6,99 €
Zauberhaft & wild-romantisch: eine Füchsin bringt Glück – und die Liebe Der Liebesroman »Fox Crossing« spielt im US-Bundesstaat Maine, wo der Appalachian Trail am wildesten und unberührtesten ist. Im idyllischen Fox Crossing in Maine gibt es eine alte Legende: Wer einer Füchsin mit weißem Ohr und weißer Pfote begegnet, dem soll sie Glück bringen. Angeblich hat die Füchsin auch die Großeltern von Annie Hatherley zusammengebracht, trotzdem hält Annie die Legende für ein Märchen, das man Touristen erzählt. Als Nick Ferrone in Annies Laden für Wanderausrüstung auftaucht, sieht sie sofort, dass er nicht bereit ist für die Wildnis des Appalachian Trails, dessen gefährlichste Etappe kurz hinter Fox Crossing beginnt. Doch Nick ist wild entschlossen, sein altes Leben hinter sich zu lassen und in der unberührten Natur neue Kraft zu tanken. Wenig später erweisen sich Annies Warnungen als allzu richtig: Nick verunglückt und gerät in Lebensgefahr. Wie durch ein Wunder wird er von Annie gefunden – woran eine gewisse legendenumwobene Füchsin nicht ganz unschuldig ist. Doch Annie glaubt nun mal nicht an Legenden, und einen Mann wie Nick braucht sie ganz sicher nicht in ihrem Leben! Kann die besondere Gabe der Füchsin der störrischen Annie helfen, ihr Glück zu erkennen? Von der amerikanischen Autorin Melinda Metz sind außerdem drei Liebesromane rund um den kleptomanischen Kater MacGyver erschienen: • »Eine Samtpfote zum Verlieben« • »Eine Samtpfote stiehlt Herzen« • »Vier Pfoten für ein Happy End«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2021
Melinda Metz
Fox Crossing
Roman
Aus dem Englischen von Sigrun Zühlke und Hannah Freiwald
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Zauberhaft & wild-romantisch: eine Füchsin bringt Glück – und die Liebe
Im idyllischen Fox Crossing in Maine gibt es eine alte Legende: Wer einer Füchsin mit weißem Ohr und weißer Pfote begegnet, dem soll sie Glück bringen. Angeblich hat die Füchsin auch die Großeltern von Annie Hatherley zusammengebracht, trotzdem hält Annie die Legende für ein Märchen, das man Touristen erzählt.
Als Nick Ferrone in Annies Laden für Wanderausrüstung auftaucht, sieht sie sofort, dass er nicht bereit ist für die Wildnis des Appalachian Trails, dessen gefährlichste Etappe kurz hinter Fox Crossing beginnt. Doch Nick ist wild entschlossen, sein altes Leben hinter sich zu lassen und in der unberührten Natur neue Kraft zu tanken.
Wenig später erweisen sich Annies Warnungen als allzu richtig: Nick verunglückt und gerät in Lebensgefahr. Wie durch ein Wunder wird er von Annie gefunden – woran eine gewisse legendenumwobene Füchsin nicht ganz unschuldig ist.
Doch Annie glaubt nun mal nicht an Legenden, und einen Mann wie Nick braucht sie ganz sicher nicht in ihrem Leben! Kann die besondere Gabe der Füchsin der störrischen Annie helfen, ihr Glück zu erkennen?
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Für Carolyn, Cindy, Sarah, Teena und in Erinnerung an Allis – alle so stark wie die Hatherley-Frauen und sogar eine noch vergnüglichere Gesellschaft
Die Füchsin legte sich in die Wiese, das Gras war noch warm vom langen Sommertag. Sie rollte sich zusammen und ringelte den Schwanz bis an die Nase. Ihre Sinne atmeten die Welt ein. Unter der Erde, ein paar Fuß entfernt, bewegte sich ein kleines Tier durch die Gänge seines Baus. Wenn sie wollte, könnte sie mit Leichtigkeit den Boden aufgraben und es fangen, aber sie war nicht hungrig, also ließ sie es laufen.
Sie war allein und doch verbunden mit allem. Sie hatte viele Gefährten und viele Welpen überdauert und zog es nun vor, getrennt von ihrer Art zu leben. Und doch war sie Teil von allem, das lebte – oder jemals gelebt hatte – in diesen Wäldern.
Ein Blick genügte. Er wird es nicht schaffen, dachte Annie Hatherley. Sie musterte den schlaksigen Mann, der die Straße überquerte und auf den Laden zukam. Die Sonne setzte kastanienbraune Reflexe in sein lockiges Haar. Er war nicht der schlechteste, den sie je gesehen hatte. Diesen Rang hatte sich der Typ vom letzten Jahr gesichert, in Jeans, Flip-Flops und Hawaiihemd, Baumwolle selbstverständlich, und mit noch drei weiteren kitschigen Hemden im Rucksack, einem Päckchen Energy-Riegel und einer großen Flasche Wasser. Und sonst nichts.
Dieser Typ war nicht der Typ von damals, denn sein Rucksack wog wahrscheinlich an die fünfunddreißig Kilo. Nein, er wird es nicht schaffen.
Abgesehen vom Rucksack und den Schuhen, zeigten seine Waden, dass er nicht das richtige Training hatte, um es mit dem 100-Mile-Wilderness Trail aufzunehmen. Sie waren nicht drahtig genug. Sie waren eher hübsch bemuskelt und genau richtig behaart, Annies Meinung nach. Eine Freundin von ihr mochte Männer, die wie halbe Bären aussahen. Ein Glück, dass die Geschmäcke so unterschiedlich waren.
Aber die Waden dieses Typen, so hübsch sie auch aussahen, waren die Waden eines Sonntagswanderers. Die Waden eines ernsthaften Trekkers hatten normalerweise anderthalb Zentimeter mehr Umfang, und die Oberschenkel packten noch mal so viel dazu. Leider konnte Annie die Oberschenkel des Mannes nicht sehen. Seine Hosen endeten ein paar Zentimeter über dem Knie. Mit den Hosen hatte er eine kluge Wahl getroffen: dehnbares Material, atmungsaktiv und schnell trocknend. Und nur zwei Taschen. Für viele Grünschnäbel konnten es gar nicht genug Taschen sein. Aber trotz der vernünftigen Shorts würde er es nicht schaffen. Er … er kam zur Tür herein. »Okay, wenn ich den hier mit reinnehme?«, fragte er und hielt seinen Pappbecher hoch.
»Klar.« Annie beobachtete, wie er sich im Laden umsah, ihrem Laden, seit ihre Mutter sich vor viereinhalb Jahren zur Vorsitzenden des Stadtrates hatte wählen lassen. Sie war jetzt quasi die Geschäftsführerin des Ortes. Er nahm sich Zeit, um alles genau anzusehen.
»Diese Dielen sind der Wahnsinn.«
»Wacholder-Ahorn.« Die Dielenfußböden waren das Erste, was Annie nach der Übernahme des Ladens erneuert hatte. Ihre Mutter hatte sich nie sonderlich für Äußerlichkeiten interessiert. Hatherley’s Outfitters war das einzige Geschäft in Fox Crossing, in dem man Ausrüstung kaufen konnte, und Fox Crossing war der letzte Ort vor dem 100-Mile-Wilderness Trail, dem wildesten und, Annies Meinung nach, schönsten Abschnitt des Appalachian Trails. Doch nur weil der Laden keine Konkurrenz hatte, fand Anna, hieß das nicht, dass er nicht einladend aussehen sollte. Fox Crossing hatte sich verändert, seit ihre Urururururgroßmutter das Geschäft eröffnet hatte. Ein paar Häuser weiter befand sich ein Antiquitätengeschäft, Touristen kehrten auf ihren Bustouren, die von Bangor aus starteten, in der Wit’s Beginning Brewery ein, und Foxy Loxy Bookies war gerade erst zu einem der besten Antiquariate Maines gewählt worden.
»Passt perfekt zu dem Schiefer.« Anerkennend ließ der Mann seine Finger über die glatte Oberfläche des Verkaufstresens gleiten, hinter dem Annie stand. Eine verrückte Sekunde lang sah Annie diese Finger über ihre Haut gleiten mit derselben … Unpassender Gedanke! Er war ein Kunde. Ein vollkommen Fremder.
»Schiefer aus Fox Crossing ist sehr gefragt«, sagte sie so nüchtern wie eine Lehrerin, die an ihrem ersten Schultag unter Aufsicht des Direktors unterrichtet. »Es gibt auf dem Arlington Nationalfriedhof eine ganze Menge politischer Gräber, die aus dem schwarzen Schiefer unseres Steinbruchs hier gefertigt wurden. Ich persönlich würde ja Grau bevorzugen, aber …«
»Politische Gräber?«, fragte er mit einer hochgezogenen Augenbraue. Annie übte, seit sie sieben Jahre alt war, eine Augenbraue so hochzuziehen. Sie konnte es immer noch nicht.
»Sei doch nicht so pedantisch.« Hatte sie wirklich gerade das Wort »pedantisch« benutzt? Leute, die »pedantisch« sagten, waren auch pedantisch. »Ich meinte, Gräber von Leuten aus der Politik, so wie Jackie und John F. Kennedy«, fuhr sie fort, ohne den belehrenden Ton ablegen zu können. Zumindest hinderte dies ihr Gehirn daran, auf noch mehr unpassende Gedanken zu kommen.
»Schuldig im Sinne der Anklage. Die Lizenz zur Pedanterie wird Brillenträgern automatisch erteilt.« Er schob seine etwas verschrobene, aber definitiv stylische Schildpattbrille die Nase hoch. »Das Mädchen – die Frau –, die sie mir verkauft hat, meinte, sie würde mir einen ›modernen, intellektuellen Look‹ verleihen.«
Er lachte, und Annie lachte mit. Selbst wenn er ein Grünschnabel war, der nicht mal auf hundert Meilen an den Wilderness Trail herankommen sollte, begann sie, den Kerl zu mögen, verdammt. Und nicht nur wegen seiner im genau richtigen Maß behaarten Waden. Und nicht nur wegen seiner warmen, kastanienbraunen Augen, die sie nicht übersehen konnte, als sie auf seine Brille blickte. Er war irgendwie lustig, irgendwie klug und hatte einen guten Geschmack, was Fußböden und Tresenplatten anging.
Du musst dir zumindest mal einen neuen Freund mit Pluspunkten suchen, sagte Annie zu sich selbst. Es war etwas mehr als ein Jahr her, seit Seth beschlossen hatte, nach Westen zu ziehen, um den Pacific Coast Trail zu gehen, und sie hatte noch nicht einmal angefangen, sich einsam zu fühlen. Um die Wahrheit zu sagen, Seth war ihr schon vorher zunehmend auf die Nerven gefallen, und sie war mehr als nur irgendwie froh, dass er fort war. Aber dass sie diesen Typen so von null auf hundert attraktiv fand, verriet ihr, dass sie allmählich unruhig wurde.
»Also, was kann ich für dich tun?«, fragte sie ganz professionell.
»Warte. Erst musst du mir sagen, wie du heißt. Ich lass mich nicht von Fremden verspotten.«
»Annie Hatherley.«
»Von Hatherley’s Outfitters.« Sie nickte.
»Nick Ferrone.« Er streckte ihr die Hand hin, und sie schüttelte sie. Sein Händedruck war auch genau richtig. Weder so weich, als hielte er sie für eine zarte Dame, deren Finger nicht zu sehr gedrückt werden durften, noch so fest, als müsse er ihr irgendwie seine Überlegenheit beweisen. Außerdem schickte der Händedruck ein leises Kribbeln von ihren Fingern bis direkt in ihren Magen hinunter. Verdammt.
Als er ihre Hand losließ, erhaschte sie einen Blick auf das Tattoo an seinem Unterarm und merkte, wie ein breites Grinsen sich über ihr Gesicht ausbreitete, diese Art Grinsen, die ihr Streifenhörnchenbacken verpasste. Das Tattoo sollte eindeutig einen Fuchs darstellen, und darunter stand passenderweise auch Ich bin fuchsig. Nick bemerkte ihren Blick und wurde rot. »Ich …«
»Du bist Noah und Logan, auch bekannt als Nogan, in die Arme gelaufen«, beendete Annie den Satz für ihn. »Ich kenne deren abwaschbare Freihand-Tattoos ziemlich gut und ihre aggressiven Verkaufstechniken auch. Was hast du sonst noch gekauft?«
Er nahm einen Schluck von Nogans Getränk des Tages – Annie wusste, dass es Brombeerlimonade mit hiesigem Honig war. Sie hatte selbst eine zu Mittag getrunken.
»Nur ein Stück Hundekuchen«, gestand er.
Er hatte einen Hund dabei? Schlechte Idee. Sie öffnete den Mund, um die zahllosen Gründe aufzuzählen, warum er auf keinen Fall einen Hund mit auf den Trail nehmen sollte, angefangen davon, dass es seine Chancen, ihn zu Ende zu schaffen, empfindlich schmälern würde, und die waren ja sowieso schon ziemlich erbärmlich. Sie zwang sich dazu, kurz innezuhalten. Finde einen freundlichen Weg, es ihm beizubringen, sagte sie sich. Sei professionell. In der letzten Saison hatte sie im Internet einige schlechte Bewertungen für ihr Verhalten bekommen. Einer hatte sie sogar griesgrämig genannt. Griesgrämig! Nicht dass es eine Rolle spielte. Wenn jemand in Fox Crossing Outdoor-Ausrüstung erstehen wollte, musste er bei ihr kaufen.
»Du willst den Wilderness gehen?«, fragte sie. Auch wenn sie die Antwort bereits kannte.
»Ja.« Seine kastanienbraunen Augen glänzten vor Begeisterung.
Nick hatte keine Ahnung, worauf er sich da einließ. Annie spürte, wie die Verärgerung sich prickelnd in ihrem Nacken meldete. Man sollte eine Lizenz vorweisen müssen, bevor man auf den Wilderness durfte, und eine Prüfung dafür absolvieren – schriftlich und praktisch. Fang gar nicht erst damit an, sagte sie sich. »Dann willst du wohl den Katahdin rauf, wenn du am Ziel bist, nehme ich an.« Sie schaffte es, weiterhin freundlich zu klingen. Keine Griesgrämigkeit momentan.
»Sonst könnte ich ja wohl kaum behaupten, ich wäre die ganze Strecke gegangen.«
Er könnte es nicht behaupten? Machte er das nur, um hinterher damit anzugeben? Wen wollte er damit beeindrucken? Was wollte er beweisen? Es ging sie nichts an. Du bist hier, um ihm was zu verkaufen, sagte sie sich.
»Nur so zur Information: Hunde sind im Baxter State Park nicht erlaubt. Das ist der, in dem sich der Berg befindet.« Ja, das war ein guter Ansatz. Nichts über seine Fähigkeiten. »Du musst dein Tier vor diesem letzten Abschnitt in einer Hundepension unterbringen. Es gibt welche in Millinocket, aber das liegt fünfundzwanzig Meilen weiter östlich. Es ist nicht einfach. Du musst nicht nur für dich selbst …«
»Kein Hund. Nur ich.«
»Oh. Gut.« Sie atmete erleichtert aus. »Warum dann der Hundekuchen?«
»Die Jungs haben mich überzeugt, dass die auch Menschen schmecken und dass nichts darin ist, was mir schaden könnte, also …« Nick zuckte mit den Schultern. »War gar nicht so schlimm.«
»Moment mal. Du hast echt ein Stück davon gegessen?«
»Na ja, schon. Sie haben mich beobachtet. Es hat geschmeckt wie ein extrem gesunder, sehr trockener, überwiegend geschmacksneutraler Keks, falls du’s wissen willst.«
Nett ist er auch noch, wurde Annie klar. Verdammt. Er war nicht nur irgendwie klug und lustig, mit exzellentem Geschmack, plus die Waden und die Augen. Er tat zwei neun Jahre alten Jungs auch noch einen Gefallen, indem er Hundekuchen kaufte, obwohl er gar keinen Hund hatte. Und er hatte davon sogar noch gegessen! Das war wirklich außerordentlich nett.
Aber er war ebenso außerordentlich schlecht vorbereitet, erinnerte sie sich selbst. Er würde es nicht schaffen da draußen, gar keine Frage. Die einzige Frage war nur, wie doll er sich wehtun würde.
Überhaupt nicht, wenn Annie irgendetwas dazu beitragen konnte. Sie würde versuchen, nett zu bleiben, aber wenn das nicht funktionierte, nun, sie konnte auch mit einer weiteren »Griesgram«-Bewertung leben. Griesgrämigkeit konnte Leben retten. »Also, wie lange hast du dich vorbereitet?«, fragte sie freundlich.
»Fast drei Monate. Jedes Wochenende, und unter der Woche hab ich auch fast immer ein paar Abende Training geschafft. Und ich trage meinen Rucksack überall mit mir herum, so wie jetzt auch.«
»Das reicht nicht.« Es fühlte sich an, als träfen diese drei Worte hörbar auf dem Boden auf.
»Was?«
»Das reicht nicht, um in Form zu kommen. Ich kann schon an deinem Aussehen erkennen, dass du den Wilderness nicht schaffen wirst.« War das griesgrämig? Nein, entschied Annie. Sie hatte ihre Stimme nicht erhoben. Sie hatte Nick nicht einen Idioten genannt. Sie hatte ihm nur die Wahrheit gesagt, die nackte Wahrheit, und die musste er hören.
»Nur am Aussehen?« Seine Augen blickten nicht mehr warm.
»Jap. Ich arbeite hier von klein auf. Ich sehe es, wenn jemand nicht bereit ist, und du, mein Freund, bist nicht bereit.«
Nick schnaubte. »Mein Freund«, murmelte er.
Das verärgerte Prickeln war zurück, aber jetzt fühlte es sich mehr wie das Hacken eines Eispickels an. Er machte bereits dicht. Er wollte nicht hören, was sie zu sagen hatte. Nun, sein Pech. »Hör mal, du könntest umkommen da draußen. Verstehst du das nicht? Dieser Schiefer hier« – Annie haute auf den Tresen –, »daraus besteht da oben ein Großteil des Gesteins. Und das wird scheißglatt.« Sie schaffte es geradeso, nicht wieder »mein Freund« zu sagen, aber dies war die Stunde der Wahrheit, und deshalb bekam er jetzt die volle Breitseite. »Was es definitiv in den Bereich des Möglichen rückt, dass du stürzt und dir den Schädel einschlägst. Außerdem ist da noch die Schneeschmelze. Wir haben Schneeschmelze um diese Jahreszeit, und der Schnee kann sich in eine Todesfalle aus Wildwasser verwandeln. Von den Sümpfen ganz zu schweigen …«
»Darüber hab ich alles gelesen.« Nick stützte die Hände auf den Tresen und lehnte sich zu ihr vor.
Annie ahmte seine Haltung nach, beugte sich ebenfalls vor und starrte ihm direkt in die Augen. »So, du hast darüber gelesen. Wenn ich das gewusst hätte! Also kennst du dich aus. Na dann, happy trails!«
»Hab ich was Interessantes verpasst?«
Annies Großmutter war hereingekommen. Natürlich. Warum nicht diese Situation noch ein bisschen verschlimmern, indem sie als Zeugin dazukam?
»Ich gebe einem Kunden nur einen kurzen Überblick über das, was ihn auf dem Trail erwartet.« Annie stieß sich von ihrer Seite des Tresens ab.
Nick machte auf seiner Seite einen Schritt zurück und setzte ein falsches Lächeln auf. »Hi. Ich bin Nick. Der Kunde.«
»Ich bin Ruth Allis. Aber Sie können mich Honey nennen.« Sie bauschte ihre blonden Locken mit der Hand von unten etwas auf und richtete die Fuchsohren aus Stoff, die an ihrem Haarreif befestigt waren.
»Ich fühle mich geehrt.« Das falsche Höflichkeitslächeln – denn natürlich musste er auch noch höflich sein – wurde echt.
»Fühl dich bloß nicht zu geehrt«, blaffte Annie ihn an. »Alle nennen sie Honey, einschließlich mir, und ich bin ihre Enkelin. Man sollte meinen, ich würde Grandma oder Grammy oder Nana oder so zu ihr sagen, aber nein, es ist mir verboten, irgendeinen Namen für sie zu verwenden, der sie älter als einundzwanzig klingen lässt.« Annie wusste, dass sie ihren Frust an der falschen Person ausließ, machte aber trotzdem weiter. »Das schreibt sie tatsächlich in Formulare, sogar beim Arzt: einundzwanzig plus.«
»Mehr braucht niemand zu wissen.« Honey schoss Annie einen missbilligenden Blick zu. Er wirkte nicht. Annie war längst nicht mehr in der Verfassung, sich noch tadeln zu lassen.
Nick lachte. »Da bin ich ganz Ihrer Meinung! Das mache ich ab jetzt auch. Einundzwanzig plus.«
Honey tätschelte Nicks Arm. Sie konnte es einfach nicht lassen zu flirten. »Ich hoffe, Annie hat Ihnen erzählt, wie wunderschön der Wilderness ist.«
»Sie wollte mich gerade vor den Sümpfen warnen«, antwortete Nick, ohne den Blick von Honey abzuwenden.
»Es gibt tatsächlich Abschnitte, wo direkt durch Sümpfe markiert wurde«, setzte Honey an.
Annie musste sie unterbrechen. »Nur dass dir das klar ist: Du wirst da nicht wirklich richtige Wege vorfinden. Von ebenen Wanderwegen ganz zu schweigen.«
»Natürlich holt man sich da nasse Füße, aber man bekommt auch Krugpflanzen zu sehen«, fuhr Honey fort, als hätte Annie nichts gesagt. »Die findet man nicht überall.«
»Von denen hab ich gelesen!«, rief Nick begeistert. »Ganz klar will ich ein paar von diesen fleischfressenden Pflanzen in der Natur sehen.«
Er war verloren, der Trail hatte ihn schon gepackt. Nichts, was Annie sagen konnte, würde etwas daran ändern. Müdigkeit überkam sie. Das passierte einfach zu oft. »Suchst du nach etwas Bestimmtem?« Sie wollte nur noch, dass er verschwand.
»Ich hatte an ein Moskitonetz gedacht.«
»Um diese Jahreszeit? Absolut notwendig«, antwortete Annie. »Ich habe verschiedene Modelle.«
»Um diese Zeit können Mücken und Bremsen so heftig sein, dass man die Hand nicht vor den Augen sieht«, sprang Honey Annie endlich bei. »Der Mann, dem die Bäckerei gehört? Den hat man gefunden, als er im Sumpf auf einem Baumstamm stand und nur noch ›Haut ab, ihr verdammten Fliegen!‹ rief, immer wieder und wieder, völlig fertig mit den Nerven, heulend. Und der war früher Marinesoldat gewesen. An dem Tag hatte er seinen Trailnamen weg, seither nennen ihn alle nur noch Fliege.«
»Also dann, ein Moskitonetz bitte«, sagte Nick.
Wahrscheinlich hofft er auf einen coolen Trailnamen wie Thoreau oder Sentinel, dachte Annie. Er ist einer von denen, die sich versprechen, durch den Trekk verwandelt zu werden. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu sagen, dass er sich das abschminken konnte.
»Wenn ich mir so Ihren Rucksack angucke, sollten Sie Annie um eine Razzia bitten.«
»Eine Razzia?«
Er konnte nicht so viel über den Trail gelesen haben, wenn er nicht wusste, was eine Rucksack-Razzia war. »Damit du weißt, was du nicht brauchst, du Grünschnabel«, erklärte Annie.
Seine Augen verengten sich, als er sie ansah, und sie konnte die Anspannung aus seiner Stimme heraushören, als er antwortete: »Alles, was ich dabeihabe, ist wichtig. Du bist doch diejenige, die behauptet hat, ich wäre nicht bereit, aber ich habe alles, was ich brauche, hier in diesem Baby.« Er tätschelte seinen Rucksack.
»Setz ihn ab, und mach ihn auf«, befahl Annie. Auch wenn sie ihn so schnell wie möglich aus dem Laden haben wollte, hieß das nicht, dass sie ihn mit so viel Gewicht auf den Trail schicken würde, dass er sich die Knie ruinierte oder mit einem verstauchten Knöchel oder einem Überlastungsbruch liegen blieb. Und falls er einer der zig möglichen Verletzungen entkam, konnte er immer noch vor Erschöpfung stürzen.
»Na los«, sagte Annie, als Nick zögerte.
»Na gut. Aber du wirst sehen, dass ich alles dabeihabe, was ich brauche, und kein Stück mehr.« Nick schälte sich aus dem Rucksack, setzte ihn am Boden ab und öffnete die Schnallen.
Annie ging in die Knie und nahm seine Sachen in Augenschein. Als sie auf eine zerlesene Ausgabe von Thoreaus Walden stieß, lachte sie schnaubend auf. Hatte sie’s nicht gesagt?! »Alles notwendig, was?« Sie warf das Buch zur Seite.
»Das ist nur ein Buch«, protestierte Nick. »Und es ist nötig. Die mentale Vorbereitung ist wichtig, und …«
Annie hörte nicht mehr zu. Sie zog ein Solarladegerät aus dem Rucksack. »Das brauchst du nicht. Gibt eh keinen Empfang da draußen.« Sie wühlte sich weiter durch seine Sachen und zog eine Packung Pflaster heraus. »Die brauchst du auch nicht. Wenn die Verletzung klein genug für ein Pflaster ist, kommst du auch ohne aus.« Sie zog eine Deo-Stick heraus. »Du wirst stinken müssen.« Sie zog drei Paar Boxershorts heraus. »Nix da.«
»Jetzt hör aber mal!«, protestierte Nick. Er hätte es wahrscheinlich nicht als Aufjaulen bezeichnet, doch das war es definitiv.
»Nimm die mit, und du kannst dir gleich eine Tube Hirschtalg kaufen, für den Wolf, den du dir darin läufst«, erklärte Annie.
»Na gut.« Sie bemerkte die Röte, die seinen Hals hinaufkroch. Sie war sich nicht sicher, ob vor Ärger oder Scham oder beidem, aber es war ihr auch egal. Etwa zehn Minuten und fünfzig Proteste später hatte sie Nicks Gepäck auf ein Gewicht reduziert, das er bewältigen konnte. Sie brauchte weitere fünf Minuten, um ihn davon zu überzeugen, seine Wanderstiefel gegen Trailrunners zu tauschen.
»War’s das jetzt?«, fragte Nick. Sie sah einen kleinen Muskel an seiner Wange zucken. Gut. Warum sollte sie die Einzige sein, die sauer war?
»Das war’s.« Sie stand auf.
»Außer dass wir Ihnen noch einen wunderschönen Trail wünschen«, sagte Honey. »Es ist eine Erfahrung fürs Leben.«
»Danke.« Nick lächelte sie an. »Hey, wir haben das gleiche Tattoo.« Er hielt ihr seinen Unterarm hin, sodass sie sein Fuchs-Tattoo sehen konnte.
Annie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ich nehme an, du hast einen Rückholplan.«
»Hatte ich. Denn das Solarpanel, das du mir gestrichen hast, gehörte dazu. Ich habe versucht, dir das zu sagen.«
»Und ich habe dir gesagt, dass du dich nicht darauf verlassen kannst, da draußen Empfang zu haben«, feuerte Annie zurück. »Du brauchst einen Tracker.«
»Ach ja? Und was verdienst du daran, wenn ich dir einen abkaufe?«
Er dachte, hier ginge es ums Geld? Sie versuchte, ihm das Leben zu retten, und er dachte, ihr ginge es nur um den Profit? Nicht dass sie keinen Erfolg mit dem Laden haben wollte, und den sie ja auch hatte, aber das bedeutete doch nicht, dass ihr alles andere egal war. »Ich leihe dir einen. Ja, ich leih dir einen, verdammt noch mal. Umsonst. Du kannst ihn mir übermorgen wiedergeben, wenn du mit eingezogenem Schwanz zurückkommst.«
»Annie!«, rief Honey empört.
»Ich glaube …«, wiegelte Nick ab.
»Halt den Mund, und nimm ihn.« Annie riss eine Verpackung auf, holte einen der GPS-Messenger heraus und stieß ihn in Nicks Hand. Er starrte darauf, als ginge das alles zu schnell für ihn, um es zu begreifen. »Ruf die Nummer da an, und die richten dir ein Profil ein. Wenn du wirklich in Not gerätst, kannst du ein Signal senden. Das kommt an der Rettungsleitstelle an. Über eine App kannst du auch deiner Hintergrundperson deine Standortdaten übermitteln. Die können dann beinahe in Echtzeit sehen, wo du bist.«
Stirnrunzelnd betrachtete Nick das kleine Gerät. Annie verstand, woran er dachte. »Du hast gar keine Hintergrundperson, stimmt’s?«
»Wenn ich Hilfe brauche, wollte ich die Notfallnummer anrufen.« Er hielt ihr den Tracker hin. Als sie die Arme verschränkte und sich weigerte, ihn anzunehmen, legte Nick ihn auf den Tresen. »Ich nehme das Solarpanel und mein Handy mit.«
Annie massierte sich die Nasenwurzel. »Hast du mir überhaupt zugehört? Es gibt da draußen nicht überall Empfang, und du wirst auch nicht immer Sonne haben. Was bedeutet« – die nächsten Worte sprach sie extra langsam und deutlich: »Du. Kriegst. Keine. Hilfe.«
Er war kurz davor, einfach zu gehen. Sie konnte es sehen. Sie presste die Lippen fest aufeinander, um zu verhindern, dass sie etwas sagte, das ihn endgültig zur Tür hinausjagen würde. Er brauchte den Tracker.
»Nun nimm ihn schon mit, mein Fuchs-Zwilling«, sagte Honey versöhnlich. »Könnte noch nützlich werden.« Sie nahm den Tracker vom Tresen und gab ihn ihm. Er steckte ihn in seine Tasche.
»Ich will dafür bezahlen«, erklärte er.
»Gut. Für wie lange?«
»Zehn Tage.«
»Macht fünfzehn Dollar für drei Tage.«
»Gut.«
Sie wusste, dass er genauso schnell hier wegwollte, wie sie ihn hinaushaben wollte. Zügig gab sie die Preise für das Moskitonetz, die Schuhe und die Gerätemiete ein, zog seine Karte durch und reichte sie ihm zurück. »Soll ich dir noch zeigen, wie man ein Notsignal sendet?«
»Das googele ich.« Er setzte den Rucksack wieder auf. »Wir sehen uns, wenn ich den Tracker zurückbringe. In zehn Tagen.«
»Ich bin hier«, sagte Annie zu seinem Rücken. Er war bereits auf dem Weg nach draußen. Sie und ihre Großmutter sahen ihm nach, wie er die Straße überquerte, um die Ecke bog und aus ihrem Blickfeld verschwand.
»Du kannst mich schon Grandma nennen, wenn du unbedingt willst«, sagte Honey.
»Ich nenn dich gern Honey.«
»Ich weiß.« Honey lächelte. »Dieser Mann hatte alles und noch ein bisschen mehr. Du hättest netter zu ihm sein können. Dann hätte er dich vielleicht zu einem Drink eingeladen, wenn er den Tracker zurückbringt. Oder du hättest ihn fragen können, ob er Lust hat, mit dir was trinken zu gehen. Wer weiß, was noch draus geworden wäre.«
Annie schüttelte den Kopf. »Er ist viel zu impulsiv für mich. Er gehört zu den Leuten, die meinen, sie würden ihr Leben ändern, indem sie den Trail gehen. Mit seinem Walden. Na ja, der ist schon in Ordnung. Aber du kannst nicht einfach loslaufen. Du musst dich vorbereiten. Du musst planen.«
»Für mich sah’s aus, als hätte er beides getan.«
»Ein bisschen, ja. Aber nicht annähernd genug. Und hast du gesehen, wie er beinahe ohne den Tracker hier rausmarschiert wäre? Nur weil ihm ein kleiner Zacken aus der Krone gefallen ist? Er hätte mir dafür danken müssen, dass ich ihm erklärt habe, warum er das Teil braucht.« Annie zog ihr Handy aus der Tasche. »Ich hab seine Daten in der App, damit ich sehen kann, was er macht. Ich behalte ihn im Auge. Er ist eindeutig nicht in der Lage, da draußen selbst auf sich aufzupassen.«
Sie hat gerade so getan, als sei ich nicht in der Lage, da draußen selbst auf mich aufzupassen, dachte Nick, während er sich den letzten Bissen Nachtisch in den Mund schob. Er wusste, er schmeckte fantastisch – genau das richtige Verhältnis zwischen buttrigen Streuseln und süßen, herben Blaubeeren. Doch er hätte genauso gut den Hundekuchen essen können. Er hatte sich einen Tisch im Quarryman reserviert, um sich ein schönes Abendessen zu gönnen, bevor es für zehn Tage nur noch Trockenmahlzeiten, Trockenfrüchte, Dörrfleisch, Eiweißriegel und Haferbrei zum Aufbrühen geben würde. Ob du’s glaubst oder nicht, Annie Hatherley, er hatte sich vorbereitet, und er wusste, wovon er auf dem Trail leben würde.
Er hatte außerdem beschlossen, sich für seine letzte Nacht in der Zivilisation den Luxus eines bequemen Bettes zu leisten, und versprach sich selbst, beides erneut zu genießen, wenn er verwildert und stinkend zurückkam, weil Annie Hatherley ihm sein Deo weggenommen hatte. Wahrscheinlich, eher unbedingt, sollte er nach oben gehen und sich frühzeitig in dieses gemütliche Bett legen, um sich noch einmal richtig auszuschlafen, aber er war zu verärgert. Er würde noch einen Spaziergang machen. Er überlegte noch, seinen Rucksack aus dem Zimmer zu holen, aber den noch einen weiteren Abend mit sich herumzuschleppen, würde sowieso keinen sonderlichen Trainingseffekt mehr bringen. Und er hatte wirklich viel trainiert, ganz egal, was Annie Hatherley meinte behaupten zu können, nur indem sie ihn einmal ansah.
Annie Hatherley. Annie Hatherley. Schluss jetzt mit dem Nachdenken über Annie Hatherley, sagte er sich, während er in seinen neuen, bequemen Trailrunners aus dem Hotel trat. Er hatte verstanden, dass er vielleicht nicht den ganzen Trail schaffen würde. Er wusste, dass Menschen aus allen möglichen Gründen aufgaben. Schließlich war er kein Idiot, auch wenn Annie Hatherley ihn eindeutig dafür hielt.
Er tat es immer noch. Er musste ihren ganzen negativen Bullshit vergessen. Haters gonna hate. Mist. Annie Hatherley hatte ihn schon so weit, dass er in Taylor-Swift-Texten dachte. »Shake it off«, murmelte er.
Du hast den Ort gewechselt. Du stehst am Beginn eines Abenteuers. Sieh dich um. Nimm es wahr, nimm es in dich auf, dachte er. Er verlangsamte seinen Schritt, lächelte, als er in einem erleuchteten Schaufenster auf der anderen Straßenseite Honey sah, die gerade einer Schaufensterpuppe ein Strandkleid aus einem mit herumtollenden Füchsen bedruckten Stoff anzog. Auf dem Schild zu dem Geschäft, voller Schnörkel und Verzierungen, stand Superfox. Das erklärte das Fuchs-T-Shirt und die Fuchsohren aus Stoff. Ob sich so ein Geschäft lohnte? Gab es einen Markt für dieses ganze Fuchs-Zeugs? Auf den ersten Blick sah es aus, als würde dort nichts anderes verkauft. Vielleicht gingen die Leute einfach hinein, um mit Honey zu plaudern. Sie war ein Charmeur. Im Gegensatz zu ihrer Enkelin.
Nick knurrte genervt. Wenn das so weiterging, würde er das Taschenmesser nehmen müssen, das er für die Wanderung gekauft hatte – ein Opinel Nr. 7 –, und sich den Teil seines Gehirns herausoperieren, der sich an die Erinnerung an die paar Minuten in dem Outdoorladen klammerte. Wenigstens das Messer hatte ihm Annie Hatherley gelassen. Sie hatte sogar gesagt, es sei eines der besten für eine Rucksacktour.
Mist. Er tat es schon wieder. Er raufte sich mit beiden Händen die Haare. Vielleicht lag es daran, dass er, bevor Annie Hatherley so garstig geworden war, eine gewisse Anziehung zwischen ihnen gespürt hatte, es hatte klick gemacht. Zumindest auf seiner Seite. Das war schon seit sehr langer Zeit nicht mehr passiert. Um genau zu sein, seit Lisa nicht mehr. Als hätte die Tatsache, einmal glücklich verheiratet gewesen zu sein, diesen Teil seines Gehirns ausgeschaltet. Nicht dass ihm in letzter Zeit attraktive Frauen nicht aufgefallen wären, aber er hatte sie anders wahrgenommen. Er hatte kurz darüber spekuliert, wie sie wohl nackt aussahen oder wie es wäre, mit ihnen Sex zu haben, solche typischen Jungs-Sachen eben. Aber ohne jegliche … Absicht.
Doch er war nicht mehr verheiratet. Und er war auch schon sehr lange nicht mehr glücklich verheiratet gewesen. Er hatte gedacht, er sei glücklich verheiratet gewesen, aber wie konnte er das gewesen sein, wenn seine Frau an Scheidung gedacht hatte? Wie konnte er glücklich verheiratet gewesen sein, wenn seine Frau – Ex-Frau – an dem Tag wieder geheiratet hatte, an dem die Scheidung rechtskräftig geworden war? Nicht einmal einen Tag später. Am selben Tag.
Heute, in den ersten Momenten mit Annie Hatherley, hatte es sich angefühlt, als wäre ein vergessener Teil von ihm wieder zum Leben erwacht. Normalerweise mochte er kein kurzes Haar bei Frauen, aber ihr kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar hatte seine Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht gelenkt, auf ihre klaren blauen Augen, ihre perfekte sahnige Haut, ihre Lippen, ihren Hals, diese kleine Grube zwischen ihren Schlüsselbeinen.
Allerdings war die Anziehung nicht rein physisch gewesen. Er mochte es, wie sie ihm, so spielerisch, Paroli geboten hatte beim Pedantischsein. Und dann hatte sie beinahe einen Jekyll and Hyde hingelegt. Als hätte sie es kaum erwarten können, ihn aus dem Laden und aus den Augen zu bekommen.
Genug davon. Er brauchte was zu trinken. Irgendetwas, das ihn beruhigte. Das ihn auf diesen guten langen Nachtschlaf einstimmte, der ihn erwartete. Auf dem Weg in die Stadt hatte er eine Bar mit einem verrückten Schild gesehen. Er ging einen Block weiter und bog dann links ab. Ja, da war sie. The Wit’s Beginning Brewery mit einem – vermutlich – toten Esel auf dem Schild, auf dem Rücken liegend und alle viere von sich streckend. Er würde eines der örtlichen Craft-Biere probieren und dann zum Hotel zurückkehren. Und morgen begann das Abenteuer!
Er hätte einen seiner Freunde bitten können – und wohl auch sollen –, für ihn als Hintergrundperson zu fungieren, aber er wollte den Wilderness für sich allein haben. Er wollte sich nicht jeden Tag melden müssen, wollte nicht einmal diese schwache Verbindung zur Außenwelt. Es fühlte sich an, als … als würde es irgendwie die authentische Erfahrung verwässern, etwas von der Bedeutung aus ihr heraussaugen.
Sobald Nick die Bar betrat, rief der Bartender: »Willkommen, mein Freund!« Er war hochgewachsen, drahtig und kahlköpfig, seine Haut hatte die Farbe eines Kiefernzapfens. Die Begrüßung fühlte sich so echt an, dass Nick an den Tresen ging, statt sich an einen der Tische zu setzen. Die meisten waren leer, abgesehen von einer Gruppe von etwa zehn Leuten, die etwas weiter hinten im Raum saß, wahrscheinlich Stammgäste aus dem Ort. Die Saison hatte gerade erst begonnen. In ein paar Wochen, wettete Nick, würde es hier sehr viel voller sein.
»Erstes Mal hier?«
»Erstes Mal im Mai …«
»Banana, ist heute Endlos-Nacho-Abend oder nicht? Weil wir hier nämlich gefährlich nah am Ende sind«, rief jemand, bevor Nick seine Antwort zu Ende bringen konnte.
»Big Matt, hast du das mitgekriegt?«, brüllte Banana – Banana?
»Hab ich«, rief jemand von hinten, wo Nick die Küche vermutete.
»Fangen wir noch mal von vorn an. Wie du sicher gehört hast, haben wir heute Abend Nachos, so viel du willst, falls du Lust darauf hast. Big Matt streut geriebenen Rettich darüber, was bescheuert klingt, aber …« Banana stieß ein Stöhnen aus, das beinahe orgasmisch klang.
»Ich wünschte, ich könnte. Aber ich habe gerade gut gegessen.«
»Was willst du dann? Der erste Drink geht auf mich.«
Nick hatte die richtige Bar erwischt. Eine kleine, angenehme Unterhaltung würde ihm genauso helfen, sich zu entspannen, wie ein Drink. »Wenn das so ist, wozu rätst du mir?«
»Meine Spezialität, Banana mit Schuss. Das ist ein Weizenbier, aber im deutschen Stil, nicht im belgischen.«
»Dann nehme ich das. Aber ich gestehe dir lieber gleich, dass es mir leichter fällt, Cola von Pepsi zu unterscheiden als deutsches von belgischem Bier.«
»Ehrlichkeit kommt immer gut.« Banana nahm einen braunen Tonkrug und hielt ihn unter einen der Zapfhähne. »Belgisches ist etwas zitroniger. Ester und Phenole verleihen dem deutschen Weizenbier Bananen- und Nelken-Noten.« Er stellte den Krug vor Nick hin.
Nick nahm einen großen Schluck und versuchte dabei, alle Nuancen herauszuschmecken. Er erkannte die Banane und die Nelken, aber auch ein bisschen Apfel und seltsamerweise etwas Kaugummi. »Süffig.« Er trank noch einen Schluck. »Ich war mir nicht sicher, ob ich Bananengeschmack im Bier mag, aber es funktioniert. Nennt man dich deshalb Banana? Wegen deines speziellen Bieres?«
»Nope.« Banana grinste ihn an.
»Willst du mir sagen, woher der Name kommt?«
»Nope.« Bananas Grinsen wurde breiter.
»Wie wär’s mit einer anderen Frage. Was hat es mit dem Esel auf sich?« Er nickte in Richtung der tiefblauen Becher im Regal, auf denen der auf dem Rücken liegende Esel abgebildet war.
»Das ist zu Ehren meines ersten Esels. Bucky hieß er.« Banana drückte eine Faust aufs Herz und schloss die Augen. Eine ganze Weile stand er so da, bevor er die Augen wieder öffnete und fortfuhr: »Er war ein temperamentvoller Schlingel. Und schlau. Ich habe ihm alle möglichen Tricks beigebracht. Bis zehn zu zählen, zu rechnen. Sogar eine Art Hula-Hüftschwung habe ich ihm beigebracht. Aber dann habe ich was Extremeres versucht. Ich wollte ihm beibringen, nichts mehr zu essen.«
»Nichts mehr zu essen?«, wiederholte Nick, dessen Schultern sich durch den Alkohol und die Geschichte bereits merklich entspannten.
»Ja. Ich hab ihm jeden Tag etwas weniger zu fressen gegeben, er wurde schon richtig gut darin, und dann ist er gestorben. Gerade als er es fast hinbekommen hätte.«
Nick lachte. Das war vielleicht der dümmste Witz, den er je gehört hatte. Was ihn so witzig machte.
Banana lachte sogar noch heftiger als Nick, ein tiefes, lautes Hohoho. »Das ist aus dem Philogelos, dem ersten Witzebuch der Welt. Oder zumindest dem ersten, das überdauert hat. Es stammt aus dem alten Griechenland, viertes oder fünftes Jahrhundert.«
Jetzt verstand Nick den Namen der Bar. »Daher Wit’s Beginning.« Der Bartender zeigte auf seine Nase und dann auf Nick. »Also, was hat es mit den Bechern auf sich. Ist das irgendeine Vereinssache?«
»Ja, aber nicht im üblichen Sinn. Es gibt keinen Mitgliedsbeitrag. Man bekommt den Becher nur, wenn man die Zweitausend voll hat.«
Die Zweitausend. Meilen. Den ganzen Appalachian Trail. »Hast du einen?« Diese Bar hier war ein Volltreffer. Banana konnte Nicks Guru werden. Er würde Nick alles mit auf den Weg geben, was er wissen musste, die geheimen Tipps und Tricks, die man nicht in Büchern oder Blogs lesen konnte.
»Es ist meine Bar, also könnte ich so viele haben, wie ich will. Aber ich nehme mir keinen, bis ich das verdammte Ding nicht zu Ende habe, und ich hab noch hundert Meilen zu gehen.«
»Den Wilderness?«
Banana nickte. »Sechzehn Versuche hab ich schon, sechzehn Mal nicht geschafft.«
Nick stieß einen leisen Pfiff aus. »Wolltest du nie das Handtuch werfen?«
»Natürlich, hab ich ja auch. Sechzehn Mal mit Sicherheit. Wahrscheinlich öfter. Aber ich bin keiner, der aufgibt. Ich brauche nur noch hundert Meilen, und ich werde sie schaffen. Dieses Mal warte ich aber, bis ich die Füchsin sehe.«
»Was ist denn das?«, wollte Nick wissen. »Irgendeine Blume, die zur besten Startzeit blüht? Oder eine bestimmte Farbe des Sonnenaufgangs? Oder …«
»Warum verrate ich es dir nicht einfach?«
»Dann verstehe ich es vielleicht.«
»Ist aber eine Geschichte, für die man ein bisschen Zeit mitbringen muss.«
»Warum überrascht mich das jetzt nicht?« Dieser Mann war ja an sich schon eine Geschichte – Trailwanderer, Erzähler antiker Witze, Bierbrauer, Geschäftsmann. Und doch hatte Nick das Gefühl, dass dies bei Weitem noch nicht alles war.
Ein dürrer Kerl kam mit einem Berg Nachos auf einem Teller aus der Küche und ging zu dem hinteren Tisch, als Banana anfing: »Vor langer, langer Zeit, als du noch nicht auf der Welt warst, Mann, lange bevor ich auf die Welt kam, bevor meine liebe Großmama geboren wurde, damals im Jahre 1803, wurde hier in der Gegend ein Fuchs in einer Falle gefangen. Ich weiß nicht, warum, damals hat man sich noch nicht groß Gedanken um Tierschutz gemacht, aber eine Frau namens Annabelle rettete diesen Fuchs. Sie hatte gerade ihren Mann verloren und ihr Baby und war verzweifelt darum bemüht, wenigstens ihren kleinen Jungen, der kaum älter war als zwei, gesund und am Leben zu erhalten. Die ganze Siedlung stand kurz vor dem Ruin und die rauen Siedler mit ihr. Vielleicht hat sie den Fuchs deshalb befreit und mit nach Hause genommen. Vielleicht war sie so todunglücklich, dass ihr jede Gesellschaft lieber war als gar keine. Oder vielleicht hatte der Tod ihr schon so viel genommen, dass sie ihm einfach kein weiteres Leben gönnen wollte, solange sie etwas dagegen tun konnte.«
Nick wettete, dass Banana diese Geschichte schon mindestens ein Dutzend Mal erzählt hatte, aber er erweckte den Eindruck, als überlegte er ganz ernsthaft, aus welchen Gründen die Frau den Fuchs gerettet haben könnte. »Manche sagen, er hätte nur überlebt, weil sie ihn gestillt hat. Und ich meine nicht mit der Flasche.«
»Verarsch mich nicht!« Nick trank einen großen Schluck von seinem Bier.
Banana hielt beide Hände hoch. »Ich erzähle dir nur, was die Leute mir erzählt haben. Und ein paar haben gesagt, dass die Milch, dieselbe Milch, die Annabelle auch ihrem kleinen Jungen immer noch gegeben hat, den Fuchs gerettet hat. Manche behaupten, sie hätte mehr als das bewirkt.« Er drehte sich um, nahm einen Krug aus dem Regal, einen von den einfachen braunen, und zapfte sich selbst etwas aus einem der Hähne.
»Das versteh ich nicht. Was hätte sie denn noch bewirken sollen?« Nick hatte das Gefühl, dass ihn ein weiterer schlechter Witz erwartete. Aber er hatte einfach fragen müssen.
»Es sind nur Gerüchte und Vermutungen. Nicht wert, sie weiterzuerzählen.«
Er spielt mit mir, dachte Nick. Er versuchte, nicht zu neugierig zu klingen, als er sagte: »Nichts gegen eine gute Vermutung.«
»Was glaubst du denn, Big Matt?«, fragte Banana den dürren Kerl, der gerade auf dem Weg zurück in die Küche war. »Soll ich unserem Freund hier das Geheimnis um den Fuchs verraten?«
Der Mann verdrehte die Augen. »Als ob ich dich davon abhalten könnte«, antwortete er, ohne innezuhalten.
»Ich erzähle gern Geschichten«, gestand Banana. »Wie ich schon sagte, stand die Siedlung kurz vor dem Aussterben. Eines Tages ging ein adeliger Herr namens Celyn, der aus Wales eingewandert war, ausreiten. Ein Fuchs lief ihm vor die Füße seines Pferdes – eines dürren, schreckhaften Wallachs namens Mud. Mud warf Celyn ab und rannte in die Wälder davon. Celyn nahm die Verfolgung des Pferdes auf, das nicht mal annähernd so klug war wie mein Esel Bucky. Bevor er Mud einholte, sah Celyn an der Seite eines Steilhangs etwas glitzern. Da Celyn früher eine Schiefermine betrieben hatte, wusste er, was er vor sich hatte. Glimmer. Und wo Glimmer ist, da gibt es auch Schiefer.«
Nick ging dazwischen: »Und das war der Anfang der Fox Crossing Mine Company.«
Banana tippte sich an die Nase und zeigte dann auf ihn: »Ganz genau.«
»Ich hab heute schon Schiefer von hier gesehen. Wunderschön.«
»Und einträglich. Damit hat sich das Schicksal der Siedlung gewendet. Vor allem Annabelles. Ihr gehörte das Land, und sie war zusammen mit Celyn Teilhaberin der Mine.«
»Und jetzt erzählst du mir, dass es genau der Fuchs war, den Annabelle gerettet hatte, stimmt’s?« Nick liebte die Geschichte, auch wenn er wusste, dass sie wahrscheinlich überwiegend auf Gerüchten und allgemeinem Unsinn beruhte.
Banana zuckte übertrieben mit den Schultern. »Sie hatte dieselben Abzeichen – eine weiße Socke, ein fast ganz weißes Ohr, Schwanz mit schwarzer Spitze, genau wie die Füchsin, die Annabelle gerettet hat. Genau wie die, die ich sehen will.«
»Warte mal, du meinst genau dasselbe Tier?« Banana nickte. »Du solltest damit Geld verdienen. Du bist echt ein Meister im Geschichtenerzählen. Beinahe hattest du mich so weit, dass ich dir geglaubt hätte, dass hier ein mehr als zweihundert Jahre alter Fuchs herumrennt. Und dass du einen außergewöhnlich klugen Esel namens Bucky hattest.« Nick war froh, dass er hier hereingekommen war. Seit Banana angefangen hatte, seine Geschichten zu spinnen, hatte er nicht mehr an Annie Hatherley gedacht. Abgesehen von diesem einen, letzten Gedanken gerade eben, aber der zählte nicht, denn dabei ging es ja darum, dass er nicht an sie gedacht hatte.
»Nun, manche glauben, sie sei ein Nachkomme ebenjenes ersten Fuchses«, gab Banana zu. »Aber da bin ich anderer Meinung. Und Buckys Grabstein kannst du dir hinten im Garten anschauen.« Banana bekreuzigte sich.
»Und du willst es allen Ernstes nicht noch einmal mit dem Wilderness probieren, bevor du nicht diesen Fuchs gesehen hast – oder seine Urururur-etcetera-Großenkelin?«
»Ganz richtig. Wenn ich die Füchsin sehe und ein bisschen was von dem Glück abbekomme, das sie bringt, dann mach ich mich schnurstracks auf den Weg. Mein Rucksack steht schon gepackt in der Ecke. Und Big Matt ist bereit, jederzeit den Laden zu übernehmen.« Bananas Blick wanderte blitzschnell an Nicks Körper hinauf und hinunter. »Vielleicht solltest du auch warten, bis du sie siehst. Würde dir ein bisschen mehr Zeit geben, um in Form zu kommen.«
»Fängst du jetzt auch damit an?« Das ganze Wohlgefühl, das Nick erfüllt hatte, löste sich in Luft auf. »Meinst du auch, du kannst auf den ersten Blick erkennen, dass ich nicht gut genug vorbereitet bin? Mach dir keine Mühe mit der Standpauke. Die hab ich schon von Annie Hatherley bekommen, mehr als gründlich.«
Banana lachte wieder tief und laut. »Unsere Annie! Ja, die nimmt kein Blatt vor den Mund. Aber sie hat auch ein gutes Herz.«
»Vielleicht, irgendwo in ihrem Nachttisch«, murmelte Nick.
Banana lachte wieder. »Deshalb ist sie so streng mit den Wanderern. Sie will nicht, dass jemand zu Schaden kommt. Ich wollte übrigens gar nicht sagen, dass du nicht bereit bist. Aber auf dem Trail kann jeder ein bisschen Glück gebrauchen.« Banana zog diverse kleine Tütchen aus den Taschen seiner Weste. »Ich habe Huhn. Ich habe Schinken. Ich habe Beeren. Ich habe ein hart gekochtes Ei. Ich gehe jeden Abend und jeden Morgen in den Wald an Stellen, wo vermutlich Füchse sind, und verteile überall Fuchs-Leckerlis. Die Füchsin wird kommen. Dieses Jahr ist das Jahr, in dem sie kommt. Dieses Jahr kriege ich meinen verdammten Becher. Apropos Becher, möchtest du noch einen?« Er zapfte Nick ein zweites Bier. »Ich rede gern, wie du wahrscheinlich schon gemerkt hast. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass du mir deine Geschichte erzählst.«
»Meine Geschichte?«
»Jeder, der auf den Wilderness will, hat eine Geschichte.«
»Aha.« Nick trank einen Schluck von seinem Bier. »Mein dreißigster Geburtstag ist in ein paar Tagen. Ich hielt es für eine gute Art und Weise, um das Jahrzehnt zu beenden. Ein paar Freunde von mir und ich, wir haben immer darüber geredet, den Weg mal ganz zu gehen, als wir im College waren. Am Ende war es nur Gerede, aber in letzter Zeit habe ich wieder öfter daran gedacht …« Er zuckte die Achseln. »Und hier sitze ich. Nicht die ganze Strecke, aber ein richtiges Abenteuer.«
»Probier’s noch mal.«
»Was?«
»Probier’s noch mal.«
»Das ist alles. Ich werde meinen Geburtstag auf dem Trail feiern. Kommt mir gut vor, meine Zwanziger so abzuschließen und meine Dreißiger mit etwas anzufangen, wovon ich hoffe, dass ich es die nächsten zehn Jahre fortsetzen werde.«
»Hört sich gut an. Aber nö.« Banana schob Nicks Krug näher an ihn heran. »Probier’s noch mal, wenn du den leer hast.«
Ein anderer Mann, klein, stämmig, ergrauendes Haar, steckte den Kopf zur Tür herein. »Bin gleich wieder da«, sagte Banana zu Nick. Dann holte er eine Keramikflasche unter dem Tresen hervor, füllte sie aus einem der Zapfhähne und brachte sie dem Mann. Der drückte ihm Bargeld in die Hand.
»Fliege, hast du nicht Lust …«, rief eine Frau von dem hinteren Tisch. Bevor sie den Satz beenden konnte, war der Mann schon verschwunden.
»Immerhin hast du’s versucht, Bev.« Banana tätschelte der Frau die Schulter, bevor er zu Nick zurückkehrte.
Fliege. Den Namen hatte er schon einmal gehört. Ein paar Sekunden lang wollte es ihm nicht einfallen, dann fiel die Erinnerung an ihren Platz. »Der Marinesoldat, der geweint hat, weil ihn die Insekten nicht in Ruhe gelassen haben, richtig?«
Banana nickte. »An seiner Stelle würde ich heute noch weinen. Diese Insekten sind kleine Terroristen. Du hast ein Moskitonetz, oder? So früh im Juni braucht man ein Moskitonetz.«
»Jep.« Nick trank sein Bier aus. »Ich sollte jetzt gehen. Ich möchte morgen früh los.«
»Bevor du gehst, lass mich dich noch einmal fragen: Warum willst du auf den Wilderness?«
»Sorry, aber mein Beweggrund hat sich nicht verändert. Es sei denn, die Tatsache, dass meine Frau ein Kind kriegt, zählt auch.«
Der freundlich-amüsierte Ausdruck verschwand von Bananas Gesicht. »Deine Frau kriegt ein Baby, und du gehst trekken, auf dem Wilderness? Mir scheint, ich hab mich in dir geirrt. Du musst jetzt gehen.«
»Nicht meine Frau. Meine Ex-Frau.«
»Und Bingo.«
»Was Bingo?«
»Bingo war sein Nam-o«, gab Banana zurück. »Bingo, ich glaube, wir haben den wahren Grund ausgegraben, warum du auf den Wilderness willst.«
Nick wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. Sein Nacken war steif. Er musste sich letzte Nacht verlegen haben. »Ich würde nicht sagen …«
Banana klatschte beide Hände vor Nick auf den Tresen, bevor der seinen Satz zu Ende bringen konnte. »Noch ein Drink auf mich, wenn du deine traurige Geschichte mit mir teilst.« Nick zögerte und dehnte seinen Nacken noch ein paar Mal. Banana füllte Nicks Krug auf.
Fünfzehn Minuten später war der Krug leer. »Oh, und hab ich schon erwähnt, dass sie genau an dem Tag, an dem die Scheidung rechtskräftig wurde, wieder geheiratet hat?«
»Hast du nicht. Heftig, das muss ich zugeben.«
»Am selben Tag.« Nick starrte in seinen leeren Krug. Banana füllte ihn erneut auf. »Am selben Tag.«
»Einen Trail Buster.« Der Kellner, ein Junge im College-Alter, stellte einen Teller mit drei Pfannkuchen, Rührei aus drei Eiern, drei Scheiben Schinken, drei Würstchen, drei Scheiben Toast und einem Stapel Kartoffelpuffer vor Nick ab. Der Magen drehte sich ihm langsam um. Er hatte das Gericht bestellt, na ja, es hieß schließlich Trail Buster. Er war ein Idiot. Gestern Abend war er noch idiotischer gewesen. Mit einem mittleren Kater den Wilderness anfangen? Was hatte er sich dabei nur gedacht? Offensichtlich hatte er überhaupt nicht gedacht.
Er wusste, dass er etwas essen musste, bevor er in die Wildnis aufbrach, also nahm er einen kleinen Bissen Rührei. »Eier sind eine gute Wahl«, sagte eine Stimme hinter ihm. Als er über die Schulter sah, erblickte er Annie Hatherley. »Sie enthalten Cystein, das zu einer Aminosäure umgewandelt wird, die deinem Körper hilft, die ganzen Toxine loszuwerden, die durch die Verstoffwechselung des Alkohols in deinem Körper verblieben sind.« Sie gab dem Kellner ein Zeichen. »Bring dem Burschen hier eine Banane, bitte, Scotty.«
»Ich will keine …«
»Alkohol bringt deinen Mineralhaushalt durcheinander. Du brauchst das Kalium.« Der Kellner, Scotty, holte eine Banane aus dem Hängekorb neben der Kasse und warf sie Annie zu. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung fing sie sie auf und reichte sie Nick. »Wusstest du, dass Kalium …«
»Interessiert mich nicht. Bin nicht betrunken.« Er aß einen herzhaften Bissen von der Wurst und musste darum kämpfen, nicht zu würgen.
Sie zog ihre dachförmigen Augenbrauen hoch. »Jetzt nicht mehr. Aber der Schaden ist angerichtet.«
»Wenn du mir weiter Vorträge halten willst, kannst du dich auch hinsetzen.« Nick deutete auf den Stuhl gegenüber. Zu ihr hochzusehen bereitete ihm Kopfschmerzen. Nun ja, verstärkte die Kopfschmerzen. Und dieser Kopf stellte sich gerade nicht sonderlich geschickt an beim Denken. Warum hatte er sie gebeten, sich hinzusetzen? Warum hatte er ihr nicht einfach gesagt, dass er keine Belehrung brauchte, und Schluss?
Sie ging um den Tisch herum und setzte sich. »Kalium ist wichtig für die Regulierung des Flüssigkeitshaushalts.«
»Willst du dir meine Brille leihen?«, fragte Nick, in erster Linie, damit sie aufhörte zu reden.
Annie starrte ihn an: »Was?«
Er nahm sie ab und hielt sie ihr hin. »Ich habe gehört, die macht sich richtig gut an Pedanten.«
Sie lachte. Er ebenfalls. Sie nahm ihm die Brille aus der Hand und setzte sie auf. »Und?«
Er spürte wieder dieses Klicken, genau wie gestern in den ersten Minuten in ihrem Laden. »Mir fehlen deine Augenbrauen«, sagte Nick, ohne sich die Zeit zu nehmen, nachzudenken, bevor er drauflosredete. Ein bisschen wie gestern Abend mit Banana.
»Schon wieder: Was?«
»Ich, ehm, mag es, wie deine Augenbrauen irgendwie spitzig aussehen. Sie bilden nicht direkt eine Spitze wie ein Dach, aber fast, und sie lassen dich irgendwie koboldig wirken, so könnte man das wohl nennen. Wie ein etwas verschlagener Kobold, vielleicht.« Okay, jetzt hatte er alles noch viel schlimmer gemacht. Da er immer noch die Banane in der Hand hielt, schälte er sie und biss ein Stück davon ab. Er wollte immer noch keine Banane essen, brauchte aber einen Grund, um nicht mehr weiterzureden.
»Ein etwas verschlagener Kobold. Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll.«
Nick zuckte mit den Schultern. Er hatte schon genug gesagt, viel mehr als genug, zum Thema Augenbrauen. Sie nahm seine Brille ab, beugte sich zu ihm vor, ließ einen Hauch von – vielleicht – Lavendelseife und warmer Haut zu ihm hinüberwehen und setzte sie ihm wieder auf. »Du willst immer noch heute Morgen aufbrechen?«
Nick wollte auf keinen Fall wieder mit ihr darüber reden. Er würde seine Wanderung nicht mit dem Kopf voller Warnungen beginnen. Banana mochte ihm gestern Abend etwas zu viel Bier ausgeschenkt haben, aber auf dem Heimweg hatte er sich so unbeschwert gefühlt wie seit einer ganzen Weile nicht mehr und war beinahe beschwingt in seinen neuen Schuhen zum Hotel zurückgegangen. Diesen Schwung wollte er sich bewahren.
»Jep«, sagte er nur. Dann beugte er sich zu ihr vor und nahm den Anhänger zwischen die Finger, den sie an einer dünnen Goldkette um den Hals trug. »Du trägst einen Fuchs?«, fragte er, damit sie nichts mehr über seine Wanderung sagen konnte. »Miss Allzeit-Vorbereitet glaubt an das Glück? Das enttäuscht mich aber.« Er zupfte leicht an dem Anhänger.
»Warum redest du, als würdest du mich kennen, wenn du nicht den geringsten Schimmer hast?« Sie entzog ihm den Anhänger. »Und ich glaube nicht an das Glück«, setzte sie etwas freundlicher hinzu, während ihr Blick im Raum herumschoss. »Ich glaube, dass meine Großmutter …«
»Deine Honey«, korrigierte er. Sie runzelte die Stirn. Sie sah niedlich aus, wenn sie die Stirn runzelte. Er wusste, dass er das besser nicht laut aussprach. Lisa hätte … Nein. Daran würde er jetzt nicht denken. Nicht heute.
»Meine Honey macht eine Menge Geld damit, diese Dinger und alle ihre anderen Füchse zu verkaufen. Sagen wir mal, daran glaube ich.«
»Ich wette, Honey ist eine wahre Gläubige.«
Annie nahm sich eine Scheibe Toast von seinem Teller und biss hinein. »Du hast ganz schön viel Meinung über Leute, die du kaum kennst.«
»Sagt die Frau, die mich einmal angeguckt und dann entschieden hat, dass ich nicht bereit für den Wilderness bin.« Und hier saß er und brachte genau das Thema auf den Tisch, das er die ganze Zeit hatte vermeiden wollen.
