich öffnete die Schlafzimmertür und machte eine Geste in Richtung Wohnzimmer. »Ich muss um acht im Labor sein. Ich kann nicht so lange aufbleiben.«

Mürrisch schwang er die Beine von der Matratze und zog sich die Jeans über. »Wir kennen uns nicht erst seit gestern. Ich weiß, dass du Chemie geschmissen hast. Du hast morgen früh keine Vorlesung.«

Mist.

Mit drei Schritten war er an der Tür. Das Kerzenlicht betonte seine Bauchmuskeln und die breiten Schultern. Er ­behielt das T-Shirt in der Hand und blickte auf mich hinunter. »Es geht mir nicht ums Erobern, Marlow. Ich möchte dich zum Essen ausführen. Ich möchte dein Gesicht beim Spiel auf der Tribüne sehen. Ich möchte mit dir ins Kino gehen und dich meinen Mannschaftskameraden vorstellen und …«

Seine Worte versiegten. Er starrte auf die Falte zwischen meinen bedauernd zusammengezogenen Augenbrauen.

»Du bist ein netter Kerl, Booker.«

Die Hoffnung in seinen Augen erlosch mit einem letzten Rauchfaden wie von einem Kerzendocht. Er schloss die Augen und holte tief Luft. An seinem Unterkiefer zuckte ein Muskel, als er sich auf die Zurückweisung vorbereitete.

»Es tut mir leid. Ehrlich. Es ist nur …«

»Lass es.« Er zog sich das T-Shirt an und ging wortlos. Wenn ich ein anderer Mensch wäre, hätte ich ein schlechtes Gewissen gehabt, dass wir so auseinandergingen. Stattdessen war ich einfach nur erleichtert, dass er weg war, und wusste genau, wen ich vorfinden würde, wenn ich mich umdrehte.

Caliban verzog die Mundwinkel zu einem halb amüsierten Lächeln. Ich entspannte mich sofort, erleichtert und gleichzeitig aufgeregt, dass er da war. Seine Besuche ließen sich nie voraussagen, aber wenn er nur meiner Einbildung entsprungen war, dann war er wohl gekommen, damit ich ihm mein Leid klagen konnte. Booker war vielleicht in jeder denkbaren Hinsicht der perfekte Mann, aber Calibans Schönheit raubte mir den Atem.

»Nächstes Mal versuch ich’s wieder mit Frauen«, behauptete ich und ließ mich aufs Bett zurückfallen. Ich sah ihm zu, wie er sich neben der Tür an die Wand lehnte und die Arme über der breiten Brust kreuzte. »Männer bringen zu oft einfach ihren Schwanz mit zur Party und glauben, das reicht schon, um einen zu befriedigen.«

»Reicht ja auch wirklich manchmal«, meinte er mit einem wissenden, frechen Funkeln in den Augen. Er legte den Kopf schief, als lausche er den Schritten des enttäuschten Basketballspielers draußen. »Aber ich traue deinem Geschmack bei Männern nicht.«

Ich stützte mich auf die Ellbogen und musterte ihn.

Die Spannung, die zwischen uns pulsierte, nahm mich ganz in ihren Bann, und schon hatte ich den Zeitpunkt für eine Antwort verpasst. Sonst war ich immer schnell mit meinen vorlauten Widerworten und Beschwerden.

Er hob eine Augenbraue und sah mich an. Mein Herz setzte kurz aus, und ich nahm all meinen verbliebenen Mut zusammen, um zu antworten.

»Du bist schließlich auch ein Mann«, sagte ich.

Er rieb sich das Kinn und grinste. »Liebes …«

Ich dachte an das erste Mal zurück, als ich – ganz zufällig – seine Hand gestreift hatte und sich meine Adern mit kaltem, prickelndem Adrenalin gefüllt hatten, als ich merkte, wie fest und real er sich anfühlte. Mit den Jahren war ich kühner geworden und hatte angefangen, nach seiner Hand zu greifen, wenn ich sie brauchte, mich in seine Arme zu sehnen, wenn ich gehalten werden wollte, oder eines Nachts auch meinen Kopf in seinen Schoß zu legen, sodass er mir übers Haar streicheln konnte, bis ich eingeschlafen war. »Setz dich doch neben mich.«

Caliban fuhr sich mit einer blassen Hand durch die Haare. »Hör mal, Liebes …«

»Geht das nicht?«

Die Leichtigkeit in seiner Stimme wich einem ernsteren Ton. »Es ist natürlich möglich, es ist bloß …«

Na toll. Ein imaginärer Freund, der seine Schöpferin zurückweist, wäre ein neuer absoluter Tiefpunkt. Abgesehen von der Frage, ob es überhaupt möglich wäre – gab es da etwas an mir, das mich unwürdig machte, meine Fantasien auszuleben? Vielleicht war das eine Lektion in Selbstliebe. Das sagte ich mir zumindest, als ich ihn fragte: »Du willst mich also nicht?«

»Oh.« So leise, dass es mehr ein stilles Ausatmen war als ein Wort. Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach, als er sich neben mich setzte. Er schob den Arm unter meinen Rücken, und ich ließ meinen Kopf auf seiner Brust ruhen. Er streifte mein Haar mit seinen Lippen, als wolle er es küssen, murmelte aber stattdessen: »Wenn ich dir auch nur einen Moment lang das Gefühl gegeben habe, unerwünscht zu sein, habe ich versagt.« Kühle Finger strichen mein Gesicht entlang, versanken in meinen Haaren und nahmen sie zu einem Zopf zusammen, um mein Kinn leicht nach oben in Position zu bringen. Nun machte ich mich nicht mehr auf eine Zurückweisung gefasst, so wenige Zentimeter von seinen Lippen entfernt. Er holte Luft, und die elektrische Spannung zwischen uns schien meinem Bauch entwichen und sich durch meine Kehle hochgearbeitet zu haben. Er sog meinen Atem ein wie prickelnden Wein.

Ich hatte noch nie etwas so sehr begehrt wie diesen Kuss.

Ich versuchte, den Abstand zwischen uns zu verkleinern, aber er griff mein Haar fester, sodass ich mich nicht nähern konnte. »Wenn wir einmal anfangen, kann ich nicht mehr aufhören«, warnte er mich.

»Ich will gar nicht, dass du aufhörst.«

Er schloss die Augen, presste die Lippen fest aufeinander und kämpfte darum, seine Gefühle zu kontrollieren. »Es ist nicht … Ich meine nicht nur heute Abend. Was ich meine, ist: Ich liebe dich, weil du du bist. Ich liebe unsere Gespräche, und ich liebe es, mich in deinen fantasievollen Gedanken zu verlieren. Ich liebe es, deine Tränen zu trocknen und dich zu trösten. Mehr brauche ich nicht, um völlig erfüllt zu sein. Aber wenn du mich auch in diesen Teil deines Lebens einlassen willst, öffnest du damit eine Tür, die ich nie wieder schließen möchte. Eher noch würde ich sterben.«

Das war eine Warnung, aber kein Nein. Er wollte es ebenso sehr wie ich. Seine Selbstbeherrschung war allerdings besser als meine, denn er blieb so bewegungslos liegen wie eine Statue, als ich wieder versuchte, ihn zu küssen. Er umfasste meine Haare noch fester, und dieses Mal ließ ich ein kurzes Keuchen hören, als ich den Widerstand spürte.

»Du musst es schon laut sagen, Liebes.«

»Was denn?«

Seine Kiefermuskeln arbeiteten, sein Blick wanderte von meinen Augen zu meinen Lippen und runter bis zu meinem Hals, als sei ich eine Beute zum Fressen. Ich spürte seine kühlen Finger in meinen Haaren, meine hilflose Haltung, durch die mein Hals entblößt war, die Erregung zwischen meinen Beinen, das elektrische Knistern, das sich in mein tiefstes Inneres vorarbeitete.

»Dass du das hier mit mir willst. Sag mir, dass dein Körper mir gehört, und ich nehme ihn mir.«

Die kalten Stacheln der Furcht steigerten nur meine Erregung. Ich wusste nicht, welcher abgefuckte Teil von mir meine sexuellen Fantasien zu einem Handel mit dem Teufel getrieben hatten, aber ich wusste, dass ich das hier mehr wollte als das Leben selbst. Ich wollte von diesen Armen umschlungen werden, die mich schon so viele Jahre lang beschützt hatten. Wollte erfahren, wie es ist, mit jemandem ins Bett zu gehen, der das Feuer in meiner Seele anfachte. Und schließlich wollte ich wissen, ob mich ein Geist erfüllen konnte.

»Er gehört dir«, hauchte ich.

Seine Augen blieben geschlossen. Sein ganzes Gesicht zuckte. »Sag es ganz.«

Es war kein Sauerstoff mehr im Zimmer, als ich mir atemlos abrang, es auszusprechen. »Ich will es mit dir tun, Caliban. Mein Körper gehört dir.«

Etwas klickte in ihm, er wechselte fast unmerklich die Position, atmete langsam aus und lockerte den festen Griff meiner Haare. Er legte mir die Hand an den Hinterkopf und drückte seine Lippen auf meine. Ich bekam Gänsehaut an Armen und Beinen, die Anspannung knisterte in meinem Blut. Der Kuss wurde gierig. Ich vergrub nun auch meine Finger in seinen Haaren und erwiderte den Kuss mit aller Intensität, die sich aufgestaut hatte.

Ich legte ein Bein über Caliban, und einen wundervollen Moment lang packte er mich um die Mitte, presste meine Hüften an seine mit kaum verhülltem Begehren. Er zog mir das T-Shirt aus und genoss den Anblick so sehr, dass es mir fast unangenehm war. Dann hob er die Arme, packte sein schwarzes T-Shirt und riss es sich mit einer einzigen Bewegung über den Kopf, bevor er mich mit einem Knurren auf den Rücken legte.

Seine Zunge, die Lippen, Zähne, der Schmerz kleiner, perfekter Bisse, mein Stöhnen, Keuchen und Ächzen, meine ­zuckenden Hüften, wenn er mich an empfindlichen Stellen berührte, das ungezügelte Verlangen, zu schmecken und geschmeckt zu werden – all das verschmolz in einem einzigen Strudel aus Empfindungen und Eindrücken. Ich machte deutlich, dass ich kein Vorspiel mehr brauchte, sondern ihn endlich in mir spüren wollte. Nun konnte ich testen, ob es stimmte, dass manche Männer mich allein mithilfe ihres Schwanzes zum Höhepunkt bringen könnten. Damit brachte er etwas ins Spiel, das ich erfahren wollte.

Mein Selbstvertrauen hielt, bis ich sein bestes Stück sah, steinhart vor Begehren und wie aus Marmor, bereit, bei mir reingelassen zu werden. Mir wich das Blut aus dem Gesicht.

»Vertraust du mir?«, fragte er, als könne er meine Gedanken lesen.

Ich nickte, auch wenn ich den Blick nicht abwenden konnte und mir der Mut schwand, während ich dalag, ein Knie bis zur Brust hochgezogen, das andere um seine Hüften geschlungen. Ich wollte auf keinen Fall, dass es wehtat. Bei all meinen sexuellen Erlebnissen war nur zweimal ein Schwanz involviert, wobei das eine Mal mit einem Typen war, der fast schon einen Baseballschläger in der Hose trug. Das war ein Fehler gewesen, den ich nicht wiederholen wollte.

Caliban leckte sich über die Handfläche und rieb mit einer fließenden Bewegung über seinen Schwanz, dann suchte er mit der Spitze meinen Eingang. Ich schluckte und starrte ihn mit großen ängstlichen Augen an, während er sich tiefer und immer tiefer in mich hineinschob. Irgendwann muss ich die Augen geschlossen und den Kopf aufs Kissen zurückfallen lassen haben, ich konzentrierte mich auf meine Atmung, als er sich ein kleines bisschen zurückzog, um sich dann noch ein wenig weiter vorzuarbeiten. Mein scharfes Einatmen wechselte sich im Rhythmus seiner Bewegungen mit einem lustvollen Stöhnen ab. Alles andere um mich herum versank, bis mich der pulsierende Herzschlag zwischen meinen Beinen vollständig ausfüllte.

Ich vergrub die Fingernägel meiner einen Hand in seinem Hals und zog sein Gesicht dicht an meines heran, gleichzeitig packte ich mit der anderen Hand seinen Oberschenkel und hielt seinen Körper von mir ab. Es fühlte sich verdammt fantastisch an, und ich konnte den Schmerz, die würgende Enttäuschung nicht riskieren, die es bedeutet hätte, wenn er bis zum Ende durchgestoßen wäre. Ich wollte nicht, dass auch nur ein einziger unangenehmer Moment dieses perfekte Erlebnis trüben würde.

»Hey«, hörte ich seinen rauen Befehl, »sieh mich an.«

Ich wollte ihm folgen, hob die Augen und begegnete dem sternengleich leuchtenden Brennen seines Blicks.

»Du stößt mich zurück. Gib mir deine Hände.«

Eine kurze Panik durchfuhr mich. »Aber …«

»Gib sie mir.«

Mein Herz dröhnte, als ich seinen Oberschenkel losließ. Ohne den Blickkontakt auch nur eine Sekunde zu unterbrechen, fing er meine Handgelenke mit seiner großen, rauen Hand ein. Ich schluckte, die Angst war mir deutlich anzusehen.

»Vertrau mir«, befahl er mit leiser, beruhigender Stimme. »Du kannst mich aufnehmen. Bleib ganz bei mir.«

Kälteschauer liefen mir den Rücken hinunter, Eisklumpen, Schmetterlinge und Adrenalin füllten meinen Bauch. Ich blickte ihn ängstlich, furchtsam, vertrauensvoll, panisch und voller Lust an, als er mit jedem Zentimeter tiefer in mich eindrang und ein Licht in mir entzündete, von dem ich nicht geahnt hatte, dass es existierte. Ich erstickte ein Stöhnen, rollte die Hüften auf und ab, bis ich innerlich vor Lust zitterte.

»So ist es gut«, knurrte er leise. »Du kannst das.«

Kaum zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Zehn Minuten? Zwei Stunden? Meine Gedanken trieben dahin wie ­Blätter im Wind, losgelöst von jedem Baum der Vernunft. Ein unendlicher leerer Raum umgab jeden langsam harten Stoß, der mich mit Glitzer, mit Sternenlicht, mit Geist und Flamme und Schatten und absoluter verdammter Magie erfüllte. So fühlte es sich an, wenn man auf die richtige Art genommen wurde.

Kein Vibrator, keine kreisende Zunge, keine saugenden Lippen ließen sich mit der geheimen Schatzkiste voll Oxy­tocin vergleichen, die nur er allein hatte öffnen können. Es durchströmte mich wie die wundervollste und wirksamste aller intravenösen Drogen.

Ich streckte die Hand aus, um sein so vollkommenes Gesicht zu berühren, und als er meine Handfläche küsste, klang es so zärtlich, dass es mir fast das Herz brach. Allerdings war mein kostbares Organ zu sehr in Serotonin getränkt, als dass es überhaupt hätte brechen können. Ich war sogar ziemlich sicher, dass ich, wenn ich jetzt den Mund öffnen würde, um auch nur einen einzigen Gedanken zu äußern, ich nichts weiter hervorbringen würde, als dass mein Körper nicht das Einzige an mir war, das ihm gehörte. In diesem Moment gestand ich mir etwas ein, das ich schon sehr, sehr lange gewusst hatte.

Ich gehörte ihm. Mit Geist, Körper und Seele.

Drei

9. September, 26 Jahre

Der Sekundenzeiger der Uhr tickte immer wieder und wieder dasselbe Wort.

Vorbei, es war vorbei.

Vor einer Woche hatte ich in den Armen des Höllenfürsten gelegen. Azrames, der Rachedämon, hatte mir die Haare ­zerzaust. Silas – Vollzeitengel, Teilzeitarschloch – hatte mich gerettet. Vor einer Woche hatte ich mich mit meinem Blut bereitwillig der phönizischen Göttin Astarte verschrieben, weil ich, wie Fauna mich immer so gern erinnerte, eine vollkommene Idiotin war. Ich hatte nicht nur einen Blick hinter den Schleier geworfen, sondern der Schleier war vollständig weggerissen worden, und Götter waren in Gestalt von Genies, von Reichen und Schönen unter den Menschen der kleinen Stadt Bellfield gewandelt. Vor einer Woche hatte ich unter Drogen, in voller Panik und voller Lust, untröstlich schluchzend in Faunas Armen gelegen, und sie hatte mich in die ­Dusche in meinem Badezimmer verfrachtet, das eiskalte Wasser aufgedreht und mir erzählt, es werde alles wieder in Ordnung kommen.

Was für eine gottverdammte Lügnerin.

»Wie kannst du so gelassen sein? Es ist schon eine Woche her.« Ich lief nervös auf und ab und biss mir auf die Fingerknöchel. Ich wollte nicht still sitzen, obwohl Fauna mich immer wieder ermahnte, mich zu beruhigen. Mein Zeigefinger wies bereits tiefe rote Spuren meiner Zähne auf, weil ich immer wieder in ihn hineinbiss. Ich kickte einen liegen gelassenen Schuh beiseite, der mir beim Auf- und Ablaufen im Weg lag. Die Wohnung war ein derartiges Chaos, dass sie nicht mehr zu retten war. Ich hatte dem Dienstmädchen freigegeben, weil ich nicht wusste, wie ich ihr die bizarren Symbole erklären sollte, die mit Marker an Tür und Fenster gemalt waren. Ebenso wenig wusste ich, wie ich … irgendjemandem Fauna erklären sollte. Ich hatte ja selbst lange ­genug gebraucht, um mir die Skogsrå – die nordische ­Nymphe des Zuckers und des Chaos – zu erklären, und ich hatte kaum angefangen, sie wirklich zu verstehen.

»Es ist noch keine Woche her. Mach keine Panik. Es sind gerade mal sechs Tage vergangen. Wir wissen, dass er in einem anderen Reich ist, sonst wäre eure Polizei jetzt mit Pressekonferenzen beschäftigt und die Nachrichtenmoderatoren der Menschen würden über einen Massenmord in einer Schwangerschaftsklinik berichten. In anderen Reichen tickt die Zeit anders. Womöglich ist er erst seit zehn Minuten weg.«

»Wie kannst du einfach so ruhig dasitzen?«

»Ich sitze nicht bloß da. Ich bin am Essen. Und es läuft ein Zeichentrickfilm.« Fauna brach ein Stück kirschrote Lakritze ab. Sie hatte mir die ersten Tage durch meine Tränen, die Berichte und den Schock geholfen, als immer wieder in trau­matischen Flashbacks Erinnerungen hochgekommen waren. Sie war für mich da gewesen und hatte mich gehalten, während ich in ihren Armen weinte, hatte mich getröstet und mir zugehört. Sie hatte mich mehr als einmal ermahnt, als ich versuchte, sie in meinem drogenvernebelten Zustand zu verführen, aber weil ich schließlich unter dem Einfluss einer Fruchtbarkeitsgöttin stand, hatte sie ein bisschen mürrisches Mitgefühl gezeigt.

Wenn es aber darum ging, wegen Calibans Verschwinden etwas Konkretes zu unternehmen, hatte sich Fauna als absolut nutzlos erwiesen.

Sie hatte mein Flehen, alternative Wege zu gehen, um eine Antwort zu bekommen, genauso abgetan wie meinen Vorschlag, Betty zu besuchen, die Hexe, die im Künstlerviertel das Daily Devils betrieb. Betty arbeitete schließlich allein mit Azrames, und der war zurzeit verhindert. Alle meine anderen Vorschläge von Kristallkugeln über Tarotkarten zu Séancen und Ouija-Brettern gefielen ihr ebenso wenig.

Tagelanges gemeinsames Nachdenken hatte uns immerhin ein paar Erkenntnisse gebracht. Die erste war, dass wir von Caliban und Azrames gehört hätten, wenn sie den Kampf in Bellfield gewonnen und Anath in die Hölle verschleppt hätten. Die zweite war, dass der Himmel seinen Jubel bekannt gemacht hätte, wenn Silas den Höllenfürsten getötet hätte. Wenn er nicht zu erreichen war, konnte er nur bei den Phöni­ziern sein.

»Gut, und wie wär’s mit einer anderen Hexe?«, fragte ich. »Vielleicht eine, die mit einer phönizischen Gottheit arbeitet? Könnte sie etwas aus diesem Reich channeln, wie es Betty mit Azrames macht?«

»Klar«, lautete Faunas trockene Antwort, während sie weiter unverwandt auf den Fernseher starrte. »Sag mir Bescheid, wenn du eine kanaanitische Hexe gefunden hast.«

Ich kaute an meinen Fingernägeln. »Vielleicht haben die Nordischen etwas gehört. Kannst du sie fragen?«

»Nicht nötig.« Fauna tippte sich an die Schläfe. »Wenn es im nordischen Netzwerk was Neues gäbe, hätte ich das mitgekriegt.«

»Deine Gelassenheit klingt so langsam ziemlich herzlos«, murrte ich.

»Ich habe einen Grund, gelassen zu bleiben. Caliban ist am Leben, und darauf kommt’s an. Sollte er sterben, wirst du’s wissen.«

»Wie denn?«, würgte ich heraus.

»Genauso, wie ich weiß, dass Azrames noch lebt. Wenn ein so starkes Band wie das zwischen euch durchtrennt wird, dann bohrt dir das ein unsichtbares Loch in die Brust. Wenn man sein ganzes Leben lang zusammengehört hat, spürt man, wenn der andere nicht mehr da ist.«

»Jeder hat seine Spione, oder? War das nicht die Lehre aus Feuer und Schwerter? In jedem Königreich gibt es jemanden, der sich einschleicht, jedes Siegel hat eine undichte Stelle. Es muss irgendjemanden mit Verbindungen zum phönizischen Reich geben, der etwas weiß. Wenn er gefangen gehalten wird, wenn er gefoltert wird … ich muss wissen, ob er in Sicherheit ist. Ich muss wissen, dass es Caliban gut geht.«

Sie blickte von ihrem Zeichentrickfilm auf. »Ich glaube eher, die Lehre aus Feuer und Schwerter war, dass jede Szene besser wird, wenn jemand mit nackten Titten dabei ist.«

Ich stampfte mit dem Fuß auf. »Nimm das gefälligst ernst!«

»Gib ihm noch ein paar Tage, Marlow.«

»Bitte.« Ich faltete die Hände wie zum Gebet. »Du hast gesagt, du hast ein Haus im Reich der Sterblichen, oder? Wo du deine ganzen Hipsterklamotten einlagerst? Dein Vermieter gehört auch zu den Fae, und du tust ihm hin und wieder einen Gefallen? Also … tun ihm andere Fae vielleicht auch mal einen Gefallen?«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Durchaus möglich.«

»Dann geh ihn fragen. Ich bin hier in der Wohnung sicher.« Ich warf einen Blick auf die Graffiti zur Abwehr an sämt­lichen Fenstern. »Vielleicht wollen die Götter Lösegeld. Vielleicht geht ja jemand auf einen Handel ein.«

Sie warnte mich, ich solle nicht zu viel erwarten. Einen Augenblick später war sie verschwunden.

Während sie sich auf die Jagd nach Informationen machte, konnte ich kaum mehr tun, als auf und ab zu laufen.

Dreiundzwanzig Schritte von der Wohnungstür bis zu den Fenstern.

Zwölf Schritte von der Wand hinter dem Sofa bis zum Fernseher.

Einunddreißig Schritte von derselben Wand hinter dem Sofa, den Flur entlang, an den beiden Schlafzimmern, dem Gästebad und der Wäschekammer vorbei.

Sechs Schritte vom Fernseher bis zur Einsenkung im Sofapolster, wo Fauna zehn, zwanzig, vierzig Minuten zuvor gesessen hatte.

Eine Stunde verging, ich bekam feuchte Hände.

Ich hatte den Meteorhammer aufblitzen sehen, als Azrames ihn mit einem Lasso über seinem Kopf herumgewirbelt hatte wie einen Dreschflegel und einen Feind nach dem anderen damit erledigt hatte. Ich hatte zugeschaut, wie Caliban der phönizischen Göttin der Sexualität, der Liebe und des Kriegs den Kopf abgesägt hatte. Ich hatte miterlebt, wie der glitzernde Engel mich aus dem Schwarm der Parasitenwesen weggeschnappt hatte.

Und jetzt hatte ich anscheinend Fauna demselben Schicksal entgegengeschickt.

Drei Stunden später klopfte es an der Tür. Ich riss sie auf und sah mich einem kupfernen Haarschopf mit Einsprengseln von Silber gegenüber. Ihre Sommersprossen stachen gegen die ungewöhnlich blasse Haut ab.

»Ich muss diesen Abwehrzauber ändern«, murmelte sie. Ihr Ton war teilnahmslos, die Augen glasig, sie wirkte geistesabwesend. »Gefällt mir nicht, dass er auch mich nicht durchlässt.«

Panik durchzuckte mich. Ich schlang die Arme um sie. »Was ist passiert? Was hast du herausgefunden?«

»Sie hat ihn«, bestätigte Fauna. »Er ist bei Anath.«

Ich löste die Umarmung und suchte in ihrem Gesicht nach Antworten. »Und?«

»Anath hat Baal und den anderen Schwergewichten im phönizischen Pantheon erzählt, dass die menschliche Schriftstellerin Merit Finnegan in Astartes Klinik gekommen ist. Du hast Dagon genug beeindruckt, dass er deine Anwesenheit in Bellfield bestätigt hat. Anscheinend haben sie sich zusammengereimt, dass dein Erfolg damit zusammenhängt, dass du der Mensch des Fürsten bist und dass er deshalb für dich eingetreten ist. Sie wollen mit dir sprechen.«

In meiner Kehle entstand ein schmerzhafter Klumpen. »Wir … wir müssen ins phönizische Reich.«

»Nein.« Sie drängte sich an mir vorbei und ließ sich aufs Sofa fallen. »Da kannst du jetzt nicht hin. Und ich kann dich nicht allein hinschicken. Wir brauchen Unterstützung.«

»Gut, schön, treiben wir Hilfe auf. Noch ein paar Dämonen? Hattest du schon Verabredungen mit irgendwelchen anderen Engeln? Kennst du Thor? Er ist ein legendärer Kämpfer, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Erstens klingst du dämlich. Wir haben keine Zeit für Comicversionen von Göttern. Und die Antwort auf alles andere lautet Nein. Der Fae, der mir das erzählt hat, ist ein großes Risiko eingegangen, um die Nachricht weiterzugeben.«

Ich setzte mich neben sie und hielt ihre Hand fest. »Was hat dieser Fae dir genau gesagt?«

Ihre Augen starrten weiter ins Leere. »Er hat bestätigt, was wir schon wussten, und dann den Klatsch des Reichs: dass du der Mensch des Fürsten bist. Anath hat nicht gesehen, wie Astarte gestorben ist, es sieht also im Moment so aus, als könnten sie nicht beweisen, wer ihre Göttin umgebracht hat. Das ist für uns alle eine gute Sache. Die Phönizier wollen dir eine offizielle Einladung in ihr Reich schicken. Er hat gesagt, er meldet sich freiwillig, die Nachricht zuzustellen.«

»Warum? Was springt für ihn dabei heraus?«

Sie saugte an ihrer Oberlippe. »Du wolltest doch, dass ich einen Handel abschließe, oder? Habe ich getan. Die genauen Bedingungen gehen dich nichts an.«

Es war schwer zu sagen, ob sie nur ein bisschen schnippisch oder wirklich verärgert war, jedenfalls war ich der Antwort einen Schritt näher gekommen. »Schön, dann holen wir uns eben Hilfe, während wir auf den Boten warten. Allerdings kann er nicht in meine Wohnung kommen, wegen der Abwehrzauber – also brauchen wir einen Treffpunkt, richtig? Wie sieht dein Plan aus? Was …«

Sie drückte sich die Zeigefinger an die Schläfen. »Deinetwegen bekomme ich Kopfschmerzen. Überlass die Planung dem unsterblichen Wesen, das dich am Leben halten soll, ja? Ich habe meiner Kontaktperson versprochen, dass ich erst abwarte. Wo wir auf der Erde sind, spielt keine Rolle. Er findet uns schon, wenn es so weit ist. Wenn wir jetzt offen Verstärkung holen, lenken wir nur ihre Aufmerksamkeit auf den einzigen Fae, der sie verraten haben kann. Wir dürfen ihn nicht in Gefahr bringen.«

»Aber …« Meine Fingernägel gruben sich in ihre Hand.

»Nichts aber. Ich weiß, dass du Angst um den Fürsten hast. Verständlich. Aber du kennst ihn ja erst seit … wie lange? Sechsundzwanzig Jahre? Und neunundneunzig Prozent der Zeit hast du geglaubt, er sei eine Einbildung? Also ist das für dich noch eine ganz neue Realität. Herzlich willkommen auf der Party, Grünschnabel. Ich kenne ihn – weiß von ihm, meine ich – seit … mal sehen …« Sie begann, es an den Fingern abzuzählen. »Wie lang ist ›schon immer‹?«

»Ach, hör auf.«

Sie schüttelte meinen Griff ab. »Wenn sie Caliban gefangen halten würden, hätte die Hölle Verstärkungen geschickt, um ihren Fürsten herauszuholen. Mein Informant klang aber eher so, als ob er aus freien Stücken in ihrem Reich bliebe. Azrames dagegen … er trägt keine Titel. Sie haben daher keinen Grund, ihn am Leben zu lassen. Vielleicht ist Caliban seinetwegen dort.«

»Du sagst dauernd, sie seien in Sicherheit, aber sie kämpfen nicht mehr bloß gegen Parasiten, Fauna. Mit Astartes Tod ist Anath die letzte kanaanäische Kriegsgöttin, die noch übrig ist.«

»Danke, dass du mir die Götter erklärst.« Sie rollte so heftig mit den Augen, dass ich hätte schwören können, sie kugeln zu hören. »Wenn du dich wirklich mit einer Göttin anlegen willst, können wir zu den Nordischen gehen. Aber wenn du zum ersten Mal ins Reich der Nordischen läufst, direkt nachdem ich dabei gesehen worden bin, wie ich einen Haufen Fae im Netzwerk verhört habe, fliegt unsere Deckung auf.«

»Und dann? Dass sie es sich einfach gefallen lassen, wenn wir im nordischen Pantheon um Hilfe bitten, direkt nachdem wir eine Botschaft bekommen haben – wirkt das nicht erst recht wie eine Drohung?«

»Ich habe ihm mein Wort gegeben, Marlow. Unser Wort bindet uns. Ohne Grund zu den Nordischen zu rennen, wirkt verdächtig. Wenn wir unsere Karten richtig spielen, finden wir vielleicht noch einen anderen Weg, sie zum Kampf gegen dich zu bringen. Es gibt noch andere Anreize, die Dinge in Bewegung zu versetzen. Aber … an deinen Überredungskünsten musst du noch arbeiten.«

Ihr lässiger Ton machte mich wütend. »Ich verstehe nicht, wie du einfach so dasitzen kannst! Du weißt, dass Az als Geisel festgehalten wird. Wir wissen, wo sie sind. Wir wissen …«

»Das sind keine tödlichen Spiele. Wenn du noch eine einzige dumme Frage stellst, die nur zeigt, dass du mir nicht richtig zuhörst, klebe ich dir den Mund mit Isolierband zu.« Ihr Ausdruck wurde weicher, wahrscheinlich eine Reaktion auf die Verletzung, die sie in meinem Blick sah. Sie nahm wieder meine Hand. »Wir brauchen ein bisschen Ablenkung. Was ist dir am liebsten? Wollen wir uns ein paar Sexstorys erzählen?«

Meine Lippe zuckte verächtlich. »Nein.«

»Lügnerin. Jeder will gern Sexstorys austauschen. Los, erzähl mir, mit wem du den besten Sex hattest. Bestimmt mit dem Fürsten, ganz klar. Dämonen sind schließlich … na ja … Dämonen.«

»Hör auf.«

»Oh.« Sie schmollte. Ihre Verärgerung war verflogen. Die verspielte, neckische Nymphe kam wieder zum Vorschein. »Soll das heißen, du willst nicht darüber reden, weil Caliban nicht besonders gut im Bett ist? Willst du den Höllenfürsten und seinen Ruf im Reich der Götter schützen, weil irgendein Landei namens Jake ihm auf der Ladefläche eines Pick-ups den Rang abgelaufen hat?«

Ich kniff die Augen zusammen. »Das Landei war ein Mädchen namens Sasha, der Pick-up war ein rostiger Ford oder so von 1970, und sie war eine verklemmte Jurastudentin, die in den Sommerferien ein bisschen Stress abbauen wollte. Ich habe eine Luftmatratze auf die Ladefläche gelegt, einen Picknickkorb gepackt und Zitronengras-Kerzen angezündet. Es war wunderbar. Und nein, sie war nicht besser als Caliban.«

Sie legte die Fingerspitzen aneinander wie ein Bösewicht in einem James-Bond-Film. »Sehr schön. Erzähl mir mehr über Sasha.«

»Auf keinen Fall.«

Sie verschränkte dramatisch die Arme vor der Brust. »Dann musst du mir mehr über Caliban erzählen! Warum rückst nicht damit heraus? Bitte, ich gebe dir, was du willst! Was muss ich tun, damit du mehr darüber preisgibst, wie gut er bestückt ist? Ich könnte dir erzählen, wie …«

Ich fürchtete, sie würde mir gleich sagen, was Azrames mit seinen Hörnern gemacht hatte, und wusste nicht, ob ich ihm dann noch in die Augen hätte blicken können.

»Los, erzähl mir was, während wir warten. Die Zeit vergeht, ob wir reden oder nicht, also kannst du mir auch ein paar wilde Geschichten über dein glamouröses Leben als ehemalige Dame der Nacht erzählen. Hattest du mal einen verrückten Freier mit einem obszönen Fetisch? Mach dich mal ein bisschen locker.«

Ich stemmte die Hände in die Seite und starrte sie gereizt an. »Fauna, ich sitze auf einem ganzen Haufen Geschichten. Du kennst nicht mal die Hälfte. Und du wirst sie auch nie erfahren.«

Sie ließ sich in die Sofakissen zurückfallen, griff sich eine Handvoll Süßigkeiten und schaltete den Fernseher wieder ein. »Du wärst der Mittelpunkt jeder Party, wenn du dir nur mal den Stock aus dem Arsch ziehen würdest.«

Mein wütender Blick ging zwischen ihr und dem Bildschirm hin und her. »Schon wieder Zeichentrick? Was soll das? Bei allem, was wir gerade durchmachen?«

Fauna riss die Hände hoch. »Du bist unmöglich. Du brauchst mehr Hilfe, als ich dir anbieten kann. Du musst mal unter Leute.«

Ich riss die Augen auf, als sie nach meinem Laptop griff.

»Lass den in Ruhe!«

»Zu spät«, nuschelte sie mit vollem Mund, während sie mein Passwort eintippte.

»Woher weißt du …«

»Caliban69? War mein dritter Versuch oder so. Deswegen weiß ich ja, dass du dauernd an Sex denkst.« Sie drückte die Eingabetaste, bevor ich auch nur dazu kam, von meinem Platz aufzuspringen.

Nia nahm gleich nach dem ersten Klingeln ab. Meine Freundin machte spektakulär große Augen und brachte kaum eine gestammelte Begrüßung heraus. Dann brüllte sie ihrem Musiksystem ein Codewort zu, damit es aufhörte.

»O mein Gott! Hi!«

Ich machte einen Sprung in Richtung Sofa, aber Fauna streckte abrupt ihren Fuß aus und trat mich damit praktisch in den Magen, wodurch sie mich effizient mit einer einzigen Bewegung stoppte. Ich grunzte vor Schmerz und hatte das Gefühl, mein Magenfell sei gerissen. Ich brauchte eine Sekunde, um wieder Luft in die Lunge zu lassen, und in dieser kurzen Zeit waren die beiden schon dabei, sich miteinander bekannt zu machen.

»Selber Hi.« Fauna lächelte zurück. »Wir sind einander noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Fauna. Du bist Nia, stimmt’s?«

»Nia Davis-Greene!«, keuchte ich, immer noch um mein Leben kämpfend. »Leg sofort auf!«

Fauna hielt mich in Schach. »Du bist einer von drei Menschen weltweit, mit denen Marlow spricht, und du hast einen Nachnamen mit Bindestrich? Also Feministin. Finde ich toll. Ich versuche gerade, sie dazu zu bringen, mit mir auszugehen, aber sie ist langweilig. Hast du heute Abend was vor? Können wir zu dir kommen? Frag doch sien mit dem lustigen Namen, ob sier auch kommen will! Wie hieß sier noch?«

»Kirby?«, fragte Nia atemlos und starrte Fauna immer noch staunend an. Ich hatte ihr zwar das Selfie geschickt, das Fauna und ich vor vielen Monaten vor dem Coffeeshop geknipst hatten, aber die ätherische Nymphe jetzt in ihrer ganzen Pracht im Videocall vor sich zu sehen, war etwas, das sich weder mit Facetune noch mit Photoshop faken ließ.

Ich fluchte eine Minute lang und zeigte Fauna immer wieder den Mittelfinger, bevor ich mich seufzend in den Bildausschnitt beugte. »Fauna drängelt total«, beschwerte ich mich und warf mich so schwungvoll aufs Sofa, dass ich sie zur Seite schieben und mich allein vor der Kamera platzieren konnte. »Bei uns ist alles in Ordnung, Nia, wirklich. Ich möchte nicht …«

Nias Augen weiteten sich, als sie merkte, dass ich wieder absagen wollte. »Ihr beide kommt heute Abend zu uns, und wenn ihr kneift, seid ihr für mich gestorben. Darius!«, rief sie jemandem außerhalb des Blickfelds ihrer Kamera zu, dann noch einmal lauter, und diesmal meldete sich ihr Mann. »Komm in die Gänge! Du musst noch mal einkaufen, wir wollen das schöne Wetter heute Abend nutzen!« Wieder an uns gewandt, fragte sie: »Fauna, isst du Fleisch? Was grillst du am liebsten? Hamburger? Hotdogs?«

Fauna zog ein nachdenkliches Gesicht. »Ananas kann man doch auch grillen, oder?«

Nia zuckte nicht mit der Wimper. Sie rief hinter sich: »Wir grillen Kebab mit Ananas! Bring genug für fünf Personen mit!« Wieder zu uns: »Und was wollt ihr trinken?«

»Am liebsten was Süßes.«

»Und die Zutaten für Piña coladas!«, rief sie ihrem Mann zu.

»Für fünf?«, hörten wir eine männliche Stimme jenseits von Nias Webcam fragen. »Du, Kirby, Mar und ich. Mehr Freunde hast du nicht.«

»Mar möchte uns jemanden vorstellen. Ihre neue Freundin«, erklärte Nia und betonte das letzte Wort. Die unausgesprochene Botschaft hatte ihren Mann anscheinend in Bewegung versetzt, weil ich ihn jetzt mit seinen Schuhen an der Tür herumpoltern hörte, während ich vor der Kamera saß und die Nase rümpfte. Er war ein netter Kerl. Er freute sich wahrscheinlich genauso wie Nia, weil ich anscheinend eine neue Lebenspartnerin gefunden hatte, auch wenn sie beide nicht wissen konnten, wie falsch sie damit lagen im Fall dieser sommersprossigen Göttin des Zuckers und des Chaos.

»Nia, das ist wirklich nicht nötig«, sagte ich laut und hoffte, sie bekam die telepathische Botschaft, die ich ihr parallel schickte: Bitte erspar mir das. Sag Fauna wieder ab. Sag Nein. Um Gottes willen, bitte!

Sie wedelte meinen Protest mit einer bestimmten Handbewegung weg. »Lass den Scheiß. Es wäre ein Verbrechen, das schöne Wetter so spät im Jahr nicht zu nutzen. Wir haben sowieso schon den halben Monat verplempert. Darius ist jetzt unterwegs zum Supermarkt. Du beleidigst uns beide, wenn du wieder absagst. Kommt um sechs, dann gibt’s Drinks. Grillen um sieben? Ich ruf Kirbs an.«

Fauna beugte sich von hinten über das Sofa, sodass mir ihr Haar vors Gesicht fiel. »Danke, Nia! Freu mich schon drauf, dich zu sehen!«

»Und bitte, es wird ein ganz zwangloser Abend.« Nias Ton lag irgendwo zwischen Herzlichkeit und Verwunderung, als sie meine neue Gefährtin ansah. »Werft euch nicht extra in Schale.«

»Tue ich sowieso nie«, gab Fauna fröhlich zurück. »Bis um sechs dann!« Sie klappte den Laptop zu, bevor ich widersprechen konnte, und lächelte mich mit einem unerschütter­lichen, empörenden Siegesbewusstsein an.

»Und, bist du stolz auf dich?«

»Und ob.« Fauna schnappte sich die nächste Lakritzstange. »Muss man zu Partys nicht was mitbringen? Im Fernsehen bringen sie immer ein Gastgeschenk mit.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn der Gastgeber die eigene Schwester ist.«

Fauna, normalerweise ein Ausmaß an Respektlosigkeit, hielt inne. »Ihr seid Geschwister?«

Ich riss ihr den Laptop aus der Hand und brachte ihn zur Küchenanrichte hinüber, bevor ihr noch mehr tolle Ideen ­kamen. Ich musste unbedingt das Passwort ändern. »Wieso, sehen wir nicht aus, als hätten wir ein gemeinsames Elternteil? Das ist rassistisch, Fauna.«

Ihre Augen verengten sich unmerklich, als sie mich musterte. Sie suchte in meinen haselnussbraunen Augen und rosa Gesichtszügen, ihr Blick wanderte zwischen mir und dem zugeklappten Laptop hin und her. »Du machst Witze«, sagte sie schließlich.

Ich ließ die Zähne aufblitzen. »Stimmt.«

Natürlich hatte meine farblose Haut nichts mit Nias dunklem Braun gemeinsam. Ich hatte keine leiblichen Geschwister. Nia hatte zwei Brüder, die allerdings weggezogen waren. Ich erzählte Fauna kurz die Geschichte unserer Findlingsfamilie und brachte sie damit zum Grinsen.

»Fast wie du und ich!«

Ich wollte gerade protestieren, dass Fauna mich mehrmals zum Sterben hatte zurücklassen wollen – was Nia und Kirby nie tun würden, da war ich mir sicher –, aber dann erinnerte ich mich plötzlich an mehrere feindselige Textnachrichten von Nia, in denen sie versprochen hatte, mir in den Hintern zu treten. Vielleicht waren diese scherzhaften Androhungen von Gewalt ja ein Liebesbeweis, der nichts mit der Erfahrung zu tun hatte, tatsächlich in einer Familie aufzuwachsen, in der Schläge das hauptsächliche Erziehungsmittel waren.

Fauna hatte mir einmal gesagt, sie liebe mich. Damals hatte ich ihr geglaubt.

Wenn Nia, Kirby und ich einander versicherten, wir liebten uns, glaubten wir es jedes Mal.

Fauna drapierte sich mit einem dramatischen Seufzer über die Seitenlehne des Sofas und schmollte unschuldig. »Nur, um das klarzustellen – deine Freund…«

»Du kannst sie nicht vögeln, Perversling!«

»War ja nur eine Frage.« Sie warf mir einen Kuss zu.

»Gut«, räumte ich ein, »Kirby würde mitmachen. Aber Nia und ihr Mann sind monogam.«

Sie zog eine missmutige Grimasse. »Monogamie? Bei dieser Wirtschaftslage?«

Ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen, brachte aber nur kichernd hervor: »Versuche aber bitte nicht, Kirby anzumachen. Siem würde der Kopf explodieren.«

»Weil ich so fantastisch aussehe?«

»Weil du das konzentrierte Chaos bist«, gab ich zurück und gab mir keine Mühe, zu erklären, dass ich keine rechte Vorstellung von den Jahrhunderten ihres Lebens und der Liebe mit Azrames hatte, obwohl sie mehrfach versucht hatte, es mir zu erklären.

Bleib immer wild und frei.

So hatte er sich verabschiedet, als ich den Dauerflirt der beiden miteinander zum ersten Mal miterlebt hatte. Nachdem ich ihn ein bisschen länger kannte, fragte ich mich, warum sie wild und frei bleiben wollte. Andererseits war sie natürlich nicht ich, und ich war nicht sie. Wenn sie nur so zum Spaß mit Zentauren schlafen, Süßigkeiten essen, zu viel Reality-TV schauen und Engel wütend machen wollte, dann war das ihre Sache. Ich wollte nur zu Caliban zurück.

Ich dachte an seinen Gesichtsausdruck, als er zum Schluss in der Lobby Silas zugebrüllt hatte, er solle mich retten. Er hatte einen Engel – einen Widersacher der Hölle – meinet­wegen um Hilfe gebeten. Er wollte unbedingt sichergehen, dass ich nicht in Gefahr war, während er sich des Problems annahm – eines Problems, an dem ich schuld war.

Jetzt war ich diejenige, die unbedingt wissen musste, dass er sicher war.

Wenn unsere Rettungsmission schon pausieren musste, dann war eine erzwungene Dinnerparty ebenso gut wie alles andere, um die Zeit totzuschlagen.

Vier

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber mich konnte einfach nichts mehr schockieren.

Nias Garten verdiente eine Vorstellung in Better Homes and Gardens. Fauna und ich steuerten gar nicht erst die Haustür an, sondern wir gingen direkt durch das Tor des Sichtschutzzauns und liefen auf die blinkenden Lichterketten zu, die von der Überdachung der Terrasse herabhingen. Nia, Kirby und Darius waren bereits fröhlich am Plaudern. Ein L-förmiges Sofa mit wasserdichter Polsterung umgab eine kupferne Feuer­schale, die mehr der Zierde denn als Wärmequelle diente. Flauschige Wölkchen standen am Himmel und glühten im weichen Rotorange des Sonnenuntergangs. Ein riesiger Bildschirm war an einer der Dachstützen montiert, genau das Richtige für eine Party unter Männern, die sich eine Sportsendung anschauten, mit Bällen herumwarfen, Sportlerdrinks kippten und über Sport redeten. Nia schaltete den Ton ab, als sie uns sah.

Ich war nicht überrascht, dass das Ehepaar Davis-Greene die Sprache verlor, als Fauna wie ein Wirbelwind durch die Tür stürmte. Ich war nicht überrascht, als die nordische Nymphe sich sofort an den Mixer stellte und die Drinkzubereitung übernahm, wild auf die Knöpfe drückte und zu viel Zucker in die Piña coladas gab, während unsere Gastgeber meine Fae-Freundin mit offenen Mündern anstarrten. Ich war nicht überrascht, als Fauna uns in den warmen Spätsommerabend hinausscheuchte, um den idyllischen Sonnenuntergang zu genießen. Ich war auch nicht überrascht, als Fauna anfing, mit Kirby zu flirten und sies Gehirn daraufhin einen Kurzschluss bekam. Und nicht, als wir schließlich nach der Fernbedienung suchen und den Fernseher wieder einschalten mussten, um die peinlichen Pausen zu füllen, die entstanden, als ihr Verhalten zu unbegreiflich wurde, um das Gespräch noch ungezwungen in Gang halten zu können. Schließlich war ich auch nicht überrascht darüber, dass wir uns alle fest an die Karaffen mit Rum, Kokosnusscreme und Ananassaft klammerten, weil Faunas Unfug so problematisch wurde, dass wir nicht mehr damit zurechtkamen. Fauna musste, wie immer und bei allem, was sie tat, übertreiben.

»Habt ihr noch mehr?«, fragte sie und schlürfte laut durch einen Strohhalm den Schaum von ihrem tropischen Drink.

Ich hätte den warmen Septemberabend gern mit einem leichten Schwips genossen. Nia hatte wunderbare Terrassenmöbel. Wahrscheinlich gaukelte mir der Alkohol das vor, aber ich war mir ziemlich sicher, dass die Polster mich vollständig verschlucken würden, wenn ich die Augen schloss und mich hineinsinken ließ, wie ein Schokochip, der ganz tief in den Teig gedrückt wird.

Gut, vielleicht hatte ich ein paar Gläser zu viel intus. Zum Glück hatten mich meine Jahre als Sexarbeiterin gelehrt, wie man auch nach mehreren Drinks noch die Fassung bewahrt. Es gelang mir, einen dünnen Schutzwall aufzubauen, damit niemand sah, dass ich hinter der Fassade eines lustigen Abends mit Freunden ein angetrunkenes Schluchzen verbarg, weil mein Freund, der Dämonenfürst, von heidnischen Göttern entführt worden war.

»Und wenn ich ganz lieb ›Bitte‹ sage?« Faunas Frage brachte mich zu ihrer vorherigen zurück.

Mein Seufzer klang wie der einer erschöpften Mutter. Dabei wäre ich lieber ein Schokochip gewesen. »Wen fragst du das? Du bist über ihre Küche hergefallen und hast die Drinks gemacht. Du weißt, dass nichts mehr da ist.«

Fauna gestikulierte. »Sier hat sies Drink nicht ausgetrunken. Will sier …«

»Sier kann dich hören«, verbesserte ich, zu betrunken für wahre Empörung, aber zu nüchtern, um die Person, mit der ich am längsten befreundet war, respektlos behandeln zu lassen, und sei es von einer wilden Waldnymphe. Das Terrassensofa schien mich vollständig verschlucken zu wollen und ich sank immer tiefer in die Polster. Das letzte irisierende Schimmern des Sonnenuntergangs verlosch allmählich und ließ uns mit der Glut auf dem Grill und dem Flackern des Terrassenfernsehers allein. Die dahinziehenden Rauchschwaden dufteten himmlisch nach gegrilltem Fleisch, Obst und Gemüse. Meine Arme und Beine waren fürchterlich schwer. Ich hatte die Außenwelt verlassen und war in ein angenehmes Nichts abgedriftet, musste aber gerade wach genug bleiben, um wie der Halter eines von der Leine gelassenen Hundes immer ein Auge auf Fauna zu haben.

Unbekümmert berichtigte sie sich: »Kirby! Tut mir leid. Kirby, Darling, wolltest du das noch austrinken?«

»Bedien dich ruhig.«

Fauna drückte siem dankbar die Finger, und Kirbys Wangen röteten sich. Sier war einfach zu leicht zu beeindrucken.

Nia griff nach Faunas leerem Glas. »Die Zutaten für die Drinks sind aufgebraucht, aber ich habe noch eine halbe ­Flasche Malibu. Wie wär’s – wir mischen ihn mit La Croix und tun so, als tränken wir Kokoswasser?«

»Wie verantwortungsbewusst«, brummelte ich.

Das ist Wahnsinn! Wie kannst du Piña coladas trinken und dich mit deinen Freunden amüsieren, während Caliban in einem anderen Reich in der Falle sitzt? In einem Reich, in dem du dringend erwartet wirst?!, schrie mich die nüchterne Stimme der Vernunft in mir an. Ich stürzte mein Glas in einem Zug hinunter, um sie zum Schweigen zu bringen, und hoffte, der Drink würde mich betäuben.

Darius blieb weitaus nüchterner als wir. Er hielt die Feier am Laufen, indem er die Glut in Gang hielt, den Kebab servierte, Drinks eingoss und sich wieder einmal als das einzige männliche Wesen erwies, das Menschenrechte verdiente, wenn man mich fragte.

»Gut«, fing Nia nach ihrem dritten Kebabspieß an. Sie ­stocherte im angekohlten Obst herum und sah Fauna an. »Marlow trifft eine atemberaubend schöne Freundin wieder, die sie ewig nicht gesehen hat und von der weder Kirbs noch ich je gehört haben. Beide verschwinden von der Bildfläche. Marlow hat keine Freunde, also soll sie uns nicht vormachen, sie hätte irgendetwas Dringendes zu tun. Reden wir nicht darum herum: Seid ihr beide ein Paar oder wie ist das?«

Mir schnürte sich bei dieser Frage die Kehle zu. Nia war eine gute Freundin, sie wollte bloß Anteilnahme zeigen, und mir blieb nichts übrig, als ein falsches Lächeln aufzusetzen und zu lügen. Als ich gar nichts sagte, warf sich Fauna in die Bresche.

»Oh!« Sie war fröhlich und munter, als ob ihr auch der siebte oder achte Drink nichts hätte anhaben können. Ich kannte sie inzwischen gut genug, um zu sehen, wie die Cocktails ihre chaotische Energie ein bisschen dämpften, aber das war nicht vergleichbar mit der Wirkung auf uns Sterbliche. »Ihr Götter und Göttinnen – nein. Unsere süße Marlow ist unerträglich. Ich würde sie wahrscheinlich irgendwann umbringen, wenn wir ein Paar wären.«

»Prima«, meinte Kirby und richtete sich aus sies zusammengefallener Stellung auf dem Sofa neben Fauna auf. »Ich habe nämlich jemanden getroffen, der von dir besessen ist, Mar. Er ist neulich auf der Arbeit aufgetaucht und war richtig begeistert von dieser absolut obskuren Nischenserie namens Pantheon, die wir bestimmt nicht kannten, weil wir nicht cool genug seien. Ich glaube, du würdest tatsächlich mit so einem Superfan ausgehen, damit er dir in unterwürfiger Bewunderung hinterherlaufen kann.« Sie rief sein Profil auf dem Smartphone auf und hielt uns das Display hin.

Nia beugte sich vor, blickte das Bild aus der Nähe an und ließ sich in die Polster zurückfallen. »Der sieht aus, als wenn er Mountain-Dew-Bier trinkt.«

Fauna schnaubte. »Ich fürchte, unser Liebling ist schon vergeben.«

Ein dumpfer Schlag hallte hölzern durch meinen Brustkorb. Meine Augen weiteten sich gleichzeitig mit denen der anderen. Nia, Darius und Kirby starrten mich an, aber ich fixierte bloß die Stifterin des Unheils. Die geschwätzige nordische Nymphe war zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt, um auch nur zu bemerken, wie still wir anderen geworden waren. Schließlich fing sie meinen Blick auf und sah die Dolche, die ich ihr lautlos zuschoss.

»Mein Bruder«, erklärte sie leichthin und hielt unsere Tarnung aufrecht, als ob die Verzweiflung, in der sich die Männer befanden, die wir liebten, gar nichts anginge.

Moment. Die nüchterne Stimme in mir war ruhiger, aber dennoch schockiert. Outet Fauna dich gerade? Hat sie gerade wirklich gesagt, dass ihr ein Paar seid …? Was läuft hier?

Fauna fuhr mit dem Finger den Rand ihres Glases entlang. »Die beiden sind schon so lange zusammen wie sie und ich uns kennen. Wir hatten uns eine ganze Weile aus den Augen verloren, aber …«

»Seit wann«, sagte Kirby ausdruckslos. Es klang nicht wie eine Frage.

Kupferfarbene Wellen strömten über Faunas Schulter, als sie den Kopf zur Seite legte.

»Marlow und ich waren schon als kleine Mädchen befreundet«, fuhr Kirby fort. »Ich kenne jeden, den sie kennt. Wann hat sie euch getroffen – das Bruder-Schwester-Duo, von dem wir letzte Woche zum ersten Mal gehört haben?«

Faunas Blick bat mich um Nachsicht. »Wie viel wissen sie? Kann ich ihnen verraten …«

Ich bekam keine Luft mehr. Wollte sie mich damit ernsthaft fragen, ob sie von den Göttern und ihren Reichen und von den Dämonen erzählen durfte? Verdammt, ich hatte gewusst, dass es ein Fehler war, hierherzukommen, aber ich wäre nie darauf gekommen, dass es ein derart großer Fehler war.

Klar, Fauna, nur zu. Erzähl unseren besten Freunden, dass ich hinter den Schleier blicken kann. Dass ich letzte Woche nicht da war, weil ich in der Hölle war. Das geht bestimmt in Ordnung.

Fauna räusperte sich leise. Sie drehte Däumchen und starrte ihre Hände an. »Marlow und ich sind uns beruflich begegnet. Ich war als … Begleiterin unterwegs.«

Drei Paar Schultern lockerten sich gleichzeitig.

Nia und Kirby entspannten sich, sobald sie die Erklärung hörten. Natürlich – Fauna ist wunderschön, dachten sie bestimmt. Klar war sie ein Luxuscallgirl. Und deswegen hatte ich auch nie von ihr erzählt. In der Branche schützen wir einander und verraten uns gegenseitig nicht.

Meine Erleichterung war ganz anderer Art. Fauna verdiente mehr Vertrauen, als ich gedacht hatte.

Darius war mit dem Grill beschäftigt und hatte entweder nichts von der Unterhaltung mitbekommen oder war zu höflich, um sich einzumischen. Guter Mann.

Nia wechselte das Thema. »Wenn dein Bruder auch nur halb so gut aussieht wie du …«

Endlich verstand ich, warum sie Caliban überhaupt erwähnt hatte. Fauna strahlte eine engelhafte Schönheit aus. Vielleicht wollte sie mir einen Gefallen tun, indem sie schon mal das Fundament legte, falls ich Caliban – außer ihr der einzige meiner drei andersweltlichen Begleiter, der körperliche Form annehmen konnte – jemals meinen Freundinnen vorstellen wollte. Ich war mir allerdings sicher, dass Caliban, obwohl er tausendmal respektvoller und zurückhaltender als meine nordische Freundin war, viel schwieriger im Umgang wäre. Er hatte … ein hohes Ablenkungspotenzial.

Kirby lächelte immer noch nicht. Sier wurde sonst nie fies, wenn sier betrunken war, aber der verletzte Tonfall deutete darauf hin, dass sich das heute Abend womöglich änderte. »Seit wann verheimlichst du uns, wenn du mit jemandem zusammen bist?«

Mir wurde schwer ums Herz.

Weil er ein Dämon ist, Kirbs. Weil er unsichtbar ist und weil ich mir jahrzehntelang vorgemacht habe, er sei nur eine Einbildung. Weil ich mit der Kirche aufgewachsen und dann eine fromme Atheistin geworden bin, die Bücher über mythologische Reiche schreibt, um sich über die Sandkastenspiele der Religion lustig zu machen. Weil ich ihn so sehr liebe, als wären sein Blut mein eigenes, seine Knochen meine eigenen, und er jetzt gerade in Schwierigkeiten steckt. Er sitzt in einem anderen Götterreich fest, und ich bin schuld. Es ist nur so weit gekommen, weil ich Scheiße gebaut habe. Und ich möchte am liebsten jetzt sofort zu ihm rennen.

Natürlich sagte ich das alles nicht. »Weil es ganz anders ist, das mit Cal …«

»Er heißt Cal?«, nuschelte Kirby mit bedeutungsschwerer Stimme.

»Hör mal«, versuchte ich zu berichtigen und merkte, dass ich ein bisschen zu weggetreten war, um ernsthafte Erklärungen abzugeben. »Das ist nicht wie mit dem IT-Mann oder dem CFO oder den ganzen anderen namenlosen Niemanden. Ich habe euch nichts davon erzählt, weil er nicht in die Kategorie der lächerlichen Typen gehört, die ich über Dating-Apps kenne. Ich war verrückt nach ihm, damals. Ich wollte erst davon erzählen, wenn etwas daraus geworden wäre.«

»Und?«, wollte Nia wissen. »Ist denn was draus geworden?«

Mir war auf einmal zu warm auf meinem Platz auf dem Sofa. Eine frühherbstliche Brise strich über die Terrasse und brachte eine willkommene Abkühlung. Überall lagen die roten Plastikbecher verstreut, aus denen wir unsere Drinks ­hinuntergekippt, die fettfleckigen Pappteller, von denen wir gegessen hatten, und es ließen sich weitere Spuren der Party finden. Doch es gab auf der ganzen Welt nicht genug Alkohol, um mein Erröten zu verbergen, als ich jetzt daran dachte, was Caliban und ich einander bedeuteten. Ich blickte auf meine Füße und ließ meine Gedanken zu ihm wandern. Für einen Augenblick vergaß ich meine Panik und sah vor mir, wie schön er war, wie freundlich, wie klug. Ich hatte Angst um ihn. Aber ich war auch Hals über Kopf in ihn verliebt.

»Heilige Scheiße!« Kirby stöhnte. »Wie kannst du es wagen!«

Ich zwirbelte den Saum meiner Bluse in den Fingern und brachte es nicht fertig, aufzuschauen.

Darius tat sein Bestes, um den aufziehenden Sturm abzuwenden, griff die Fernbedienung, um uns mit etwas Berieselung abzulenken. Er war normalerweise ziemlich gut darin, eine beruhigende Umgebung zu schaffen, wenn feindselige Stimmung aufkam. Er richtete die Fernbedienung auf den Bildschirm und fing an, durch die Sender zu zappen.

Kirby starrte mich böse an. »Du bist noch nicht aus dem Schneider, Marlow Esther Thorson …«

»Was soll das eigentlich mit euren ganzen Namen?«, fragte Fauna undeutlich, weil sie den Mund voller Ananas hatte. »Sier hier allein ist schlau genug, sich ein Pseudonym zuzulegen.«

»Aber meinen kompletten Taufnamen ausposaunen! Wenn sier nicht aufhört, mir Vorwürfe zu machen, verrate ich euch sies Mittelnamen.«

Kirby rümpfte die Nase. »Das ist ein Familienname, kein zweiter Vorname. Lass Tante Gertrude aus dem Spiel.«

Es kam nicht mehr zu dem Streit, der sich jetzt anbahnte.

Darius unterbrach uns. »Ach du Scheiße.«

Der Fluch kam leise und entsetzt und ließ uns sofort hellhörig werden. Darius hielt sich normalerweise freundlich und ruhig im Hintergrund, wenn wir uns trafen. Unsere Augen folgten alle der Linie seines Arms und der Hand, die immer noch die Fernbedienung auf den stummen Bildschirm gerichtet hielt.

Mir drehte sich der Magen um.

»Schalte den Ton ein.« Ich ächzte entsetzt, als ich mein Autorenfoto über der Schulter der Nachrichtensprecherin erkannte, die uns ernst anblickte. Darius war auf der Suche nach dem Endergebnis des Spiels rein zufällig auf etwas Unvorstellbares gestoßen.

»Mar …« Nia streckte die Hand aus, um mich festzuhalten.

»Schalte den Ton ein!«

Ich kratzte verzweifelt meine Kopfhaut mit den Fingernägeln, als mein Telefon sich mit dem Klang des Wikingerhorns meldete. Zwei tiefe und zwei hohe Töne kündigten jede Textnachricht an. Auf, ab, auf, ab, und jedes Mal vervollständigte ich automatisch den Schlachtruf: Vorwärts! Damals war es bloß eine lustige Idee gewesen, aber inzwischen war der Hornstoß schon sieben Jahre lang mein Klingelton für Textnachrichten. Ich war so daran gewöhnt, mein Smartphone stummzuschalten, dass ich vergessen hatte, wie nervig es sein kann, an einen Gruppenchat angeschlossen zu sein.

Ich starrte weiter auf den Bildschirm, während ich herumtastete, um das Telefon zum Schweigen zu bringen.

(EG) Verpasste Anrufe: 6

»Darius, mach das aus«, ächzte Nia.